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Der Held, ein preußischer Leutnant aus dem Hochadel, wird auf den Thron eines Balkanstaates berufen und muß sich sofort in einem Feldzug beweisen.
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Besser Herr als Knecht
Fedor von Zobeltitz
Inhalt:
Fedor von Zobeltitz - Biografie und Bibliografie
Besser Herr als Knecht
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
Besser Herr als Knecht, F. von Zobeltitz
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849639327
www.jazzybee-verlag.de
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Schriftsteller, geb. 5. Okt. 1857 in Spiegelberg, gest. 10. Februar 1934 in Berlin, wurde im Kadettenkorps erzogen, trat 1874 in die Armee, nahm nach mehrjähriger Dienstzeit seinen Abschied, redigierte die »Neuen militärischen Blätter« und entwickelte bald eine fruchtbare Tätigkeit für belletristische Zeitschriften. Von seinen zahlreichen Romanen, die meist gesellschaftliche Zustände behandeln, seien genannt: »Das Nessusgewand« (Stuttg. 1888, 2 Bde.); »Der Telamone« (Berl. 1893); »Die Johanniter« (Jena 1894); »Das zweite Geschlecht« (Berl. 1896, 3 Bde.); ' »Ein Schlagwort der Zeit« (das. 1896, 2 Bde.); »Heilendes Gift« (Jena 1897, 2 Bde.); »Die Armutsprobe« (Stuttg. 1898); »Ironie des Schicksals« (Berl. 1898); »Das Heiratsjahr« (Stuttg. 1899); »Besser Herr als Knecht« (Berl. 1900); »Der Herr Intendant« (das. 1900); »Albine« (das. 1902); »Der Backfischkasten« (Stuttg. 1902); »Trude Alberti« (das. 1903); »Dem Wahren, Edlen, Schönen«, ein Großstadtroman (Berl. 1905); »Kreuz, wende dich« (Stuttg. 1905); »Die arme Prinzessin« (das. 1905); »Die Tierbändigerin« (das. 1906); »Eine Welle von drüben« (Berl. 1906); »Flittergold« (das. 1906); »Höhenluft« (Leipz. 1906); »Das Gasthaus zur Ehe« (Berl. 1907). In den agrarischen Romanen: »Die Pflicht gegen sich selbst« (das. 1894, 2 Bde.), »Der kleine Pastor und andere Novellen« (Dresd. 1895) und »Der gemordete Wald« (Stuttg. 1898) schildert er mit Glück das Bauernleben der brandenburgischen Mark, das er in den Volksstücken »Ohne Geläut« (Dresd. 1895) und »Das eigene Blut« (Berl. 1896) auch auf die Bühne gebracht hat. Er lebt in Berlin und auf seinem Gute Spiegelberg und gibt seit 1897 die »Zeitschrift für Bücherfreunde«, seit 1904 die »Neudrucke literarhistorischer Seltenheiten« sowie die »Sammlung illustrierter Monographien« (Bielef. 1901 ff.) heraus, die er selbst mit dem Band »Der Wein« eröffnete; für die Sammlung »Land und Leute« schrieb er »Berlin und die Mark Brandenburg« (das. 1902).
»Je bois à la santé de Sa Majesté l'empereur d'Allemagne et roi de Prusse et à la santé de l'impératrice et reine! ...«
Der Schah sprach diesen kurzen Toast mit ziemlich leiser Stimme, so daß ihn nur die umsitzenden hohen Herrschaften verstehen konnten. An den entfernteren Tischen reckte man die Hälse. Ein paar Kammerherrn flüsterten sich mit ernst bleibenden Gesichtern boshafte Bemerkungen zu, und ein junges Mädchen, das erst bei der letzten Cour am Hofe eingeführt worden, kicherte verstohlen in ihre Serviette hinein.
Es war noch zu Zeiten des alten Kaisers. Der reiselustige Beherrscher von Persien hatte die Reichshauptstadt mit seinem Besuche beehrt und, um ihn zu feiern, fand im Weißen Saale des Schlosses eine große Galatafel statt. Der Weiße Saal glänzte damals noch nicht in der blendenden Helle der elektrischen Kronen. Aber die vielen Hunderte von Wachskerzen, die auf den Lüstern flammten, erhöhten doch den vornehmen Eindruck des Ganzen und tauchten den Plafond des riesigen Prunkraumes in ein Meer von rosigem Lichte, das dem Auge wohltat, wenn man den vom Farbenflimmer ringsum müde gewordenen Blick erhob.
An der Tafel der Majestäten reihte sich Fürstlichkeit an Fürstlichkeit mit den Trägern berühmter Namen. Da sah man die Siegfriedserscheinung des Kronprinzen, noch stolz, kraftvoll und unberührt von dem Gifthauche jener dämonischen Krankheit, der er erliegen sollte, als ihn kaum das Diadem der Kaiserwürde schmückte – und ein paar Plätze weiter den Prinzen Friedrich Karl in seiner roten Attila, wie er soeben das Sektglas erhob, um seiner ältesten Tochter freundlich zuzutrinken, der Prinzessin Elisabeth, die neben dem Herzog Elimar von Oldenburg saß. Da sah man auch noch die meisten der Paladine des alten kaiserlichen Herrn – den schweigsamen Moltke mit seinem ausdrucksvollen Cäsarenkopf, Roon, Manteuffel, Göben und den gewaltigen Eisenfresser Steinmetz mit seiner schönen blutjungen Gattin. Nur Bismarck war daheim in seinem Sachsenwalde geblieben; die Neuralgie plagte ihn wieder, und so hatte er darauf verzichten müssen, sich im Glanze Persiens zu sonnen.
Wirklich – Persien glänzte. Auf der Uniform des Schahs flammten die Brillanten, und die Brustseiten seiner Suite flammten nicht minder. Aber der exotische Gast schien trüber Stimmung zu sein. Unbekümmert um die Etikette des Hofes drehte er Brotkügelchen mit den nervös spielenden Fingern und richtete nur dann und wann einmal ein schläfriges Wort an seine kaiserliche Nachbarin. Von Zeit zu Zeit schien es, als übermannte ihn eine gewisse Müdigkeit; dann ließ er den Kopf sinken und machte kleine Augen, als ob er ein Viertelstündchen einschlummern wollte – zuckte aber wieder empor, schaute sich halb ängstlich um und griff von neuem nach dem Champagnerglase. Das tat er häufig; Mohamed hat zwar den Wein verboten, aber für den vornehmen Muselmann gilt der Traubensaft, der auf der kreidigen Ebene der Champagne reift, nur als eine Art moussierendes Wasser.
Hinter dem Sessel des Schahs standen, wie hinter den Plätzen der meisten Fürstlichkeiten, zwei Pagen in weißen Kniehosen und roten, goldgestickten Schoßröcken. Das waren zwei Selektaner des Kadettenkorps und zugleich zwei Freunde, der eine siebzehn- und der andere achtzehnjährig, prachtvoll gewachsene Jungen mit frischen Gesichtern und hellen verwunderten Augen, ein blonder und ein brünetter. Der Blonde hieß Emich mit Vornamen und war ein Reichsgraf von Schöningh-Stubbach und der Brünette ein Freiherr von Sassenhausen. Sie standen dicht vor dem Offiziersexamen und waren zum letztenmal zum Pagendienst herangezogen worden. Eine willkommene Abwechslung für die beiden Junker in dem Einerlei des Kadettenlebens! Und nun noch zu allem Pagendienst bei dem persischen Kaiser, dem König der Könige, dem Schah-en-Schah, dem vierten Souverän aus der berühmten Dynastie Kadschar! Dies letztere hatte Sassenhausen ergründet, der in den Gothaer Almanachen besser Bescheid wußte als Schöningh, obwohl Schöningh selbst im Hofkalender paradierte und sogar in der ersten Abteilung, wie Sassenhausen von seinem Freund und Duzbruder gern renommierend zu betonen pflegte. Alle übrigen Kadetten der Stuben drei und sieben von der zweiten Kompagnie beneideten die beiden, denn es war gewiß, daß der Schah seinen Pagen als Andenken und Erinnerung zum mindesten eine mit Perlen und Diamanten besetzte goldene Taschenuhr schenken würde. Mit einer ähnlichen Uhr prahlte nämlich der kleine Pahlen, der Page beim Kaiser von Rußland gewesen war, als dieser im Jahre zuvor Berlin besucht hatte. Der phantastische Sassenhausen träumte sogar von einem Orden; es gäbe sehr schöne Orden im persischen Reiche, meinte er, und da sie durchweg in Brillanten gehalten seien, ließen sie sich auch praktisch verwerten.
Aber die Hauptsache blieb doch immer die Abwechslung. Das Kadettenkorps bot keine. Da ging alles nach der Uhr und maschinenmäßig. Früh um sechs aufstehen, dann in den Feldmarschallsaal zum Frühstück, wo aus Mehlsuppe und Weißbrot der übliche »Pamps« fabriziert und verspeist wurde. Und dann der Unterricht: für die Selektaner, die Offiziersaspiranten, Taktik und Waffenkunde, Heerwesen, Fortifikation und Armeegeschichte. Das war ebenso belehrend als langweilig, denn im Grunde genommen war man sich in der ganzen Selekta klar darüber, daß es zum Leben nicht notwendig sei, zu wissen, wie lang, breit und hoch eine Faschine sein müsse oder wie niedrig ein spanischer Reiter allerhöchstens sein dürfe. Indessen das Examen verlangte diese Kenntnis, und der Examinator kümmerte sich nicht um die Lebensansichten des einzelnen. Der Nachmittag war schon amüsanter: Turnen, Fechten, Reiten, militärische Übungen – das war immerhin erträglicher. Und dann die Arbeitsstunden und der langweilige Abend und das ewige Trommeln, das den Schlag der Uhr ersetzte, und die öden Spaziergänge auf dem Karreehofe – auf und ab und ab und auf und im Kreise herum wie junge Leuen im Käfig! Lichtblicke waren nur der Sonntag und das Lazarett: der Sonntag mit Josty und den Verwandten in der Stadt, und das Lazarett mit seinen warmen Betten und der verbesserten Kost.
Wahrhaftig – da sehnte man sich nach Abwechslung! Sassenhausen wollte radschlagen, als ihm der Befehl zuging, sich beim Pagenhofmeister zu melden. Schöningh blieb gemessener. Er war bisher Leibpage des Kaisers gewesen und faßte seine Überweisung an den persischen Gast nicht als sonderliche Ehre auf. Er ärgerte sich im stillen sogar darüber. Er war nicht hochmütig, aber schließlich gehörte er einem regierenden Geschlecht an, wenn auch einem ganz kleinen, und es wurmte ihn, einen mohammedanischen Fürsten bedienen zu müssen. Er dachte sogar ernstlich daran, mit seinem Kompagniechef zu sprechen, ob es nicht möglich wäre, ihn von seinen Pagenpflichten zu entbinden, dachte auch daran, im letzten Augenblick krank zu werden – aber schließlich siegte doch die Neugier und der Reiz der Abwechslung über das gekränkte Legitimistenempfinden.
So ein dienstfreier Tag war gar zu schön. Zuerst kamen die Instruktionen des Pagenhofmeisters an seine rote Garde: die Belehrungen über die Anrede der Fürstlichkeiten und über die Eigentümlichkeiten des Dienstes, das Schleppetragen bei den Prinzessinnen (das mittels Bettlaken eingeübt wurde) und das Präsentieren (bei dem während der Vorbereitung eine Waschschüssel das Silberservice ersetzen mußte). Und dann die Einkleidung in Eskarpins und Schoßrock, das Kräuseln und Pudern des Haars, das Binden der spitzenumsäumten Halstücher und das Fälteln der Jabots. Dabei wurde Unfug genug gemacht, so daß die bei der Toilette behilfliche rundliche Gattin des Pagenhofmeisters und der Friseur nicht aus dem Lachen herauskamen. Schließlich fuhren draußen vor dem Hauptportal die königlichen Wagen vor, die Pagen abzuholen. Im Schlosse wurde zunächst im Marschallsaal diniert. Alle Hochachtung – da speiste man besser als im Kadettenkorps! Und Wein gab es auch, aber nicht gerade in Fülle, denn es war früher einmal passiert, daß ein Page, der zu viel des Guten getan, die Schleppe seiner Prinzessin wie einen Pferdezügel behandelt hatte, so daß die Hoheit beinahe zu Falle gekommen wäre. Nach beendeter Tafel traten die diensttuenden Zeremonienmeister an die Stelle des Pagenhofmeisters und wiesen den Pagen die Plätze an. Schöningh und Sassenhausen wurden in den Weißen Saal geführt, wo ein alter Lakai sie respektsvoll begrüßte und sich als ihr Amanuensis vorstellte. Er hatte den beiden Junkern die Schüsseln zu reichen, die sie wiederum ihrem Fürsten zu präsentieren hatten. Ein närrisches Ehrenamt! Anfänglich wollte das Dynastenblut Schöninghs abermals ein klein wenig rebellieren. Ein Lakaienamt dieser Ehrendienst – und dazu wählt man nur junge Edelleute! Lakaienamt hin, Lakaienamt her – auch die Zeremonienmeister und Kammerherren sind schließlich nichts als Bediente und die Hofdamen so eine Art Zofen; alles knixt, dienert und wedelt und tut devotest und untertänigst – der ganze Hof ist eine Erziehungsanstalt für Lakaien ... Emich Graf Schöningh, wie kommen so demokratische Gedankensplitter in deine monarchisch-konservative Seele?! – Emich Graf Schöningh wußte es selbst nicht; er hatte zuweilen bei aller Milde seiner jungen Seele Anwandlungen kaustisch-ironischer Kritiksucht, und diese gewaltige Dienerei und Bedienerei ringsum dünkte ihn recht wenig adlig...
Und nun erdröhnten die drei Schläge des Zeremonienstabs, und der Zug der hohen Herrschaften flutete in den Saal. Ein langer Zug, glänzend und vielfarbig, eine in hellem Lichte schillernde Riesenschlange. Hinter den Fürstlichkeiten in buntem Gekräusel die geladenen Gäste: eine Unmasse Generäle und hohe Hofchargen und eine Girlande von Damen, jungen und älteren. Die Toiletten knisterten und rauschten, und im Geschmeide und den Ordensdekorationen und den Monden der Epauletten, den Kandillen und Fangschnüren, all dem blitzenden Blendwerk, sprühten die Reflexe der tausend Lichter.
Hie und da winkte ein Bekannter Schöningh zu. Prinz Otto Waldegg, der im letzten Jahre Offizier geworden war, rief ihm im Vorüberschreiten ein halblautes »n' Tag, Vetter« entgegen. Emich fand, daß Waldegg zu klein sei für die Garde-Kürassier-Uniform; auch stecke er immer noch in den Schultern. Da scholl ein zweites »n' Tag, Vetter« zu ihm herüber, diesmal von schönen Lippen. Emich wurde es warm um das Herz. Die Cousine Ruth hatte schon Eindruck auf ihn gemacht, als er noch in der Sexta saß. O Gott, und wie schön sah sie wieder aus! Emich hob sich ein wenig auf den Zehen – ihr schneeweißer Nacken, den eine Perlenschnur schmückte, blinkte noch in der Entfernung. Wer führte sie nur? Ein langer schwipper Mensch in Malteseruniform – herrjeh, war das nicht der Kottauer Rietzow, der so fromm war, daß er sich lange überlegt hatte, ob er nicht dem Majorat entsagen und die Weihen nehmen sollte?! ... Da kam auch der alte Graf Wiegel, der Vater Ruths – genau so, wie Emich ihn seit seiner Kindheit kannte: kerzengerade wie ein Lineal, mit graugrünen Favoris und einer Hahnentolle. Drei Paare hinter ihm die Gräfin am Arme eines Generals – auch noch die alte: mit ewig lustigem Gesicht und den gutmütigen Augen, dick und ein wenig ungeschickt in den Bewegungen und stark dekolletiert. Sie war die einzige Schwester von Emichs Vater und hatte den früh Verwaisten erziehen helfen. Emich hätte sie gern begrüßt, doch sie sah ihn nicht; der General schien sie gut zu unterhalten, denn sie lachte, das breite, liebe Lachen, das Emich an ihr kannte.
Jetzt winkte wieder einer, lebhaft und ausdrucksvoll, mit der linken Hand, die den abgezogenen Militärhandschuh hielt. Schöningh blieb steif stehen und neigte nur tief den Kopf. Innerlich wunderte er sich, daß Fürst Ferdinand heute Uniform trug. Das tat er ungern, da er nur Oberstenrang besaß und man es bisher Allerhöchsten Orts geflissentlich »vergessen« hatte, ihn standesgemäß zu befördern. Fürst Ferdinand von Schöningh-Stubbach war der Chef des Hauses und das Haupt der regierenden Linie. Emich konnte ihn nicht leiden, aus keinem anderen Grunde, als weil er wußte, daß sein verstorbener Vater in Erbschaftssachen ärgerliche Streitigkeiten mit ihm gehabt hatte. Wie kam denn der Fürst nach dem verhaßten Berlin? Wurde auf der Stubbach-Feste einmal gründlich reingemacht? –
Es war keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Der Dienst begann. Die beiden Pagen hinter Seiner Majestät dem Schah mußten scharf aufpassen. Die persische Majestät achtete zuweilen minutenlang nicht auf die ihr gereichte Schüssel, und die Schüssel war schwer und der Arm wurde lahm. »Hol's der Teufel«, fluchte Emich in der Tiefe seiner Seele. Sassenhausen hatte es besser. Der hatte nur Wein einzuschenken, und das war eine Kleinigkeit. Es war ein Glück, daß so schnell serviert wurde. Trotz der Unmasse Gerichte war man schon nach Verlauf einer Stunde beim Dessert angelangt. Nun geschah etwas Merkwürdiges. Die Prinzen und Prinzessinnen häuften außerordentlich viel Konfekt, Bonbonnieren und Früchte auf ihre Teller, und dann nahmen sie die Teller und reichten sie den hinter ihnen stehenden Pagen. Und die Junker machten vergnügte Gesichter und packten ihre süßen Geschenke in die eigens zu diesem Zweck mit Leder ausgefütterten Taschen ihrer weitschößigen roten Röcke.
Sassenhausen sah dies und neigte sich ein klein wenig zu Schöningh hinüber.
»Nun bin ich doch neugierig,« flüsterte er, »ob ...«
Da machte der Schah eine Bewegung. Er knackte sich Nüsse auf. Und dann aß er einen Fondant und dann noch einen ... Aber er machte keine Anstrengung, seinen Pagen den ihnen zukommenden Tribut zu zollen.
Sassenhausens Gesicht wurde lang sehr. ›I du Donnerwetter,‹ stand deutlich auf seinen Zügen zu lesen, ›der vierte Souverän aus der Dynastie Kadschar vergißt uns!‹ ... Und so war es auch. Die persische Majestät kannte die Sitte nicht, und Allerhöchst ihre Pagen gingen leer aus. Das ärgerte die beiden jungen Herren.
An die Tafel schloß sich eine kleine Defiliercour. In langem Halbkreise umstanden die Pagen die Sessel der Majestäten und des fremdherrlichen Potentaten. Der Zug der Gäste defilierte vorüber. Unter den neu vorgestellten Damen befand sich auch die Komtesse Ruth von Wiegel. Nun sah Emich sie dicht vor sich, wie sie bei der Verbeugung tief herniederrauschte. Welche stolze Schönheit! Sie stand in gleichem Alter mit Emich, aber ihre hohe stattliche Figur und die köstlich reife Fülle der Formen ließen sie älter erscheinen. Das Antlitz erschien in der vollendeten Regelmäßigkeit seiner Züge fast ein wenig streng, doch wenn die Komtesse lächelte, löste sich diese klassische Strenge in anmutigsten Liebreiz auf. Eine leichte Röte flog über ihre Wangen, als der Kaiser einige liebenswürdige Worte an sie richtete. Er sagte, er freue sich, die Tochter seines lieben Grafen Wiegel bei Hofe begrüßen zu können, und hoffe, sie häufig wiederzusehen. Diese letzte Bemerkung schien eine Anspielung zu enthalten. Die Kronprinzessin, die den Grafen noch aus London her kannte, wo er seinerzeit der preußischen Gesandtschaft zugeteilt war, hatte gelegentlich den Wunsch ausgesprochen, die Komtesse als Hofdame um sich zu wissen; aber Ruth besaß ein zu stark ausgeprägtes Persönlichkeitsgefühl, um sich mit goldenen Fesseln belasten zu lassen, und die Mama hatte daher eine fromme Lüge für ihr Fortbleiben ersinnen müssen ... Über die weißen Schultern der zum zweiten Male zu tiefem Hofknix niederrauschenden Komtesse hinweg flog der Blick Schöninghs weiter. In der Reihe der noch harrenden Gäste sah er wieder die lange, hagere Gestalt des Grafen, die schmale Brust umschlottert von der goldbeladenen Kammerherrnuniform und auf dem gelben Gesicht mit den wehenden Kotelettenbärten den Ausdruck stolzen Triumphes. Neben ihm stand der Fürst Ferdinand und flüsterte ihm etwas in das Ohr, und Wiegel nickte dazu, lächelte und zuckte mit den Schultern.
Endlich war auch die Cour beendet. Der Perser mit seinem Gefolge verabschiedete sich unter großen Zeremonien, und dann schritt das Kaiserpaar die Linie der Pagen hinab, an diesen und jenen noch ein freundliches Wort richtend. Auch Emich gehörte zu diesen Glücklichen.
»Sieh da, lieber Schöningh,« sagte der kaiserliche Herr, für einen Augenblick stehenbleibend, »ich habe Sie heute vergeblich hinter meinem Stuhl gesucht – und nun sehe ich, daß Sie doch anwesend sind ... Wo haben Sie denn gesteckt?«
Emich stand straff und soldatisch vor dem Kaiser.
»Ich war zu seiner Majestät dem Schah befohlen, Majestät«, antwortete er.
»Zum ... ja, du lieber Gott, aber warum?... Ich habe Sie doch absichtlich zu meinem Leibpagen designiert ... Lieber Graf Perponcher, man soll mir doch meine Pagen belassen ... Es sind ja doch noch mehr da... Sie stehen vor dem Examen, Schöningh?«
»Zu befehlen, ja, Majestät.«
»Na ... und werden gut bestehen? –«
»Ich hoffe sicher, Majestät.«
»Zu welchem Regiment haben Sie sich gemeldet?«
»Regiment Kronprinzen-Kürassiere, Majestät.«
Der Kaiser nickte freundlich. »Freut mich, Graf Schöningh,« sagte er, »freut mich ... Ich sehe Ihren Herrn Vater noch in dem weißgrünen Koller vor mir, als er sechsundsechzig wieder unter die Fahnen trat. Eifern Sie ihm nach, lieber Schöningh, werden Sie auch ein so Getreuer wie er! ...«
Der kaiserliche Herr nickte nochmals und schritt weiter.
Hinter ihm hatten die Zeremonienmeister die Köpfe zusammengesteckt. Wer hatte die Eselei begangen, dem Kaiser seinen Leibpagen fortzunehmen und dem fremden Gast zuzuerteilen? – Es wußte niemand; der Oberhofmarschall rümpfte gewaltig die Nase und beschloß eine weitreichende Untersuchung. Die Kammerherren zeigten entrüstete Mienen. Nur die Komtesse Ruth Wiegel schien sich heimlich zu amüsieren. Verhaltener Spott und ein leichtes Lächeln zuckte um ihren Mund.
Noch einer war ärgerlich, aber er zeigte es nicht: der Fürst Ferdinand. Er war sechsundsechzig leidend geworden und nicht mit in den Krieg gezogen. Das Leiden war nur vorgeschoben; er verurteilte diesen brudermörderischen Feldzug. Und obwohl er sich im Jahre siebzig mit an die Spitze der freiwilligen Krankenpflege gestellt und im Wohltuen erschöpft hatte, konnte man ihm Allerhöchsterseits das Benehmen von sechsundsechzig nicht vergessen; das mochte auch der Grund sein, daß er in der Rangliste noch immer als Oberst à Ia suite der Armee geführt wurde.
Doch wie gesagt: der Fürst war zu klug, seinen Ärger zu zeigen. Als die hohen Herrschaften den Saal verlassen hatten, löste er sich aus dem Gefolge und begrüßte Emich.
»n' Tag, lieber Emich«, sagte er. »Ciel, was bist du groß geworden! Heinz und Leopold müssen sich beeilen, wenn sie dir nachfolgen wollen. Die Jungen wollen nicht wachsen ... Also du steigst demnächst in das Offiziersexamen? – Wann?«
»Mitte April, Durchlaucht«, erwiderte Emich kühl.
Der Fürst warf den Kopf zurück.
»›Durchlaucht?‹ – nana – ich bitt' es mir aus, Emich! Für dich bin ich noch immer der Onkel Ferdinand ... Mußt uns mal in Stubbach besuchen, wenn du erst die Epauletten auf der Schulter hast. Man kommt ja ganz auseinander ...«
Er wandte sich hastig um: die Wiegels waren näher getreten. Es gab eine neue Begrüßung. Die Gräfin genierte sich nicht, umarmte Emich und küßte ihn in ihrer derben Weise gehörig ab, nannte ihn »mein Dickerchen« und fragte ihn, ob er noch immer so gern wie früher gebackenen Schinken mit Rührei esse. Ruth lachte und meinte, das sei doch eigentlich keine Frage auf kaiserlichem Parkett. Im übrigen werde Vetter Emich ja in den Examenferien, während der sogenannten »Weidezeit«, nach Stenzig kommen, und da könne die Mama ihrem herzlieben Dickerchen alle Tage ein anderes Leibgericht kochen... Der leicht hochmütige Ton, in dem Ruth dies alles sagte, verletzte Emich; sie hatte es an sich, ihn von oben herab, so ein wenig als guten dummen Jungen zu behandeln. Emich stellte Sassenhausen vor. Die Gräfin fand sofort eine Verwandtschaft der Wiegels mit den Sassenhausens heraus. Das war ihre Stärke; wenn man sie hörte, mußte man annehmen, daß die Wiegels mit aller Welt von Adel verschwägert und vervettert waren. Schließlich traten auch noch Herr von Rietzow und Prinz Waldegg an die Gruppe heran und mischten sich in die Unterhaltung, bis die Komtesse in ihrer leicht schroffen und häufig unliebenswürdigen Art erklärte, die Familiensimpelei könne man ja im Hotel weiter betreiben: sie sei todmüde und friere.
Übrigens stürzte jetzt auch der Pagenoffizier herbei, Hauptmann von Döring, um seine Selektaner in Empfang zu nehmen und heimzuführen. Er hatte einen roten Kopf, denn der Oberhofmarschall hatte ihm die Schuld beigemessen, daß Schöningh nicht Page des Kaisers geblieben sei. Der ganze Mensch war in Verwirrung und Auflösung, fürchtete Allerhöchste Ungnade und fürchtete für sein Avancement, fürchtete vor allem einen Rüffel des Kadettenkorps-Kommandeurs, des wegen seiner knasternden Grobheit berühmten alten Peuken. Er fuhr mitten in die plaudernde Gruppe hinein, entschuldigte sich, wurde noch röter, stellte sich vor und bat dann salutierend den Fürsten Schöningh, seine Lämmer abführen zu dürfen.
Paarweise verließen die Pagen den Saal. Die Gräfin drückte Emich rasch noch einen kräftigen Kuß auf die Wange, und Fürst Ferdinand winkte grüßend mit der Hand. Ruth aber rief den Abgehenden nach: »Emich – Weidmannsheil für das Examen! ... Ihnen auch, Herr von Sassenhausen! ...«
Sassenhausen wollte einen untertänigsten Dank stammeln, besann sich jedoch, daß er schon wieder in Reih und Glied war. Herrgott, wie sehnte er sich nach den Epauletten! Noch drei Monate; hier die Einöde, drüben sonnendurchleuchteter Rosenhag, und zwischen beiden eine tiefe schwarze Kluft: das Examen. Sassenhausen seufzte tief auf.
In acht Hofwagen fuhren die Pagen nach der Neuen Friedrichstraße zurück, in der damals noch die Hauptkadettenanstalt lag. Schöningh und Sassenhausen saßen mit einem jungen Illyrier, Marquis Veresco, der in Deutschland erzogen wurde, zu dritt in einem Wagen.
»Weißt du, Schöningh,« sagte Sassenhausen, »daß ich mir die Sache anders gewünscht hätte?... An eine güldene Uhr mit Perlen und Diamanten ist gar nicht zu denken. Pfui Geier, nicht einmal unser Konfekt haben wir bekommen!...«
Der kleine gefällige Illyrier griff sofort in seine Taschen und holte ein paar Bonbonnieren hervor.
»Nehmen Sie, Sassenhausen,« bat er in seinem, noch immer ziemlich schlecht akzentuierten Deutsch, »und Sie auch, Graf Schöningh – ich bitte Sie! Prinz Albrecht hat mir zwei voll gehäufte Teller gegeben – ich weiß gar nicht, wo ich mit dem Zeug hin soll!«
Die beiden Freunde zierten sich erst ein wenig, dann nahmen sie und begannen auch gleich zu essen. Das konnte Veresco nicht sehen; er holte eine große Birne aus der Tasche und biß gleichfalls hinein.
»Nun hat die sogenannte Abwechslung wieder einmal ihr Ende erreicht«, begann Sassenhausen von neuem; »sie war freilich auch danach ... Ich wollte, ich hätte das Examen erst hinter mir.«
»Du brauchst doch keine Furcht zu haben, Saß!« meinte Emich.
»Äh – man kann Pech haben!«
»Wo wollen Sie eintreten, Sassenhausen?« fragte Veresco.
»Kronprinzen-Kürassiere – mit Schöningh zusammen. Wir sind schon angenommen. Die Kronprinzlichen haben Mangel an Offizieren. Und Sie, Veresco?«
»Ich soll zur Artillerie. Wenigstens zuerst; später komm' ich vielleicht auch noch einmal zur Reiterei. Ich muß mich den Wünschen meines Vaters fügen. Der ist Kommandant von Garica und ein berühmter Ingenieur – hat auch einmal eine neue Bombe erfunden, auf die er sehr stolz war. Aber als sie Midhat-Pascha, dem Gouverneur von Illyrien, vorgeführt werden sollte, platzte sie nicht. Papa hat sich damals fürchterlich geärgert.«
Schöningh lachte.
»Das glaub' ich. Was nützt eine Bombe, wenn sie nicht rechtzeitig platzt! Sagen Sie mal, kleiner Marchese, warum dienen Sie eigentlich nicht in Ihrem Heimatland?«
Veresco schüttelte ernst den Kopf.
»Das ging nicht an«, erwiderte er. »Illyrien steht unter türkischer Verwaltung, und mein Vater ist kein Türkenfreund, wenn er auch nach dem letzten unglücklichen Feldzug in Diensten blieb. Viele vornehme Familien Illyriens lassen ihre Söhne im Ausland dienen. Aber zu rechter Zeit finden wir uns doch wieder in der Heimat zusammen.«
»Wenn es wieder einmal ein Revolutiönchen gibt«, meinte Schöningh.
Der kleine bronzefarbene Ausländer nickte.
»Ja,« sagte er, »darauf warten wir alle. Die letzte Revolution war vor sechs Jahren. Nun wird wohl bald wieder eine kommen. Auf wenigstens eine Revolution binnen zehn Jahren können wir immer rechnen...«
Die beiden Preußen amüsierten sich über den ruhigen Ernst, mit dem Veresco dies sagte. Der Illyrier war sehr beliebt unter den Kameraden. Auch die Offiziere hatten ihn gern. Er war begabt und fleißig und von großer Gutmütigkeit. Es kam selten vor, daß er einmal zornig wurde; geschah dies aber, so geriet er in unbeschreibliche Wut. Er kannte sich dann selbst nicht. Bei einer solchen Gelegenheit hatte er einst mit seinem Taschenmesser einen armen Sekundaner verletzt. Zur Strafe erhielt er vierundzwanzig Stunden Arrest. Als er wieder entlassen wurde, umarmte und küßte er den Sekundaner und bat ihn kniefällig und tränenden Auges und unter Anrufung aller Heiligen um Verzeihung.
Die Wagen waren inzwischen in die Neue Friedrichstraße eingebogen und hielten vor dem Hauptportal des Kadettenhauses. Unter Plaudern, Lachen und Scherzen stiegen die Pagen aus und versammelten sich unter dem Torbogen. Es war spät geworden. Die Kadetten lagen bereits im Bett, nur in der Portierloge, wo der alte Hahnemann residierte, schimmerte Licht.
Hauptmann von Döring entließ die Pagen, behielt Schöningh aber noch zurück. Er begleitete ihn über den Karreehof nach seiner Kompagnie.
»Hören Sie, lieber Graf,« sagte er, »die Geschichte mit dem Schah ist mir recht unangenehm. Meinethalben hätten Sie beim Kaiser bleiben können – ich bin nicht schuld an der Abkommandierung. Nun will man mir alles aufbürden. Ja, zum Donnerwetter, ich führe doch nur die Orders aus, die ich erhalte! ... Hat sich denn auch Ihr Herr Onkel, der Fürst, darüber beschwert?«
»Gott bewahre, Herr Hauptmann«, erwiderte Schöningh. »Ich meine, die Sache ist nicht die ganze Rede wert –«
»Das sagen Sie! Ich aber hab' meinen Rüffel weg. Der Hofmarschall hat mich angeschnauzt, als ob ich ein Fähnrich wäre. Einen aus souveränem Hause kommandiere man nicht zum Schah als Pagen! ... Nun sagen Sie mir einmal ehrlich: Im Grunde genommen ist Ihnen das doch ganz schnuppe gewesen?«
»Ganz schnuppe, Herr Hauptmann. Aber daß man uns auch das Konfekt vorenthalten hat –«
Herr von Döring lachte. »Ich werde Sie zu entschädigen versuchen, Schöningh«, sagte er. »Soupieren Sie morgen abend bei mir. Nach der Arbeitsstunde und auf meinem Zimmer, wenn ich bitten darf.«
Im Hofkalender stand über die Familie Schöningh folgendes:
Schöningh-Stubbach.
(Residenz: Stubbach. – Stammvater: Herbrand Ferdinand Graf von Schüningh, geboren 24. Februar 1608, † 5. März 1658. Erwerbung von Stubbach 1638; Reichsfürst 22. August 1719, bestätigt 3. November 1779).
Herbrand Ferdinand Graf von Schöningh, Fürst zu Stubbach, Freiherr von Griesbergen und Loitz (führt laut Königl. Kabinettsorder vom 6. April 1865 den Titel Fürst von Schöningh-Stubbach), geboren 1. September 1829 zu Stubbach, Sohn des Fürsten Herbrand Leopold und seiner Gemahlin Amalia, geb. Prinzessin von Reitz-Bopfingen; Kgl. Preuß. Oberst à la suite der Armee; Durchlaucht. Vermählt zu Wendhusen 16. September 1855 mit Karoline Adelaide Prinzessin von Wendhusen, geb. 7. Mai 1834, † 16. Juni 1867.
Kinder: 1. Erbprinz Herbrand Heinrich, geb. 8. August 1857 zu Stubbach.
2. Prinz Herbrand Leopold, geb. 26. Juli 1858 zu Stubbach.
Geschwister.
1. † Herbrand Ehrenreich Graf von Schöningh-Stubbach (Erlaubnis zur Führung des Doppelnamens laut Kgl. Kabinettsorder d. 6. April 1865), Herr auf Seesenheim, Kgl. Preuß. Major der Landwehr-Kavallerie, Rechtsritter des Johanniterordens, geb. 11. September 1831, † 27. Juni 1866; vermählt zu Seesenheim 8. Oktober 1854 mit Leontine Camilla Prinzessin von Reitz-Bopfingen, geb. 19. Juli 1832, † 18. Januar 1867.
Kinder: 1. Grf. Herbrand Emich, geb. 7. Oktober 1856 zu Seesenheim, Kgl. Preuß. Kadett; Erlaucht.
2. † Grfn. Leontine Charlotte, geb. 20. Februar 1858, +†23. Juni 1860.
2. Gräfin Irmela Friedrike Agnese, geb. 3. August 1832 zu Seesenheim, vermählt 5. Januar 1850 mit Bolko Augustus Reichsgrafen von Wiegel.
3. Herbrand Hans-Carl, geb. 7. September 1840 (entsagte laut Familien-Übereinkommen von 1864 dem Sukzessionsrecht und dem Grafentitel und führt den Namen Freiherr von Griesbergen ), Kgl. Preuß. Leutnant a. D., vermählt 18. Februar 1867 mit Ermyntrud Leslie, Tochter des Francis Leslie und seiner Gemahlin Kate, geb. Schultze (Hawthorne, Kentucky).
Graf Ehrenreich oder Erich, wie er genannt wurde, hatte als zweitgeborener Sohn des alten Fürsten Leopold Zeit seines Lebens mit Sorgen zu kämpfen gehabt. Zur Herrschaft Sessenheim gehörte ehemals noch das Gut Wallhaide mit seinem prachtvollen Waldbestand und seinen Mergelgruben; aber die Wallhaide war schon lange der Streitpunkt zwischen den Erben des Fürstentitels und der gräflichen Deszendenz gewesen, und schließlich war der schwebende Prozeß endgültig zugunsten des Fürsten Ferdinand entschieden worden. Damit verlor Seesenheim sein Rückenmark, die Kraft der Erhaltung. Graf Erich, der eine arme Cousine, die Prinzeß Leontine Reitz, geheiratet hatte, mußte äußerst vorsichtig wirtschaften, um auf seiner Scholle nicht zugrunde zu gehen. Aber er war ein tüchtiger Landwirt, und so gelang es ihm denn, freilich unter Entbehrungen aller Art, die, wie er selbst zuweilen scherzend äußerte, nicht immer »standesgemäß« waren, die schlechten Jahre zu überwinden und sich über Wasser zu halten.
Schlimmer erging es, wenigstens auf dem alten Kontinent, seinem jüngeren Bruder Hans-Carl. Er war Offizier bei einem Husaren-Regiment, das in einer kleinen Garnison Schlesiens stand, wo man auch mit wenigem ganz vergnüglich leben konnte. Aber Herr Hans-Carl verstand es nicht, so wie der Graf Erich sich einzurichten; er lebte in Saus und Braus, und eines schönen Tages erschien er blaß und gedrückt in Stubbach und erklärte dem Fürsten, nun sei es aus mit ihm, wenn Bruder Ferdinand ihm nicht hilfreiche Hand zu bieten geneigt sei. Vielleicht hätte der Fürst sich dazu verstanden – aber als er hörte, daß Hans-Carl nicht nur Schulden, sondern auch Dummheiten recht ärgerlicher Art gemacht hatte, Dummheiten, die sich mit der Ehre eines preußischen Offiziers und Edelmanns schwer vereinigen ließen, da berief er schleunigst einen Familienrat zusammen. Die Folge war, daß Hans-Carl seinen Abschied einreichte und auswanderte. Der Fürst arrangierte seine Schulden und gab seinem Bruder auch noch ein wohlgefülltes Portefeuille mit auf den Weg; dafür mußte Hans-Carl auf jede weitere Erbberechtigung verzichten und sich verpflichten, den Namen eines Freiherrn von Griesbergen – übrigens ein Familienname – anzunehmen. Hans-Carl sagte zu allem ja, ging über Monte Carlo nach Amerika und ließ nichts mehr von sich hören. Erst später erfuhr man, daß er sich dort mit der Tochter eines reichen Spekulanten verheiratet habe und Minenbesitzer geworden sei. Er schrieb niemals seinen Verwandten, wohl aber ließ er durch ein Hamburger Haus dem Fürsten die Summen zurückzahlen, mit der jener seine Schulden beglichen hatte. Für die Familie existierte er nicht mehr.
Die einzige Schwester des Grafen Erich hatte sich achtzehnjährig mit dem Reichsgrafen Wiegel verheiratet, dem »langen August«. Als Graf Erich bei Langensalza gefallen war und ein Jahr später auch dessen Witwe starb, nahm Gräfin Irmela den verwaisten Emich an Kindesstatt an. Das geschah nicht ganz im Einverständnis mit ihrem Gatten, der es wenigstens durchsetzte, daß Emich baldigst in das Kadettenkorps gesteckt und somit dem Einfluß entzogen wurde, den er etwa auf die aufblühende Komtesse Ruth hätte ausüben können. Emich war dies im Grunde genommen recht: er liebte die Tante, vergötterte die Cousine, hatte aber für den Onkel August immer nur eine heimliche Antipathie übrig. Im hohen Rat der Familie war beschlossen worden, Emich sollte ein paar Jahre aktiv dienen, sich dann reich verheiraten und hierauf erst Seesenheim übernehmen. Denn auf Seesenheim, so behauptete Graf August, ließe sich nur mit großen Kapitalien wirtschaften oder aber man müsse zurückgezogen wie ein Klosterbruder leben, was sich mit dem Namen Schöningh nicht vertrüge. Inzwischen wurde Seesenheim administriert; Wiegel fuhr als Vormund Emichs alle Jahre einmal hinüber, die Rechnungen und den Stand der Ernte zu prüfen, und wenn er dann wieder heim kam, pflegte er den Bericht an seine Frau gewöhnlich in die gleichen Worte zu kleiden: »Auf dem Boden gedeihen nur Kiefernkuscheln, und Kienäppel sind die einzigen Früchte, die da wachsen. Ferdinand ist ein Gaudieb. Hätte er Seesenheim nicht den Buchenwald und die Mergelgruben lassen können? Aber nein – er mußte die Wallhaide auch noch haben! Ein schmutziger Mensch. Ich gönn's ihm, daß er niemals die Generalskandillen kriegt! Ist's nicht ein Skandal? Ein Regierender und nicht mal General! ...«
Emich kam also in das Kadettenkorps: zuerst nach Potsdam und dann in die Hauptanstalt nach Berlin. Er besaß einen regen, anschlägigen Kopf, und das Lernen wurde ihm nicht schwer. Aber er war auch ein ziemlich wilder Bursche, und so ging es denn in seinen Führungsattesten selten ohne Tadel ab. Seine Dummheiten ergrimmten den Grafen Wiegel, dessen drittes Wort »korrekt« war. »Siehst du, Irmela,« sagte er gelegentlich, beim Eintreffen einer Osterzensur Emichs, »ich hab' es gewußt: da steht wieder unter Führung ›mangelhaft‹. Ein junger Edelmann aber hat sich allzeit und immer korrekt aufzuführen. Es schadet nichts, wenn er in der Mathematik ein bißchen zurück bleibt oder mal im Extemporale ein paar Fehler macht. Aber die Aufführung soll korrekt sein. Emich ist neulich einmal bestraft worden, weil er eine junge Katze in seine Schulmappe versteckt und während des Unterrichts hat laufen lassen. Sie ist an der Tafel in die Höhe geklettert und hat den Lehrer heftig erschreckt. Nun frage ich dich im Ernst, Irmela, ist das eines Schöningh würdig? Emich hat die Ausrede gebraucht, es seien Mäuse im Klassenzimmer. Man hat ihn trotzdem ins Loch gesperrt, und das mit Recht. Ein Schöningh im Loch! Wäre dein Bruder Erstgeborener gewesen, so würde Emich den Titel Prinz führen. Und nun bitt' ich dich: ein Prinz, der eine Katze mit in die Schulstube bringt, um sie auf die Tafel klettern zu lassen! Kann man sich da über das Anwachsen der Sozialdemokratie wundern?«
»Mein lieber August,« entgegnete die Gräfin, die die kühnen Schlußfolgerungen ihres Gatten kannte, »ich bin in meiner langen Ehe dahin gekommen, mich über nichts mehr zu wundern, am allerwenigsten über die Sozialdemokratie, die in unsern Angelegenheiten auch gar nichts mehr zu suchen hat. Im übrigen spricht aus deinem scharfen Urteil über Emich einfach deine alte Antipathie gegen die Schöninghs. Du kannst sie nun einmal nicht leiden, und ich glaube, wenn sie nicht allesamt so dagegen gewesen wären, würdest du mich auch gar nicht geheiratet haben«.
»Aber, Irmela, was soll das bloß –«
»Ach was, wir wollen nicht streiten: schließlich hast du mich nun einmal und mußt dich mit mir abfinden. Daß ich mir nicht die Butter vom Brote nehmen lasse, weißt du ja. Und der Emich ist die Butter auf meinem Hausmannsbrote. Ich laß nichts auf ihn kommen. Es freut mich, daß er kein Drücker und Schleicher und Streber und Bücker ist. Er hat in allen Fächern immer Ia und II – da kann er schon mal ein bißchen ausschlagen und sich auch mal ins Loch sperren lassen, was ihm ganz gesund ist und Bebeln mit seinen Sozialdemokraten sehr gleichgültig sein kann, selbst wenn Emich Prinz wäre, was er aber gar nicht mal ist. Das wollt' ich bloß sagen, August.«
»Gewiß, Irmela, du sagst es, aber trotzdem, nimm mir's nicht übel: von Pädagogik verstehst du nicht viel. Ich bin nur gerecht und liebe ein korrektes Verhalten. Die Schöninghs haben sich nicht immer eines solchen befleißigt – ich möchte dich nur an Hans-Carl erinnern, der mit seiner merkwürdigen Schwiegermutter den ganzen Hofkalender verschandelt. Wär' es dir angenehm, wenn dein geliebter Emich auch einmal so endete?«
»Er wird nicht. Hans-Carl hat einen Hofmeister gehabt und noch einen Kaplan dazu. Der eine sollte über sein leibliches Wohl und der andre über seine Seele wachen, und sie haben beide nichts zuwege gebracht. Solange Hans-Carl zu Hause war, tat er scheinheilig und klapperte mit den Augen, und dann kam das dicke Ende nach. Besser, der Emich tobt sich jetzt aus und wird später vernünftig. Warten wir's ab! ...«
Frau Irmela behielt recht: Emich tobte sich aus, und als er in das fünfzehnte Jahr ging und nach Berlin kam, fing er an, vernünftig zu werden. Er bestand das Fähnrichsexamen so glänzend, daß er zur Selekta vorgeschlagen wurde – und nun triumphierte die Gräfin und sagte leuchtenden Auges zu ihrem Gatten: »Na, siehst du, August!?«... worauf dieser ihr mit ihren eigenen Worten entgegnete: »Warten wir's ab!...«
Während der letzten vierzehn Tage vor dem Examen wurde im Kadettenkorps wahrhaftig fieberhaft gearbeitet. Die Offiziers- und Fähnrichs-Examina fielen zusammen; Primaner und Selektaner schlichen mit blassen, übernächtigen Gesichtern auf dem Karreehofe umher, und selbst die Sonntage wurden zur Arbeit benutzt. Man blieb zu Hause; die Konditorei von Josty an der Schloßfreiheit war an diesen Aprilsonntagen gar nicht wiederzuerkennen; in die Kuchenbatterien auf dem Büfett wurden nicht wie sonst gewaltige Breschen gelegt, und die Nachfrage nach Schlagsahne war lächerlich gering...
Jeglicher hatte seinen besonderen kleinen Kummer. Schöningh und Sassenhausen fürchteten sich am meisten vor der fortifikatorischen Prüfung, und der kleine Veresco glaubte an eine Blamage im Terrainzeichnen. Veresco hatte sich seit dem letzten gemeinschaftlichen Pagendienst bei Hofe enger an die beiden anderen angeschlossen. Er lag zwar auf der vierten Kompagnie, aber in den freien Nachmittagsstunden fand man sich gewöhnlich auf dem Karreehofe zusammen, klagte sich die Seele frei und plauderte von der Zukunft.
Die Leutnantsequipierung bildete stets den Hauptpunkt der Unterhaltung. Veresco war reich und hatte keine Rücksichten zu nehmen; auch erforderte seine Equipierung, da er zur Artillerie wollte, an sich schon eine weniger bedeutende Summe als die der beiden zukünftigen Kürassiere, die zudem rechnen mußten. Sassenhausens Vater war zwar ein vermögender Landwirt, hatte aber drei Söhne und zwei Töchter. Bei den Kronprinzen-Kürassieren wurden fünfzig Taler Monatszulage gefordert; damit konnte man in einer kleinen Garnison wie Klempin schon ganz gut leben, wenn auch keine Sprünge machen. Es gab bei den Kronprinzen-Kürassieren übrigens auch Offiziere, die weniger Zulage erhielten und sich doch durchzuhelfen wußten. Der ärmere Adel schickte seine Söhne gern in die Stille von Klempin; das Regiment galt für vornehm und billig, und das war beides viel wert...
Nun stand das Examen dicht vor der Tür. Auf dem Karreehofe tauchten bereits allerhand unbekannte Gestalten auf: ein paar alte Offiziere, denen die Uniform nicht so recht zu Gesicht stehen wollte, und eine ganze Masse Zivilisten, die von den Kadetten mit einer gewissen ängstlichen Scheu betrachtet wurden.
Man wußte Schreckliches von ihnen zu erzählen. Der Greis mit dem verknitterten Antlitz und der weißen Löwenmähne war der Professor Vossius, dem es eine entsetzliche Freude machte, seine Examinanden durch die verzwicktesten Fragen in tödliche Verlegenheit zu bringen. Aber noch viel ärger war der alte Oberstleutnant Schneewisch, der wie ein Nußknacker aussah und in der Taktik prüfte; man war sich einig darüber, daß er die jungen Leute aus reiner Niederträchtigkeit durchfallen ließ. Die Primaner hatten die größte Angst vor dem Mathematik-Examinator, dem Professor Gallenkopf. Das war ein langer, ganz dürrer, merkwürdig eingetrockneter Herr, und wenn er einen Arm erhob, glich er aus der Entfernung einem ungeheuren Wurzelzeichen. Hatte man etwas falsch gemacht, so sagte er es nie, sondern ließ seinen Examinanden in folternder Ungewißheit; bei sehr großen Dummheiten schnupfte er aber und zwar mit eigentümlich heftiger Bewegung. Wenn er seine breite Horndose hervorzog, wurden die Gesichter blaß.
Es gab freilich auch Examinatoren, die man nicht ungern auftauchen sah. Zum Beispiel den Fechtlehrer, Hauptmann von Smolinsky, einen sehnigen kleinen Menschen, der bei jedem Schritt in die Knie knickte und beständig mit den Armen fuchtelte, als wollte er eine Prim oder eine Terz durch die Luft hauen. Und dann vor allem den Tanzlehrer, den berühmten alten Médoc, Königlichen Tänzer und Ballettmeister der Hofoper, bei dem sich das halbe Offizierskorps der Armee in Polka, Walzer und Quadrille geübt hatte; gerade Médoc war sehr beliebt, und wenn des Sonntags ein Ballett im Opernhause stattfand, ging man an die Litfaßsäulen, um nachzusehen, ob Médoc einen asturischen Prinzen zu tanzen oder einen indischen Zauberer zu mimen hatte, und war dies der Fall, so besetzte man zu Haufen das Parkett und klatschte ihm rasenden Beifall. Darüber freute sich der alte Médoc gewöhnlich so, daß er den Kopf verlor und das ganze Ballabile in Unordnung brachte, und Herr von Hülsen in seiner Eckloge freute sich auch über die enthusiastischen Kadetten.
Das Examen dauerte mehrere Tage. In den Pausen tauschten Schöningh, Sassenhausen und Veresco ihre Ansichten aus. Sie waren guten Muts; im allgemeinen war alles prächtig gegangen. Der letzte Tag brachte nur noch die Prüfung in unwichtigeren Disziplinen und als Abschluß des ganzen Examens die Tanzvorstellung des Herrn Médoc im Feldmarschallsaal. Das war die Krönung des Werks. Bei dieser Gelegenheit war der Kommandeur, Oberst von Peuken, selber der Prüfende. Er erschien in seinem großen, weiten Reitermantel, in dem der kleine Mann mit dem buschigen Schnauzbart wie ein lebendiger Tintenwischer aussah, und sagte: »Na, nu' tanzt mir mal zum Abschiede wat recht Hübsches vor!...« Und dann ging die Hopserei los. Und Médoc stand dabei, sehr elegant in Frack, weißer Binde und Lackschuhen, und machte ein bedeutendes Gesicht, das zu sprechen schien: ›Kinder, unterschätzt mir das Tanzen nicht! Das braucht man so notwendig wie das Studium, und wenn man nicht viel im Kopfe hat, ist's immerhin gut, man hat wenigstens etwas in den Beinen...‹
Schöningh und Sassenhausen tanzten gut, aber dem kleinen Veresco gelang es weniger. Namentlich beim Walzer konnte er nie so recht herumkommen, und beim Rheinländer machte er immer einen Pas zu viel und geriet dann aus dem Takt, wurde verlegen, sah sich mit seinen braunen Augen hilflos um und blieb schließlich stehen. Das fiel natürlich auch dem Oberst von Peuken auf, und er winkte Veresco zu sich heran.
»Na aber, Veresco,« meinte er schmunzelnd, »nu' sagen Sie mir bloß, Sie tanzen ja wie ein Känguruhweibchen, das sein Kleines im Beutel hat, aber nich', wie man als Königlich Preußischer Offizier tanzen soll. Damit werden Sie den hübschen kleinen Mädeln in Ihrer Garnison keine Freude machen. Tanzt man denn überall in Illyrien so trampedeilich?«
Und nun erzählte Veresco, daß man in Illyrien die deutschen Tänze nicht liebe und auch wenig kenne. Aber den Stratpotka und die Sassapulka tanze man mit Leidenschaft. Jetzt wollte der Oberst wissen, was das sei und bat, Veresco sollte ihm einmal den Stratpotka vortanzen. Veresco sagte: »Zu Befehl, Herr Oberst«, und dann legte er los. Das war nun ein ganz toller Tanz, halb Czardas und halb Krakowiak, ein seltsames Springen, Hopsen, Chassieren, Neigen und Beugen und alles mit lebhafter Mimik und ausdrucksvoll südländischer Gestikulation verbunden. Der Oberst war sichtlich verwundert über diesen närrischen Nationaltanz, und hierauf lachte er, daß ihm das Wasser in die Augen trat.
»Hören Sie auf, Veresco!« schrie er, »ich bitt' Sie, hören Sie auf! Ich komme um! So wat hab' ich mein Lebtag noch nicht gesehn! Und dat tanzt man auch am Hofe bei Ihnen?! Da verwechselt man ja die Beene, Veresco« –, und er begann von neuem zu lachen und schüttelte sich, daß der Kragen seines Reitermantels wie ein großes Flügelpaar um seine Schultern flog.
Unten auf dem Hofe wartete schon der Hauptmann von Döring auf Schöningh. Er hatte gleichfalls bereits seine Erkundigungen eingezogen: Schöningh wie Sassenhausen hatten glänzend bestanden. Der Jubel war groß. Hauptmann von Döring lud die beiden mitsamt ihrem Freund Veresco zum Abendessen ein. Vorher aber sandten die drei noch Depeschen nach der Heimat ab; Schöninghs Telegramm an Wiegels lautete nur kurz: »Examen bestanden; reise übermorgen ab; bitte Wagen 6,20 Krugdorf ...« Döring ließ Sekt auffahren, und alle vier kauften sich einen kleinen Spitz. Veresco, der nicht viel vertragen konnte, war am ausgelassensten, sang illyrische Lieder und tanzte zu guter Letzt noch einmal den Stratpotka. Dabei stolperte er aber, fiel hin und blieb auch gleich liegen. Er war einfach eingeschlafen. Schöningh und Sassenhausen mußten ihn in den Schlafsaal tragen und wie ein Kind zu Bette bringen.
Das war die letzte Nacht im Kadettenhause in der Neuen Friedrichstraße zu Berlin. Aber in die Träume unserer drei Helden mischten sich keinerlei sentimentale Erinnerungen. Sie schlummerten fest und friedlich, die drei, und als das Dröhnen der Trommel sie am nächsten Morgen weckte, klang ihnen dieser gelle, ach, wie tausendmal gehörte Wirbel gleich einer Fanfare der Freiheit...
Ja, nun waren sie frei. Die sogenannten Examenferien begannen; sie währten gewöhnlich sechs bis acht Wochen – dann traf die Einberufung zum Regiment zusammen mit dem Ernennungspatent ein. Es war noch mancherlei zu besorgen: zuerst die dienstliche Abmeldung, dann der Abschied von den Offizieren der Kompagnie und den befreundeten Kameraden, dann das Packen der Koffer und zwanzigerlei mehr. Man hatte beschlossen, sich noch einen Tag in Berlin zu amüsieren. Das Zivil lag schon bereit. Veresco sah in dem seinen wie ein Japaner aus, der zum ersten Male europäische Tracht trägt.
Hauptmann von Döring begleitete die drei bis zur Droschke. Im Hauptportale gab es den allerletzten Abschied – vom alten Hahnemann und seiner großen Trommel und seinem schwarzen Pudel, der immer über den abstehenden Säbel des Obersten zu springen pflegte. Nun fuhr man in das Hotel, um die Koffer unterzubringen, und hatte hierauf noch einen wichtigen Geschäftsgang: zu dem Militärschneider Robrecht in der Jägerstraße, wo die Equipierung bestellt werden mußte. Das dauerte lange – es war viel zu überlegen. Am schnellsten wurde Veresco fertig; er gab einfach einen Gesamtauftrag: doppelte Equipierung – komplett. Aber den beiden Kürassieren wurde die Auswahl schwer; sie hatten mit einer bestimmten Summe zu rechnen, und die vollständige Ausrüstung verlangte vielerlei.
Dann ging man frühstücken, selbstverständlich zu Hiller unter den Linden. Sassenhausen als Feinschmecker bestellte das Menü: die ersten Kiebitzeier und die ersten Spargel und ein saftiges Entrecôte, dazu eine Cliquot. Man war sehr vergnügt. Herrgott, war das ein wonniges Gefühl, sich einmal als freier Mann bewegen zu dürfen, nachdem man jahrelang immer nur hatte gehorchen müssen! Veresco trank mit Schöningh und Sassenhausen Brüderschaft; dann bestellte man eine neue Flasche, und nun wurde Sassenhausen elegisch.
»Kinder,« sagte er, »ich taxiere, wir sitzen zum letzten Male für längere Zeit zusammen. Der Emich und ich, wir werden ja, so Gott will und unser Kommandeur, noch ein paar Jährchen beieinander bleiben; aber du, Masseo Marquis von Veresco, Herr auf Kapataz und Baron von Tórczek – wer kann wissen, wie lange du zu unserer Armee zählen wirst?! In zwei Monaten gehörst du zwar zur preußischen Garde-Artillerie und wirst dich dicke tun mit deinem silbernen Kragen und dem Gardestern auf deinem bombengekrönten Helm und wirst des Abends zwischen sieben und neun die Linden herabbummeln und anständigen Bürgermädchen, die es hier noch gibt, die Köpfe verdrehen. Doch bist du sicher, daß in deiner grünen Heimat nicht bald wieder ein klein bissel rebelliert wird, daß man dem Gouverneur-Pascha unversehens eine Platzpatrone irgendwohin steckt, seinen Palast anzündet und seine Bostandschis – oder sagt man Khawassen?– schlankweg abmurkst? Nein, lieber Veresco, dessen bist du nicht sicher, zumal du selber zugestanden hast, es sei die allerhöchste Zeit, daß in Illyrien wieder einmal eine Revolution ausbräche ... na, und dann wird dir dein Papa einfach telegraphieren: Komm 'runter, mein Sohn, hier geht es los – und du wirst gehorchen müssen. Du wartest ja sozusagen nur darauf. Und bist du erst einmal unten, dann ist es doch sehr zweifelhaft, wann wir wieder einmal die Ehre haben werden, mit dir eine Flasche Sekt bei Hiller zu trinken, und deshalb schlage ich vor: schließen wir zu dieser Stunde so eine Art Rütlibund und geloben wir uns Freundschaft und Treue für alle Lebenszeit bis zum Tode! ...«
Diese schöne Rede ließ Emich ziemlich kühl, rührte aber dafür Veresco in hohem Maße.
»Bravo, Max,« sagte er lebhaft, »das war mir aus dem Herzen gesprochen. Und nun hört mal zu: wenn wir diesen Bund für das Leben schließen, so muß sich auch einer auf den anderen verlassen können. Ich meine damit, wenn einer den andern ruft, weil er seiner Hilfe bedarf, so muß der andere kommen und wenn selbst der Papst dagegen sein sollte! Habt ihr verstanden?«
»I gewiß, Maffeo,« erwiderte Schöningh, der auch allmählich einen roten Kopf bekam, »aber der Papst hat bei uns nichts zu sagen, sondern die verschiedenen Kommandeure und der Kriegsminister. Gesetzt nun den Fall, du säßest da unten irgendwie und irgendwo in der Klemme und telegraphiertest uns, schleunigst illyrisch zu werden – ja, glaubst du denn, daß man uns ohne weiteres den Abschied bewilligen würde?«
»Aber natürlich, Emich,« eiferte Sassenhausen erregt, »aber natürlich! Der Abschied behufs Auswanderung wird immer gewährt, wenn man gewichtige Gründe vorschiebt. Und was mich anbetrifft: ich halte meinen Schwur! Wenn der Veresco ruft, komm' ich – nota bene, wenn wir nicht gerade in einen Krieg verwickelt sind!«
»Selbstverständlich«, sagte der kleine Illyrier; »Krieg im eigenen Lande entschuldigt alles. So ist's auch nicht gemeint. Ich verlange nur, daß jeder von uns dreien sich die erdenklichste Mühe gibt, dem etwaigen Hilferuf des anderen zu folgen –«
»Aber natürlich,« fiel Sassenhausen ein, »aber natürlich –«
»Einverstanden«, sagte auch Schöningh. »Veresco, fülle die Gläser!«
Sassenhausen reichte ihm die Kelche hinüber. »Aus bis zur Nagelprobe – und dann Handschlag: so ist's deutsche Sitte!« meinte er.
Sie tranken und reichten sich über den Tisch die Hände. Nebenan wurde man bereits aufmerksam auf die drei jungen Herren. In der Tür stand ein schöner, glatt rasierter Kellner und wunderte sich. Aber er machte sofort ein ergebenes Gesicht und sprang mit wedelnder Serviette herbei, als Veresco die dritte Flasche befahl.
»Ihr gestattet wohl,« sagte Veresco, »daß wir auf die deutsche Sitte die gut illyrische folgen lassen –«
»Aber natürlich, natürlich«, bekräftigte Sassenhausen, dem die Augen zu funkeln begannen.
»Na, und wie ist die?« fragte Schöningh.
»Einfach und hübsch, lieber Emich. Wir trinken nochmals aus, sehen uns dabei in die Augen, legen die rechte Hand auf das Herz und sagen › sricoccio‹. Das ist unübersetzbar und heißt ungefähr soviel wie ›auf ewig‹ –«
»Das ist reizend«, fuhr Sassenhausen auf; »also sri – sprich mir's nochmal vor, Veresco!«
»Sricoccio, Max. Und zuletzt zerbrechen wir unsre Gläser, denn die Gläser, aus denen man den Sricoccio getrunken hat, darf kein Mensch mehr gebrauchen; die Sage geht, daß derjenige, der sie dennoch benutzt, an der Pest stirbt.«
»Das geht nicht«, meinte Sassenhausen. »Wir können nicht die Pest in Berlin einschleppen. Also zerbrechen wir die Gläser, wenn wir sri – sri – – glaubst du, ich kriege es 'raus, Veresco?«
Emich schüttelte etwas bedenklich den Kopf.
»Austrinken will ich«, sagte er, »und auch die rechte Hand aufs Herz legen und Dingsda rufen – –Veresco muß uns das Wort erst noch ein paarmal vorsprechen ... Aber die Gläser zertöppern – hier im Lokal – Herrschaften, das würde man uns vielleicht übelnehmen!«
»Gehn wir auf den Hof!« schlug Sassenhausen vor.
»Nein, wir bleiben hier«, entschied Veresco. »Schöningh, du hast es immer mit der Angst! Unsere Gläser können auch aus Versehen vom Tische fallen. Um jedwedes Aufsehen zu vermeiden, verteilen wir die Prozedur: Max wirft sein Glas herunter; du, Emich, zerschlägst das deine am Sektkühler, und ich meines an der Fluchtschale. Und nun bitte, kein Zögern mehr! Ihr beleidigt mich. Der Sricoccio ist eine ernste Sache.«
»Aber natürlich, Schöningh«, rief Sassenhausen; »daß du niemals ernst sein kannst! ...«
Nun mußte Schöningh sich fügen; die beiden Kameraden hätten sonst noch mehr Skandal gemacht. Veresco wiederholte das illyrische Wort noch einige Male, bis die anderen es sich eingeprägt hatten, und dann tranken sie den Sricoccio mit großer Begeisterung.
Aber die Vernichtung der Gläser rief doch einiges Aufsehen hervor. Im Übereifer zerschlug Veresco auch noch die Fruchtschale, und ein paar Birnen hüpften munter zur Erde. An den Nebentischen amüsierte man sich – Kellner sprangen herbei, und auch der junge Herr Hiller erschien und befahl mit ernster Miene, den Tisch neu zu decken. Im anstoßenden Zimmer hatte man den Spektakel gleichfalls gehört: ein paar Gesichter lugten durch die Portieren. Und dann entstand ein neues Hallo. Nebenan hatten Prinz Waldegg, Herr von Rietzow und ein junger Sekretär der illyrischen Gesandtschaft, Baron Porohyle, gefrühstückt und waren jetzt erst auf ihre jungen Freunde aufmerksam geworden.
Selbstverständlich setzte man sich zusammen. Aber Herr von Rietzow protestierte entschieden gegen ein weiteres Pokulieren. Heimlich raunte er dem Baron Porohyle zu: »Nehmen Sie sich Ihres Landsmannes an, cher ami! Ich bringe Schöningh in sein Hotel – Waldegg kann sich mit dem Dritten im Bunde schleppen. Das geht so nicht weiter. Ich begreife, daß die drei ihr Glück ein wenig anfeuchten wollten, aber sie sind ja bereits vollkommen – na also, sie sind meines Erachtens nicht mehr direktionsfähig. Schaffen wir sie nach Hause.«
Das ging leichter, als man erwartet hatte. Veresco war schon wieder müde geworden und schlief bereits halb; er ließ sich von Herrn von Porohyle willig in eine Droschke packen. Schöningh hatte sich in der Toilette das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen und erklärte sich nunmehr mit allem einverstanden. Am hartnäckigsten war Sassenhausen, der sich nicht vom Platze rühren wollte. Aber als Prinz Waldegg ihm vorschlug, mit ihm hinüber in das Panoptikum zu gehen, um ihm eine tätowierte Kanadierin von auserlesener Schönheit zu zeigen, wurde er lebendig und folgsam.
Schöningh und Rietzow gingen zu Fuß nach des ersteren Hotel. Rietzow erzählte, daß er auch demnächst nach Hause zurückkehren werde; er habe nur noch einige Tage in Berlin zu tun: es solle eine neue Wochenschrift für das katholische Volk begründet werden, an der er sich beteiligt habe.
»Dabei fällt mir ein,« sagte er, leicht seitwärts schielend und an seinem strohblonden Schnurrbart zupfend, »ich wollte Sie schon lange einmal fragen: wie kommt es eigentlich, daß Komtesse Ruth nicht katholisch ist?«
»Weil der Vater protestantisch ist«, entgegnete Emich; »ganz einfach deshalb.«
»Aber die Mutter ist doch katholisch geblieben, als sie Wiegel heiratete«, fuhr Rietzow fort. »Sind denn vor der Hochzeit keine bindenden Abmachungen wegen des Glaubens der Kinder gemacht worden?«
Schöningh zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es wahrhaftig nicht, Herr von Rietzow. Wahrscheinlich hat die Tante zugestimmt, daß Ruth in der Konfession ihres Vaters erzogen werden solle.«
Rietzow schüttelte den Kopf.
»Unbegreiflich. Vor allem unbegreiflich, daß der Fürst das zugegeben hat.«
»Aber, Herr von Rietzow, was geht denn das den Fürsten an!?«
»Ja, du lieber Gott, ist er nicht der Chef des Hauses? Es hat Ärger genug verursacht, daß Ihre Frau Tante nicht in den katholischen Adel hineingeheiratet hat. In Stenzig ist nicht einmal eine katholische Kirche!«
»Die Tante geht in den protestantischen Gottesdienst. Ich meine, es ist im Grunde genommen ziemlich gleichgültig, wo man zu seinem Gotte betet.«
»Sehen Sie, Schöningh, das verstehe ich nun wieder nicht. Wie können Sie so sprechen! Gerade Sie, der Sie einem altkatholischen Geschlechte entstammen, das sogar einmal einen Kardinal hervorgebracht hat. Bei einer derartigen Leichtfertigkeit der Empfindung muß sich der Kitt, der den katholischen Adel zusammenhält, naturgemäß immer mehr lockern. Glauben Sie, daß Komtesse Ruth übertreten würde, wenn sie einen katholischen Gatten heiratet?«