Berliner Werwolf - Stefan Schweizer - E-Book

Berliner Werwolf E-Book

Stefan Schweizer

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Beschreibung

Der "Berliner Werwolf" führt Leserinnen und Leser in eine Welt aus Drogen, Sex, Liebe und Hass und fesselt sie mit einer rasanten Handlung à la Tarantino. Autor Stefan Schweizer legt einen modernen literarischen Kriminalroman vor, der in die Abgründe bürgerlicher Existenzen und auf von der Gesellschaft ausgestoßene Menschen blickt. Die Geschichte: Oberstaatsanwalt Gerry Geilen steht vorm großen Karrierehöhepunkt an die Spitze der Berliner Justiz, doch dann erhält er den Auftrag, Mitgliedern rechtspopulistischer Parteien die Beteiligung an Sprengstoffattentaten in Berlin nachzuweisen – zur Not auch unterzuschieben. Der politische Druck ist immens. Seine Widersacher versuchen mit allen Mitteln, nicht nur seine bürgerliche Existenz zu vernichten, sondern trachten ihm sogar nach dem Leben. Plötzlich erkennt Geilen, dass sich die größten Feinde in den eigenen Reihen befinden und sein Leben keinen Pfifferling mehr wert ist.

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Stefan Schweizer

Berliner Werwolf

Krimi

eISBN 978-3-911008-13-6

Copyright © 2024 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Olaf Tischer

Bildrechte: © portokalis/iStock

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Autor Stefan Schweizer

studierte, promovierte und lehrte an der Universität Stuttgart. Er lebt im Speckgürtel der Bundeshauptstadt, bewegt sich gerne in fremden Kulturen, in exotischen subkulturellen Milieus und ist Grenzgänger zwischen den Scenes.

Veröffentlichungen bei mainbook: „Seitenwende“ (gemeinsam mit Gerd Fischer, 2023), „Schall & Rausch - Der Graskönig von Berlin“ (gemeinsam mit Martin Müncheberg, Cannabis-Krimi 2022), Thriller-Trilogie „Götterdämmerung“, „Sieg-fried“ und „WalhallaX“ (gemeinsam mit Autor Michael Seitz, 2021-2023), „Mörderklima“ (Klimawandel-Krimi, 2020) und „Dr. Junkie – Berlin im Rausch“ – Drama Serie (2024, wird fortgesetzt).

1.

Das Leben war schön und wird wieder schön sein – hofft Gerry. Zurzeit ist er am Boden. So zerstört, dass es schon physisch wehtut. Aber vielleicht, vor langer Zeit, früher also einmal, beinahe so lange her, dass es kaum noch wahr ist, gab es etwas, das der Vorstellung von Glück ziemlich nahekam: Es war schönster Sommer. Damals liebte er seine Frau. Dorothea, seine geliebte Doro, wie er sie zärtlich nach dem Beischlaf nannte. Ja, sie war wunderbar. Ihre seidigen, blonden Haare dufteten verheißungsvoll nach Frühling, ewiger Frische und immerwährender Jugend. Sonnenstrahlen drangen durch die hohen Gartenfenster des neuen Hauses in Berliner Westend. Vornehme Gegend, nicht die allerteuerste Lage, aber konnte sich wirklich sehen lassen. Es war angenehm warm und schön hell. Gerrys dreijährige Tochter Ariadne, sein kleiner Engel, stand an der Wiege und streichelte sanft ihren jüngeren Bruder, seinen Stammhalter, der damals sein ganzer Stolz war, da ihm von allen eingeredet worden war, dass ein Mann erst ein Mann ist, wenn er einen Sohn gezeugt hat. Ariadnes blonde französische Zöpfe hüpften beim Streicheln sachte hin und her, da sie ihren Kopf nicht still halten konnte. Ihre blauen Augen verströmten Wärme und Liebe. Gerry Geilen Junior – Julian Gerry – schlief, selig lächelnd, den unvermeidlichen Daumen im Mund, da er Schnuller hasste. Gerry hoffte, dass das kein sexuelles Omen war, machte sich aber nicht allzu viele Sorgen, da weder in seiner Familie noch in der seiner Frau gleichgeschlechtliche Orientierungen bekannt waren. Julian strahlte eine innere Ruhe aus, um die er ihn beneidete. Ihn brachte nichts aus dem Konzept. Er war mit sich und der Welt in Einklang. Doro rauschte auf Gerry zu und schenkte ihm eine Umarmung, die es in sich hatte. Intensiver können auch feurige Südländerinnen einem Mann nicht das Gefühl geben, begehrt zu werden.

„Schön, dass du endlich da bist! Wir haben ja so sehr auf dich gewartet“, zirpte sie in sein Ohr. „Ich habe heute Abend eine Überraschung für dich parat“, verkündete sie geheimnisvoll, „mein hart arbeitender Mann hat sich ein wenig Entspannung verdient!“

Das klang gut. Sehr gut sogar. Nach einem langen Tag im Büro und unzähligen Besprechungen mit eindeutiger Männerdominanz ist weibliche Zuwendung für den Ernährer der Familie etwas Wunderbares. Ein Ereignis, das ihn nach langen Stunden der Entbehrung wieder aufzurichten vermag.

2.

Nun hat Udom es geschafft. Allen Unkenrufen zum Trotz. Sie hat es allen Skeptikern gezeigt – angefangen bei ihren Eltern, auch wenn die schon lange unter der Erde liegen. Die Alten hatten ihr ständig gesagt, dass sie es nie zu etwas bringen würde. Alle anderen hatten ihren Eltern zugestimmt. Niemand hatte an sie geglaubt. Mit ihrer Meinung war sie immer alleine dagestanden. Es schien den Leuten sogar Freude zu bereiten, ihr Zweifel unter die Nase zu reiben. Zudem die unerträglichen Ratschläge, die keine Frau auf der Welt gerne hört:

„Suche dir einen Mann, der dich und die Kinder versorgen kann, lerne gut und sei fleißig auf der Sekretärinnen-Schule …“

Oh, wie sie dieses Gewäsch hasste, das reiner Gehässigkeit entsprang, beinahe so sehr wie die Schule und die Lehrer. Die Lehrer, die sie beschimpften, bis sie sich einen von ihnen unter vier Augen schnappte und ihm den Marsch oder eigentlich etwas anderes blies, sodass dem Typen beinahe die Hörner wegflogen.

„Weltklasse“, hatte der Idiot unter Stöhnen hervorgebracht und seither gab er ihr nur beste Noten, obwohl ihre schulischen Leistungen sich nicht im Geringsten verbessert, im Gegenteil eher verschlechtert hatten.

Udom hatte also gelernt, wie sie Macht ausüben konnte, und spezialisierte sich künftig darauf, wozu sie ein angeborenes Talent besaß. Durch jahrzehntelange Professionalisierung hatte sie es darin zu einer unbestrittenen Meisterschaft gebracht. Aber als ihr Alter die Kundschaft bröckeln und das Einkommen schmelzen ließen, musste sie umdenken und sich nach Alternativen umschauen. Udoms Fickt-Euch-Zeichen waren unübersehbar, denn sie hat es allen bewiesen. Alle Miesmacher, die immer behauptet hatten, sie würde ihr ganzes Leben lang nur Schwänze lutschen und ihren Arsch hinhalten, konnten sich jetzt selbst den Finger in den Arsch stecken. Sie, ja sie, führte ihr eigenes Unternehmen und das in Deutschland, dem Land, wo die harte Währung wahlweise auf den Bäumen oder an den Schwänzen wuchs. Sie hatte es zu etwas gebracht und konnte stolz auf sich sein. Verdammt stolz sogar. Natürlich war sie strenggenommen bereits ihr ganzes Leben lang selbstständige Unternehmerin gewesen – wenn auch in Abhängigkeit von jemandem, meistens Männern, die sie die Drecksarbeit verrichten ließen und ihr zum Dank das meiste der Kohle wegnahmen. Oh, diese beschissenen Männer. Ihr ganzes Leben war eine Geschichte, die von der Abhängigkeit von Männern handelte. In beide Richtungen – versteht sich.

Sorgfältig stellt Udom die Vase mit einem Strauß roter Rosen auf die Mitte des reizlosen, aber teuer aussehenden Glas-Tisches. Das schwarze Ledersofa wirkt teuer, aber in die Jahre gekommen, gemütlich und eingesessen. Die Steh-Bar ist das allerletzte, sowas würde sich nicht einmal ein gerade dem Urwald entsprungener Affe in Thailand kaufen. Dieses Teil in Phuket aufzustellen, würde als geschäftsschädigend gelten. Aber deutsche Kunden bestehen darauf, vor dem Ficken gemütlich ein oder zwei Kolben zu kippen, am besten, um sich mit einem anderen Freier darüber zu unterhalten, was sie gleich mit der Schlitzaugen-Schlampe alles anstellen. Udom beschleicht der Verdacht, dass deutsche Männer dabei einen unbewussten Hang zur Gleichgeschlechtlichkeit ausleben. Bei ihr hingegen hatte das ganze Leben nur ein Motto gegolten, in unterschiedlichen Sprachen, manchmal auch in Zeichensprache:

„Pretty Lady, licki di lick: suck my dick!“

Sobald sie unabhängig arbeitete, kriegte sie Probleme mit Kunden. Irgendeine krumme Nummer lief immer. Und die Kundschaft in Thailand war international und bunt wie der sprichwörtliche Hund. Da gab es sturzbetrunkene Briten, die im Rausch die Hand gegen sie erhoben und sie krankenhausreif prügelten. Blonde Skandinavier mit langen Bärten meinten, sie müssten ihr Wikinger-Erbe fortführen. Amerikaner benahmen sich wie ihre Armee in den Ländern des Südens. Franzosen, die von ihren Liebenskünsten dermaßen überzeugt waren, dass es schon wieder schmerzte – in jeder Hinsicht. Anonyme Deutsche, auf der Suche nach einer schnellen Nummer, die danach „I love you“ oder ähnlichen Schmus säuselten und eigentlich nur in den Arm genommen werden wollten. Und die verdammten Italiener, die allesamt einen Hang zum Schweinischen besaßen und sie zwar als Individuum und nicht nur als Fick-Ware betrachteten, aber denen es umso mehr Freude bereitete, ihr Schmerzen zu bereiten und sie als Frau leiden zu sehen.

Knallharte Zuhälter hielten sie anfangs auf Linie. Sie verprügelten und umgarnten sie mit dem Schwerpunkt auf der Peitsche. Und je nach Kassenlage in unterschiedlicher Reihenfolge. Als sie dann zur großen Firma wechselte, wurden die Männer durch Frauen ersetzt, denn die thailändische Mafia war der Meinung, dass Frauen besser zur Führung von Frauen geeignet seien. Aber Frauen waren für Frauen in dem Geschäft keineswegs besser. Die hatten ihr Amphetamine bis zum Abwinken in den Alkohol geschüttet, damit sie auch in einem Höllenloch wie Pattaya rund um die Uhr strahlte wie ein Kraftwerk und einen Kunden nach dem anderen abfertigen konnte. Schmerzen und menschliche Regungen waren nicht erlaubt. Drogen und Alkohol hingegen schon – in rauen Mengen.

Jetzt ist sie am Drücker, als thailändische Puff-Mutter. Am Ende einer langen Karriere angelangt. Mit eigenem Start-up-Unternehmen. Und – sehr entscheidend – mit geradezu idealer Vernetzung. Sie betrachtet ihren Betrieb mit Argusausgen. Die Bilder an den Wänden gefallen ihr nicht. Stilisierte Hochglanzbilder von eurasischen Ficks. Die würde sie im Laufe der Zeit durch authentische Fotos ersetzen, vielleicht im eigenen Laden hergestellt. Anschauungsmaterial hat sie reichlich.

Es dreht sich alles immer nur um eines: den schnellen Baht, den schnellen Dollar, den schnellen Euro. Irgendwie ist es überall auf der Welt gleich. Das Ganze ist zwar nicht völlig legal, aber sie besitzt beste Kontakte, die zu etwas gut sein müssen. Dieser deutsche Vertreter der Staatsmacht mit dem Job bei der Sitten-Kripo fördert sie nach Kräften. Auch wenn er gewisse Gegenleistungen verlangt. Aber das gehört zum Geschäft wie das Amen in die Kirche. Gibst du mir, so gebe ich dir. Anders läuft das nicht. Nur die ständig blinkende Lichterkette stört sie. Zu viele Erinnerungen an Pattaya. Dort hingen diese Lichtorgeln das ganze verdammte Jahr über. Der deutsche Polizist hatte auf der Lichterkette bestanden, vielleicht machte ihn das irgendwie geil, weil es Erinnerungen an einen Thailand-Urlaub hervorrief. Vielleicht ist er aber nur ein guter Geschäftsmann und weiß, was deutsche Männer am besten triggert. Ihr sollte es recht sein.

3.

„Waren Sie schon einmal bei uns?“

Geilen schüttelt den Kopf.

„Dann füllen Sie bitte den Anmeldebogen aus.“

Die Sprechstundenhilfe reicht ihm ein Klemmbrett und einen blauen Kugelschreiber.

„Dann bräuchte ich noch Ihr Versichertenkärtchen.“

Geilen findet die Verwendung des Diminutivs ebenso bescheuert wie den Verlauf des Gesprächs.

„Ich habe keines. Privatversichert“, entgegnet er mit herablassendem Lächeln, denn zu irgendwas muss die Unsumme ja gut sein, die der Staat und er jeden Monat für die private Krankenkasse abdrücken.

Das Wartezimmer ist stylish. Das braune Ledersofa und die schweren Ledersessel sind zwar ein wenig abgewetzt, aber man sieht, dass sie mal viel Geld gekostet haben. An den weißen Wänden hängen Kunstdrucke – aber nicht die aus dem schwedischen Möbelhaus, sondern edlere mit vernünftigen Rahmen. Expressionismus und Post-Expressionismus. Nichts, was man mögen muss, aber für eine Arzt-Praxis nicht schlecht.

„Dr. Geilen, bitte.“

Das ging aber fix – wieder ein Vorzug seiner privaten Versicherung. Die Sprechstundenhilfe ist hässlich wie die Nacht. Ihre androgyne Figur wird zum Glück vom weißen Arzthelferinnenkittel verdeckt, denn das Brett mit Erbsen möchte sich wirklich niemand anschauen. Doch ihr längliches Gesicht mit den viel zu großen Hasenzähnen und der prominenten Nase lässt sich nicht verstecken.

„Vielleicht dient sie als Negativbeispiel, damit der Herr Doktor seine blauen Pillen besser an den Mann bringt“, denkt Geilen, „bei der Schabracke bleibt’s im unteren Stockwerk ruhiger als bei einem pietistischen Bibel-Kreis.“

Kurz darauf betritt Urologe Dr. Bolschakow das Zimmer. Knapp 60, braungebrannt mit protzigen Goldkettchen an den Handgelenken. Kleiner Wohlstandsbauch, ohne unförmig zu wirken. Auf den Handschlag verzichtet er, wofür Geilen dankbar ist, schließlich verbringt der Arzt einen Großteil seines Tages damit, in männlichen Ani herumzustochern. Die Vorstellung verursacht Geilen Brechreiz.

„Was kann ich für Sie tun?“, möchte Dr. Bolschakow mit sonorer Stimme umgehend wissen. Das Wartezimmer ist rappelvoll, nur eine gute Durchlaufquote verspricht materiellen Erfolg.

Der Mann spricht distinguiert, aber mit hörbar russischem Akzent. Er blickt Geilen freundlich und offen über seine vergoldete, randlose Brille hinweg an. Es fällt Geilen in diesem Augenblick nicht leicht, die richtigen Worte, den richtigen Ton zu finden und so fixiert er die eindrückliche Nase von Bolschakow.

Jüdische Abstammung?, fragt er sich.

Juden haben es heute schwer in Russland. Bolschakow? Jüdischer Name, oder? Unglaublich, was manche von ihnen unternehmen, um jüdische Spuren zu verwischen. Dann spürt Geilen den Schweiß, der sich unter seinen Achseln gebildet hat und der Spuren an seinem weißen Hemd hinterlässt. Solch einen Kloß im Hals hatte er lange nicht mehr. Verdammt, das konnte doch nicht so schwer sein. Schließlich ist er erwachsen und Bolschakow ist ein Arzt, dem nichts Menschliches, Männliches oder Sexuelles fremd sein durfte. Und dennoch ist er entspannt wie ein Sechzehnjähriger bei einer Ganzkörperuntersuchung.

„Also …“, setzt Geilen mit heiserer Stimme an, verstummt jedoch mit einem Mal, denn er spürt eine kräftige Hitzewallung. Es kommt ihm vor, als würde er im Boden versinken.

„Wissen Sie, in meinem Beruf hat man so viel mit erektilen Dysfunktionen zu tun, dass sie nichts Besonderes sind“, bricht der Doktor mit seiner angenehmen Stimme das Schweigen und blickt auf eine unbestimmte Stelle an der weiß gestrichenen Decke.

„Ja.“

„Die Unfähigkeit eine Erektion zu bekommen oder über längere Zeit zu halten, führt viele Patienten dazu, einen neuen Arzt aufzusuchen. Zum Glück gibt es genügend Ärzte und zahlreiche Möglichkeiten, dem Ganzen abzuhelfen.“

Bolschakow strahlt. Was für eine Wortdrechselei in einer ihm fremden Sprache. Seine Freude wirkt aufrichtig. Ganz der dem hippokratischen Eid verpflichtete Arzt, der dem Patienten Gutes tut. Dabei möchte Geilen nicht wissen, welche Zuwendungen der Russe von den Pharmafirmen kriegt, damit er ihre Produkte anpreist und an den Mann bringt. Ein Staatsanwaltskollege hatte ihm sogar von Reisen in 5-Sterne-Ressorts in die Karibik berichtet – wahlweise mit Familie oder einheimischen Begleiterinnen.

„Dankeschön“, geht Geilen vage auf Bolschakows Vorlage ein.

„Auch das höre ich nicht selten. Nach einem Bluttest werde ich Ihnen Medikamente verschreiben, die Sie bitte der Reihe nach testen. Dann geben Sie mir Rückmeldung, wie was gewirkt hat, und wir denken über die richtige Langzeit-Therapie nach. Das bringt neuen Schwung in Ihr Liebesleben, glauben Sie mir.“

Geilen atmet erleichtert auf. Bolschakow fängt an Arzneinamen, Dosierungen und Verpackungsgrößen in seinen PC einzugeben. Bei Privatpatienten ist er gerne großzügig, da ihn niemand zur Räson ruft und die Pharma-Industrie sein Gebaren tatkräftig bis hin zur Bestechung unterstützt.

„Wenn Sie mit einem Präparat nicht klarkommen, entsorgen Sie es bitte umweltgerecht, auf keinen Fall weiterreichen, denn je nach Konstitution des Konsumenten können die Mittel eine tödliche Wirkung entfalten …“

Das hört sich schon weniger rosig an, aber im Endeffekt sind es nur ein paar Pillen mehr, die dich am Laufen halten, schmunzelt Geilen und tippt wie ferngesteuert an die linke Innenseite seines Sakkos, worauf ein kurzes, leises Scheppern ertönt – Pillenmix und Pillenfix in einer kleinen Retro-Blechdose, auf der bezeichnenderweise „Fuel“ steht und eine Zapfsäule abgebildet ist. Ein Glücksgriff, diese Chemie …

4.

Er fällt. Immer weiter. Immer tiefer. Er rauscht einen kreisförmigen Tunnel hinunter, dessen Wände aus verzerrten Gesichtern bestehen. Hunderte, Tausende, Abertausende, Millionen von Gesichtern. Der Fall beschleunigt sich, sodass die einzelnen Gesichter nicht mehr erkennbar sind und ineinander verschmelzen. Kein Boden in Sicht. Unmöglich eines der Gesichter zu erkennen. Und doch kommen sie ihm vertraut vor. Bedrohlich vertraut. Der Fall nimmt ihm die Luft zum Atmen, sodass er auf den erlösenden Aufprall hofft. Der bleibt aber aus. Schweißgebadet wacht er auf. Es ist mitten in der Nacht. Er flucht, der Traum ist dahin.

„Womit habe ich das verdient?“, flüstert er, während er sich die Augen reibt, um seine Traumvisionen wegzuwischen.

5.

Das Büro des Generalstaatsanwalts wirkt kühl und nüchtern – abgesehen von einer Deutschlandfahne, die hinter seinem ausladenden Schreibtisch thront. Der Schreibtisch sieht nach viel Arbeit aus, es türmen sich zahllose Aktenmappen neben Aktenordnern. Privat ist ein großer, versilberter Bilderrahmen.

Die Deutschlandfahne wirkt unangebracht, konterkariert den spröden Charme der deutschen Amtsstube. Ebenso deplatziert wirken die staatstragenden Fotos zweier Männer, die an der Wand hängen. Die Staatsoberhäupter blicken tatkräftig und zu allem entschlossen drein.

„Es ist höchste Zeit“, beginnt der General. „Sie müssen den Neonazis endlich das Handwerk legen. Lieber gestern als heute. Wir benötigen Resultate. Rasche, eindeutige Verurteilungen! Kein Erbarmen mit der braunen Scheiße. Und die blaue Partei erledigen Sie nebenbei. Ein Aufwasch.“

Geilen stutzt. Diese Art zu reden hat er in diesem Zimmer ewig nicht mehr gehört. An den Sätzen stimmt nichts, denn eigentlich fährt die Berliner Justiz auf Schmusekurs mit Neonazis. Und jetzt so ein klares Wort aus dem Munde eines Juristen, den er zu beerben hofft, in drei Jahren. Falls – ja falls der alte Sack nicht eine Verlängerung beim Ministerium beantragt und bewilligt bekommt, was bei seinem Gesundheitszustand unwahrscheinlich ist. Manchmal kriegen sie ja die fünfte Luft zum Atmen, die deutsche Chemie macht es möglich und wo ein eiserner deutscher Wille ist, da findet sich ein chemischpharmazeutischer Weg.

„Hören Sie mir zu, Geilen? Was ist mit Ihnen los? Sie müssen sich in den Griff kriegen. Zusammenreißen! Arsch zusammengekniffen und weiter!“

Geilen nickt und weiß nicht, wie ihm geschieht. Der General schüttelt irritiert den Kopf. Dann klopft er mit seinen Wurstfingern energisch auf den vor ihm liegenden Aktendeckel.

„Wenn Sie hier was werden wollen, benötigen Sie Erfolge. Und-zwar-sofort! Diese verdammten Nazis unterminieren die Glaubwürdigkeit unseres Rechtsstaats, unserer Behörden und ziehen uns in Verdacht, ihnen wohlgesonnen zu sein. Lesen Sie Zeitung? Die Unterstellungen sind haltlos. Wir als Beschützer der braunen Brut.“

Geilen stellt auf Durchzug. Die Leier kennt er. Immer und immer wieder muss er sich denselben Schmus anhören.

„Finden Sie Beweise dafür, dass die ‚Berliner Werwölfe‘ die treibende Kraft hinter den rechtsterroristischen Anschlägen in Neukölln, Wedding und anderswo sind. Treten Sie die Kollegen in den Arsch, damit die in Schwung kommen. Manchmal glaube ich, dass die Ärsche Sympathien für die Neonazis haben. Kehren Sie mit eisernem Besen in unseren Reihen. Jeder Richter oder Staatsanwalt, der im Verdacht steht, das braune Gesocks zu decken, wird versetzt.“

Geilen schluckt. Unmöglich. Für die Täterschaft der rechten Gruppe, die es offiziell gar nicht gibt, lassen sich weder Beweise noch Indizien finden. Dennoch brennen ständig Autos linker Politiker, Garagen liberaler Künstler werden abgefackelt, queere Menschen zusammengeschlagen … Vielleicht lässt sich aber was zusammenbasteln, wenn er sich reinhängt, das wäre ja schließlich nicht das erste Mal, dass er einen Fall so bearbeitet, dass das gewünschte Ergebnis herauskommt, obwohl die Beweislage dürftig ist.

„Außerdem wird von hoher politischer Ebene aus ein deutliches Signal gegen rechts gewünscht“, holt ihn der General aus seinen Gedanken zurück. „Sie sind mit der diffizilen politischen Lage vertraut. Wutbürger, Reichsbürger, der rechte Flügel, Südkreuz, Ostkreuz und und und. Wir müssen Exempel statuieren, um den braunen Mob abzuschrecken und die Bevölkerung zu beruhigen.“

Geilen räuspert sich. Raus hier! Kaum auszuhalten. Einen Augenblick glaubt er zu ersticken.

„Ich werde sie so deftig in den Arsch ficken, dass sie die Zeit im Knast als Erholungsheim betrachten!“, antwortet Geilen mit tiefer Stimme. „Es wird nichts als ein blutender Krater zurückbleiben.“

Der Generalstaatsanwalt stutzt. Eine Sekunde später lockern sich seine Gesichtszüge und der Hauch eines Lächelns huscht über sein Gesicht.

„Das ist die Sprache, die die verstehen. Ich verlasse mich auf Sie! Geilen, ich habe es immer gewusst. Sie sind mein Mann!“

Als Geilen an der Türe angelangt ist: „Geilen, noch ein Rat. Entspannen Sie sich! Um es in Ihrer Sprache auszudrücken: Dann müssen Sie nicht so rumlaufen, als hätten Sie einen wahnsinnigen Prügel im Arsch.“

Klugscheißer!, denkt Geilen. Fick dich selbst! Außerdem sagt das der Richtige. Der ist so entspannt wie ein Junkie auf Entzug. Nur, dass dieser Entzug ewig dauert und nicht auf dem Bahnhofsklo endet.

6.

Die Hitze macht ihn fertig. Diese Ganzjahres-Decke ist das Letzte. Wie häufig hat er seine Frau zu überzeugen versucht, Sommerdecken zu kaufen? Immer mit demselben Ergebnis:

„Das sind Decken, die man das ganze Jahr über benutzt. Die sind so praktisch … Aber das verstehst du nicht. Deine Welt besteht nur aus Paragrafen …“

Der Wecker klingelt. Tut – tut – tut. Geilen brummt unwirsch. Wischt sich mit der Hand über das verschwitzte Gesicht. Atmet langsam aus, schneller wieder ein, seufzt und dreht sich auf die Seite. Er hat kaum geschlafen. Und den Rest der Nacht geträumt, dass er nicht schlafen kann. Immer wieder, eintönig, unerbittlich, gnadenlos ertönt der Wecker. Seine Hand tastet nach dem Aus-Knopf. Doch wieder tut – tut – tut. Natürlich hat er den Knopf beim ersten Versuch verfehlt. Er blinzelt. Nimmt verschwommen die Anzeige wahr. 6.01 Uhr. Immer die ewiggleiche Tretmühle. Er kommt sich vor wie der Hamster im Laufrad. Er ist müde, erschöpft, kaputt und benötigt Ruhe und Atempausen und Entschleunigung.

E-N-T-S-C-H-L-E-U-N-I-G-U-N-G!

Aber was muss, das muss. Dienst ist Dienst und ... An das Andere möchte er gar nicht denken. Das ist außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Seit Jahren schon. Er lebt so solide, dass er sogar in Salt Lake City klarkommen würde und ein mustergültiges Mitglied der Gemeinde wäre. Wohltuend spürt er die Wärme des Körpers, der neben ihm liegt. Saugt den ihm bekannten Duft ein, der ihm nichts mehr sagt. Dennoch merkt er, wie sich bei ihm etwas regt, wo sich schon lange nichts mehr regte. Tote Hose war gestern, jetzt ist Leben im unteren Stockwerk. Vorsichtig und sanft schmiegt er sich an sie.

Seine Frau hat sich stets fit gehalten und gepflegt. Für ihr Alter hat sie eine 1a-Figur. Kein Wunder. Das Fitness-Studio kostet ein Vermögen. Sie verbringt dort mehr Zeit als zu Hause. Sie isst nichts und Kochen kennt sie nur aus dem Fernsehen. Schüttet dafür aber reichlich Schampus und andere Perlweine in sich hinein und kombiniert das mit Schmerz- und Beruhigungstabletten, die das Hungergefühl dämpfen. Die kleinen runden, ovalen und rechteckigen Pillen in allen möglichen Farben verschlingt sie wie Kinder Smarties.

Er spürt, wie sich ihr Gesäß seiner Leistengegend nähert, dann aber innehält.

„Lass das, Gerry!“

Die Stimme klingt verschlafen, aber scharf. Es ist nicht die Art der Schärfe, die er gerne hätte. Klare Sachlage. Verdammt, er sehnt sich aber nach Nähe, Wärme und Menschlichkeit. Er weiß gar nicht mehr, wie lange das her ist, seit sie das letzte Mal intim waren. Tage, Wochen oder sogar Monate? Vielleicht ein Jahr? Sein Erinnerungsvermögen versagt. Egal, jetzt ist jetzt: Seine Hand wandert über ihren Rücken und bleibt auf dem birnenförmigen Po liegen. Zack. Ihr Ellbogen bohrt sich in seine Brust. Er zuckt zusammen.

„Ich habe dir gesagt, dass du das lassen sollst, Gerry!“

Sie klingt vorwurfsvoll, verbiestert und verschlagen. Am liebsten würde er sie in diesem Moment erwürgen, so sehr hasst er sie für die Demütigung.

„Du mich auch“, sagt er und setzt sich im Bett auf. „Scheiß Fotze“, fügt er so leise hinzu, dass sie es hoffentlich nicht hört.

„Das habe ich nicht gehört“, meint sie und ist schon wieder im Einschlafen begriffen – die Schlaftabletten und der Schampus vom Vortag wirken nach.

Was er mit seiner Erektion anfangen soll, weiß er nicht. Bei der herrschenden Hitze wäre eine kalte Dusche nicht verkehrt.

7.

Früh am Morgen hatte Schwarz die Anzeige in der Tageszeitung mit den fettgedruckten Buchstaben aufgegeben:

Phuket-Thai-Massage 69

Werbung war das A und O. Auch im horizontalen Gewerbe. Ohne Werbung nix los, kein Moos, keine verdeckte Aktion. Also passt alles und nimmt Konturen an. Nun inspiziert er sein Baby, für das die Werbetrommel gerührt wird, abschließend mit kritischen Augen.

Selbst ein Blinder mit Krückstock bemerkt, dass am Hauseingang was nicht stimmt. Schwarz betrachtet zufrieden das Ergebnis. Ein normales, unverdächtiges Wohnhaus der Jahrhundertwende mitten in Charlottenburg. Altbau mit hohen Decken. Mit gelb-grünlicher Farbe bestrichen, wie viele Häuser. Das Hausnummernschild ist riesig, rechts oben über der Türe. Und daneben ein auffallendes grünes Licht. Rot wäre zu billig. Zu protzig. Freier mögen es vulgär, aber sie wollen beim Betreten eines Lusttempels nicht auf dem Präsentierteller stehen und rotes Licht hat in dieser Beziehung Signalwirkung. Die Hausnummer 169 ist nicht zu übersehen. Sehr schön. Die Hausnummer besitzt Potenzial, das selbst dem einfältigsten Berliner eingängig ist. Was er in der Werbung ausgelotet hat, ist für Versaute, die ihr Oberstübchen nicht mit ihrem Schwanz verwechseln. Nummer eins in Sachen 69 oder einmal 69 usw. Ein Extra-Eingang für die Parterre-Wohnung, die aus fünf Zimmern besteht. Ideal. Ein Windfang davor. Das perfekte Set-up. Die Honigfalle schlechthin.

Die Tür besteht aus braunem Sperrholz, sieht aber aus wie massive Eiche. Daneben ein Streifen Milchglas, hinter dem eine bunte Lichterkette baumelt, die ihre Lichterfolgen ändert. Billig und doch anziehend. Das Leuchten wirkt magisch und besagt, dass man sich reintrauen soll und es einem vergolten werden wird. Wehmütig erinnert er sich an eine kleine Muschi, die er einmal in Koh Samui kennengelernt und die ihm allerhand Neues beigebracht hatte. Ihm, dem alten Sack, der sich mit allen Wassern gewaschen gefühlt hatte. Er war sich nicht sicher, vermutete aber, dass sie minderjährig gewesen war. Scheiß der Hund drauf, ob er oder ein anderer es ihr besorgte, spielte keine Rolle und außerdem war die Kleine als seine Lehrerin in Sachen Liebe erste Sahne gewesen. Eins mit Sternchen, Super mit fünf B, Weltklasse. Der Schuppen, in dem er sie aufgegabelt hatte, war ein einziger Weihnachtsbaum gewesen. Lichterketten allerorten.

Schwarz holt sich vom heißen Südostasien zurück ins eher nüchterne Berlin und studiert die Klingelschilder. „Bomm“, „Bum“, „Pim“ und „Leck“. Einfach wunderbar, die thailändischen Namen. Aber mit der Anordnung, also der Reihenfolge der Namen, ist er nicht zufrieden. Denn eigentlich müsste das Bum – Bomm – Leck – Pim oder besser Leck – Pim – Bum – Bomm heißen. Für den deutschen Normaltrottel vom Dienst, der auf Schlitzaugen-Muschis steht, kommt Französisch vor dem Rein-Raus-Akt, es sei denn, sie stehen drauf, wenn die Reisfresserin genüsslich den Schwanz nach allen Regeln der Kunst ablutscht, der gerade noch in ihrem Arsch steckte. Er ist nicht sicher, ob Bum vor Bomm oder Bomm vor Bum kommen sollte. Vielleicht spielt das keine Rolle. Das Objekt erweist sich als optimal für die verdeckte Operation, die er ans Laufen bringt.

Jetzt ist es an der Zeit, die Ware zu testen, ermuntert er sich. Mal schauen, was die Schlampen draufhaben. In Momenten wie diesen ist Schwarz dankbar, dass er ungebunden ist und tun und lassen kann, was er will, solange er sich keine dienstlichen Verfehlungen – wie zum Beispiel ein paar Kilometer mehr bei der Fahrtkostenabrechnung angeben – leistet.

8.

Geilen steht im Flur. Trotz der Dusche ist er klatschnass geschwitzt. Die Hitze schlägt ihm auf den Magen. Ihm ist übel. Er könnte kotzen. Der Blick in den Spiegel verleiht ihm ein wenig Sicherheit. Sicherheit, das bedeutet die silberfarbene Patek Phillipe Nautilus an seinem rechten Arm. Die Bullaugenform eines Ozeandampfers findet er beruhigend. Die sportlich-elegante Uhr passt zu seiner Erscheinung. Auch wenn er ein paar Kilo zu viel auf die Waage bringt. Was sein dunkler Armani-Anzug nicht kaschieren kann. Der ihm gefällt. Die schwarzen Derbys von Oliver Grey passen zum Ensemble – findet er, auch wenn er weiß, dass das alles nicht aus einem Guss ist, wie er es sich wünschen würde. Und leider nicht so toll wirkt, wie es eigentlich könnte, denn es steckt ja immer noch er drin. Die Einzelteile sind exklusiv und dennoch zusammengestückelt. Am wenigsten kann er etwas gegen seine fehlende Haarpracht unternehmen. Die Geheimratsecken sind mehr als ausgeprägt und das Grau verdrängt die wenigen schwarzen Oasen. Mit Akkuratesse zupft er am Krawattenknoten herum. Eigentlich sitzt alles gut – er möchte es aber p-e-r-f-e-k-t haben. Der Knoten ist voluminös, wirkt edel und macht Eindruck. Gut. Mindestens 40.000 €! Die Vorstellung dieser Summe hat etwas Tröstliches. Das schafft nicht jeder, so viel wert zu sein. Teure Hülle, beschissener Inhalt. Hauptsache er hält einer äußeren Überprüfung stand. Es fällt ihm schwer, sich zu mögen. Genaugenommen verabscheut er sich und würde am liebsten den Strick holen, um dem Ganzen ein rasches Ende zu bereiten. Das hätte etwas Beruhigendes, Endgültiges und Befreiendes, findet er. Dafür hat er nicht den nötigen Mumm in den Knochen. Was ihm seine Frau immer sagt, ohne dabei sein Ableben im Blick zu haben.

Ein leichter Schauder ergreift ihn. Trotz der Wärme. Er spürt, wie eine unaufhaltsame Panik in ihm hochsteigt. Er schüttelt sich, als helfe das. Schnell geht er Richtung Esszimmer. Da muss seine Pillenschachtel liegen. Zeit für die doppelte Dosis. Nüchtern hält er sich keine Sekunde aus.

9.

Der Generalstaatsanwalt hat Sorgen. Richtige Sorgen. Nicht so Kinkerlitzchen-Scheiße wie seine Mitarbeiter. Das Justiz-Ministerium sitzt ihm im Nacken. Macht mächtig Druck. Die verkackten Neonazis. Fackeln nicht lange, zünden Autos politischer Gegner an und begehen staatsgefährdende Straftaten. Also nicht nur ein Fall für die Justiz, auch ein Politikum. Das Spiel läuft aber anders. Niemand sagt, hänge den militanten Rechtsextremen was an, ziehe sie aus dem Verkehr. Niemand sagt, wir brauchen ein Druckmittel gegen die AfD, beweise, dass die blaue Partei mit drinhängt. Keiner drängt ihn, etwas Konkretes gegen die rechtsextremen Flügel-Sympathisanten zu unternehmen, aber jeder erwartet es von ihm. Unausgesprochen. Wenn was schiefläuft, ziehen alle die Köpfe ein, es gibt keine Beweise für Anweisungen, alle mimen die Ahnungslosen und er ist derjenige, der die Chose ausbadet.

Das geben sie ihm durch die Blume zu verstehen und packen stattdessen jede Menge Scheiße auf den Tisch. Blockieren dringende Personalentscheidungen. Verschleppen Bewerbungsverfahren. Monieren seine suboptimale Amtsführung. Drohen mit unehrenhafter Absetzung und winken mit Lösungen, bei denen beide Seiten ihr Gesicht wahren können.

„Einen Kaffee. Aber ein bisschen zügig!“

Zwei Minuten später bringt seine Sekretärin das Gewünschte und stellt es wortlos auf dem Schreibtisch ab. Der General nickt unmerklich. Dann holt er eine Kristallkaraffe mit bernsteinfarbener Flüssigkeit aus dem Schreibtisch und schüttet sich einen ordentlichen Schuss in das Vollautomatengesöff. Sein Arzt würde einen Herzkasper kriegen, wenn er wüsste, was er sich jeden Tag reinzieht … Aber schließlich tut zu hoher Blutdruck nicht weh und außerdem muss die Chemie-Scheiße für irgendwas gut sein, die er jeden Tag in sich hineinstopft. Zudem benötigt er Treibstoff. Ohne ihn kommt er sich vor wie ein Auto, das geschoben werden muss.

Geilen! Personalentscheidungen waren das A und O. Ob der das brachte? Der General war sich nicht sicher. Geilen war weich, ein Schisser, vielleicht sogar einer dieser beschissenen Frauenversteher, die er über alle Maßen hasste. Bei Geilen musste er im Zweifel jede Menge Druck aufbauen, damit er funktionierte. Vielleicht nicht zu viel, da er sonst kollabierte.

„Bringen Sie mir sofort Geilens P-Akte!“, bellt er in die Sprechanlage. Einmal hat er sie erwischt, wie sie am Nagellack schnupperte. Jeder musste schauen, wie er über die Runden kam.

Einen genauen Blick in Geilens Personalakte zu werfen und Sachen auszugraben, die er in der Hinterhand behält, wird sich in jedem Fall lohnen. Falls die Dinge aus dem Ruder laufen …

10.

Er wischt sich den Schweiß aus den Augen, der beißt und Tränen verursacht. Auf dem edlen, dunklen Esszimmertisch liegt ein handschriftlicher Zettel.

Lieber Daddy,

für die Abi-Fahrt brauche ich neue Klamotten.

Hab mir was im Internet bestellt.

Alles gaaaaanz supergünstig.

Und noch besser: supertoll!!!

Alles prima! ☺

Kuss

Ariadne

Daneben liegt ein Überweisungsträger. 473,78 €. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, ihn auszufüllen. Knapp 500 Steine versteht sein kleiner Liebling als supergünstig. Die Zeiten ändern sich. Wie immer, wenn sie was von ihm möchte, ist sie ausgesucht höflich, zuvorkommend und lieb. Kaum hat er den Zettel zurückgelegt, verstärkt sich die Panik. Er hält den Blick gesenkt, es ist ihm nicht möglich aufzublicken, er hat Angst, dass bei einem Blick nach oben sein Herz aussetzt. Die Angstwellen rollen unablässig heran – immer wieder. Das Atmen fällt ihm schwer. Er rettet sich zur Wohnküche. Schenkt sich ein Glas kaltes Leitungswasser in ein schweres Kristallglas. Zwingt sich langsam ein- und auszuatmen. Er fingert verzweifelt nach der rechteckigen Pillendose aus 925er Silber, die er bei offiziellen Auftritten dabei hat, aus seinem Anzuginneren, zerreißt dabei beinahe die Anzuginnentasche, öffnet panisch mit zitternden Händen den Klickverschluss und verschüttet fast den Inhalt des Döschens.

1 x Prozac.

2 x ¼ Bromazinil.

Daneben blaue Tabletten, die erst seit Kurzem seine Sammlung komplettieren. Verdammt, die hat er zwar gestern genommen, aber ohne sie ausprobieren zu können. Die Scheiß-Schlampe Doro war nicht in der Stimmung. Wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Was nicht nur ihre Schuld war. Aber jetzt schlug sie alle seine Annäherungsversuche aus. Er stemmt die Hände auf die marmorierte Küchenarbeitsplatte und spürt die wohltuende Kälte. Dass er die nichtblauen Tabletten geschluckt hat, verschafft ihm ein Gefühl der Erleichterung, ohne dass es dafür eine physische Grundlage geben kann, da der Wirkstoff Zeit benötigt, um sich im Körper zu verteilen. Dann, ohne bestimmten Adressaten, murmelt er vor sich hin.

„So kann das nicht weitergehen, Geilen.“

Geilen lacht. Der ist gut. Ein Spitzenwitz. Denn vorher wird die Welt untergehen, bevor sich bei ihm was ändert. Sei’s drum, drauf geschissen und: Forget it! Nach ein paar Minuten fühlt er sich in der Lage, seinen Mann zu stehen. Auf geht’s. Vom Leben in die Welt und von der Welt ins …? Nichts?

Was ihm Sorge bereitet, ist das Gefühl zu stagnieren, auf der Stelle zu treten. Sich für immer und ewig im selben Gefängnis zu befinden. Sich nicht bewegen zu können. Manchmal wünscht er sich, dass alles sprichwörtlich den Bach runtergehen würde. Oder wie die Engländer sagen: go to hell in a handbasket. So etwas würde ihm neues Leben einhauchen. Ihn spüren lassen, dass er noch am Leben ist. Auch wenn es sein Ende bedeuten würde. Wenn nur die gottverdammte Hitze und die innere Leere nicht wären.

11.

Das Zimmer ist überladen. Kitsch ohne Ende. Ein schlechter Witz. Ein Klischee nach dem anderen. Der Brüller schlechthin. Reichskriegsflagge und Hakenkreuzfahne an den Wänden. Da kommt zusammen, was zusammen gehört. In der Ecke steht ein funktionsfähiges Gewehr aus dem 2. Weltkrieg mit Seitenbajonett inklusive Blutrinne. Überall stehen Bilder aus dem 3. Reich: Hitler, Heß, Goebbels, Himmler und Bormann. Der Generalreichsfeldmarschall und Morphinist Göring fehlt – vermutlich aufgrund des Putschversuchs kurz vor Kriegsende, wobei Himmler ja auch Kontakt mit dem Feind aufgenommen und Kapitulationsangebote unterbreitet hatte, der treue Heinrich. Es ist angenehm kühl, die Klimaanlage läuft auf Hochtouren. Auf dem stylishen Glastisch steht eine Magnum-Flasche Jägermeister. Arnulf klopft mit seinem Zeigefinger zweimal auf das Foto und streichelt mit der anderen Hand seinen graumelierten Vollbart, der in den 80er Jahren mal modern gewesen war. Dann zupft er an seinem schweren, goldenen Siegelring herum. Sein blaugrauer Pullunder sieht aus, als sei er in den 90er Jahren des letzten Jahrtausends im Ost-Ural-Gebiet mit Textilmaschinen aus dem besiegten Nazi-Deutschland hergestellt worden. Dabei handelt es sich um deutsche Wertarbeit – von deutschen Arbeiterinnen in Deutschland hergestellt.

„Das ist er. Der macht uns Ärger“, sagt Arnulf verärgert.

Auf dem Foto sieht Geilen jünger aus.

„Sollen wir ihn aus dem Weg räumen? Wir können …“

Mit einer unwirschen Handbewegung bringt der weißhaarige Politiker Patrick zum Schweigen. Patricks Muskeln spannen sich unter dem grauen Muskel-Rippshirt an.

„Wozu soll das gut sein? Einen Oberstaatsanwalt umlegen? Einfach so. Und was passiert dann?“, fragt Arnulf. „Dann werden sie die Partei noch mehr durch den Verfassungsschutz beobachten lassen und uns in alle Einzelteile zerlegen. Vom Prüf-, über den Verdachtsfall zum Verbotsantrag. Das können wir uns nicht leisten. Wir wollen die Macht, nicht den Untergang.“

Patrick, dessen blonde Stoppeln wenige Millimeter lang sind, zieht es vor zu schweigen. Darüber hat er sich keine Gedanken gemacht. Nervös tippt er mit den Springerstiefeln mit Stahlkappen auf den Fußboden.

„Dann gibt es ein Riesengeschrei und es kommt ein anderer Oberstaatsanwalt. Der uns noch mehr Ärger macht“, spinnt Arnulf als weitblickender Politiker den Faden weiter.

Mit einem goldenen Zippo zündet er sich eine Zigarette mit weißem Filter und Goldrand an. Dann, nach einem langgezogenen Seufzer, fährt er fort.

„Was würde ich alles dafür geben, um meinen Thor wieder rauszuholen? Eine Million? Zwei Millionen?“

Seine etwas zu vollen Lippen beben unmerklich. Er gibt ein seltsames Schnalzgeräusch von sich. Mit verklärtem Blick lässt er Rauch der Zigarette aus dem Mund entweichen, wobei seine Lippen ein O formen.

Patrick steht ein wenig unsicher, er weiß, wie sehr seinen Chef sein in U-Haft befindlicher Sohn beschäftigt. Zumal er Angst hat, dass Thor zu weich ist, es nicht bringt und die Familienehre besudelt. Also auspackt und mit den Bullen kooperiert. Obwohl er bei der Gefangenenhilfe einen Sonderbonus besitzt, was Luxusbedingungen im Knast nahekommt. Doch der Junge ist weich wie von der Sonne aufgewärmte Butter und tendiert zum Verrat. Dann bliebe ihm nichts übrig, der B-O-S-S müsste ein Zeichen setzen und sein eigen Fleisch und Blut zum Abschuss freigeben. Patrick fragt sich, was am Knast so schlimm ist. Er hatte dort eine ganz gute Zeit. Dort gab es so viel Lebenserfahrung wie nirgendwo sonst auf der Welt. Und viele Freunde, Gleichgesinnte, die alle dieselben Feinde hatten. Im Gefängnis war die Welt einfach strukturiert, dort konnte man gut klarkommen.

„Ich habe den Eindruck, dass Geilen in letzter Zeit strauchelt. Irgendetwas stimmt mit dem nicht“, holt ihn Arnulf aus seinen Gedanken zurück.

Patrick versucht sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Was meint der Chef? Er wird nicht fürs Nachdenken bezahlt. Und damit kann er nichts anfangen, denn ein scheiß verfickter Staatsanwalt ist ein scheiß verfickter Staatsanwalt ist ein scheiß verfickter Staatsanwalt. Oder wie sein Kamerad Herrmann zu sagen pflegte: „Knallen wir ein paar Staatsanwälte ab, dann werden sich diese Systemstützen besser überlegen, wie viele Jahre sie unseren Kämpfern aufbrummen.“

Leider nur Gelaber, wie so häufig.

„Finde alles über den Drecksack heraus. Alles!“, schreit der Alte.

Als ob damit alles klar wäre.

„Ich soll nach Dreck wühlen?“, stochert Patrick im Trüben.

Verärgert winkt der Politiker ab und schenkt Patrick einen bitterbösen Blick, der besagt, dass er ihn am liebsten zu Hackbraten verarbeiten würde und er sich für heute genug Böcke geleistet hat.

„Wenn ich alles sage, meine ich alles. Dreck, wie oft er am Tag Scheißen geht, wen er vögelt, wo er Schulden hat, zu welchen Ärzten er geht, was sein Psycho-Onkel über ihn sagt, für wen seine werte Gattin die Beine breitmacht, welche Tierpornos sich sein Sohn aus dem Netz runterlädt und für welche Drogen seine Tochter ihren Arsch auf der Kurfürstenstraße hinhält. Welche Leichen er im Keller hat. Welche Jugendsünden er auf dem Kerbholz hat. Ich will: A-L-L-E-S!!!“

Der Boss zieht hastig an der Zigarette. Bei diesen Anabolika verseuchten Gehirnen weiß man nie, deshalb fragt er nach:

„Alles klar?“

Die Antwort ist ein Klischee.

„Geht klar, Boss.“

Was sonst?

„Zisch ab und mach dich an die Arbeit“, entlässt die éminence grise seinen Mitarbeiter. Arnulf drückt die Zigarette im schweren Kristallaschenbecher aus. „Bevor ich mich noch vergesse“, murmelt er vor sich hin.

Es ist schwierig, gutes Personal zu finden. Sich nur auf die Familie zu verlassen, ist keine Lösung. Wenn nur die Geschichte mit seinem Sohn nicht wäre. Die konnte seiner Karriere und der Partei gefährlich werden. Sein Sohn – ein unkalkulierbarer Unsicherheitsfaktor. Eigentlich gäbe es nur eine vernünftige Lösung: ihn aus dem Weg zu räumen.

12.

Geilen betritt die Staatsanwaltschaft. Seine Beine fühlen sich an wie Gummi und er hat Angst, im Boden zu versinken. Als ob sich der Boden öffnen und ihn verschlingen würde. Lächerlich. Ein erwachsener Mann, der solche Angst hat. Dabei geht es ihm besser. Der Pförtner nickt ihm geschäftsmäßig zu. Bereits im Foyer staut sich die Hitze in unerträglichem Maß. Geilen möchte gar nicht wissen, wie viel Grad es in seinem Büro unter dem Dach hat. Die Hierarchie ist klar. Unten die Staatsanwälte und Sachbearbeiter und oben die Oberstaatsanwälte. Die Namenssemantik sagt alles. Macht durch Worte, Macht durch Symbolik. Ich oben – du unten. Plötzlich spürt er Druck, Druck und nochmals Druck. Ein Gefühl, das er gar nicht mehr kennt. Es erinnert ihn daran, dass er noch am Leben ist und dass Blut durch seine Adern wallt. Er nickt dem Kollegen Dr. Armbruster mit der Bertolt-Brecht-Gedächtnisbrille, dem schwarzgrauen Haarkranz und dem verbiesterten preußischprotestantischen Lächeln zu, der Wirtschaftskriminalität bearbeitet.

„Tag auch“, grüßt Armbruster mit lebloser Stimme.

„Schönes Wetter, nicht?“, erwidert Geilen sarkastisch.

Armbruster sieht wie immer aus, als würde er gerade zu seiner eigenen Beerdigung gehen. In Schwarz gehüllt, das Gesicht aschfahl mit blond-grauem Schnauzer und starren blaugrauen Augen. Geilen biegt in die Herrentoilette und fragt sich, was los ist.

Hier riecht es staubig, muffig und süßlich, wie üblich, also ziemlich abtörnend, wobei der Vergänglichkeit heischende Moderduft ein Versprechen impliziert. Aber als er ihn auspackt, wird er ein klein wenig, dann immer mehr und schließlich richtig steif, wobei jede Berührung seiner Finger die Versteifung verstärkt. Er versucht zu pinkeln, da immenser Druck auf der Leitung besteht, aber bei dieser Mörder-Steife ein Ding der Unmöglichkeit.

„Verdammte Viagra“, murmelt er laut vor sich hin, eine Eigenschaft, die zutage tritt, wenn das Benzodiazepin seine Wirkung entfaltet, die Hemm- und Angstschwellen also gesenkt hat.

Mit erigiertem Glied in der Hand fragt er sich, ob er nicht in einer der Kabinen verschwinden soll, um den Druck zu beseitigen. Abhilfe schaffen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Onanieren auf dem Staatsanwaltschaft-WC. Tiefer konnte man kaum sinken. Genauso unmöglich scheint es ihm aber, sein Glied in der Hose verstauen zu können. Mehr als die kleinen blauen Pillen verflucht er seine Frau, die ihn nicht ranlässt und so tut, als ginge sie das nichts an, als schlössen sich Sexualität und Langzeitehen aus und als wäre er ein schädlicher Fremdkörper, der nichts in ihrem Leben verloren habe. Dabei sind sie verheiratet und haben sich feierlich auf dem Standesamt in guten wie in schlechten Zeiten die Treue geschworen.

„Angespannt oder Überdruck?“

Geilen erschrickt und bemerkt erst jetzt, dass Schwarz, die fiese Sau von der Sitte, neben ihm steht und in sich hineinkichert. Was macht der hier um diese Uhrzeit? Wie konnte er sich unbemerkt anschleichen? Bei Geilen hat er jedenfalls keinen Termin.

„Wenn man mehr als drei auf einmal nimmt, sollte man auf die Pumpe achtgeben“, stichelt er. „Vermutlich gibt es schlimmere Arten zu sterben, als mit der eigenen Latte in der Hand …“

Fasziniert blickt er auf seine Hand, die sich wie eine Faust um das Glied geschlossen hat …

„Mich kann der Schlag beim Scheißen treffen“, kontert Geilen und blickt ihm ins Gesicht. „Kann es sein, dass du neidisch bist?“

„Mir kann so was nicht passieren“, lässt die kleine Ratte nicht locker. „Meine Eier sind immer federleicht. Das bringt der Job bei der Sitte mit sich. Du solltest was für dich tun. Wirklich. Scheint nötig zu sein.“

Die Impertinenz in der Situation zum Du zu wechseln, frappiert Geilen – steifer Schwanz hin oder her. Gehaltsstufe A11 Gehobener Dienst übt den Aufstand gegen A15 Höherer Dienst, macht einen auf Großkotz und will ihm ungefragt Lebensberatung zukommen lassen. Es hilft aber nichts und die Bromazinil haben einen Enthemmungsprozess in Gang gesetzt, der sich einen Weg nach draußen sucht.

Deshalb antwortet er so cool wie möglich: „Ach was. Da kann ich mir die Birne rausficken, wie ich will, zehn Minuten später habe ich wieder so was da in der Hand.“

Kaum zu glauben, dass er es angesichts der Umstände schafft, stolz auf sein erigiertes Glied zu gucken. Am liebsten würde er sich selbst auf die Schulter klopfen. Er fängt an einzupacken, besser gesagt, er versucht es. Er quetscht, drückt und schiebt.

„Krass“, ist alles, was Schwarz einfällt.

Während Geilen Richtung Waschbecken humpelt, hört er, wie Schwarz Luft pumpt. Das kann er wohl nicht auf sich sitzen lassen. Vielleicht ist er neidisch. Je höher die Gehaltsstufe, umso größer der Schwanz.

„Wenn du’s mal richtig brauchst, hab ich nen Geheimtipp für dich. Stuttgarter Straße 169. Thailänderinnen vom Allerfeinsten! Die saugen dir den letzten Tropfen raus. Und machen dich so fertig, dass du drei Tage lang wie auf rohen Eiern läufst.“

Schwarz klopft ihm jovial auf die Schulter und verlässt das WC.

Verdammt, jetzt hat er erst recht einen steifen Lümmel. Spermageile Reisfresser, die so tun, als sei ein Eiweiß-Cocktail das Beste auf der Welt, sind besser als Selbstbefriedigung in einer Strafverfolgungsbehörde.

Geilen rückt die Ray-Ban zurecht und hält seine schwarze Aktentasche vorne auf Hüfthöhe. So müsste es ihm gelingen, mit seiner Erektion unbemerkt in sein Büro zu gelangen. Ganz traut er seinem Plan nicht, aber er kann schließlich nicht den halben Tag auf dem Dienst-WC verbringen.

13.

Eigentlich ist das nicht Usus, aber der Generalstaatsanwalt möchte sich die Sache nicht aus der Hand nehmen lassen. Dem Anlass entsprechend hat er seinen besten Frack angezogen und eine Fliege angelegt. Beförderungen sind seine Lieblingsdisziplin. Freude verbreiten! Gutes tun! Menschen glücklich machen! Der dumme Hund weiß genau, wieso er diese Momente zelebriert. Der Fehler steckt im System. Die wollen dich testen – bei jeder gottverdammten Bewerbung. Ob du hart genug bist, ob du es bringst. Viele Ehen sind wegen Bewerbungsverfahren gescheitert. Geilen denkt, meine aber nicht. Existenzen sind wegen zu vielen Bewerbungen zugrunde gegangen. Geilen denkt, er habe obsiegt. Menschen sind an den Überprüfungsverfahren zerbrochen. Geilen denkt, da müssen die sich was anderes einfallen lassen. Umso schöner ist, wenn das Resultat dennoch stimmt, wie in seinem Fall.

Jetzt plustert sich der Obermacker auf. Vielleicht nicht gerade klug bei seinem Blutdruck. Mit staatstragender Stimme und freundlichem Blick:

„Hiermit überreiche ich Ihnen im Namen des Deutschen Volkes die Ernennungsurkunde zum Oberstaatsanwalt.“

Der General strahlt. Geilen hofft, dass er sich bei den Worten „Deutschen Volkes“ nicht vor freudiger Erregung die Unterhose ruiniert hat. Dann schüttelt er kräftig die Hand und tätschelt Geilens Schulter à la – ich bin dein Vorgesetzter, du Lutscher.

„Vielen Dank. Es ist mir eine Ehre.“

Am liebsten würde sich Geilen in den Allerwertesten beißen, dass er solch servilen Bullshit erwidert hat. Aber das gehört dazu. Zum Spiel. Der Großen. Und der ganz Großen.

Feierlich überreicht der General ihm die Urkunde mit dem Bundesadler. Geilen ist stolz, kann sein Glück kaum fassen. Jetzt ist er Oberstaatsanwalt, nicht mehr nur interimsweise. Das schafft nicht jeder. Und das bei seinem Werdegang. Wenn die alles wüssten ...

„Machen Sie weiter so, Geilen! Aus Ihnen wird noch was. Wir haben Männer wie Sie dringend nötig!“

Die Worte des Generals klingen verheißungsvoll und ehrlich. Sie laufen runter wie Öl. Vor innerer Freude bebt er, denn er glaubt, dass ihm die Welt zu Füßen liegt.

„Ich werde mein Bestes geben.“

Verdammt, schon wieder so ein behinderter Bullshit. Sein Gehirn ist serotoninvernebelt. Da kann es vorkommen, dass man solchen Müll verzapft.

„Davon gehe ich aus.“

Dieser Saftsack, Pisser, dummer Wichser!

Das wirst du mir noch büßen, tröstet sich Geilen.

14.

Die gottverdammten Arschlöcher! Für wen halten die sich? Mir so was zuzuschicken? Keine Frage! Es steht da. Auf dem Display des goldenen iPhone.

Warum Feinde machen, wenn man Freunde braucht?

Ist das ein neues neonazistisches Sprichwort? Ehrenkodex der Weltanschauungskrieger? Oder abgesonderter Dünnschiss einer Glatze, dessen Hirn von zu viel Bier und Meth zerfressen ist? Die Message ist schon klar: Lass die Finger von uns, stell die Verfahren ein, sonst wird es dir und deiner Familie dreckig ergehen.

„Nicht auf diese Tour“, echauffiert sich Geilen. Das ist zu billig. Da müssen die sich was anderes einfallen lassen. Panikattacken hin oder her. Eigentlich helfen die Drohungen sogar dagegen. Geben ihm das Gefühl am Leben zu sein. Dafür ist er ja bekannt, unter Druck zu Hochform aufzulaufen und perfekte Steherqualitäten zu besitzen: hartnäckig, unbestechlich und gnadenlos. Die Schwanzlutscher werden schon sehen, was sie davon haben, ihn herauszufordern, ihm zu drohen, ausgerechnet seiner Person.

„Euch mach ich fertig!“

Das ist ein Versprechen, keine Drohung. Die Wichser können einpacken. Jetzt haben sie ihn angekackt und sich dadurch ihr eigenes Grab geschaufelt.

15. Vor etwa 20 Jahren

Donner und Regen. Beschissene Schwüle. Im Schwuchtel-Schuppen Regenbogen herrschen tropische Temperaturen. Haben die keine Klimaanlage oder einen Ventilator? Klar, dass es in diesem Laden warm zugeht, liegt in der Natur der Sache.

„Wollen Sie mich erpressen?“, fragt Geilen.

„Nein“, antwortet der krank aussehende Mann.

„Was dann?“, hakt Geilen nach.

Dr. Gruber drückt die Zigarette in dem Marlboro-Aschenbecher aus. Sein hageres Gesicht wirkt ausgemergelt. Die Haut ist im schlechten Zustand, die Poren sind stark vergrößert. Zu viel Alkohol, Tabak und weitere schlechte Angewohnheiten. Die Ringe unter den Augen sind sensationell.

„Ich würde Ihnen gerne eine kleine Zuwendung für Ihre Unterstützung zukommen lassen“, beginnt Geilen.

Ein Seufzer der Erleichterung folgt als Erwiderung.

„Na dann!“

Er steckt sich die nächste Kippe an.

„Aus meinen sexuellen Neigungen habe ich nie einen Hehl gemacht. Das ist ein Fehler. Dadurch werde ich erpressbar“, sagt Gruber.

Geilen weiß genau, wo sich der Typ gerne rumtreibt. In halbseidenen Bars mit homophiler Kundschaft. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn.

„Jeder sollte nach seiner Fasson glücklich werden“, sagt er mit neutraler Stimme. „Ich maße mir kein Urteil an.“

Geilen, der Diplomat, Einseifer und Schleimscheißer. Er muss sich reinhängen. Schließlich geht es um seine Zukunft. Beinahe alles hängt davon ab. Er ist erfolgshungrig, scharf drauf, geil und selbstsicher. Viele Wege führen nach Rom, aber nur ein sicherer zum Prädikatsexamen. Und darauf kommt es an. Sicher zu gehen, dass alles klappt. Nicht, dass er nicht seinen Fähigkeiten vertraut. Er kann das auch alleine schaffen. Sehr gut sogar, wahrscheinlich. Aber Wahrscheinlichkeiten sind etwas für Statistiker und nicht für Menschen, die ihr Leben unter Kontrolle haben.

„Sie wollen bei der Staatsanwaltschaft Karriere machen?“, will Gruber wissen.

Grubers Stimme klingt matt, leer und ausgebrannt.

„Ja. Generalstaatsanwalt oder ins Ministerium“, stimmt Geilen zu.

Gruber lacht und hustet. Geilen gibt ihm noch zwei Jahre, bevor das hochgespuckte Blut eine lebensbedrohliche Farbe annimmt. Armer Teufel, soll er die Zeit genießen.

„15.000.“

Geilen versucht, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Du gottverdammter Hinterlader möchtest mich ruinieren!, denkt er aufgebracht. Am nächsten 40-cm-Negerschwanz sollst du ersticken.