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In Berlin brennen seit Monaten Luxuskarossen. Die Polizei ist überfordert, besorgte Autorfahrer ziehen als »Bürgerstreife« durch den Kiez. Die Wege dreier sehr unterschiedlicher Menschen kreuzen sich während eines Höllentrips durch die Großstadtnacht …
Die junge Polizistin Romina Winter ist gerade aus disziplinarischen Gründen frisch zum Dezernat für Branddelikte versetzt worden und patrouilliert durch die nächtliche City. Durch die streift auch der Postbote Maurice Jaenisch, der ganz sicher weiß, dass die Stadt von Satan beherrscht wird. Und weil er alles richtig machen will, muss er ihm gegenübertreten. Auch Jette Geppert ist unterwegs. Sie ist Reporterin bei Kriminalprozessen in Moabit und ein Super Recognizer: Sie kann Gesichter zuverlässig wiedererkennen. Die drei treiben durch die riesige Stadt, deren Nachtgesicht geheimnisvoll, faszinierend und brandgefährlich ist ...
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Seitenzahl: 308
Johannes Groschupf
Die Stunde der
HYÄNEN
Thriller
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5300.
Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlagabbildungen: Matthias Clamer/Getty Images (Auto), FinePic®, München (Struktur/Schrabbel)
eISBN 978-3-518-77434-2
www.suhrkamp.de
Die Stunde derHYÄNEN
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Die Stunde der HYÄNEN
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Epilog
Dank
Informationen zum Buch
Die längsten Reisen fangen an, wenn es auf den Straßen dunkel wird.
Jörg Fauser, Kant
Radek Malarczyk drehte die Flasche Rachmaninoff auf und nahm einen Schluck. Er saß in seinem altenVW Bulli in einer Parkbucht am Rande Kreuzbergs, nicht weit vom Landwehrkanal. Am anderen Ufer lag Treptow. Er war erschöpft von seinen Wanderungen. Seit drei Wochen stand er hier mit seinem Wagen, tagsüber war er draußen unterwegs, nachts schlief er in seinen Schlafsack eingerollt auf der Rückbank. Das störte niemanden. Auch andere hatten ihre Camper Vans in der Parkbucht abgestellt, doch jetzt im Februar war Radek der Einzige, der hier lebte.
In einer Plastiktüte hatte er sein Frühstück und Abendessen. Brot, Wurst und Käse, Apfel und Banane, er brauchte nicht viel. Außerdem seinen Chesterfield-Tabak, Filter und Blättchen, dazu zwei Flaschen Rachmaninoff. Das Wageninnere roch nach alten Socken, kaltem Zigarettenrauch und Laub, nachts war es schneidend kalt, doch obdachlos war er nicht.
Der Rachmaninoff brannte in seiner Kehle, das tat gut. Brennen musste es, damit die Erinnerungen aufhörten. Am Nachmittag war Radek wieder an der Oberbaumbrücke beim weißen Rad gewesen. Jeden Tag ging er zum Rad und erinnerte sich an den Unfall. Die Kreuzung war stark befahren, niemand achtete auf das weiße Rad, nur Radek stand davor, mit zitternden Händen. Er hatte die Radfahrerin zu spät gesehen, als er abbiegen wollte. Ein halbes Jahr war das jetzt her, doch es hörte nicht auf. Immer wieder trat Radek auf die Bremse, sein Laster kam mit einem Knirschen zum Halt. Draußen die Schreie der Passanten, das Hupen der Autos, er stieg aus und verstand sofort, was geschehen war, als er das verbogene Fahrrad unter dem Hinterrad seines Lasters sah, die Radfahrerin lag da wie eine große Puppe, die jemand weggeworfen hatte.
Die Bilder gingen ihm nicht aus dem Kopf, standen ihm scharf und klar vor Augen, tagsüber und nachts. Jeden Tag ging Radek zur Oberbaumbrücke, um Abbitte zu leisten, jeden Tag kniete er vor dem weißen Rad nieder und sprach mit schwerer Zunge zu Gott. »Hör mir zu. Ich habe die Frau nicht gesehen, hörst du, ich habe sie nicht gesehen. Vergib mir. Lass mich hier nicht allein. Zrobię wszystko, co chcesz. Ich mache alles, was du willst.«
Gott gab ihm keine Antwort.
Radek stand schwankend auf, er brauchte schon morgens den Schluck Rachmaninoff, ehe er hierherkam. Die Fußgänger wichen ihm aus. Radfahrer schossen an ihm vorbei. Die Stralauer Allee stadtauswärts war voll, Donnerstagnachmittag, alle mussten noch einkaufen, wollten nach Hause. Das war Berlin. Immer in Eile. Kein Ort für Gott. Das weiße Rad war an der Kreuzung zur Oberbaumbrücke festgekettet, das blieb an Ort und Stelle, für immer und ewig. Über ihm war der graue Himmel, und Gott antwortete nicht. Neben ihm das kalte Wasser der Spree. Radek erinnerte sich an sein Dorf, an die Feldwege, die er barfuß lief, als er ein Kind war. Damals hatte Gott ihn gehört, als er mit seiner Großmutter betete, und hatte ihm seine Kinderwünsche erfüllt. Wieder kniete Radek vor dem weißen Rad, doch Gott wollte von seinem betrunkenen Bitten und Flehen nichts wissen.
Seine Kehle war trocken. Als es dunkel wurde, ging er durch den Park zurück zu seinem Bulli, schaute unterwegs in den Abfalleimern nach Pfandflaschen. Danach saß er stundenlang im Dunkeln auf der hinteren Bank am Campingtisch, drehte sich Zigaretten auf Vorrat und teilte sich den Rachmaninoff ein, immer nur kleine Schlucke, langsam. Die Kälte saß in seinen Knochen. Drei Unterhosen hatte er angezogen, zwei Jeans übereinander, Pullover, zwei Jacken, eine Mütze, mit jedem Schluck wurde ihm ein wenig wärmer. Endlich verblasste die Erinnerung an die Radfahrerin.
Draußen ging ein Anwohner mit seinem Hund vorbei, Radek hörte das Schnüffeln des Tieres nah an seiner Autotür, ein heiseres Bellen. Der Mann rief seinen Hund zu sich. Niemand beschwerte sich über ihn. Radek wurde wehmütig, summte ein altes Lied. Rauchte noch eine Zigarette, rollte sich in seinen Schlafsack, drehte sich zur Seite, schlief ein.
Er träumte von seinem ersten Winter in Berlin. Ende der Achtzigerjahre. Die Solidarność-Jahre. Ein eisiger Winter, minus zehn, minus zwanzig Grad, doch er war jung, wach, immer auf dem Sprung. Ihm machte die Kälte nichts aus. Er verkaufte auf dem Polenmarkt am Potsdamer Platz. Die Deutschen kauften alles, Kristallgläser, Fotos, Jazz-Platten, Kaffeetassen. Die polnischen Mütterchen saßen neben ihm auf dem hart gefrorenen Boden, hatten rote Wangen von der Kälte, doch das Geschäft lief. Das waren Zeiten. Da war er reich, die Geldbündel lagen schwer in seinen Hosentaschen. Jede Woche fuhr er zweimal, dreimal zwischen Warschau und West-Berlin hin und her, lieferte Waren für den Markt, nahm Landsleute mit zurück nach Hause. Er sang am Steuer, ging breitbeinig durch den Winter, das Hemd aufgeknöpft unter dem Ledermantel, ihm war nicht kalt.
Jäh endete der Traum, Radek war plötzlich wach, lag wieder in seinem stinkenden Bulli, riss die Augen auf, rang nach Luft, der Wagen war voller Rauch, jeder Atemzug bitter. Irgendwo brannte es, er konnte nicht sehen, wo das Feuer war, doch er spürte die wabernde Hitze. In Panik schlug er um sich, um aus dem engen Schlafsack herauszukommen, die Flaschen klirrten zu seinen Füßen, der restliche Wodka lief aus. Durch seinen Rücken schnitt ein scharfer Schmerz, das war jetzt egal, er musste raus hier. Sofort raus. Riss sich den Schlafsack von den Beinen, suchte seine Schuhe, tastete nach dem Türgriff.
Der ganze Innenraum lohte plötzlich auf, die Luft schien zu brennen. Radek schloss die Augen, legte einen Arm vor sein Gesicht, suchte mit der anderen Hand nach der Tür. Nur raus hier, auf den Gehweg. Seine alten Zeitungen loderten auf, er hörte den Fraß der Flammen, er wischte sie zur Seite, griff in die Glut und roch das verbrannte Fleisch, sein Fleisch, spürte noch keinen Schmerz, sondern dachte an den Benzintank unter sich, in jedem Moment konnte er in die Luft gehen, dann war es vorbei mit ihm.
Seine Hand fand den Griff und riss die Tür auf. Kühle Nachtluft strömte ein. Radek atmete auf. Er ließ sich nach draußen fallen, die Füße immer noch verheddert in den Schlafsack. Er rollte aus dem Fahrzeug auf den Bürgersteig und drehte sich auf dem nassen Pflaster, um die Flammen zu ersticken. Drei Schichten hatte er an gegen die Kälte, jetzt rann ihm der warme Schweiß den Rücken hinunter.
Er kam auf die Beine und taumelte auf den Bürgersteig. Die Flammen schlugen hoch über das Auto hinaus.
Im Schatten der Toreinfahrt des letzten Wohnhauses gegenüber, zwanzig Meter von ihm entfernt, sah er einen Mann stehen, der heftig zu zittern schien. Radek ging auf ihn zu, er brauchte selbst Hilfe, hob schon seine verletzten Hände, dann sah er den Mann genauer. Sein Mantel stand offen, der Hosenstall auch, der junge Kerl starrte auf die Feuerwolke des Bullis und rieb dabei wie besessen seinen bleich hervorstehenden Schwanz. Auf Radek achtete er nicht, er war in seiner eigenen Welt aus Lust, Scham und Überschwang. Die Bewegungen wurden immer rascher, sein Körper bog sich zusammen. Der junge Mann keuchte mehrmals hell auf und legte den Kopf zurück, als sein Samen hervorschoss.
»Chuj! Was machst du?«, sagte Radek. Er kannte seine eigene Stimme nicht wieder. »Sag mal, geht’s noch? Verrecken sollst du. Hast du keinen Respekt?«
Der junge Mann erschrak. Sein Gesicht war schmal, er atmete immer noch in Stößen. Die Augen standen eng beieinander, sie waren dunkel und still. Er antwortete nicht, zog hastig die Hose hoch, verstaute seinen Schwanz, schlug den Mantel darüber und drückte sich von der Toreinfahrt ab.
»Warte«, sagte Radek und hob die Hand. »Bleib stehen! Idioto!«
Der junge Kerl wich voller Entsetzen vor dem Mann zurück, dessen Haare und Augenbrauen versengt waren, dessen Haut von Stirn und Nase abgeschält war, dessen Kleidung schwelte und qualmte und der ihn auf Polnisch verfluchte. Mit vorgestreckten Händen kam er auf ihn zu. Hinter ihm der orange Widerschein der Flammen, die über den Bulli hinausloderten. Der junge Mann rannte los in die Dunkelheit, unbeholfen, beide Hände an der rutschenden Hose. An der Hausecke bog er ab, war verschwunden. Radek spürte, dass der Schmerz jetzt mit voller Wucht einsetzte. Sein Haar war verschmort, das ganze Gesicht fühlte sich an wie eine heiße Maske. Seine Hände waren nackt und bloß. Wie nötig hätte er jetzt eine halbe Flasche Rachmaninoff gehabt, um den Schmerz zu löschen. Feuer mit Feuer bekämpfen. In den Wohnungen über der Toreinfahrt gingen die Lichter an, eine Frau riss das Fenster auf und schrie. Radek drehte sich zu seinem Bulli um, dachte an seine Tüten mit den Lebensmitteln, an die beiden Flaschen Rachmaninoff. Was für eine Verschwendung. Die Flammen schlugen aus dem Inneren, nichts war zu retten. Seine Hände zitterten vor Schmerz und Verlangen, er sehnte sich nach einem Schluck.
Keine drei Minuten vergingen, da kam die Feuerwehr mit zwei Löschzügen, sechs Männer in voller Montur. Vier von ihnen schossen Wasser und Schaum in den Brand, zwei kamen auf ihn zu, der auf dem Kopfsteinpflaster kniete, die schmerzenden Hände vor sich.
»Kommen Sie aus dem Auto? War noch jemand im Fahrzeug? Haben Sie Schmerzen?«
Radek nickte. »War der Einzige, war eingeschlafen, plötzlich hat es gebrannt«, sagte er. »Habe Schmerzen.« Er wollte sich aufrappeln.
»Legen Sie sich hin!«
Ein Sanitäter schnitt die Ärmel seiner Jacken auf, ein anderer die Hosenbeine, Radek spürte das kühle Metall der Scheren auf seiner Haut. Die Feuerwehrleute breiteten eine goldfarbene Rettungsdecke über ihm aus. Sie wussten genau, was zu tun war, arbeiteten mit routinierten Handgriffen, für sie war es Alltag, doch in Radek breitete sich eine feierliche Stimmung aus. Er war wieder ein Mensch. Kein Penner, der eine Frau überfahren hatte, sondern ein Mensch mit Schmerzen, um den man sich kümmerte.
»Können Sie normal atmen?«
»Ja«, sagte Radek. »Ich glaube.«
»Was für einen Tag haben wir heute?«
»Ist mein Geburtstag«, sagte Radek. »Der 10. Februar.«
»Ich gratuliere«, sagte ein Feuerwehrmann. »Sie haben knapp überlebt. Da hat Ihnen jemand das Leben noch mal geschenkt.«
Radek lag auf dem Pflaster und schaute nach oben, eine Gruppe von Zuschauern um sich, Feuerwehrleute, Sanitäter, Nachbarn, über ihren Köpfen das nackte Geäst der Straßenbäume und dahinter der ferne kalte Himmel, die schmale Sichel des Monds. Gott sah ihn an, jetzt endlich hatte Gott ihn gehört. In diesem Moment wusste Radek, dass er nicht mehr trinken würde. Nie wieder. Keinen einzigen Tropfen mehr.
Die Polizei traf ein, Schutzpolizei, Kriminalpolizei. Man wartete auf einen Krankenwagen, um Radek ins nächste Krankenhaus zu bringen.
»Sieht mir nach Brandstiftung aus«, sagte ein Feuerwehrmann neben ihm. »Erster Augenschein, bin mir aber recht sicher. Die Spurensicherung der Polizei kommt gleich. Vielleicht ein gezielter Anschlag, versuchter Mord. Haben Sie Feinde?«
Radek zitterte vor Schmerzen unter der goldenen Decke, er lächelte trotzdem. »Feinde? Chef hat mich rausgeschmissen nach Unfall, Irina hat mich rausgeschmissen, weil ich gesoffen habe, mein Kollege Henryk auch. Aber Feinde? Ich lebe für mich.«
»Sie haben in dem Bulli da gelebt?«, fragte ein Polizist.
Radek nickte.
»Ich müsste Ihre Personalien aufnehmen.«
Radek nannte seinen Namen und wies auf den qualmenden Bulli. »Ausweis, Pass, Versicherungen – alles dort.«
Endlich traf der Krankenwagen ein, die Sanitäter hoben ihn auf eine Trage, schoben ihn ins Fahrzeug. Die Feuerwehr rückte ab, die Mieter gingen zurück in die Häuser, die Nacht war kalt.
Die Beamten von der Spurensicherung untersuchten den Bulli auf Brandzehrungen, um Ausgangspunkt und Ausbreitung des Feuers festzustellen. Viel zu holen gab es für die Spezialisten jedoch nicht. Ein leichter Regen setzte ein und löschte die Spuren.
Jette Geppert hörte die Sirenen der Polizei und Feuerwehr, die am späten Abend zu einem Einsatz hinten am Landwehrkanal ausrückten. Sie saß fünf Straßen entfernt in ihrer Küche und trank Wein mit Laszlo.
Seit fünf Jahren wohnte sie im Hausprojekt in der Forster Straße 17. Das Haus war im Amsterdamer Stil gebaut, die Fassade rotweiß verputzt, Haustür und Toreinfahrt dunkelgrün gestrichen. In den Achtzigerjahren hatte eine Gruppe Studenten das heruntergekommene Haus von Grund auf instand gesetzt, die morschen Fußböden herausgerissen und neu verlegt, die Fenster renoviert, neue Leitungen installiert. Über Jahre hatten sie auf der Baustelle gelebt, nach und nach das Haus wieder bewohnbar gemacht. Das war lange her, doch immer noch gab es das wöchentliche Plenum, an dem alle Hausbewohner teilnehmen mussten. Sie diskutierten bis in die Nacht über die Vorschläge der Energiegruppe, wann die Fassade gemacht werden musste, wer sich um die Heizkessel im Keller kümmerte, wer die Treppen im Vorderhaus wischte. Die Pioniergeneration war seit Jahren zerstritten, die Stimmung auf den Sitzungen des Plenums gereizt. Jette und die anderen neuen Leute brachten sich nicht genug ein, lautete der ständige Vorwurf. Sie profitierten von der billigen Miete, die nicht einmal die Hälfte dessen betrug, was auf dem freien Markt verlangt wurde, auf dem ohnehin nichts zu finden war. Jette liebte ihre riesige, seltsam geschnittene Wohnung, in der einmal die Frauen des Hausprojekts eine feministische Wohngemeinschaft hatten. Von ihnen stammte das Tierpark-Plakat der Tüpfelhyänen, das in ihrer Küche hing. Hyänen galten als heimtückisch und feige, hatte sie im Brehm gelesen, ihr Lachen sei heiser und höhnisch, doch Jette mochte das Plakat.
Drei Umzugskartons von Laszlo standen neben dem Kühlschrank, noch nicht ausgepackt. Vor zwei Wochen war er bei ihr eingezogen, Jette hatte einfach Ja gesagt, als er sie fragte. Ja, sie wollte, dass er bei ihr lebte. Sie wollte mit ihm aufwachen, mit ihm frühstücken, ihn in den Arm nehmen, wenn sie zur Redaktion fuhr, und sich zu ihm auf die Couch legen, wenn sie wiederkam. Sie wollte neben diesem großen warmen Körper schlafen, der sie faszinierte mit seiner Kraft und Wärme. Laszlo war fantastisch im Bett, weil er sich hingeben konnte, jede Nacht fand sie mit ihm heraus, was Wollust sein kann. Sie hatten sich vor vier Wochen beim Billard kennengelernt, Jette war verliebt wie noch nie.
Heute war sie müde, kam von einer langen Sitzung der Redaktion mit der Geschäftsführung, es stand nicht gut um die Finanzen, die Zeitung musste sparen. Die Anzeigen blieben aus, die Abonnenten kündigten oder starben. Im Laptop hatte sie zwei längere Stücke, die noch fertig werden mussten, und Laszlo hatte nicht eingekauft, obwohl er den ganzen Tag zu Hause gesessen hatte.
»Wieso soll ich Brot kaufen?«, sagte er, ebenfalls gereizt. »Ich habe geschrieben. Habt ihr nicht diese tolle Kantine? Wieso gehst du nicht da essen?«
»Ich habe da mittags Salat gegessen«, sagte sie. »Jetzt ist es elf. Wir haben nicht mal Käse im Kühlschrank.«
»Wenn du früher gekommen wärst, hätten wir noch um die Ecke was bestellen können«, sagte er.
»Gab viel zu tun«, sagte Jette und trank das Glas aus. »Ich habe echt krass Hunger. Hatte ich nicht Chips gekauft?«
»Die habe ich heute Mittag gegessen«, sagte er. »Ich war so im Schreiben, da wollte ich nicht in den Supermarkt gehen. Das bringt mich total raus.«
Laszlo schrieb, jeden Tag. Jette bewunderte ihn dafür. Er schrieb Manuskript um Manuskript. Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Filmentwürfe. Veröffentlicht hatte er noch nie etwas, außer in zwei Anthologien. Verkauft hatte er noch nichts. Das war egal, fand sie. Er würde es schaffen, wenn er durchhielt.
»Außerdem hatte ich kein Geld«, sagte er. »Hier lag nichts, ich habe zurzeit gar nichts. Ich kriege keinen Vorschuss, kein Honorar, ich muss das alles selbst vorstrecken.«
»Du kannst mich fragen, wenn du Geld brauchst«, sagte Jette, erleichtert, dass sie etwas besser verstand, was ihn ärgerte. »Ich leihe dir was. Wenn du für uns einkaufen gehst, kann ich dir auch Haushaltsgeld geben, das finde ich voll okay.«
»Ich finde das nicht okay«, sagte Laszlo. »Ich hasse es, von einer Frau ausgehalten zu werden. Haushaltsgeld, my ass. Willst du dich über mich lustig machen?«
»Dann schreib doch für den Checkpoint«, sagte Jette. Sie wollte jetzt nicht endlos diskutieren, sie wollte was essen. »Die suchen Leute, die schreiben können. Die zahlen nicht viel, aber sie zahlen überhaupt was. War heute auch Thema im Meeting, dass sie weiterhin Leute suchen. Der Job ist echt simpel: Veranstaltungen recherchieren, kleine Texte machen, crunchy Titel. Was die Studenten machen, kannst du auch. Musst bloß früh aufstehen.«
Laszlo musterte sie mit einem langen Blick, sein Arm lag auf dem Manuskript, an dem er gerade schrieb. Sie durfte nie lesen, was er schrieb.
»Kapierst du es nicht?«, sagte er. »Oder willst du es nicht verstehen? Du willst nicht akzeptieren, dass ich Autor bin. Ein Autor, kein Zeilenschinder für Seniorentreffs in der Urania. Das geht einfach nicht in deinen Zeitungskopf rein.«
»Meine Güte«, sagte sie. »Wie bist du denn drauf? Komm mal wieder runter. Das war ein Vorschlag, weiter nichts. Ein Vorschlag, wie du an etwas Geld kommst, statt hier rumzujammern.«
»Wer jammert hier rum?«, sagte Laszlo, seine Miene starr vor Wut. »Ich jammere? Du lässt deine Scheißlaune an mir aus, weil du deine Scheißtage hast.«
Das war für Jette der Schluss der Unterhaltung.
»Mach doch, was du willst«, sagte sie. »Ich hole mir noch einen Döner irgendwo. Vergiss den Checkpoint, kein Problem. Ich dachte bloß, es wäre schön, wenn zwischendurch mal irgendwas von dir erscheint. Das dauert ja wohl noch mit dem Büchner-Preis.«
Laszlo stand auf und schlug ihr ins Gesicht.
Zuerst begriff sie nicht, was geschehen war, der Schmerz brauchte ein paar Sekunden, bis er bei ihr ankam. Laszlos Gesicht war nah vor ihr, die Miene leicht verzerrt, entschlossen. Er wusste, was er tat. Seine Hand kam auf sie zu, sie drehte sich nicht weg. Noch nie hatte ein Mann sie geschlagen, auch nicht ihr Vater. Es tat weh.
»Mach doch, was du willst«, sagte Laszlo und ging ins Bad.
An diesem Abend redeten sie kein Wort mehr miteinander. Jette ging nicht mehr runter, sie fand noch eine halbe Packung Knäckebrot und aß sie mit altem Frischkäse, dazu trank sie drei Gläser Wein, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
Danach lag sie wach auf der Couch, hörte Laszlo drüben im Zimmer in ihrem Bett schnarchen und draußen die Autos, die über das Kopfsteinpflaster der Reichenberger Straße fuhren, das Geräusch schnitt ihr durch den Kopf. Sie konnte nicht einschlafen, weil sie hungrig war und weil sie immer noch den Schlag von Laszlo auf der Wange spürte. Seine Hand war groß, kraftvoll, der Schlag hatte gesessen, von der Schläfe bis hinunter zum Kiefer. Ihr Auge fühlte sich angeschwollen an, wie nach einem heftigen Wespenstich. Sie sehnte sich nach einer Zigarette.
Februarkälte am Morgen, der Himmel milchig weiß, vielleicht schneite es nachher. Um halb neun schloss Jette ihr Fahrrad gegenüber dem Kriminalgericht in der Turmstraße ab. Ihr Gesicht schmerzte noch, sie zog sich die Pudelmütze in die Stirn, niemand sollte die Striemen sehen.
Jette war Anfang dreißig, trug das braune Haar im Pagenschnitt. Bei der Tagespost schrieb sie die besten Reportagen und Porträts, das hörte sie immer wieder von Kollegen und Lesern, doch sie konnte mit dem Lob nicht viel anfangen. Sie schrieb einfach, unterhielt sich mit den Leuten, hörte ihnen zu, hatte den Blick fürs Detail, recherchierte die Hintergründe, fragte nach, und dann machte sie ihre Geschichte daraus. Zweimal waren ihre Reportagen mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet worden; das hatte sie Laszlo nicht erzählt.
Seit Jette denken konnte, vergaß sie kein einziges Gesicht. Ihr Gedächtnis war ein Archiv aller Gesichter, die sie je gesehen hatte. Gut gelaunt oder mürrisch, nachdenklich oder verängstigt, rasiert oder tätowiert. Jette kannte sie alle. Die Stellung der Augen, die Wangenknochen, der Kiefer, die Stirn, die Lippen und das Lächeln, die Augenfarbe, der Haaransatz. Sie unterschied alle Gesichter, die ihr auf der Straße, im Geschäft, in der Redaktion, in der U-Bahn begegneten. Jette speicherte sie mit Datum und Uhrzeit ab, das runde Gesicht der Busfahrerin des 29ers, das lang gezogene knochige Gesicht des Kellners auf dem Ausflugsdampfer, die flache Stirn ihrer Tante, die Knollennase im feinen Gesicht ihrer Schulfreundin in der neunten Klasse. Sie liebte es, Gesichter zu studieren und darüber nachzudenken, was hinter ihnen vor sich ging. Kein einziges konnte sie jemals vergessen. Sie erkannte Gesichter auch, wenn die Leute einen Mund-Nasen-Schutz oder eine Sonnenbrille trugen. Sie hatte nicht vage Erinnerungen an ein Gesicht, sondern präzise an dieses eine, spezielle Gesicht. Ein Super-Recognizer. Oft grüßte sie Leute auf der Straße, weil sie deren Gesichter längst kannte, und die Leute zeigten ihr einen Vogel. Es war eine Gabe, die ihr nichts brachte. Dafür verlor sie ständig ihr Handy oder ihre Hausschlüssel.
Vor dem Haupteingang des Gerichts warteten die Klienten auf ihre Verteidiger und rauchten noch rasch eine Zigarette. Sie trugen saubere Trainingsanzüge, Daunenwesten darüber, Turnschuhe, hatten die Vorladungen in der Hand.
Ein gedrungener Mann mit Glatze war aufgebracht. »Was soll ich denn sagen? Ich habe die ganze Nacht kaum geschlafen. Was wollen die von mir?«
Der Verteidiger sagte: »Sie sagen gar nichts, ich mache das für Sie. Kommt Ihre Verlobte auch?«
»Hab ihr gesagt, dass sie kommen soll. Sie versucht es, sagt sie. Ich glaube nicht, dass sie es schafft. Das braucht Stunden, bis sie fertig ist im Bad.«
Jette drängelte sich durch, zeigte den Presseausweis vor und passierte die Kontrolle. Sie hatte immer noch eine Gänsehaut, wenn sie durch die Eingangshalle lief, die hoch und still war wie eine Kathedrale. Hinter den Treppenfluchten erstreckten sich in einem trüben Dämmerlicht die Gänge. Die Luft roch muffig, abgestanden. Jetzt im Winter war es eiskalt, die Zeugen, die für eine Vernehmung bestellt waren, hockten in zugigen Fluren auf Holzbänken und warteten darauf, dass sie aufgerufen wurden. Von anderen Saaltüren her tönten die Stimmen der Saaldiener, die den Beginn der Verhandlung ausriefen: »In der Sache Murat A. alle Prozessbeteiligten eintreten!«
Sie liebte das Kriminalgericht, das Labyrinth der Gänge und Treppen, der Verhandlungssäle und Besprechungszimmer, der Innenhöfe und Keller. Jahrelang hatte sie hier die Gesichter der Angeklagten studiert, ihre Ausreden und Erklärungen gehört, ihre Scham und Reue gesehen.
Heute hatte sie einen Termin für die Gerichtsreporterin übernommen. Ein Ehedrama. Die Frau hatte ihren Mann mehrmals mit Schwermetall vergiftet, er hatte knapp überlebt, lag mehrere Monate im Krankenhaus, war jetzt schwerbehindert.
Bevor Jette in den Saal ging, surrte ihr Handy. Der Ressortleiter. Er stand immer unter Strom, machte ständig Druck, ein stämmiger Mann, Handballer, Dreitagebart, Glatze, neigte zu Ausbrüchen, wenn er nicht bekam, was er wollte. Ein Spandauer. Sie konnte sich seine kratzige Stimme gut vorstellen, irgendwas musste ganz dringend, jetzt sofort gemacht werden.
Die Verhandlung fing gleich an, sie wollte danach zurückrufen. Doch das Summen des Handys hörte nicht auf. Armin drängelte. Sie wusste, dass er mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, seine Augen traten leicht heraus, er wartete darauf, dass sie ranging.
Sie ging ran.
»Ich hab was für dich«, sagte Armin. Sie hörte seinen Atem. »Endlich gehst du ran. Die Geschichte ist der Hammer. Die musst du machen. Ich lasse da niemanden sonst ran. Aber du musst sie jetzt machen, heute noch. Autobrand in Kreuzberg, in deinem Kiez, die Polizei geht offenbar von versuchtem Mord aus. Der Mann hat knapp überlebt und liegt im Urban, wir haben die Story exklusiv. Keiner sonst weiß, wo er liegt, wir wissen es. Ein Pole, wahrscheinlich obdachlos, hat in seinem Wagen geschlafen. Hat heftige Brandverletzungen, ist aber ansprechbar.«
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Nicht jetzt, hier ist ein Ehedrama, die Frau hat ihren Mann vergiftet, weil er Kontaktanzeigen aufgegeben hat. Er ist als Zeuge vorgeladen, das ist großartiger Stoff, das kann ich nicht liegenlassen.«
»Kannst du wohl«, sagte Armin. »Kann nicht gibt’s nicht bei mir, weißt du doch. Lass es liegen, fahr ins Urban und unterhalte dich mit dem Mann, ehe er nach Marzahn verlegt wird. Die Leser gehen ab auf Autobrände, und jetzt ist dabei ein Mensch fast draufgegangen. Sag ja, Jette, sag ja. Enttäusch mich nicht, ich habe niemanden sonst, der das machen kann.«
Jette stand im Flur, die Verhandlung hatte unterdessen begonnen, der Zeuge wartete ungeduldig darauf, aufgerufen zu werden und seine Geschichte zu erzählen, und Armin redete einfach weiter, sie lauschte seiner knarrenden Stimme, die immer eindringlicher und lauter wurde. Jette wusste, dass er im ganzen Großraumbüro zu hören war und alle anderen Redakteure nur darauf warteten, dass Jette zusagte, damit Armin aufhörte zu reden und sie in Ruhe weiterschreiben konnten.
»Okay«, sagte sie schließlich. »Ich mache es. Ich fahr hin. Urban-Krankenhaus.«
»Geil«, sagte er. »Sehr geil. Ich wusste, dass ich dich kriege. Melde dich bei Christina in der Rettungsstelle, die bringt dich hin. Ruf mich an, was du daraus machen kannst bis halb fünf. Wir machen das groß, zweihundertdreißig Zeilen. Das muss heute noch rein. Kannst du auch ein Foto machen?«
»Ich melde mich«, sagte Jette. »Wenn ich was habe, melde ich mich. Vielleicht will er ja gar nicht reden.«
»Alle wollen mit dir reden«, sagte Armin. »Alle. Weißt du doch. Der Pole ahnt nicht, was für ein Glück er hat, dass du kommst.«
Jette legte auf. Sie hätte gern erfahren, weshalb die Frau ihren Mann mit Thallium vergiftet hatte. Um ihn loszuwerden? Um ihn zu bestrafen? Um sich um ihn kümmern zu können, damit er merkte, was er an ihr hatte? Der Zeuge saß noch vor der Saaltür und schaute auf sein Handy. Es hatte keinen Sinn für Jette, sich nur für die Verlesung der Anklage noch reinzusetzen.
Stattdessen ging sie auf die Toilette, und als sie sich die Hände wusch, stellte sich eine kräftige junge Frau neben sie und betrachtete eingehend Jettes Gesicht.
»Mal wieder gegen den Türrahmen gelaufen?«, sagte sie. »Passiert ja vielen Frauen.«
Jette schaute sich im Spiegel an. Sie sah schlimm aus, wie ein Opfer. Ihr linkes Auge war blutunterlaufen, und an der Schläfe hatte sich ein blaubrauner Fleck gebildet. Am Morgen hatte sie den Blick in den Spiegel vermieden, um nicht an den Schlag zu denken. Jetzt spürte sie Laszlos Schelle noch einmal, und eine Welle der Scham breitete sich in ihr aus. Sie sah aus wie eine dieser Frauen, die sich von ihren Männern anschreien, gegen die Küchenwand schubsen, gegen das Schienbein treten, ins Gesicht schlagen ließen. Als Volontärin hatte Jette eine Reportage über ein Frauenhaus in Charlottenburg gemacht, hatte für die Sonntagsausgabe die Geschichte von mehreren Frauen mit gewalttätigen Männern erzählt, die immer wieder geschlagen, misshandelt, gedemütigt worden waren. Türkische Frauen, die es anders nicht kannten, naive serbische Mädchen, Neuköllner Hausfrauen mit peinlichen Frisuren. Jette hatte insgeheim über sie den Kopf geschüttelt, sie konnte sich noch an ihre Wut erinnern, wenn die Frauen ein tapferes Lächeln aufsetzten und ihre Männer entschuldigten.
»Ich bin ihm auf die Nerven gegangen.«
»Er hatte Ärger mit seinem Chef.«
»Ich hätte nicht über ihn lachen sollen.«
Jetzt war sie eine von ihnen, die sich verprügeln ließen, eine junge, smarte Journalistin, zweimal mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Der Moment in ihrer Küche ging nicht vorbei: ein dunkles Knäuel aus lauten Stimmen, Körperschweiß, dem plötzlichen, dumpfen Schlag auf den Schläfenknochen, Schockstarre und Angst. Sie drückte die aufsteigende Panik nieder.
»Tut nicht mehr weh«, sagte sie.
»Da bin ich froh, echt jetzt, super«, sagte die junge Frau neben ihr. Sie öffnete ihren Pferdeschwanz und schüttelte ihr dichtes schwarzes Haar. »Ich kann dir sagen: Die Frauenhäuser sind grad so überlaufen, o mein Gott, es ist so krass aussichtlos, dort irgendwie einen Platz zu kriegen. Auch so ein Corona-Ding, dass das extrem zugenommen hat, dieses Gegen-den-Türrahmen-Laufen der Frauen. Aber wenn es nicht mehr wehtut, ist doch alles super. Corona ist ja auch vorbei, fast jedenfalls, jetzt kommen die Affenpocken, glaube ich.«
»Trotzdem danke«, sagte Jette. »Alles gut.«
»Alles gut. Genau. Das glaubst du nicht, wie oft ich das am Tag höre. Grade von Frauen, die grad wieder gegen den Türrahmen gelaufen sind. Bei denen ist immer alles gut. Das sind die zufriedensten Frauen überhaupt.«
Die Frau reichte ihr eine Visitenkarte: Romina Winter, Kriminalpolizei Berlin. Telefonnummer, Adresse. Da für Dich.
»Falls mal was ist«, sagte sie.
Der graue Block des Urban-Krankenhauses ragte in den trüben Februarhimmel. Vor der Rettungsstelle parkten Notarztwagen, Taxen, Einsatzwagen der Polizei und Feuerwehr. Die Ärzte und Pfleger waren im Stress, der Gang war wie immer voll mit Patienten. Herzinfarkte, Schlaganfälle, Schnittverletzungen, Unfälle mitE-Scootern, häuslicher Streit, Bauchschmerzen, im Suff gestürzt.
Eine Pflegerin nahm Jette mit hinein, sie schlüpfte durch den Pulk der wartenden Verletzten und Kranken und ihrer Angehörigen. Der polnische Patient lag in einem Durchgangsflur hinter der Rettungsstelle auf einer Trage, die Hände über dem Bauch gefaltet, bereit für den Transport.
»Die in Marzahn haben eine richtige Brandverletztenstation«, sagte die Pflegerin. »Wir machen nur die Erstversorgung, das reicht für ihn nicht. Er hat Verbrennungen zweiten, teilweise dritten Grades. Jetzt liegt er hier rum, die Transporte sind alle ausgebucht, und ob Marzahn einen Platz für ihn hat, wissen wir auch nicht. Setz dich zu ihm und beeil dich. Ich muss wieder hoch.«
Jette erschrak, als sie neben dem Mann Platz nahm. Er sah aus wie eine Mumie. Sein Gesicht war bis auf die Augen und den Mund verbunden, auch die Hände waren bandagiert. Seine Augen waren geschlossen, er schien zu schlafen. Sie wartete auf dem Hocker neben ihm, schaute ihn an, ihre Arbeit begann. Was siehst du? Was ist geschehen? Was willst du wissen? Wann wird er anfangen zu erzählen? Früher oder später fingen alle an zu erzählen, wenn Jette neben ihnen saß. Nur keine Ungeduld zeigen. Bis drei Uhr nachmittags brauchte sie die Geschichte, dann musste Jette sie noch zusammenschreiben. Armin wartete in der Redaktion, um vier sollte der Text spätestens da sein, halb fünf wurde belichtet.
Der Pole ließ sich Zeit. Er schlief nicht, das merkte sie an seinen unregelmäßigen Atemzügen. Er wartete. Die Hektik der Rettungsstelle rauschte im Hintergrund. Eine halbe Stunde verging. Jette konnte schweigen. Der Pole sagte nichts. Bewegte sich nicht. Schien keine Schmerzen zu haben.
Als er endlich die ersten Worte sagte, war seine Stimme ein Flüstern. Sie musste sich zu seinem Mund beugen, um zu verstehen, was er fragte.
»Ob Gott mich geschickt hat?«, sagte sie. »Nein, ich glaube nicht. Ich bin von der Zeitung, Jette Geppert, ich möchte Ihre Geschichte hören. Wenn Sie erzählen möchten. Was ist Ihnen geschehen in der Nacht?«
»Das ist meine Buße«, sagte er. »Ich wurde von Gott aus den Flammen gerettet. War Satan verfallen, ein Sünder. Ich habe gesoffen und gesoffen. Rachmaninoff. Einen Menschen habe ich umgebracht, eine Frau auf dem Rad. Jetzt bin ich gerettet und werde Buße tun.«
Er bewegte sich langsam und stöhnte auf.
»Haben Sie Schmerzen?«, fragte Jette. »Soll ich jemandem Bescheid geben?«
»Natürlich habe ich Schmerzen«, sagte Radek. »Das gehört dazu. Das ist Fegefeuer. Schmerzen reinigen. Meine Seele wird ausgefegt im Namen des Vaters, des Sohnes und Heiligen Geistes.«
»Soll ich einen Priester holen?«, fragte Jette. »Vielleicht möchten Sie beten.«
Radek lächelte vorsichtig. »Glauben Sie an Gott? Wann haben Sie letztes Mal gebetet? Sie müssen niemanden holen.«
Jette sagte nichts mehr. Sie hatte schon zu viel geredet, nun hörte sie zu, wie sie im Sommer am Strand dem Ozean zuhörte.
»Ich habe nichts mehr«, sagte er. »Bulli ist abgebrannt, und damit alles, was ich besessen habe. Jetzt stehe ich mit leeren Händen da. Ich sage: Geschieht mir recht. Nackt kommt Mensch zur Welt. Ich beginne von vorn. Ich werde keinen Alkohol mehr trinken. Keinen Tropfen. Habe ich verstanden, dass Gott zeigt seine Güte an mir. Er hat nicht seine Hand von mir gezogen, obwohl ich Sünder war.«
Radek erzählte von dem Unfall mit der Radfahrerin. Ja, er hatte vorher getrunken, wie er immer auf seinen Fahrten getrunken hatte, Kaffee und Schnaps. Zwanzig Jahre war das gutgegangen, keinen einzigen Unfall hatte er gebaut. Die Radfahrerin war noch am Unfallort gestorben, er hatte das verbogene Rad gesehen, das Blut, das Bündel. »Wie große Puppe sah sie aus, die Beine verdreht.« Die Blicke der Sanitäter hatte er durch und durch gespürt, als sie vom Asphalt aufstanden und den Kopf schüttelten und ihn anschauten, den Fahrer, der rechts abgebogen war, ohne in den Seitenspiegel zu schauen. Danach kam das schwarze Loch, das er nur mit Rachmaninoff füllen konnte. Da lebte er noch bei Irina und saß den Sommer über in ihrer Küche, während sie zur Arbeit ging, und trank ein Glas nach dem anderen. In England suchen sie Fahrer, sagte Irina. Radek winkte ab, er fuhr nicht mehr. Den Führerschein hatten sie ihm gleich abgenommen. Der Prozess stand auch noch an, und in jeder Nacht stiegen die Bilder von der Oberbaumbrücke wieder hoch, das Bündel Mensch auf der nassen Straße. Im Herbst begannen sie sich zu streiten, Irina hielt seinen Suff nicht mehr aus, er konnte ihr Gezeter nicht ertragen. Nach Weihnachten setzte sie ihn vor die Tür. Die ersten Wochen hatte er sich mehr schlecht als recht durchgeschlagen, bei einem früheren Kollegen geschlafen und kleine Jobs gemacht, bevor er am Nachmittag zu trinken begann, damit die Hände nicht mehr zitterten. Er brauchte Irina nicht mehr, lebte jetzt mit Frau Rachmaninoff in wilder Ehe. Auch der Kollege warf ihn schließlich raus.
»Ich habe dann in Bulli geschlafen«, sagte Radek. »Einmal war ich noch in Irinas Wohnung, hatte ja noch Schlüssel. Wollte niemanden stören, nur eine Stunde lang in Küche sitzen, Tee trinken. Dann kam ihr Sohn nach Hause, hat mich nie leiden können. Hat der Junge sofort Polizei geholt. Einbruch, hieß es, Hausfriedensbruch, so heißt das. Cholera, ich wollte nur Tee trinken, sitzen in Küche. Man ist doch auch Mensch.«
Zwei Männer vom Krankentransport kamen in den Flur und wollten ihn mitnehmen nach Marzahn. Sie waren in Eile, wiesen auf ihre Liste von Transporten. »Wir müssen los.« Jette fragte, ob sie ihn begleiten dürfe, sie willigten erst ein, als beide einen Zwanziger von ihr bekamen. Sie schoben den Patienten nach draußen, hoben ihn ins Auto, Jette durfte sich neben ihn setzen.
»Halten Sie sich gut fest«, sagte ein Transportfahrer. »Sonst liefern wir gleich zwei Patienten ab.«
Radek erzählte während der Fahrt weiter. »Polizisten haben meine Personalien aufgenommen, und Schlüssel musste ich abgeben. Es gibt eine Anzeige, sagten sie. Keine Ahnung, wohin sie die schicken wollen, ich habe in Bulli geschlafen. Als ich Fernfahrer war, ich habe oft im Auto geschlafen. Man gewöhnt sich. Ist kalt im Winter, aber geht schon, musst dich warm anziehen.«
Er starrte an die Decke des Fahrzeugs, sie fuhren durch den dichten Berliner Geschäftsverkehr, der Fahrer gab ungeduldig Gas, musste vor einer Ampel wieder abbremsen. Jette hielt sich fest.
»Haben Sie eine Erinnerung an den Brand?«, fragte sie schließlich. »Wie es geschah? Haben Sie jemanden gesehen?«
Radek drehte das Gesicht zur Seite. »Nein«, sagte er. »Nein. Niemanden gesehen, keine Menschenseele. Als ich aus meinem Bulli kam, war die Straße leer. Gott hat gegeben, was ich verdient habe. Hat mir Antwort gegeben. Ich nehme Strafe auf mich.«
Im Osten wurden die Straßen breiter, da konnte der Fahrer beschleunigen. Als sie am Krankenhaus Marzahn ankamen, bedankte sich Jette für das Gespräch. »Ich lasse Ihnen die Zeitung zukommen, wenn der Artikel drin ist«, sagte sie. »Vielleicht schon morgen. Ich glaube, dass sich viele Leute für Ihre Geschichte interessieren.«
»Das hoffe ich«, sagte Radek. »Immer bin ich Fernfahrer gewesen, viele Jahre, zwanzig, dreißig Jahre, überall gefahren, Warschau, Berlin, München, Neapel, Rotterdam, Kopenhagen, Helsinki, kenne alle Autobahnen, alle Raststätten in Europa, habe schlimme Sachen gesehen und schlimme Sachen getan. Jetzt ist Zeit für schöne Geschichte, eine Rettung. Mein Leben beginnt noch einmal.«
»Wo wollen Sie denn schlafen, wenn Sie hier rauskommen?«
Radek seufzte. »Ich weiß nicht. Erst mal gesund werden. Gott wird mir meinen Weg weisen. Ich bin im Feuer neu geboren.«
»Der polnische Messias«, sagte Jette und lachte.
»Machen Sie«, sagte Radek. »Schreiben Sie. Ich werde viel schlafen, muss mich häuten. Schon bald werde ich mich den Menschen zeigen.«
Als Jette zur Straßenbahnstation ging, um in die Stadt zurückzufahren, begann es leicht zu schneien. Sie schrieb die Hälfte des Artikels noch in der Tram.