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Bertram's Hotel im Herzen Londons - hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Genau das Richtige für Miss Marple, die sich in viktorianischem Ambiente und bei bestem Service den verdienten Urlaub gönnt. Schon bald ist es mit der Ruhe jedoch vorbei. Als einer der vornehmen Gäste spurlos verschwindet, will niemand etwas gesehen haben. Das aber ist erst der Beginn einer ganzen Reihe von Verbrechen ...
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Seitenzahl: 314
Agatha Christie
Bertram’s Hotel
Ein Fall für Miss Marple
Aus dem Englischen von Anna Leube
Atlantik
Für Harry Smith, weil ich seine wissenschaftliche Art, meine Bücher zu lesen, schätze
Im Herzen des West End gibt es viele stille Winkel, fast nur Taxifahrern bekannt, die sie dank ihrer Ortskenntnis souverän durchqueren und auf diese Weise zielsicher zur Park Lane, zum Berkeley Square oder zur South Audley Street gelangen.
Biegt man, vom Hyde Park kommend, an einer unscheinbaren Straße ab und wendet sich dann ein-, zweimal nach links und nach rechts, findet man sich auf einer ruhigen Straße wieder und sieht rechter Hand Bertram’s Hotel. Bertram’s Hotel gibt es schon lange. Im Krieg wurden die Häuser zu seiner Rechten zerstört, weiter unten einige zu seiner Linken, doch das Hotel selbst blieb verschont. Natürlich war es etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, wie Immobilienmakler es ausdrücken würden, doch mit nur geringem finanziellen Aufwand wurde der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt. Im Jahr 1955 sah es wieder genauso aus wie 1939 – würdevoll, unaufdringlich und auf diskrete Weise teuer.
Das war das Bertram’s, zu dessen Stammkunden seit vielen Jahren hochrangige Mitglieder des geistlichen Standes gehörten, verwitwete adlige Damen vom Land, höhere Töchter, die aus teuren Pensionaten nach Hause in die Ferien fuhren. (»Es gibt nicht viele Orte in London, wo man ein Mädchen allein lassen kann, aber im Bertram’s ist das natürlich völlig in Ordnung. Wir steigen dort seit Jahren ab.«)
Selbstverständlich hatte es viele andere Hotels im Stil des Bertram’s gegeben. Manche existierten noch immer, doch alle hatten der neuen Zeit Tribut zollen müssen. Um sich den Bedürfnissen einer neuen Kundschaft anzupassen, hatte man sie modernisiert. Auch das Bertram’s hatte sich verändern müssen, doch das war so geschickt geschehen, dass es auf den ersten Blick gar nicht auffiel.
Vor den Stufen, die zu der großen Schwingtür führten, stand ein Mann, der zunächst mindestens wie ein Feldmarschall aussah. Goldene Tressen und Ordensbänder zierten eine breite, männliche Brust. Sein Auftreten war untadelig. Er empfing den Gast mit liebevoller Fürsorge, wenn dieser, steif vom Rheuma, einem Taxi oder einem Auto entstieg, lotste ihn behutsam die Stufen empor und führte ihn durch die lautlos hin- und herschwingende Tür.
Wenn man zum ersten Mal das Bertram’s besuchte, hatte man fast erschrocken den Eindruck, in eine verschwundene Welt einzutreten. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Man befand sich wieder im England König Edwards VII.
Natürlich gab es Zentralheizung, aber das fiel gar nicht auf. Wie eh und je brannten in der großen Eingangshalle zwei prächtige kohlebeheizte Kaminfeuer. Die Kohlekästen aus Messing glänzten genau wie zu Edwards Zeiten, als Hausmädchen sie blank poliert hatten, und waren mit Kohlestücken gefüllt, die genau die richtige Größe hatten. Üppiger roter Samt und Plüsch sorgten für eine gemütliche Atmosphäre. Die Sessel stammten nicht aus dieser Zeit und dieser Epoche. Sie waren hoch genug, damit rheumatische alte Damen sich nicht auf unwürdige Weise daraus hochhieven mussten. Ihre Sitzflächen boten ausreichend Platz für Schenkel und Knie, anders als so viele teure moderne Sessel, die an Arthritis und Ischias leidenden Menschen Höllenqualen bereiten, außerdem waren nicht alle gleich. Manche hatten senkrechte, andere schräge Lehnen, und sie waren verschieden breit, sodass Dicke wie Dünne darauf Platz fanden. Menschen beinahe jeder Statur konnten bei Bertram’s einen bequemen Sessel finden.
Jetzt zur Teestunde war die Halle gut besucht. Nicht dass sie der einzige Ort war, wo man den Tee einnehmen konnte. Es gab einen Salon (Chintz), ein Rauchzimmer (aus unerfindlichen Gründen Herren vorbehalten) mit ausladenden Ledersesseln, zwei Schreibzimmer, wohin man sich mit einem guten Freund zu einem gemütlichen Gespräch in eine stille Ecke zurückziehen oder auch einen Brief schreiben konnte, wenn einem danach war. Neben diesen Annehmlichkeiten aus der edwardianischen Ära gab es noch andere Rückzugsmöglichkeiten, auf die zwar nicht hingewiesen wurde, von denen aber jene, die sie aufsuchen wollten, wussten. Da war zum einen die Bar mit zwei Tresen und zwei Barkeepern, einem Amerikaner, damit sich die Amerikaner wie zu Hause fühlten und Bourbon, Rye und sämtliche Sorten Cocktails bestellen konnten, und einem Engländer, der sich mit den verschiedenen Sherrys und Pimm’s Nr. 1 auskannte und mit den Männern mittleren Alters, die während der wichtigeren Rennen im Bertram’s logierten, fachkundig über die Rennpferde in Ascot und Newbury reden konnte. Auch gab es, versteckt am Ende eines Gangs, einen Fernsehraum für die, die danach fragten.
Doch der beliebteste Ort für den Nachmittagstee war die große Eingangshalle. Die älteren Damen beobachteten gern, wer kam und wer ging, erkannten alte Freunde wieder und kommentierten kritisch, wie sehr diese gealtert waren. Amerikanische Gäste schauten fasziniert zu, wie sich blaublütige Engländer zum Nachmittagstee niederließen. Der Nachmittagstee war nämlich etwas ganz Besonderes im Bertram’s.
Er war in jeder Hinsicht großartig. Über das Ritual präsidierte Henry, eine massige, stattliche Erscheinung, gut über fünfzig, großväterlich, einfühlsam und mit den höflichen Manieren dieser längst ausgestorbenen Spezies: des perfekten Butlers. Unter Henrys strenger Aufsicht verrichteten schlanke junge Männer die eigentliche Arbeit. Sie trugen große, wappengeschmückte Silbertabletts und georgianische Teekannen aus Silber hin und her. Das Porzellan war zwar nicht echtes Rockingham und Davenport, sah aber doch so aus. Besonders beliebt war das Blind-Earl-Geschirr. Nur der beste Tee wurde serviert, sei es indischer, ceylonesischer, Darjeeling oder Lapsang et cetera. Und was das Essen betraf, so konnte man bestellen, was das Herz begehrte – und bekam es!
An diesem speziellen Tag, dem 17. November, verspeiste Lady Selina Hazy, fünfundsechzig, die zu Besuch aus Leicestershire hergekommen war, köstliche, mit reichlich Butter bestrichene Muffins und gab sich ganz dem Genuss hin, wie ältere Damen es zu tun pflegen.
Allerdings konzentrierte sie sich nicht so ausschließlich auf die Muffins, dass sie versäumt hätte, jedes Mal aufmerksam hochzublicken, wenn ein neuer Gast durch die innere Schwingtür trat.
So konnte sie lächelnd Colonel Luscombe zunicken, der kerzengerade in soldatischer Haltung und mit einem Feldstecher um den Hals hereinkam. Alte Despotin, die sie war, winkte sie ihm gebieterisch, und kurz darauf kam Luscombe zu ihr herüber.
»Hallo, Selina, was führt dich in die Stadt?«
»Zahnarzt«, mümmelte Lady Selina mit vollem Mund. »Und ich dachte, wenn ich schon hier bin, könnte ich auch gleich zu dem Mann in der Harley Street wegen meiner Arthritis. Du weißt, wen ich meine.«
Obwohl es in der Harley Street ein paar Hundert Ärzte für sämtliche Leiden gab, wusste Luscombe, wen sie meinte.
»Und geht es dir jetzt besser?«, fragte er.
»Ich glaube schon, ja«, sagte Lady Selina unwirsch. »Ein merkwürdiger Mensch. Hat mich völlig unvorbereitet am Hals gepackt und ihn verdreht, als wäre ich ein Huhn.« Vorsichtig bewegte sie den Kopf.
»Hat es wehgetan?«
»Es muss wehgetan haben, so wie er ihn verdreht hat, aber ich kam gar nicht dazu, es zu merken.« Immer noch bewegte sie vorsichtig den Kopf. »Ist wohl in Ordnung. Zum ersten Mal seit Jahren kann ich über meine rechte Schulter schauen.«
Sie probierte es aus und rief: »Ich glaube wahrhaftig, das ist die alte Jane Marple. Hab gedacht, sie sei schon vor Jahren gestorben. Sieht aus wie hundert.«
Colonel Luscombe warf einen Blick in Richtung der wiederauferstandenen Jane Marple, aber ohne großes Interesse zu zeigen: Im Bertram’s traf man immer ein paar komischer alter Schachteln an, wie er sie nannte.
Lady Selina fuhr fort: »Der einzige Ort in London, wo man noch Muffins bekommt. Echte Muffins. Weißt du, als ich letztes Jahr in Amerika war, stand etwas auf der Frühstückskarte, was sie Muffins nannten. Keine echten Muffins natürlich. Eine Art Teekuchen mit Rosinen drin. Warum nennen sie das dann überhaupt Muffins?«
Sie stopfte sich das letzte buttrige Stück in den Mund und sah sich gedankenverloren um. Auf der Stelle tauchte Henry auf, nicht schnell oder hastig. Als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen, Mylady? Ein Stück Kuchen?«
»Kuchen?« Lady Selina wirkte unschlüssig.
»Wir haben sehr guten Mohnkuchen, Mylady. Kann ich sehr empfehlen.«
»Mohnkuchen? Ich habe seit Jahren keinen Mohnkuchen mehr gegessen. Ist es echter Mohnkuchen?«
»O ja, Mylady. Die Köchin macht ihn nach einem alten Rezept. Er wird Ihnen ganz bestimmt schmecken.«
Henry warf einem Mitglied seines Gefolges einen Blick zu, und der Junge zog los, um das Gewünschte zu holen.
»Du bist wohl in Newbury gewesen, Derek?«
»Ja. Verdammt kalt heute, die beiden letzten Rennen hab ich gar nicht mehr abgewartet. Katastrophaler Tag. Diese Stute von Harry taugt nichts.«
»Hab ich mir gleich gedacht. Und was war mit Swanhilda?«
»Ist vierte geworden.« Luscombe erhob sich. »Muss mich um mein Zimmer kümmern.«
Als er durch die Lobby zum Empfang ging, ließ er den Blick über die Tische und die Gäste schweifen. Erstaunlich viele Leute nahmen ihren Tee ein. Ganz wie in den alten Tagen. Seit dem Krieg war der Nachmittagstee als Mahlzeit aus der Mode geraten, aber offensichtlich galt das im Bertram’s nicht. Wer waren bloß all diese Leute? Zwei Domherren und der Dekan von Chislehampton. Ach ja, und da drüben in der Ecke noch ein weiteres Paar Beine in Gamaschen, sogar ein Bischof. Schlichte Vikare waren rar. Man muss mindestens Domherr sein, um sich das Bertram’s leisten zu können, dachte er. Die niederen Ränge des Klerus konnten es nicht, die armen Teufel. Er fragte sich, wie um alles in der Welt die alte Selina Hazy es sich leisten konnte. Sie musste mit einer lächerlichen Summe im Jahr auskommen. Und da waren auch die alte Lady Berry und Mrs Posselthwaite aus Somerset und Sybil Kerr – alles arme Kirchenmäuse.
Während er noch sinnierte, war er schon an der Rezeption, freundlich begrüßt von Miss Gorringe, der Empfangsdame. Miss Gorringe war eine gute alte Freundin. Sie kannte jeden einzelnen Gast und vergaß wie die Mitglieder der königlichen Familie nie ein Gesicht. Sie wirkte etwas altbacken, aber durchaus respektabel. Gekräuseltes gelbliches Haar (vermutlich benutzte sie noch eine Brennschere), schwarzes Seidenkleid, ein hoher Busen, auf dem ein goldener Anhänger und eine Kameebrosche ruhten.
»Nummer vierzehn«, sagte Miss Gorringe. »Ich glaube, das letzte Mal hatten Sie vierzehn, Colonel Luscombe, und es hat Ihnen gefallen. Es ist ganz ruhig.«
»Ich weiß gar nicht, wie Sie sich das alles merken können, Miss Gorringe.«
»Unsere alten Freunde sollen sich bei uns wohlfühlen.«
»Erinnert mich jedes Mal an frühere Zeiten, wenn ich hierherkomme. Nichts scheint sich geändert zu haben.«
Er hielt inne, als Mr Humfries aus seinem Allerheiligsten trat, um ihn zu begrüßen.
Die Uneingeweihten hielten Mr Humfries oft für Mr Bertram persönlich. Wer der wirkliche Mr Bertram war, beziehungsweise ob es je einen gegeben hatte, war im Nebel der Vorzeit vergessen worden. Das Bertram’s gab es seit ungefähr 1840, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, seiner Geschichte nachzugehen. Es war einfach da, solide und unerschütterlich. Wenn Mr Humfries mit Mr Bertram angesprochen wurde, korrigierte er diesen Irrtum nicht. Wollten sie, dass er Mr Bertram war, dann war er auch Mr Bertram. Colonel Luscombe kannte seinen Namen, wusste aber nicht, ob Humfries der Manager oder der Besitzer war. Er nahm an, Letzteres.
Mr Humfries war um die fünfzig. Er hatte hervorragende Manieren und das Auftreten eines Staatsministers. Er konnte sich jederzeit auf sein Gegenüber einstellen. Er konnte über Rennen, Kricket und Außenpolitik fachsimpeln, Anekdoten über die königliche Familie zum besten geben und Fragen zum Automobilsalon beantworten, wusste, was die derzeit interessantesten Theaterstücke waren, und welche Orte man als Amerikaner in England unbedingt gesehen haben sollte, auch wenn man nur für kurze Zeit hier weilte. Er wusste genau, wo man je nach Geldbeutel und Geschmack am besten speiste. Dabei aber verhielt er sich nie devot. Er stand nicht jederzeit parat. Miss Gorringe verfügte über genau die gleichen Informationen und konnte sie kompetent weitergeben. Wie die Sonne tauchte Mr Humfries in kurzen Abständen am Horizont auf und schmeichelte einem Gast, indem er sich ihm persönlich widmete.
Diesmal war es Colonel Luscombe, dem die Ehre zuteil wurde. Sie tauschten ein paar Gemeinplätze über die Rennen aus, doch Colonel Luscombes Gedanken kreisten um sein Problem. Und hier war der Mann, der ihm die Antwort geben konnte.
»Sagen Sie mir, Humfries, wie können es sich all diese lieben alten Ladys leisten, hier zu logieren?«
»Ach, darüber wundern Sie sich?« Mr Humfries schien die Frage zu amüsieren. »Nun, die Antwort ist einfach. Sie könnten es sich nicht leisten, es sei denn …« Er hielt inne.
»Es sei denn, Sie machen ihnen einen Sonderpreis? Ist es so?«
»So in etwa. Die meisten sind sich nicht bewusst, dass es ein Sonderpreis ist, oder glauben, er werde ihnen gewährt, weil sie Stammkunden sind.«
»Doch das allein ist nicht der Grund?«
»Nun, Colonel Luscombe, schließlich führe ich ein Hotel. Ich kann es mir nicht leisten, Verluste zu machen.«
»Aber wie zahlt sich das für Sie aus?«
»Nun, es hat mit der Atmosphäre zu tun … Ausländer, die hierherkommen, insbesondere Amerikaner, denn sie sind die Leute mit Geld, haben ihre eigenen, reichlich merkwürdigen Vorstellungen von England. Ich rede nicht von den reichen Geschäftsleuten, die ständig den Großen Teich überqueren. Die gehen meistens ins Savoy oder ins Dorchester. Sie legen Wert auf eine moderne Ausstattung, amerikanisches Essen, all die Dinge, dank deren sie sich zu Hause fühlen. Nein, ich meine die vielen anderen Amerikaner, die nur selten ins Ausland reisen und ein England aus der Zeit … nun, vielleicht nicht gerade eines Dickens erwarten, so weit zurück will ich nicht gehen, aber sie haben Cranford und Henry James gelesen und wollen nicht ein Land vorfinden, das genauso ist wie ihr eigenes! Wenn sie im Bertram’s waren, erzählen sie später zu Hause: ›Es gibt da dieses wundervolle Hotel in London, das Bertram’s. Es ist, als würde man die Uhr hundert Jahre zurückdrehen. Nein, es ist wirklich das gute alte England! Und die Leute, die dort absteigen! Leute, denen man nirgends sonst begegnen würde. Phantastische alte Herzoginnen. Es gibt dort alle die traditionellen englischen Gerichte, zum Beispiel eine herrlich altmodische Beefsteakpastete! So etwas haben Sie noch nie gegessen. Und große Rinderfilets und Lammschulter und einen altmodischen englischen Nachmittagstee und ein phantastisches englisches Frühstück. Und natürlich all das Übliche auch. Und es ist wunderbar gemütlich. Und dazu noch große Kaminfeuer.‹«
Mr Humfries beendete seine Darbietung und gestattete sich beinahe so etwas wie ein Lächeln.
»Ich verstehe«, sagte Luscombe nachdenklich. »Diese Leute, diese abgetakelten Aristokraten, dieser verarmte alte Landadel – sie sind also einfach nur Staffage?«
Mr Humfries nickte zustimmend. »Ich frage mich wirklich, warum sonst niemand auf die Idee gekommen ist. Gewiss, ich fand das Bertram’s sozusagen fix und fertig vor. Es bedurfte lediglich einer ziemlich aufwendigen Restaurierung. Und nun bilden sich die Leute, die hierherkommen, ein, etwas entdeckt zu haben, was sonst niemand kennt.«
»Ich kann mir vorstellen«, sagte Luscombe, »dass die Restaurierung ganz schön teuer war.«
»O ja! Einerseits soll das Hotel den Eindruck erwecken, als lebten wir noch in edwardianischen Zeiten, andererseits muss es den ganzen modernen Komfort bieten, den wir heutzutage für selbstverständlich halten. Unsere lieben alten Leutchen – wenn Sie mir diesen Ausdruck verzeihen wollen – sollen das Gefühl haben, dass sich seit der Jahrhundertwende nichts geändert hat, und unsere weitgereisten Gäste sollen das Gefühl haben, dass sie sich in einer stilechten Umgebung befinden, während sie zugleich das geboten bekommen, was sie auch bei sich zu Hause haben und ohne das sie nicht leben können!«
»Ist das nicht manchmal schwierig?«, fragte Luscombe.
»Eigentlich nicht. Nehmen Sie zum Beispiel die Zentralheizung. Die Amerikaner wollen es – oder vielmehr brauchen es – um mindestens zehn Grad Fahrenheit wärmer als wir Engländer. Wir haben sogar zwei unterschiedliche Arten von Zimmern. Die Engländer bringen wir in der einen Kategorie, die Amerikaner in der anderen unter. Die Räume sehen zwar gleich aus, unterscheiden sich jedoch in vielerlei Hinsicht: In einigen Badezimmern gibt es elektrische Rasierer und neben einer Dusche auch eine Badewanne, und man bekommt auf Wunsch ein amerikanisches Frühstück serviert – Cornflakes und eisgekühlten Orangensaft und so weiter – oder aber ein englisches Frühstück, wenn einem das lieber ist.«
»Eier mit Speck?«
»Ja, genau, und noch sehr viel mehr, wenn man will. Bücklinge, Nierchen mit Speck, kaltes Moorhuhn, York-Schinken. Bitterorangenmarmelade.«
»All das darf ich morgen früh nicht vergessen. So etwas bekomme ich zu Hause nicht mehr.«
Humfries lächelte. »Die meisten Herrschaften verlangen nur Eier mit Speck. Sie sind … nun, sie haben einfach vergessen, was es früher alles gab.«
»Ja, ja … Ich erinnere mich an meine Kindheit … Die Anrichte, die sich unter lauter warmen Speisen bog. Ja, es war ein üppiger Lebensstil.«
»Wir bemühen uns, alle Wünsche zu erfüllen.«
»Inklusive Mohnkuchen und Muffins – ja, ich verstehe. Jedem nach seinen Bedürfnissen – ich verstehe … Fast ein wenig marxistisch.«
»Wie bitte?«
»Nur so ein Gedanke, Humfries. Die Extreme berühren sich.«
Colonel Luscombe wandte sich ab und nahm den Schlüssel in Empfang, den ihm Miss Gorringe reichte. Ein Page stand stramm und begleitete ihn dann zum Aufzug. Im Vorbeigehen sah der Colonel, dass Lady Selina Hazy jetzt neben ihrer Freundin Jane Soundso saß.
»Und Sie leben noch immer in dem guten alten St. Mary Mead?«, fragte Lady Selina. »So ein hübsches, noch ganz ursprüngliches Dorf. Ich denke oft daran. Sieht noch so aus wie immer, nehme ich an?«
»Na ja, nicht ganz.« Miss Marple rief sich kurz die jüngsten Veränderungen ihres Wohnorts ins Gedächtnis. Die neue Siedlung. Die Anbauten an den Gemeindesaal, das neue Gesicht der High Street mit ihren neumodischen Schaufensterfronten. Sie seufzte. »Man muss sich wohl mit dem Wandel abfinden.«
»Der Fortschritt«, sagte Lady Selina vage. »Obwohl es mir oft gar nicht wie Fortschritt vorkommt. All diese schicken sanitären Installationen, die man heute hat. In allen Farbschattierungen und auf Hochglanz poliert, wie man so schön sagt – aber kann man daran auch richtig ziehen? Oder drücken, je nachdem? Jedes Mal, wenn man Freunde besucht, findet man irgendeinen Zettel in der Toilette – ›Kräftig drücken, dann loslassen‹, ›Nach links ziehen‹, ›Rasch wieder loslassen‹. In der guten alten Zeit hingegen zog man einfach an einem Griff, ob nun nach oben oder unten, und ein ganzer Wasserfall kam, und zwar sofort – Ah, da ist ja der liebe Bischof von Medmenham«, unterbrach sich Lady Selina, als ein gutaussehender, nicht mehr junger Geistlicher vorbeikam. »Praktisch blind, glaube ich. Aber so ein prächtiger, streitbarer Pfarrer.«
Man erging sich ein wenig in Smalltalk über kirchliche Dinge, hin und wieder unterbrochen, wenn Lady Selina diverse Freunde und Bekannte erkannte, die oft nicht diejenigen waren, für die sie sie hielt. Sie und Miss Marple sprachen ein wenig über die »guten alten Zeiten«, obwohl Miss Marple natürlich ganz anders aufgewachsen war als Lady Selina. Ihre gemeinsamen Erinnerungen beschränkten sich hauptsächlich auf die wenigen Jahre, als Lady Selina, frisch verwitwet und mit äußerst bescheidenen Mitteln versehen, ein kleines Haus in der Nähe von St. Mary Mead gemietet hatte, während ihr zweiter Sohn auf einem Flugplatz in der Nähe stationiert gewesen war.
»Wohnen Sie immer hier, wenn Sie in London sind, Jane? Komisch, ich habe Sie noch nie hier gesehen.«
»O nein, ich könnte es mir nicht leisten, und außerdem verreise ich inzwischen nur noch selten. Nein, eine reizende Nichte von mir fand, ein kurzer Besuch in London würde mir Freude machen. Joan ist ein ganz liebes Mädchen – na ja, eigentlich kein Mädchen mehr.« Miss Marple machte sich ein wenig betroffen bewusst, dass Joan inzwischen auf die fünfzig zugehen musste. »Wissen Sie, sie ist Malerin. Eine recht bekannte Malerin. Joan West. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit eine Ausstellung.«
Lady Selina interessierte sich nicht besonders für Maler, eigentlich überhaupt nicht für Kunst. Sie betrachtete Schriftsteller, bildende Künstler und Musiker als eine Art schlaue, dressierte Tiere und war willens, ihnen gegenüber Nachsicht zu üben, fragte sich aber insgeheim, warum sie tun wollten, was immer sie taten.
»Dieses moderne Zeug vermutlich«, sagte sie und ließ den Blick umherwandern. »Da ist Cicely Longhurst – sie hat sich anscheinend wieder die Haare gefärbt.«
»Ich fürchte, die liebe Joan ist tatsächlich ziemlich modern.«
Hier irrte Miss Marple. Joan West war vor ungefähr zwanzig Jahren modern gewesen, galt jedoch bei den arrivierten jungen Künstlern inzwischen als ganz und gar altmodisch.
Nach einem kurzen Blick auf Cicely Longhursts Haar erging sich Miss Marple in Gedanken daran, wie nett Joan gewesen war. Joan hatte nämlich zu ihrem Mann gesagt: »Ich wünschte, wir könnten etwas tun für die arme alte Tante Jane. Sie kommt so gut wie gar nicht mehr aus dem Haus. Meinst du, sie würde gern für ein, zwei Wochen nach Bournemouth?«
»Gute Idee«, hatte Raymond West erwidert. Sein neuestes Buch war ein großer Erfolg, und er hatte die Spendierhosen an.
»Ich glaube, die Reise in die Karibik hat ihr gefallen, schade nur, dass sie in einen Mordfall verwickelt wurde. Etwas, worauf man in ihrem Alter gut und gerne verzichten kann.«
»Dergleichen scheint ihr aber immer wieder zu passieren.«
Raymond mochte seine alte Tante sehr, dachte sich stets aufs Neue etwas aus, womit er ihr eine Freude machen könnte, und schickte ihr Bücher, von denen er meinte, sie könnten sie interessieren. Er wunderte sich, wenn sie ein ihr zugedachtes Geschenk wieder einmal höflich ablehnte, und argwöhnte bisweilen, dass sie die Bücher gar nicht gelesen hatte, obwohl sie immer sagte, sie seien »so interessant«. Aber das mochte an ihren Augen liegen, die immer schlechter wurden.
In dieser Hinsicht täuschte er sich. Miss Marple hatte hervorragende Augen für ihr Alter und nahm in diesem Augenblick alles, was um sie her vorging, mit lebhaftem Interesse und Vergnügen wahr.
Auf Joans Anerbieten hin, ihr ein, zwei Wochen in einem der besten Hotels von Bournemouth zu spendieren, hatte sie gezögert und gemurmelt: »Das ist wirklich sehr lieb von dir, ich glaube jedoch nicht, dass …«
»Aber es täte dir gut, Tante Jane. Es täte dir gut, wenn du mal von zu Hause wegkommst. Es brächte dich auf neue Gedanken.«
»Ja, schon, da hast du recht, und ich würde tatsächlich gern zur Abwechslung irgendwohin fahren. Aber nicht unbedingt nach Bournemouth.«
Joan war ein wenig überrascht. Sie hatte geglaubt, Bournemouth sei Tante Janes Mekka.
»Dann vielleicht nach Eastbourne? Oder Torquay?«
»Am liebsten würde ich nach …« Miss Marple zögerte.
»Ja?«
»Ich fürchte, du wirst mich für ziemlich töricht halten.«
»Nein, ganz bestimmt nicht.« (Wohin die liebe alte Tante bloß wollte?)
»Am liebsten würde ich ins Bertram’s – nach London.«
»Ins Bertram’s?« Der Name kam Joan irgendwie bekannt vor.
Nun sprudelten die Worte nur so aus Miss Marple hervor. »Dort war ich schon einmal – mit vierzehn. Mit meinem Onkel und meiner Tante, das heißt, mit Onkel Thomas, er war Domherr in Ely. Und das habe ich nie vergessen. Wenn ich dort noch einmal hinkönnte – eine Woche würde völlig reichen, zwei Wochen wären wohl zu teuer.«
»Oh, darüber mach dir mal keine Gedanken. Selbstverständlich fährst du dorthin. Ich hätte mir denken können, dass du vielleicht nach London willst – schon wegen der Geschäfte und allem. Wir kümmern uns darum – falls Bertram’s Hotel noch existiert. So viele Hotels sind verschwunden, manche wurden im Krieg zerstört, manche einfach aufgegeben.«
»Nein, zufällig weiß ich, dass es Bertram’s Hotel noch gibt. Vor einiger Zeit habe ich einen Brief von dort bekommen – von meiner amerikanischen Freundin Amy McAllister aus Boston. Sie und ihr Mann haben dort logiert.«
»Gut, dann regle ich das.« Sachte fügte Joan hinzu: »Ich fürchte nur, es könnte sich sehr verändert haben seit damals. Hoffentlich wirst du nicht enttäuscht sein.«
Aber Bertram’s Hotel hatte sich nicht verändert. Es war noch genau so wie früher. Geradezu ein Wunder, fand Miss Marple. In der Tat fragte sie sich …
Es war wirklich zu schön, um wahr zu sein. Mit ihrem gewohnt scharfen Verstand wusste sie sehr wohl, dass sie einfach ihre Erinnerungen an die Vergangenheit in den alten Originalfarben auffrischen wollte. Sie verbrachte einen Gutteil ihres Lebens notgedrungen damit, sich vergangene Freuden in Erinnerung zu rufen. Und wenn man jemanden fand, mit dem man dies teilen konnte, dann war das schieres Glück. Denn das war gar nicht so einfach – sie hatte die meisten ihrer Altersgenossen überlebt. Doch hier saß sie noch immer und dachte an die Vergangenheit zurück. Auf seltsame Weise tauchte vor ihrem geistigen Auge das hoffnungsvolle junge Mädchen mit dem rosigen Teint wieder auf … In vieler Hinsicht ein törichtes Ding … Wer war noch mal der ganz und gar unpassende junge Mann, dessen Namen – ach herrje, nicht einmal an seinen Namen konnte sie sich mehr erinnern! Wie klug ihre Mutter gewesen war, dass sie diese Freundschaft so entschlossen im Keim erstickt hatte. Jahre später war sie ihm wiederbegegnet – und er war wirklich grässlich! Doch damals hatte sie sich mindestens eine Woche lang in den Schlaf geweint!
Heutzutage natürlich … Die armen jungen Dinger. Manche von ihnen mochten zwar ebenfalls Mütter haben, die aber alle nichts zu taugen schienen: Mütter, die nicht in der Lage waren, ihre Töchter vor peinlichen Affären, unehelichen Kindern und überstürzten und unglücklichen Ehen zu bewahren. Ein Jammer.
Die Stimme ihrer Freundin unterbrach ihren Gedankenfluss.
»Na so was! Das ist doch … ja, das ist sie … Bess Sedgwick, da drüben! Sie ausgerechnet hier?«
Miss Marple hatte nur mit halbem Ohr zugehört, während Lady Selina ihre Umgebung kommentierte. Da sie und Miss Marple in völlig verschiedenen Kreisen verkehrten, war Miss Marple nicht in der Lage, skandalöse Geschichten über die diversen Freunde oder Bekannten auszutauschen, die Lady Selina erkannte oder zu erkennen glaubte.
Bei Bess Sedgwick war es anders. Dieser Name war fast jedem in England geläufig. Seit mittlerweile mehr als dreißig Jahren berichtete die Presse von Bess Sedgwicks haarsträubenden oder waghalsigen Großtaten. Im Krieg war sie lange Zeit in der Résistance gewesen, und es hieß, ihr Gewehrkolben habe sechs Kerben aufgewiesen, die für sechs tote Deutsche stünden. Vor Jahren hatte sie im Alleinflug den Atlantik überquert und war durch ganz Europa bis zum Vansee geritten. Sie war Rennen gefahren, hatte zwei Kinder aus einem brennenden Haus gerettet, hatte mehr oder weniger rühmlich etliche Ehen hinter sich gebracht und galt als die zweitbestgekleidete Frau in ganz Europa. Es hieß sogar, sie habe sich auf einem Atom-U-Boot bei dessen Probefahrt eingeschmuggelt.
Daher richtete sich Miss Marple höchst interessiert auf und erlaubte sich einen unverhohlen neugierigen Blick auf die Dame.
Was immer sie von Bertram’s Hotel erwartet hatte, mit Bess Sedgwick hatte sie hier nicht gerechnet. Ein teurer Nachtclub oder eine Fernfahrerkneipe – beides hätte zu ihrem breitgefächerten Interessenspektrum gepasst, doch in dieser höchst respektablen und altmodischen Herberge wirkte sie seltsam deplatziert.
Und doch war sie hier, das stand außer Zweifel. Kaum ein Monat verging, in dem Bess Sedgwicks Gesicht nicht in den Modemagazinen oder der Boulevardpresse auftauchte. Hier war sie nun leibhaftig, rauchte hastig und gierig eine Zigarette und schaute verblüfft auf das große Teetablett vor sich, als hätte sie noch nie eins gesehen. Was hatte sie bestellt – Miss Marple kniff die Augen zusammen, um es auf die Entfernung hinweg besser erkennen zu können –, ja, es waren Doughnuts. Sehr interessant.
Sie beobachtete, wie Bess Sedgwick ihre Zigarette auf der Untertasse ausdrückte, einen Doughnut nahm und ein riesiges Stück davon abbiss. Richtige rote Erdbeermarmelade quoll heraus und tropfte ihr aufs Kinn. Bess warf den Kopf in den Nacken und lachte. Schon lange hatte man in der Lobby von Bertram’s Hotel kein so lautes und fröhliches Lachen mehr gehört.
Sofort stand Henry neben ihr und reichte ihr eine kleine feine Serviette. Sie nahm sie, rubbelte sich wie ein Schuljunge das Kinn ab und rief: »Das nenn ich mir einen richtigen Doughnut. Phantastisch!«
Sie ließ die Serviette auf das Tablett fallen und stand auf.
Wie üblich zog sie alle Blicke auf sich. Das war sie gewohnt. Vielleicht gefiel es ihr, vielleicht bemerkte sie es gar nicht mehr. Jedenfalls war sie ein lohnender Anblick – nicht unbedingt eine schöne, aber eine auffallende Frau. Platinweißes Haar fiel ihr glatt und glänzend bis auf die Schultern. Feine Gesichtszüge, edle Kopfform. Sie hatte eine leicht gebogene Nase, tiefliegende graue Augen und den breiten Mund einer geborenen Komödiantin. Ihr Kleid war äußerst schlicht, worüber sich die meisten Männer wunderten. Es sah aus wie aus grobem Sackleinen, ohne jede Verzierung, sichtbare Säume und Verschlüsse. Aber Frauen wussten es besser. Selbst die alten Tanten aus der Provinz, die im Bertram’s logierten, wussten, dass es ein Heidengeld gekostet haben musste.
Als sie in Richtung Aufzug durch die Halle schritt, kam sie dicht an Lady Selina und Miss Marple vorbei und nickte Ersterer zu.
»Hallo, Lady Selina. Hab Sie seit der Crufts-Hundeschau nicht mehr gesehen. Wie geht’s den Windhunden?«
»Was um alles in der Welt machen Sie hier, Bess?«
»Ich wohne hier. Bin gerade von Land’s End hergefahren. In vierdreiviertel Stunden. Nicht schlecht.«
»Sie werden sich eines Tages noch totfahren. Oder jemand anders.«
»Oh, das wollen wir nicht hoffen.«
»Aber warum wohnen Sie ausgerechnet hier?«
Bess Sedgwick sah sich flüchtig um. Offenbar hatte sie die Anspielung begriffen und gab dies mit einem ironischen Lächeln zu verstehen.
»Es wurde mir empfohlen. Zu Recht, wie ich finde. Ich habe gerade einen ganz vorzüglichen Doughnut gegessen.«
»Sie haben hier aber auch Muffins, echte Muffins, meine Liebe.«
»Muffins«, sagte Lady Sedgwick nachdenklich, »ach ja …« Sie schien ihr zuzustimmen. »Muffins!« Sie nickte und ging in Richtung Aufzug davon.
»Ein erstaunliches Mädchen«, sagte Lady Selina. Für sie war, wie für Miss Marple, jede Frau unter sechzig ein Mädchen. »Ich kenne sie schon seit Kindesbeinen. Sie war nicht zu bändigen. Mit sechzehn lief sie mit einem irischen Stallburschen davon. Die ihrigen konnten sie gerade noch rechtzeitig zurückholen – oder vielleicht auch nicht rechtzeitig. Jedenfalls haben sie ihm Geld gegeben und sie mit dem alten Coniston verheiratet, damit sie keine Dummheiten mehr machte. Er war dreißig Jahre älter als sie, ein schrecklicher alter Wüstling und ganz vernarrt in sie. Das ging freilich nicht lange gut. Als Nächstes ging Bess mit Johnnie Sedgwick auf und davon. Die Ehe hätte vielleicht von Dauer sein können, hätte er sich nicht beim Steeplechase das Genick gebrochen. Danach hat sie Ridgway Becker geheiratet, den amerikanischen Jachtbesitzer. Er hat sich vor drei Jahren von ihr scheiden lassen, und wie ich höre, hat sie sich jetzt mit einem Rennfahrer eingelassen – einem Polen oder so was Ähnlichem. Keine Ahnung, ob sie verheiratet sind. Seit der Scheidung von dem Amerikaner nennt sie sich wieder Sedgwick. Sie verkehrt mit den erstaunlichsten Leuten. Es heißt, sie nimmt Drogen … aber darüber weiß ich nichts Genaues.«
»Ob sie wohl glücklich ist?«, sagte Miss Marple.
Lady Selina, die sich eindeutig nie eine solche Frage gestellt hatte, wirkte verwundert.
»Sie hat vermutlich jede Menge Geld«, sagte sie unsicher. »Diverse Unterhaltszahlungen und dergleichen. Natürlich, Geld ist nicht alles …«
»Natürlich nicht.«
»Und meistens hat sie einen Mann – oder mindestens einen – im Schlepptau.«
»Ach ja?«
»Nun, wenn manche Frauen in dieses Alter kommen, scheinen sie ganz versessen darauf zu sein … Aber irgendwie …« Sie hielt inne.
»Nein«, sagte Miss Marple. »Ich glaube es auch nicht.«
Manche Leute hätten mokant gelächelt über dieses Urteil vonseiten einer altmodischen alten Dame, die wohl kaum als Sachverständige auf dem Gebiet der Nymphomanie gelten konnte, und in der Tat war das kein Wort, das Miss Marple benutzt hätte – ihr eigener Ausdruck hätte gelautet: »Sie hatte schon immer eine Schwäche für Männer.«
Lady Selina sah sich indes durch Miss Marples Kommentar in ihrer eigenen Ansicht bestätigt.
»Jedenfalls hat es eine Menge Männer in ihrem Leben gegeben«, erklärte sie.
»O ja, aber ich würde sagen, dass Männer ein Abenteuer für sie sind, nichts Notwendiges, meinen Sie nicht auch?«
Und würde, fragte sich Miss Marple, eine Frau ausgerechnet im Bertram’s absteigen, um sich heimlich mit einem Mann zu treffen? Dafür war Bertram’s Hotel eindeutig nicht der richtige Ort. Aber möglicherweise war genau das der Grund für eine Frau wie Bess Sedgwick, warum sie es gewählt hatte.
Sie seufzte, blickte zu der hübschen Standuhr, die dezent in der Ecke vor sich hin tickte, und erhob sich mit der bedächtigen Vorsicht der Rheumakranken. Langsam ging sie zum Aufzug. Lady Selina blickte sich um und steuerte auf einen militärisch wirkenden älteren Herrn zu, der in den Spectator vertieft war.
»Wie schön, Sie wiederzusehen. Äh – Sie sind doch General Arlington, nicht wahr?«
Doch der alte Herr erklärte ausgesucht höflich, er sei nicht General Arlington. Lady Selina entschuldigte sich, schien aber nicht über Gebühr aus der Fassung gebracht. Bei ihr vereinten sich Kurzsichtigkeit und Optimismus, und da es ihr die allergrößte Freude machte, alte Freunde und Bekannte zu treffen, unterliefen ihr ständig solche Verwechslungen. Das passierte hier auch anderen, denn das Licht war angenehm gedämpft, die Lampenschirme aus dichtem, schwerem Material. Doch keiner nahm daran Anstoß – im Gegenteil, die meisten schienen sich zu freuen.
Während Miss Marple auf den Aufzug wartete, lächelte sie in sich hinein. Typisch Selina! Immer überzeugt, alle Welt zu kennen. Darin konnte sie nicht mit ihr konkurrieren. Die einzige Bekanntschaft, deren sie sich an diesem Ort rühmen konnte, war der gutaussehende Bischof von Westchester mit seinen feschen Gamaschen, den sie mit »lieber Robbie« angesprochen hatte und der gleichermaßen liebevoll geantwortet und sich daran erinnert hatte, wie er als Kind in einem Pfarrhaus in Hampshire fröhlich gebettelt hatte: »Mach doch bitte das Krokodil, Tante Janie. Mach das Krokodil und friss mich.«
Der Aufzug war jetzt da, und der ältere Mann in Uniform öffnete schwungvoll die Tür. Miss Marple war einigermaßen überrascht, Bess Sedgwick aussteigen zu sehen, die erst vor wenigen Minuten hochgefahren war.
Plötzlich blieb Bess Sedgwick, einen Fuß noch in der Tür, so unvermittelt stehen, dass Miss Marple überrascht zögerte. Bess Sedgwick starrte so konzentriert über Miss Marples Schulter, dass sich die alte Dame unwillkürlich umdrehte.
Der Portier hielt gerade die beiden Schwingtüren am Eingang auf, um zwei Frauen in die Halle treten zu lassen. Die eine war eine ziemlich aufgedonnerte Dame mittleren Alters mit einem reichlich unpassenden veilchengeschmückten Hut, die andere ein hochgewachsenes, schlicht, aber schick gekleidetes Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren mit langem, glattem flachsblondem Haar.
Bess Sedgwick machte auf dem Absatz kehrt und betrat wieder den Aufzug. Als Miss Marple ihr folgte, drehte sie sich zu ihr um und entschuldigte sich.
»Verzeihung, ich hätte Sie beinahe umgerannt.« Ihre Stimme klang warm und freundlich. »Aber mir ist eingefallen, dass ich etwas vergessen habe – wie dumm von mir.«
»Zweiter Stock?«, fragte der Fahrstuhlführer. Miss Marple nickte Bess Sedgwick lächelnd zu, zum Zeichen, dass sie die Entschuldigung gehört hatte, stieg aus und ging langsam zu ihrem Zimmer. Wie so oft nutzte sie die Gelegenheit, um genüsslich alle möglichen unwichtigen kleinen Probleme zu überdenken.
Zum Beispiel war nicht richtig, was Lady Sedgwick gerade gesagt hatte. Sie war eben erst auf ihr Zimmer gegangen, und da musste ihr »eingefallen sein, dass sie etwas vergessen hatte« (falls das überhaupt stimmte), und war dann wieder hinuntergefahren, um es zu holen. Oder war sie vielleicht hinuntergefahren, um sich mit jemandem zu treffen oder nach jemandem Ausschau zu halten? Falls ja, hatte die Person, die sie gesehen hatte, als die Aufzugstür aufging, sie so beunruhigt und erschreckt, dass sie sofort wieder in den Aufzug gestiegen und hochgefahren war, um dieser Person nicht zu begegnen.
Es musste sich um die beiden Neuankömmlinge handeln, die Frau mittleren Alters und das Mädchen. Mutter und Tochter? Nein, dachte Miss Marple, nicht Mutter und Tochter.
Selbst im Bertram’s, dachte Miss Marple vergnügt, konnten interessante Dinge passieren …
»Äh … ist Colonel Luscombe …?«
Die Frau mit dem Veilchenhut stand beim Empfang. Miss Gorringe lächelte entgegenkommend, und sofort wurde ein Page losgeschickt, der seinen Auftrag jedoch gar nicht erst ausführen musste, weil Colonel Luscombe genau in diesem Augenblick die Halle betrat und rasch zur Rezeption hinüberging.
»Guten Tag, Mrs Carpenter.« Er schüttelte der Dame höflich die Hand und wandte sich dann an das Mädchen. »Meine liebe Elvira.« Herzlich ergriff er ihre Hände. »Also, das ist ja wirklich schön. Vortrefflich, ganz vortrefflich. Kommen Sie, setzen wir uns doch.« Er führte zu einer Sitzgruppe, bat sie, Platz zu nehmen, und wiederholte: »Ja, wirklich schön.«
Es war deutlich zu spüren, dass er sich zwar Mühe gab, aber zugleich den Mangel an Ungezwungenheit nicht überspielen konnte. Er konnte schließlich nicht gut noch einmal erklären, wie schön es sei. Die beiden Damen waren auch keine Hilfe. Elvira lächelte lieb. Mrs Carpenter ließ ein verlegenes leises Lachen hören und strich ihre Handschuhe glatt.
»Hatten Sie eine gute Reise?«
»Ja, danke«, sagte Elvira.
»Kein Nebel oder dergleichen?«
»O nein.«
»Unser Flugzeug ist fünf Minuten vor der Zeit gelandet«, sagte Mrs Carpenter.
»Aha. Gut, sehr gut.« Er gab sich einen Ruck. »Ich hoffe, das Hotel gefällt Ihnen.«
»Oh, es ist wirklich sehr nett«, versicherte Mrs Carpenter lebhaft, während sie sich umschaute. »Sehr komfortabel.«
»Allerdings ziemlich altmodisch«, sagte der Colonel entschuldigend. »Eine Menge alter Knacker. Keine … ähm … Tanzveranstaltungen oder so was.«
»Nein, wohl eher nicht«, stimmte Elvira zu.
Sie sah sich mit ausdrucksloser Miene um. Es schien unvorstellbar, Bertram’s Hotel mit Tanzveranstaltungen in Verbindung zu bringen.
»Leider eine Menge alter Knacker hier«, sagte Colonel Luscombe nun schon zum zweiten Mal. »Ich hätte Sie vielleicht in einem moderneren Etablissement unterbringen sollen. Wissen Sie, ich kenne mich in solchen Dingen nicht besonders aus.«
»Es ist sehr nett hier«, sagte Elvira höflich.
»Es ist ja nur für zwei Nächte«, fuhr Colonel Luscombe fort. »Ich dachte, wir könnten heute Abend vielleicht in eine Show gehen. In ein Musical.« Er sprach das Wort zögernd aus, als wäre er sich nicht sicher, ob er den richtigen Terminus benutzte. »Let Down Your Hair Girls. Ich hoffe, das ist Ihnen recht?«
»Wie reizend!«, rief Mrs Carpenter. »Das ist doch wunderbar, nicht wahr, Elvira?«
»Ja, reizend«, sagte Elvira mit tonloser Stimme.
»Und danach zum Abendessen? Ins Savoy?«
Erneute Ausrufe des Entzückens vonseiten Mrs Carpenters. Colonel Luscombe warf Elvira einen verstohlenen Blick zu und fasste neuen Mut. Er hatte das Gefühl, Elvira freue sich, sei aber fest entschlossen, vor Mrs Carpenter nur höfliche Zustimmung zu äußern. Und da mache ich ihr keinen Vorwurf, dachte er bei sich.
Zu Mrs Carpenter sagte er: »Vielleicht würden Sie gern Ihre Zimmer sehen? Ob sie in Ordnung sind …«
»Oh, das sind sie ganz bestimmt.«
»Also, wenn irgendetwas nicht nach Ihren Wünschen ist, werden wir für Abhilfe sorgen. Ich bin hier gut bekannt.«
Miss Gorringe, die am Empfang stand, war sehr zuvorkom