9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Als Online-Redakteur bei einer großen Tageszeitung muss Walter Noack die Pöbeleien und Hasstiraden in den Kommentaren löschen. Tausende Male am Tag ist er mit den widerwärtigsten Beschimpfungen konfrontiert. Sein Nervenkostüm wird noch dünner, als er und später eine Kollegin von Unbekannten anscheinend grundlos zusammengeschlagen werden und er auch noch einen privaten Verlust erleiden muss. Die Polizei zeigt sich bei all dem machtlos. Das tägliche Gift, der Dauerhass sickert schließlich auch in Noacks Seele. Er schliddert allmählich in die trübe Szene von waffenhortenden Preppers, Reichs-und Wehrbürgern, abgestoßen und fasziniert zugleich. Als es in Berlin während der brutalen Sommerhitze zu Großbränden, Unruhen und offener Anarchie kommt, merkt er, dass er sich mit den falschen Leuten eingelassen hat. Jetzt geht es nur noch um Leben oder Tod.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 280
Johannes Groschupf
BerlinPrepper
Thriller
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
Das Leben ist hart, aber wenn man blöd ist, ist es noch härter.
George V. Higgins, Die Freunde von Eddie Coyle
Vor dem Job im Newsroom ging ich nachts laufen. Lebe in der Lage. Kurz vor Mitternacht schnürte ich meine Turnschuhe und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus begegnete ich niemandem, die meisten Mieter gingen einer geregelten Arbeit nach und deshalb früh zu Bett. Auf der Straße fiel ich in einen leichten Trab, die Hauswände entlang, manchmal auf der Straße,und erreichte den Görlitzer Park.
»Hallo, Meister«, sagte eine der Gestalten am Eingang.
»Hallo«, sagte ich und lief weiter.
»Alles klar?«, fragte der nächste Mann.
»Alles klar«, sagte ich.
Die acht oder zehn Dealer, die immer hier standen, kannten mich längst und wussten, dass ich bei ihnen nicht kaufte, dennoch grüßten sie mit einem Nicken oder durch das Heben der Hand. Ich lief an ihnen vorbei Richtung Osten, die Brücke über den Landwehrkanal hinweg, horchte auf meinen ruhigen Herzschlag und beschleunigte allmählich, jetzt schon auf der Bahnüberführung nach Treptow. Auch hier standen junge kräftige Männer aus Gambia, Guinea-Bissau und Sierra Leone in Gruppen beisammen, ihre Gesichter waren in der natürlichen Tarnung der Dunkelheit kaum zu sehen. Sie waren unbesorgt, rauchten und lachten, der Park und seine Ausläufer waren seit Jahren ihr Revier, vor allem nachts.
Mich ließen sie passieren, weil ich seit Monaten fast jede Nacht vorbeikam. Sie hörten eine harte Reggae-Variante, die mir gefiel, weil sie mich einige Schritte lang an die Jahre erinnerte, als ich Karli kennenlernte und als wir Nick bekamen, dann lagen die Dealer schon hinter mir, auch die schleppenden Dancehall-Rhythmen und meine Erinnerungen verhallten. Ich lief durch Seitenstraßen zum Treptower Park, nahm die Kieswege zum Spreeufer. Mein Körper glitt bei gutem Tempo geschmeidig durch die Nacht, meine Füße erkannten den Boden, blieben im federnden Schritt, auch wenn sie Baumwurzeln oder Wellen im asphaltierten Weg berührten. Berlin lag jetzt, da ich die Insel der Jugend passierte, in meinem Rücken, ich tauchte in den Plänterwald ein. Entweder nahm ich den Uferweg am verfallenen Spreepark entlang oder die schnurgerade Schneise mitten durch den Wald. Auf diesem langen Weg brachte ich meinen Körper auf hohe Belastung, indem ich Sprints einlegte oder eine Weile rückwärtslief, um mein Balancegefühl zu schulen und die Angst vor dem Fallen zu verlieren.
Jetzt war ich wirklich wach, meine Sinne scharfgestellt. Jede Regung im Wald spürte ich, jedes Knacken von Zweigen, jedes Aufflattern einer Eule oder Ringeltaube. Im letzten Waldstück vor der Dienststelle der Wasserschutzpolizei Ost hatte ich meine Schwimmsachen in einer unauffälligen Mulde zwischen vier Birken gebunkert, ich zog mich rasch um und ließ mich lautlos in die Spree gleiten. Die Kälte des Wassers spürte ich nicht, mein Körper war durch den Neoprenanzug geschützt und durch den Lauf zuvor genügend erhitzt. Die ersten Minuten genoss ich, das Leben ist einfach, wenn man mit dem Strom schwimmt. In ruhigen Zügen schwamm ich stadteinwärts, am Fähranleger Wilhelmstrand und dem Funkhaus Nalepastraße vorbei, an der kleinen Insel Bullenbruch, gegenüber lagen Zementwerk und Heizkraftwerk, die nachts menschenleer schienen. Das Wasser trug mich, über mir hatte ich den Himmel, der in manchen Nächten wolkenlos war, in anderen bedeckt oder verhangen, gelegentlich schwamm ich auch im Mondlicht. Ich ruhte von der Anstrengung des Laufes aus und wappnete mich vor der bevorstehenden Strapaze. Vor dem Eiland Kratzbruch bog ich zur Insel der Jugend ein, folgte der Strömung der Spree, ließ mich auf dem Rücken treiben, als ich unter der Elsenbrücke hindurchschwamm. Um diese Uhrzeit kamen keine Ausflugsdampfer mehr, nur sehr selten Partyflöße, auf denen betrunkene Leute krakeelten, ich sah dann schon die beiden Türme der Oberbaumbrücke vor mir. Egal zu welcher Jahreszeit strömte das Partyvolk von der Warschauer Brücke nach Kreuzberg hinein oder hinüber zum ›Berghain‹ hinter dem Ostbahnhof, in vielen Nächten hörte ich auf der Brücke Straßenmusiker spielen, Flaschen zersplittern, elektronische Bässe knallten unablässig aus den Fenstern des ›Watergate‹. Eine U-Bahn zog über die Brücke hinweg. Niemand bemerkte mich, wenn ich für einen kurzen Moment die geballte Faust aus dem Wasser hob.
Dann drehte ich um, und der eigentliche Kampf begann. Die Strömung der Spree war ruhig, aber kraftvoll, ich musste beständig dagegenhalten. Es hatte mich Jahre gekostet, bis ich die gesamte Strecke bis zur Wasserschutzpolizei Ost in einem Zug bewältigen konnte, anfangs musste ich mich oft ans Ufer oder auf das rostige Wrack hinter der Arena retten, schluckte unterwegs viel Spreewasser, die Muskeln meiner Arme und Beine waren hoffnungslos übersäuert und ich verfluchte mich selbst, weil ich mir dieses Training auferlegt hatte. Wozu? Wenn ich am Badeschiff vorbeikraulte, Zug um Zug, Meter um Meter, sah ich die Hipster dort sitzen, die Jünglinge mit ihren Vollbärten und dem Bauchansatz der Nerds, neben ihnen langhaarige Mädchen, die sich in Selfie-Posen fotografierten, und ich gewann wieder Kraft und Mut. So wollte ich nicht enden, da war ich mir sicher. Wenn die Stunde kam, war ich gerüstet und fähig zu reagieren. Diese Leute aber gingen unter. Sie schwammen in ihrem künstlichen Becken mit gereinigtem, temperiertem Wasser und hatten keine Ahnung, dass wenige Meter neben ihnen ein Mann durch das kalte, dreckige Wasser der Spree kraulte.
Der Weg zurück wurde mir sauer. Ich konzentrierte mich stets auf die nächsten zehn Schläge, danach die nächsten zehn, nur nicht ausruhen, sonst trieb die Strömung mich wieder flussabwärts. Weiter, weiter. Ich arbeitete mich zur Elsenbrücke vor, schwamm an der Gastwirtschaft Zenner vorbei und an der Insel der Jugend, dann kam rechter Hand der verlassene Spreepark, über den Wipfeln sah ich in manchen Nächten die Gondeln des Riesenrads hängen. Ich zählte meine Schwimmzüge, in meinem Kopf peitschte mich die Stimme meines Vaters weiter, sodass ich aus reiner Erbitterung weitermachte, über jede Erschöpfung hinaus. Mittlerweile schaffte ich die Strecke in jeder Nacht.
Meine Turnschuhe warteten. Ich kleidete mich um, packte die Tüte mit dem Neoprenanzug wieder in die Mulde zwischen den Birken und lief den Weg an der Spree entlang zurück. Manchmal kam ich an älteren Männern vorbei, die mitten in der Nacht am Ufer saßen und angelten, oder an den Obdachlosen, die sich unter der Elsenbrücke ein Zeltlager eingerichtet hatten. Im Schlesischen Busch und im Görlitzer Park hatten die afrikanischen Dealer gut zu tun, vor allem in den Nächten am Wochenende, überall unter den Büschen und Sträuchern hatten sie ihre Ware gebunkert, so wie ich in Parks und brachliegenden Grundstücken in der ganzen Stadt meine kleinen Vorratslager für den Notfall eingerichtet hatte. Aber ich verkaufte nichts, und niemand wusste davon.
Wenn die Stunde kam, war ich vorbereitet. Ein Prepper. Man lachte über Leute wie mich, aber ich wusste: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung ist adäquat auf einen Katastrophenfall eingerichtet. In Berlin vermutlich noch weniger. Man vertraut darauf, dass schon nichts passiert. Verlässt sich auf Vater Staat. Auf die Berliner Verwaltung. Aber in der Stunde der Not ist dann niemand mehr da, und dann ist das Geheule groß. Ich vertraute niemandem mehr. Ich hielt mich in Form, um im Notfall gerüstet zu sein. Ich wartete nicht auf die Krise, aber ich wusste, dass sie unausweichlich kommen würde. Meinetwegen. Ich war in guter körperlicher Verfassung, hatte Vorräte für mehrere Monate in der Stadt und außerdem das nötige Werkzeug, um mich noch einige weitere Wochen lang in der Wildnis durchschlagen zu können.
Als das Angebot für den Job im Newsroom kam, war ich vierundvierzig Jahre alt und hielt mich seit dem Scheitern meiner Ehe mit verschiedenen Jobs über Wasser. Davor hatte ich Jugendliche in Karate trainiert, einige Jahre lang einen kleinen Second-Hand-Laden für Heftromane in der Sonnenallee gehabt, auch eine Weile in einem Anzeigenblatt gearbeitet. Ich ging nur deshalb zum Vorstellungsgespräch in den Newsroom des Zeitungskonzerns, weil ein Trainingspartner beim Tischtennis davon erzählt hatte. Guido mit der schnellen Rückhand. So ein Angebot käme nie wieder, sagte er in der Umkleide. »Die suchen einen Content Moderator. Das ist leicht verdientes Geld. Die brauchen verlässliche Leute, die Studenten kommen zu spät oder gar nicht, die jungen Leute lesen nicht gern. Die suchen einen Silver Surfer wie dich. Geh mal hin.«
Ich wusste nicht, was ein Content Moderator macht, aber ich brauchte regelmäßige Einkünfte, um einen alten Jeep zu kaufen, nach und nach umzubauen und für Fahrten in die Wildnis tauglich zu machen. Wenn es hart auf hart kam, wollte ich nicht in der Stadt bleiben müssen, sondern weitere Optionen haben. Vor kurzem hatte ich einen NVA-Kübelwagen Sachsenring P3 in Suhl geortet, der für zwölftausend Euro angeboten wurde: lange nicht bewegt, doch nicht allzu heruntergekommen, es wäre ein Anfang.
Also ging ich zum Vorstellungsgespräch. »Der Job ist kein Zuckerschlecken«, sagte der Ressortleiter, der sich als Harry vorstellte. Er duzte mich sofort. »Hier sagt niemand Danke. Keiner wird dich grüßen.«
»Darauf kann ich verzichten«, sagte ich. »Ich will den Job nicht, um Freunde zu gewinnen.«
»Im Newsroom gibt’s keine Freunde«, sagte Harry. »Als Content Moderator hast du nur eine Aufgabe: acht Stunden täglich Hasskommentare lesen und löschen. Volkes Stimme, Schaum vor dem Mund, rund um die Uhr. Beleidigungen, Lügen, Unterstellungen, Tiraden, Gewaltphantasien, Morddrohungen. All das muss weg.«
»Ich mach’s dir weg«, sagte ich. »Ich bin der Klomann, wenn ich das recht verstehe. Kein Problem für mich.«
Harry meinte es ernst. »Wenn dieser Hass ungefiltert auf die Seite kommt, kriegen wir Ärger. Machst du mehr als drei Fehler im Monat, bist du raus. Du stehst mit beiden Beinen in der Kloake, und entsprechend riechst du für die anderen. Überlege es dir. Du kannst sofort anfangen. Dreizehn Euro die Stunde.«
Sein Lächeln war einladend, das machte mich misstrauisch. Aber der Job interessierte mich.
»Seit wann schreiben die Leute diese Kommentare?«
»Seit wann, gute Frage. Wir machen das seit neun Jahren, damals gab es noch keine Flüchtlingskrise, damals haben sie den Euro gehasst. Aber glaub mir, die Welt ging für die Leser auch damals schon unter.«
Harry seufzte. Er sah erschöpft aus, seine Wangen wirkten ausgezehrt, unter den Augen hatte er tiefe Schatten. Vielleicht kiffte er auch einfach zu viel. »Die Zeiten haben sich geändert, der Tonfall ist ruppiger geworden«, sagte er.
»Ist mir klar«, sagte ich.
»Das hoffe ich«, sagte Harry. »In deinem Interesse. Auch in unserem. Wir brauchen robuste Mitarbeiter. Belastbare Leute. Glaub mir, ich habe die Studenten so satt, die nach zwei Wochen wieder aufgeben, weil sie den Hass nicht ertragen.«
»Ich gebe nicht auf«, sagte ich. »Ich schwimme jede Nacht von der Oberbaumbrücke zur Wasserschutzpolizei Ost.«
Er schaute mich schweigend an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
»Ich hasse die Strecke«, sagte ich. »Aber ich halte sie durch. Jede Nacht. Du musst mir nichts über Hass erzählen.«
Ich sagte nichts mehr vom Schwimmen. Auch nichts von meinem Kübelwagen, den ich umbauen und aufrüsten wollte. Nichts von meinen Vorsorgelagern, den Notfallplänen. Die meisten Leute konnten damit nichts anfangen, sie schauten einen nur schräg an.
Harry fragte nicht weiter, er lachte. »Du kannst den Job haben.«
Wir gaben uns die Hand.
»Willkommen im Reich des digitalen Volkszorns«, sagte Harry.
Ein dünner kalter Januarregen fiel über den noch dunklen Vorplatz, als ich zur Arbeit kam. Seit zwei Jahren fuhr ich jeden Morgen zum Verlagshaus, Monat um Monat, Woche für Woche. Die nächtlichen Läufe und das Schwimmtraining hatte ich aufgeben müssen und mich stattdessen an die neue Routine gewöhnt. Lebe in der Lage. Ich grüßte die Männer vom Wachschutz, hielt meinen Hausausweis an den elektronischen Scanner und betrat das wuchtige Gebäude. So früh am Morgen war es noch so gut wie leer. Ich ging an der Büste des Firmengründers vorbei durch den langen Flur und hielt meinen Ausweis an die nächste Kontrollbox. Der Newsroom wareigens gesichert. Nur wer hier arbeitete, hatte Zutritt.
Der Newsroom war die Kathedrale des Konzerns. Die Eingangstüren waren drei Meter hoch und aus schwerem Holz. Sie fielen mit einem satten Knall hinter mir ins Schloss. Dann öffnete sich der hohe Raum, in ein künstliches Halbdunkel getaucht, das sich im Laufe des Tages kaum aufhellte. Über den Arbeitstischen der verschiedenen Ressorts, die wie Sonnenstrahlen vom Mittelpunkt nach außen liefen, hingen Bildschirme, auf denen mehrere Nachrichtensender in raschen Schnittfolgen von Autobahnunfällen, Unwettern, Erdrutschen und Polizeieinsätzen aus aller Welt berichteten. Erdbebenopfer saßen weinend auf den Trümmern ihrer Häuser. Väter trugen ihre leblosen Kinder auf dem Arm. In Australien wüteten Waldbrände, die Leute sahen ihre Häuser in Flammen aufgehen, versuchten viel zu spät zu flüchten, standen dann mit Tausenden anderen Autofahrern im Stau. Die Bilder der Katastrophen glichen sich. Die Supermärkte waren leergekauft oder vernagelt, wenn der Hurrikan kam und die nächste Überschwemmung brachte. Schulbusse standen ausgebrannt am Straßenrand. Ein Erdrutsch riss Häuser in die Tiefe, die Menschen wussten nicht, wie ihnen geschah. Ich sah ihre panischen Gesichter, die ausgestreckten Arme, die um Hilfe bettelten, immer mit einem Kopfschütteln. Sie alle hatten sich viel zu lang in Sicherheit gewiegt. Der Ernstfall konnte ständig eintreten. Ich hatte meine Reserven, ich wusste, was zu tun war, wenn das Wetter umschlug. Das Fernsehen aber konnte von Opferbildern nicht genug bekommen. Bis auf die Katastrophenmeldungen auf den Monitoren war alles noch reglos. Der Newsroom schien mit ruhigen Atemzügen zu schlafen, die Nachrichtenbilder waren seine Albträume.
Auch der Nachtredakteur im Auge, wie wir den Mittelpunkt der Redaktion nannten, bewegte sich kaum. Ich ging die Tische entlang zu meinem Arbeitsbereich, fuhr den Computer hoch, holte meinen Apfel aus dem Rucksack und legte ihn auf den Tisch. Ohne den Apfel konnte ich meinen Dienst nicht anfangen. Aus der Teeküche in einem verdeckten Seitengang holte ich mir ein Obstmesser und ging auf dem Rückweg am Auge vorbei. Der Redakteur war jung, noch nicht lang dabei. Die Nachtdienste waren nicht beliebt.
»Wie sieht’s aus?«, fragte ich.
»Alles ruhig«, sagte er und hielt sich beim Gähnen eine Hand vor den Mund. »Ein mittleres Erdbeben in Japan. Bergrutsch in Italien, keine Toten. Aber es gab zwanzig oder vierzig Tote im Mittelmeer, weiß nicht mehr genau. Flüchtlinge, wie immer.«
»Stimmt«, sagte ich. »Letzte Woche waren es fünfzig Tote. Die Kommentarschreiber haben sich gefreut: fünfzig hungrige Mäuler weniger, die wir stopfen müssen.«
»Um deinen Job beneide ich dich nicht«, sagte er. »Dieser Hass ist doch ekelhaft.«
»Das perlt an einem ab«, sagte ich. »Schönes neues Jahr, übrigens.«
»Auch so.« Sein Lächeln wirkte dünn. Um seinen Job beneidete ich ihn auch nicht. Er hatte die Nacht damit verbracht, vorgefertigte Texte auf die Homepage zu setzen. Dazwischen langweilte er sich und sah auch so aus. Sein Name fiel mir nicht ein. Dabei war er einer der wenigen Redakteure im Newsroom, die mich grüßten und mit mir redeten.
Content Moderatoren galten hier etwa so viel wie die Putzkolonne der pakistanischen Frauen, die manchmal, wenn sie sich verspätet hatten, noch um viertel vor sieben ihren dröhnenden Firmenstaubsauger durch die Gänge schoben. Es waren vier ausgezehrte Frauen, die mich immer mit einem breiten Lächeln begrüßten. Ich mochte sie, auch wenn mir der Lärm des Staubsaugers auf die Nerven ging. Sie hatten einen aufrechten Gang, vermutlich stammten sie aus einer Region des Karakorum-Gebirges und waren an harte Arbeit gewöhnt. Sie waren nicht unterzukriegen, davor hatte ich Respekt.
Zu Beginn der Schicht hatte ich noch meine Ruhe. Ich schälte den Apfel, viertelte ihn, entfernte das Gehäuse, steckte mir einen Schnitz in den Mund und begann, die Kommentare der Leser zu durchforsten. Nacht für Nacht kamen mehrere Tausend Postings zu den Artikeln unserer Homepage. Was auch aktuell vorgefallen war, die Beiträge der Leser dazu hatten stets den gleichen aufgebrachten Tonfall. Es hilft nur noch eins: scharfe Waffe kaufen und diese immer geladen dabeihaben. Im Bedarfsfall rücksichtslos davon Gebrauch machen. – Ich bitte das Militär, doch seinen einzigen funktionierenden Panzer aufzutanken und damit nach Berlin zu fahren, um diesem Chaos ein Ende zu bereiten. Dieser Staat ist handlungsunfähig. – Merkel wird als Untergangskanzlerin Deutschlands in die Geschichte eingehen.
Ich fragte mich oft, wer diese Kommentarschreiber waren, wie sie wohl aussahen, woher sie die Zeit nahmen, täglich stundenlang Beiträge zu schreiben und zu posten. Einer nannte sich »Rambo« und schrieb täglich sechzig, achtzig Postings zu den unterschiedlichsten Themen, die Kommentarforen waren das Unterholz, in dem er seinen langwierigen, unerbittlichen Kampf gegen das verlogene System führte, der Klapprechner seine Waffe. Er feuerte Posting auf Posting in unsere Leserforen. Die Stunde der Abrechnung wird kommen. – Das Gesocks muss krepieren. – Die Volksverräter werden dort enden, wo Volksverräter immer enden. Die meisten seiner Beiträge fing ich ab und verschob sie ins Archiv der gesperrten Kommentare. Kaum einer der User agierte unter seinem Klarnamen, die meisten benutzten Decknamen. »Karl Martell« arbeitete sich am Islam ab, er schrieb sich Nacht für Nacht die Finger wund, um darzulegen, welchen verheerenden Einfluss der Islam in der Menschheitsgeschichte hatte, er häufte Beweis auf Beweis, Textbaustein auf Textbaustein. Hat es jemals einen muslimischen Nobelpreisträger gegeben? – Die Araber haben nicht einmal die Null erfunden! – Der Islam ist keine Religion, sondern Kinderschändung. Weil seine Postings niemals einen Bezug zu den aktuellen Artikeln hatten, löschte ich sie mit einem Achselzucken. Daraufhin schickte er empörte Nachfragen, weshalb seine Kommentare nicht veröffentlicht wurden.
Andere User nannten sich »Besorgter Bürger«, »Volksschullehrer«, »Denkzettel«, »Axel Schweiß«, »Plantagenbimbo«, »Musashi«. Es waren Hunderte. Tausende. Zehntausende. Die Zeitung brauchte Leser, sie brauchte Käufer, Abonnenten. Die Kommentarschreiber lasen die Artikel nur selten, sondern begnügten sich mit den Überschriften, um sich zu empören, viele begaben sich sofort in den Kommentarbereich, wo sie unter sich waren. In diesen Foren, davon waren sie zutiefst überzeugt, wurde die eigentliche Wahrheit verbreitet. Nach zwei Jahren meinte ich sie allmählich zu kennen: übellaunige ältere Männer, weitgehend humorlos und von sich selbst überzeugt, hasserfüllt und wehleidig. Es gab auch Frauen unter ihnen, die sich »Lady Midnight«, »Beate Z.« oder »Racheengel« nannten und sich Sorgen machten um ihre Töchter, die sie nicht mehr vor die Tür lassen konnten, weil dort Horden von muslimischen Männern herumlungerten, um über die Mädchen herzufallen.
»Wüstenfuchs« war einer der vielen pensionierten Soldaten in unseren Foren, die sich mit der, wie sie fanden, teilweise bitteren, aber eigentlich doch ruhmreichen deutschen Geschichte befassten, alle Waffengattungen im Schlaf aufsagen konnten und Irrtümer in den Artikeln des Ressorts Geschichte unerbittlich nachwiesen. Stauffenberg war nur Oberst, nicht General. Lügenpresse! Setzen, sechs! Sie alle beklagten den aktuellen Zustand der Bundeswehr. Für »Udet« war es auch nach Jahren unfassbar, dass eine Frau Verteidigungsministerin war, er hatte mit Frauen offensichtlich keine guten Erfahrungen gemacht. Frauen sind evolutionär für die Aufzucht von Babys und Kleinkindern optimiert, sie haben von der harschen Realität keine Ahnung. In einem Heer konnten sie nur Unfug anrichten, die falschen Gewehre ordern und Wickelräume für die Soldatinnen einrichten. »Udet« wurde von einem verzweifelten Gelächter geschüttelt, wenn er sich vorstellte, dass die Russen angriffen. Deutschland würde keine zwei Tage standhalten. Die Bundeswehr hat ja nur noch lackierte Besenstiele in ihren Waffenkammern.
Sie alle hatten nicht viel Freude im Leben. Sie machten sich Sorgen. In den Foren fanden sie Verständnis und digitale Nähe einer gleichgesinnten Gemeinschaft. Hier konnten sie aussprechen, was sie bewegte und besorgte. Aber sie hörten einander kaum zu, allenfalls bestätigten sie sich gegenseitig ihre Meinungen. Genau! Könnte ich nicht besser sagen! Volle Zustimmung! Auch das löschte ich, und das brachte sie umso mehr in Rage, weil sie sich ohnehin ständig und seit je verraten und verkauft, belogen und betrogen fühlten. Die Kommentarschreiber hassten mich und die anderen Moderatoren aus tiefster Seele, wir waren Zensurhuren, Mediennutten, Praktikanten, Propagandasäue.
Mir war es recht, es perlte tatsächlich an mir ab. Nach zwei Jahren wirkte ihr ständiger Ärger über die Flüchtlinge eintönig, manchmal wunderte ich mich über neue Ausfälle und Attacken, und gelegentlich musste ich auch über sie lachen. Hin und wieder versetzten mir ihre Wut und ihr fieser Hass einen Schlag in die Magengrube. Ihr gottverfluchten kranken Arschlöcher, ihr seid der übelste Dreck, den Deutschland ausgeschissen hat. Hitler kriegt Konkurrenz. Aber auch das war Routine, es gehörte dazu. Man hatte mich gewarnt. In einer Sache gab ich ihnen recht: Das Land steuerte auf eine Krise, auf eine Katastrophe zu, auf den Untergang.
Gegen sieben holte ich mir eine druckfrische Printausgabe, die für alle Mitarbeiter in großen Stapeln neben dem Paternoster auslag, ich mochte den Geruch von Druckerschwärze und frischem Papier. Mit der Zeitung stieg ich in den Paternoster und ließ mich nach oben tragen. Die Leser sahen eine Zukunft voraus, in der das Land von islamischen Machthabern unterworfen und geknechtet war, die Deutschen als Sklaven der neuen Herren ausgebeutet wurden und in der Gosse lebten, die Frauen sich in dunkle Tücher kleiden und den Wünschen der muslimischen Männer beugen mussten. Ich sah eine andere Krise kommen: eine aufgegebene, entvölkerte Großstadt, ein Überleben in den Brandenburger Wäldern.
Das alte Hochhaus, Turm genannt, ragte neunzehn Stockwerke in die Höhe. Der Firmengründer hatte es in den Sechzigerjahren am Rand der Berliner Mauer bauen lassen, um die Schwestern und Brüder drüben in der Zone zu grüßen. Die Fassade sollte wohl einmal golden wirken, nun war der Anstrich zu einem schäbigen Gelb geworden. Mittlerweile gab es im Turm auch Fahrstühle, ich bevorzugte die offenen Kabinen des Paternosters, die nahezu lautlos im unermüdlichen Umlauf durch die Etagen glitten. Im neunzehnten Stock stieg ich aus und betrachtete die noch dunkle Stadt, die eben erst aufwachte. Noch immer fiel ein feiner Regen.
Regen erinnerte mich immer an Tschernobyl. Als ich zwölf Jahre alt war, zog wenige Tage nach der Explosion in Tschernobyl die Regenwolke über uns hinweg. Ich wusste, dass der Regen hochgiftig war, also begann ich, eine Höhle im Garten zu bauen, einen Unterstand, am liebsten hätte ich einen Bunker gebaut, einen Atomschutzbunker. Mein Vater schüttelte den Kopf. »Das bringt gar nichts«, sagte er. »Wie kann ich mich denn schützen?«, wollte ich von ihm wissen. Er hatte keine Ahnung, es kümmerte ihn einfach nicht. Mich aber interessierte es brennend, wie ich die kommenden Katastrophen überstehen konnte. Die Zeitungen in den Achtzigerjahren waren voller Illustrationen, die West-Berlin als heiße Kampfzone im nächsten Krieg zeigten, Mitteleuropa als riesiges Gebiet, das der Vernichtung durch Mittelstreckenraketen und Neutronenbomben anheimfallen sollte. Wie konnte man im Ernstfall in einem verseuchten Gebiet überleben? Wo konnten wir Nahrung finden, wenn wir nach den Raketeneinschlägen aus den Bunkern krochen? Die Städte, so las ich, sollten dann noch intakt sein, Gebäude und Straßen, Fahrzeuge und Infrastruktur unversehrt, nur die Menschen und Tiere ausgerottet, die Natur verwüstet. Ich arbeitete fieberhaft an Notfallplänen. Wenn meine Eltern sich nicht darum kümmerten, musste ich Lösungen finden. Die Augen offenhalten. Mich auf Krisen vorbereiten. Meine Eltern lachten, wenn ich Geldkassetten im Garten vergrub und Lebensmittel im Keller hortete. Ich wünschte mir eine Gasmaske zu Weihnachten, schnitt alte Regenmäntel zu Schutzkleidung um. Das leichtsinnige Verhalten meiner Eltern machte mich rasend. Sie schliefen, während ich ganze Nächte wach im Bett lag und mich fragte, ob ich an alle Schutzvorrichtungen gedacht hatte. Die Neutronenbombe wurde dann doch nicht stationiert. Aber der Reaktor in Tschernobyl explodierte und der radioaktive Niederschlag in den Wochen danach verseuchte halb Mitteleuropa. Damals gewöhnte ich mich auch an Konservennahrung. Meine Eltern blieben tagelang im Haus, von nun an hörten sie öfter auf mich.
Das war jetzt mehr als dreißig Jahre her, und immer noch flößte mir Regen ein Unbehagen ein, egal ob im Januar oder im Mai. Ich fuhr wieder hinunter, sah Stockwerk um Stockwerk vorbeigleiten, hörte manchmal ein kurzes Staubsaugerdröhnen oder das Husten eines Frühaufstehers. In diesen Etagen befanden sich die Redaktionsräume der Boulevardzeitung, von deren Erträgen wir alle lebten, die Vorstandsetage und die Verwaltung des Konzerns, die alteingesessenen Redakteure und Korrekturleser, Informationstechniker und Vertriebler.
Unten füllte sich der Newsroom allmählich. Die Sportredakteure kamen um neun. Der älteste von ihnen war ein übergewichtiger Kettenraucher, der am liebsten Interviews mit Boxern machte. Der Fußball-Chef hatte stets ein verkniffenes Gesicht. Die Redakteure aus Wirtschaft und Politik kamen gegen halb zehn, viele von ihnen waren jung und trugen scharfe Scheitel. Das Stimmengewirr der Gespräche und Telefonate, das Klappern der Tastaturen, das Geräusch der Schritte und das verborgene Surren der Klimaanlage füllten den hohen Raum. Ich verhielt mich ruhig, löschte Spam aus dem Redaktionsordner, moderierte die einlaufenden Kommentare und wartete auf meine Kollegen. Der Ressortleiter Harry erledigte seine Arbeit zumeist im Homeoffice und tauchte nur in dringenden Fällen auf.
Seit Punkt halb neun saß Kottwitz im Auge. Er war der Chef des Newsrooms. Ich spürte es sofort, wenn er im Raum war, auch wenn ich es vermied, zum Auge zu blicken. Kottwitz hatte einen rasierten und geölten Schädel und trug dazu eine schwere Hornbrille. Er stammte aus altem preußischen Militärgeschlecht, hatte Jahrzehnte bei der Bundeswehr gedient, bei einem Einsatz in Afghanistan einen Unterschenkel verloren, was er durch eine Prothese gut kaschieren konnte. Natürlich wusste jeder im Haus darüber Bescheid, man sprach aber nicht darüber.
Kottwitz war oft gereizt, konnte aber tatsächlich auch witzig sein. Seine Mails zum Tagesgeschehen waren flott und scharfsinnig geschrieben, außerdem hegte er eine überraschende Zuneigung zu alten Heavy-Metal-Bands. Als Lemmy Kilmister gestorben war, hatte Kottwitz in der Tagesmail alle o-Vokale als Heavy-Metal-Umlaut geschrieben. Wenn bei Wetterwechseln sein Stumpf schmerzte, konnte er unangenehm werden. Einem unfähigen Kollegen hatte er vor Monaten in einem Streit über die Schreibweise eines afghanischen Ortsnamens seinen Schlüsselbund an den Kopf geworfen.
An diesem Vormittag winkte er mir knapp zu, und ich ging gleich zu ihm hin. Man ließ Kottwitz nicht warten.
»Wir haben hier eine Beschwerde an den Presserat wegen eines Kommentars«, sagte er und schob mir eine ausgedruckte Mail hin. »Ich frage mich, wozu ihr hier überhaupt angestellt seid. Wenn uns jetzt noch was fehlt, dann sicher eine Rüge vom Presserat, weil ihr euren Job unzweckmäßig macht.«
Ich las den ausgedruckten Kommentar. Kanzlerin Merkel gehört an die Wand. Palaver unnötig.
»Solche Sprüche bekommen wir täglich zu Hunderten, natürlich darf das nicht online stehen«, sagte ich. »Tut mir leid.«
»Ihr lernt es einfach nicht«, sagte Kottwitz. »Das wird sich früher oder später rächen. Das ist die dritte Drohung mit dem Presserat seit Weihnachten, das Jahr fängt richtig cremig an für uns.«
Widerworte waren nutzlos. Die anderen Redakteure sahen zur Seite, während ich vor Kottwitz’ Platz stand. Sie waren erleichtert, wenn er sich jemand anderen vorknöpfte. Ich schaute auf den Schlüsselbund, der neben seiner Tastatur lag. Zwölf, vierzehn Schlüssel an mehreren Ringen, einiges an Gewicht.
»Ich suche das Posting sofort raus und entferne es«, sagte ich. »Dauert keine fünf Minuten. Den User kann ich dauerhaft sperren. Dazu schreibe ich ihm eine Mail, dass man so nicht über die Kanzlerin spricht. Beim Leser, der auf diesen Kommentar hingewiesen hat, bedanke ich mich für die Meldung. Es kommt nicht wieder vor.« Natürlich war das gelogen, es kam wieder vor, in zwei oder drei Tagen, nächste oder übernächste Woche, zum Beispiel von Userin »Lady Midnight«: Man sollte den sprechenden Hosenanzug an den Haaren über den Marktplatz zur Hinrichtung schleifen. Aber das musste der Chef nicht mitbekommen, meist machten wir den Dreck alleine weg.
»Danke für den Aufwand«, sagte Kottwitz und wandte sich seinem Monitor zu. »Das war’s erst mal.«
Ich kehrte an meinen Platz zurück, löschte den Beitrag, der von anderen Lesern bereits dreiundsiebzig Zustimmungsherzchen erhalten hatte, und schickte Kottwitz eine entsprechende Mail. Auch wenn es nicht mein Fehler gewesen war, er wurde mir zugerechnet, ich hatte für diesen Monat nur noch zwei Irrtümer frei. Diese Regel wurde rigoros durchgesetzt, ganz gleichgültig, wie schwach die Dienste besetzt waren.
Kurz vor zehn kam Guido, der mich bei der Moderation unterstützen sollte. Er warf seine Sporttasche neben seinen Stuhl. Neue Trainingsjacke, Goldkettchen, ein agiler Neuköllner. Tischtennis war sein Leben.
»Muss gleich weiter zur Morgenkonferenz«, sagte er, während er seine Tasche auspackte. »Schönes neues Jahr, übrigens. Hat gut angefangen, ich habe den dritten Platz im Neujahrsturnier gemacht. Knie nieder, ich bin der Master of Vorhand.«
»Gratuliere«, sagte ich.
Er freute sich. »Ich hatte einen Lehrgang zwischen den Jahren, nur Vorhandtraining, sechs Stunden jeden Tag, Vorhandkonter, Oberkörperdrehung, extremer Topspin, stundenlang, aber ich sage dir, das bringt auch was. Das Turnier danach lief super. Ich habe sie hin und her gescheucht. Was hast du an den Feiertagen gemacht? Ich muss gleich los, hat Kottwitz was gesagt?«
»War schwimmen«, sagte ich. In der Nacht von Heiligabend hatte ich versucht, wieder die Strecke zwischen der Oberbaumbrücke und dem Plänterwald zu bewältigen. Aber ich war gescheitert, schon an der Elsenbrücke musste ich aus dem Wasser und den Rest laufen. Die beiden Jahre am Schreibtisch hatten mich träge gemacht. Ich joggte zwar regelmäßig, schwamm aber kaum noch. In der Silvesternacht hatte ich es noch einmal versucht, um wieder Tritt zu fassen, und war wieder gescheitert, kurz vor der Insel der Jugend. Seitdem war ich müde wie ein alter Hund.
Guido hörte ohnehin nicht zu. Er blinzelte mir mit einem angedeuteten Vorhandtopspin zu und ging zur Morgenkonferenz.
Inzwischen kümmerte ich mich um Zuschriften der Leser, deren Kommentare nicht veröffentlicht worden waren. Sie beklagten sich erbittert über unsere Zensur und pochten auf die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit. Manche erkundigten sich nach unseren Gründen, die Kommentare zu sperren, andere hofften auf Besserung, indem sie uns abstraften: Kündigung ist raus! Viele aber drohten auch ganz unverhohlen. Wir werden euch Zensursäue finden und an den Eiern aufhängen. Die Laternen warten schon.
Niemand der Redakteure oder der anderen Mitarbeiter nahm diese Drohungen sonderlich ernst. Ich schon. Meine Telefonnummer hatte ich aus dem Telefonbuch streichen lassen, meinen Namen auf der Klingel an der Haustür entfernt. Die meisten Leser waren harmlos, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Wenn wir im Newsroom an die Leser schrieben, benutzten wir den Namen »Sebastian Dörfer«, aber man konnte nie wissen, ob nicht auch ein paar findige Leute unter ihnen waren, die unsere realen Namen herausfanden. Wenn ein Kollege eine Mail falsch weiterleitete, waren die Namen klar. Dann auch die Gesichter, die Wohnorte. Angeblich kursierten in bestimmten Szenen bereits Listen mit fünfzehntausend Namen, deren Träger man sich nach einem Volksaufstand vorknöpfen wollte. Wann der sein würde, war unklar. Manche Gruppen riefen im Abstand von wenigen Wochen zum Marsch auf Berlin. Als Deutscher kann man für dieses Regime und seine Systemlinge nur noch Verachtung empfinden. Der Genozid am deutschen Urvolk muss gestoppt werden. Notfalls mit Waffengewalt. Wacht auf! Meine Wohnungstür hatte ein Stangenschloss, ich wollte ruhig schlafen. An manchen Tagen nahm ich eine andere Route zur Arbeit. Beim Einkaufen im Supermarkt passte ich auf, ob jemand mich beschattete oder verfolgte. Guido lachte darüber, er erzählte im Tischtennisverein gern von seiner Arbeit.
Ich hörte die sonoren Stimmen der Redaktionskonferenz am anderen Ende des Newsrooms, während ich eine höfliche Erklärung mit angefügtem Hinweis auf unsere Nutzungsregeln formulierte. Danach ging ich nach draußen.
Der Vorplatz lag in einem matten Morgenlicht, auch wenn es weiterhin sehr kalt war. Zwei Männer von der Security unterhielten sich vor dem Eingang. Vor dem Taxistand standen zwei Redakteure und rauchten. Ich fühlte mich verbraucht. An das Aufstehen um fünf Uhr morgens konnte ich mich nicht gewöhnen. Auch wenn ich in den ersten Stunden wach und frisch war, setzte am späten Vormittag eine starke Müdigkeit ein, die mich unaufmerksam machte und die ich nur bekämpfen konnte, indem ich viel Kaffee trank und draußen einen raschen Spaziergang machte. Die Anstrengung des Schwimmens in den letzten Tagen kam noch hinzu, ich hasste diese Momente der Schwäche.
Die Straßen waren jetzt belebt, der 29er Bus fuhr seine Haltestelle hinter der Kreuzung an. Das neue Jahr hatte eben erst begonnen. Auf den Gehwegen lagen noch Überreste vom Silvesterfeuerwerk, Böllerpackungen, ausgebrannte Raketen, zerfetzte Kanonenschläge, im Regen aufgeweicht und breitgetreten.
Über die Straße hinweg war die Senatsverwaltung für Soziales, gegenüber die Bundesdruckerei, in einer Seitenstraße dahinter befand sich ein Containerdorf für Flüchtlinge. Die syrischen, kurdischen und afghanischen Männer standen rauchend vor dem Zaun, ein paar Kinder streunten über das Gelände, ich hörte Frauenstimmen aus den provisorischen Behausungen. In den beleuchteten Zimmern hing Wäsche zum Trocknen. Der Eingang des abgezäunten Areals wurde von türkischen Security-Männern bewacht, die in Regenumhängen auf Plastikstühlen saßen und missmutig auf ihren Telefonen scrollten.
Mir summte noch der Kopf von den Kommentaren wie etwa von »Plantagenbimbo«: Toll, dass wir massenweise so wertvolle Familien nach Deutschland hereingelassen haben. Ich fühle mich dadurch sehr bereichert und heiße im Rahmen der Willkommenskultur sehr gerne noch viel mehr von diesem Kroppzeug hier herzlich willkommen! – Dieser Abschaum gehört ausgerottet.
Die Bilder aus Aleppo, als syrisches und russisches Militär die Stadt monatelang mit Napalm und Phosphor bombardiert hatte, waren im letzten Jahr ständig über die Bildschirme im Newsroom gelaufen. Ganze Stadtteile waren verwüstet, auf Jahrzehnte war dort ein normales Leben nicht mehr möglich. Sauberes Trinkwasser gab es kaum noch, Strom nur unregelmäßig. Wer fliehen konnte, floh. Sie waren über die Balkanroute gekommen, manche über die Türkei, hatten monatelang in Lagern gelebt. Jetzt standen sie hier und wussten nicht weiter.
Ich holte mir in einer türkischen Bäckerei an der nächsten Ecke einen Kaffee, trank ihn auf einer Parkbank, ging zurück zum Newsroom. Noch drei Stunden, dann hatte ich die Schicht hinter mir.
Peppa stand in der Raucherecke neben dem Eingang, sprang von einem Fuß auf den anderen und winkte mir zu.
»Schönes neues Jahr«, sagte sie. »Ich hoffe, du hast gut reingefeiert.«
»Kann mich nicht mehr daran erinnern«, sagte ich.
»Klingt gut. Ich habe Silvester bis neun hier zu tun gehabt, danach sind wir noch zu sechst mit den Entwicklern herumgezogen, wurde dann richtig spät. Aber tanzen wollten sie nicht, die standen nur mit ihrem Bier herum.«
Peppas Stimme war rau vom ständigen Rauchen, sie hatte immer zwei Maxischachteln dabei, die machte sie im Laufe des Tages leer. Sie trug einen Wintermantel mit blauen Fäden, die an den Schultern hervorsahen. Pudelmütze, darunter dichtes braunes Haar. Grüne Augen. Peppa war erst seit sechs Monaten bei uns, aber sie kannte schon fast alle Kollegen, vor allem die jungen Produktentwickler, war ständig unterwegs, half in allen Abteilungen aus, musste zudem jede halbe Stunde nach draußen in die Raucherecke. Ihre Zigarette hielt sie wie eine Anfängerin zwischen Daumen und Zeigefinger. Jetzt im Winter trug sie draußen hellbraune Lederhandschuhe. Die Pudelmütze nahm sie auch im Newsroom nicht ab, zwei ältere Redakteurinnen hatten neulich in der Morgenkonferenz hinter ihr gelästert: »Es blamiert sich jeder, so gut er kann.«