Der Telamone - Fedor von Zobeltitz - E-Book

Der Telamone E-Book

Fedor von Zobeltitz

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Beschreibung

Ein Roman aus der Artistenwelt. Die Serie "Meisterwerke der Literatur" beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer Sammlung.

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Der Telamone

Fedor von Zobeltitz

Inhalt:

Fedor von Zobeltitz - Biografie und Bibliografie

Der Telamone

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Der Telamone, F. von Zobeltitz

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849639372

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Fedor von Zobeltitz - Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. 5. Okt. 1857 in Spiegelberg, gest. 10. Februar 1934 in Berlin, wurde im Kadettenkorps erzogen, trat 1874 in die Armee, nahm nach mehrjähriger Dienstzeit seinen Abschied, redigierte die »Neuen militärischen Blätter« und entwickelte bald eine fruchtbare Tätigkeit für belletristische Zeitschriften. Von seinen zahlreichen Romanen, die meist gesellschaftliche Zustände behandeln, seien genannt: »Das Nessusgewand« (Stuttg. 1888, 2 Bde.); »Der Telamone« (Berl. 1893); »Die Johanniter« (Jena 1894); »Das zweite Geschlecht« (Berl. 1896, 3 Bde.); ' »Ein Schlagwort der Zeit« (das. 1896, 2 Bde.); »Heilendes Gift« (Jena 1897, 2 Bde.); »Die Armutsprobe« (Stuttg. 1898); »Ironie des Schicksals« (Berl. 1898); »Das Heiratsjahr« (Stuttg. 1899); »Besser Herr als Knecht« (Berl. 1900); »Der Herr Intendant« (das. 1900); »Albine« (das. 1902); »Der Backfischkasten« (Stuttg. 1902); »Trude Alberti« (das. 1903); »Dem Wahren, Edlen, Schönen«, ein Großstadtroman (Berl. 1905); »Kreuz, wende dich« (Stuttg. 1905); »Die arme Prinzessin« (das. 1905); »Die Tierbändigerin« (das. 1906); »Eine Welle von drüben« (Berl. 1906); »Flittergold« (das. 1906); »Höhenluft« (Leipz. 1906); »Das Gasthaus zur Ehe« (Berl. 1907). In den agrarischen Romanen: »Die Pflicht gegen sich selbst« (das. 1894, 2 Bde.), »Der kleine Pastor und andere Novellen« (Dresd. 1895) und »Der gemordete Wald« (Stuttg. 1898) schildert er mit Glück das Bauernleben der brandenburgischen Mark, das er in den Volksstücken »Ohne Geläut« (Dresd. 1895) und »Das eigene Blut« (Berl. 1896) auch auf die Bühne gebracht hat. Er lebt in Berlin und auf seinem Gute Spiegelberg und gibt seit 1897 die »Zeitschrift für Bücherfreunde«, seit 1904 die »Neudrucke literarhistorischer Seltenheiten« sowie die »Sammlung illustrierter Monographien« (Bielef. 1901 ff.) heraus, die er selbst mit dem Band »Der Wein« eröffnete; für die Sammlung »Land und Leute« schrieb er »Berlin und die Mark Brandenburg« (das. 1902).

Der Telamone

Erstes Kapitel

Junge, nu laß das Flennen und geh zu Bette. Wat war, das war und da giebt's nischt mehr. Wie du aussiehst! Ganz rote Augen und 'n Gesicht wie die Wand! Junge, das geht nicht so, sonst legst du dir auch noch hin und folgst deinen Eltern nach. Und das verhüte Gott. Komm her und gieb mir die Hand . . . So – und nu machst du, daß du in die Federn kriechst! Siehste, es dämmert schon . . .«

Eine rauhe, krächzende Stimme war's, welche diese Worte im Tone weichen Mitgefühls sprach, und unmittelbar darauf klang durch den unheimlich stillen Raum ein leises Gluckern, als ob jemand einen tiefen Schluck aus einer Flasche nehme.

»Hier, Fritze, willste auch 'mal trinken? – es wärmt!«

»Ich danke schön, Lennert, ich kann nicht« . . .

Durch die schmalen, grünglasigen Fenster fielen die ersten grauen Lichter des erwachenden Sommertags. Im Stübchen brannte nur eine einzige Talgkerze, die in einem Leuchter aus Messing steckte, der mitten auf dem Tische stand. Fritz hatte schon vor einer Stunde das eine der Fenster geöffnet, denn es war dumpf und muffig im Zimmer geworden – und nun strich ein frischer Morgenwind von draußen herein, ließ die Flamme der Talgkerze hoch aufflackern und verlöschte sie dann. Aber weder Fritz, noch der alte Lennert dachten daran, das Licht abermals anzuzünden. Fritz kniete noch immer vor dem wackligen Lehnstuhl in der Ofenecke und hatte das kreideweiße, thränenüberströmte Kindergesicht tief hinein in die verschlissenen und verblaßten Polster des Sessels gebohrt – und der alte Lennert kauerte auf einem Schemel Fritz gegenüber und war nach dem letzten herzhaften Zug aus seiner Schnapsflasche eingeschlafen. Der dicke Kopf, den nur noch wenige gelbweiße Haarsträhne bedeckten, hatte sich tief auf die Brust geneigt und bewegte sich zu den leisen Schnarchtönen des Alten wie ein müder Pendel langsam hin und her.

Draußen flogen die Nebel auf, und der Osten rötete sich. Es wurde heller, sodaß man im Stübchen die einzelnen Gegenstände ziemlich deutlich unterscheiden konnte. Das kleine Zimmer war äußerst einfach möbliert, aber sauber gehalten. Ein Tisch, einige Stühle, der Lehnsessel am Ofen und ein schmales, dürftiges Sofa an einer der Längswände bildeten mit dem Prachtstück dieser Wohnstube, einem alten Harmonium, das unter einem Christusbilde in der Ecke dem Fenster gegenüber stand, den Hauptteil der Ausstattung. An den weiß getünchten Wänden hing unter Glas und Rahmen und mit peinlicher Symmetrie geordnet eine Anzahl teilweise schon stark verblaßter Photographien von Familienmitgliedern.

Zum Nebenzimmer war die Thür nur angelehnt. Auch hier hatte das Tageslicht bereits siegreichen Einzug gehalten und fegte mit seinen immer glänzender werdenden Schwingungen die letzten Reste der Nacht aus Winkeln und Ecken. Selbst hinter die zusammengezogenen Kattungardinen des Himmelbettes drang der neue Tag und versuchte die blassen Gesichter wach zu küssen, die dort in starrer Unbeweglichkeit auf dem Leinen ruhten.

Nun knarrte leicht die Thür, und Fritz trat in das Schlafgemach. Einen Augenblick blieb der dreizehnjährige Junge wie in tiefem Erschauern dicht am Thürpfosten stehen, und durch seine große, massive und starkknochige Gestalt, die den Jahren vorausgeeilt zu sein schien, ging ein nervöses Zittern. Dann kam ein leiser Wehlaut von seinen Lippen, ein rührend klagender Ton – und, mit den ungefügen, knarrenden Stiefeln vorsichtig vorwärts tappend, schlich sich der große Junge an das Himmelbett heran, schlug die Gardinen auseinander und sank in die Knie.

»Mutter – liebe Mutter!« schluchzte er auf . . .

Das Frührot schimmerte durch die Fenster und setzte überall seine rosigen Lichter auf. In der Fliederhecke und in den Apfelbäumen im Garten begannen die Vögel zu jubilieren. Die ganze Natur erwachte.

Fritz hatte sich einen Stuhl an das Bett getragen und sich dort niedergesetzt. Mit verglastem Auge, das keine Thräne mehr spenden wollte, starrte er auf die beiden Totengesichter. Er dachte an nichts – nicht an den schrecklichen letzten Tag, der ihm im Laufe einer einzigen Stunde beide Eltern geraubt hatte – nicht an die Zukunft, die so öde und trostlos vor ihm lag – eine verzweiflungsvolle Gleichgültigkeit hatte sich seiner bemächtigt . . .

Vor etwa einer Woche war die »Kantorsche« an einem hitzigen Nervenfieber erkrankt, und in der Pflege um die treue und geliebte Gefährtin seines Lebens hatte sich der Kantor mehr zugemutet, als sein zarter Körper zu ertragen im stande war. Am Tage vor dem Tode seiner Frau legte er sich hin, und kaum eine Stunde nach ihrem Hingange schloß auch er die Augen für immer, und ihr einziges Kind blieb als Waise zurück.

Zehn Jahre hindurch waren die Kantorsleute von Klein-Busedow kinderlos geblieben. Dann flog eines Tages der Storch über das kleine Haus mit dem mächtigen Giebeldach mitten im Dorfe, und die Lennerten, die Frau des Bälgetreters, die damals noch lebte und die in dieser schweren Stunde der Wöchnerin Samariterdienste leistete, konnte dem gerade in der Schulstube bei seinen Kindern beschäftigten Kantor zurufen: »Ein Junge, Herr Fiedler – und was für einer!«

Ja, das war einmal ein Junge! Dreizehn Pfund wog die Range bei der Geburt, und die Leute im Dorfe hatten so Unrecht nicht, wenn sie witzig meinten: was lange währt, wird gut. Die Fiedlers hatten viele Freunde in der Gemeinde. Es waren stille und gutherzige Leute: er ein lang aufgeschossener, bartloser Mensch, den man selten ohne eine mächtige Tabakspfeife im Munde sah – sie eine runde, kleine, freundliche Frau, die Tochter eines gräflichen Unterförsters, der einst infolge eines unglücklichen Ungefährs auf der Jagd erschossen worden war.

Der Junge brachte Leben in das Kantorhaus von Klein-Busedow. Er war ein wilder Strick und an körperlicher Kraft ein kleiner Riese. Bei den Gladiatorenspielen auf dem Dorfplatze, an denen sich alles zu beteiligen pflegte, was bei Herrn Fiedler in die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens eingeweiht wurde, blieb er gewöhnlich Sieger – es gab wenig Jungen im Dorfe, die es mit ihm aufzunehmen versuchten. Er schoß wie ein Gigantenkind in die Höhe – groß, breitbrustig, knochig und muskelgeschwellt – »gar nicht wie ein Kantorssohn«, meinte die Lennerten. Er sollte aber auch kein Schullehrer werden wie sein Vater. Du lieber Gott, wenn einer das Elend der Volksschullehrer ausgekostet hatte, dann war es Fiedler gewesen – der arme Teufel, der Fiedler, der seine drückende Mittellosigkeit schon auf dem Seminar, wo ihm eine Freistelle auserwirkt worden war, so bitter hatte empfinden müssen! – Nein, der Fritz sollte kein Schullehrer werden – er wollte auch gar nicht so recht in die Schulstube hineinpassen. Er hatte einen offenen Kopf und war ein gewitzigter Bengel, aber draußen im Freien, im Walde und auf dem Wiesengrün oder auf der Schneehalde fühlte er sich wohler als hinter der Fibel und der Schiefertafel. Er hatte in seinen dreizehn Jahren nicht viel mehr gelernt als Lesen, Schreiben und Rechnen – die Violine spielen und dazu allerhand schnurrige Gassenhauer singen. Für die Violine, die auch sein Vater nicht ohne Talent zu handhaben verstand, hatte er schon als Kind besondere Vorliebe gezeigt, und der Pastor mochte Recht mit seiner Behauptung haben, daß der Junge entschieden musikalisches Gehör besitze. Und der Pastor war ein Mann von musikalischer Bildung, der Bach und Palestrina auf seinem Harmonium mit so erschütternder Verve spielte, daß man den rauschenden Orgelton von einem Ende des Dorfs bis zum andern vernehmen konnte.

Sicher – Fritz besaß Gehör und auch eine schöne, klangvolle Stimme, die er ordentlich auszunutzen verstand, wenn er in der Kirche die Liturgie mitsingen mußte. Durch das unharmonische Gegröhle der übrigen Kinder klang sein Organ hell und schmetternd, Fanfaren gleich, und dann auch wieder weich und schmiegsam wie Geigenton. Die Bauern, die unten auf den gelb gestrichenen Bänken zu Seiten ihrer Eheliebsten ihren Kirchenschlaf hielten, fuhren zeitweise erschreckt aus süßem Traume empor, wenn das »Kyrie eleison« gar zu metallen an ihr Ohr schlug, und bei solcher Gelegenheit pflegte der alte Lennert, der mit seinen gichtischen Beinen nur noch mühselig die Orgelbälge treten konnte, dem in seiner Nähe sitzenden Fritz stets einen gehörigen Rippenstoß zu versetzen und mit seiner heiseren Schnapsstimme zuzuflüstern: »I du imfamichte Range du – wirschte woll nich so gröhlen!« . . .

Es war merkwürdig – alle Leute im Dorfe ärgerten sich über das wundervolle Organ des Kantorjungen, dessen zwitschernden Jubel sie überall, auf dem Anger, in Feld und Hof und selbst in der Kirche hören mußten. Nur der Pastor und Fiedlers selbst, Vater und Mutter, hatten ihre Freude an dem glockenreinen Trilieren des Jungen. »Laßt ihn doch ausbilden,« hatte der Pastor so und so oft halb im Spaße zu den Fiedlers gesagt, »der nimmt's 'mal mit Wachtel auf! . .« Ausbilden lassen! Du meine Güte! Kantors waren froh, wenn sie des Sonntags ein Stück Fleisch auf den Tisch bringen konnten – der Pastor hatte gut reden! –

Pastor und Kantor standen auf bestem Fuß zu einander. Sie hatten eine gemeinschaftliche Lieblingsneigung: die Botanik – und wanderten bei gutem Wetter fast täglich selbander in die blühende Natur hinaus, um auf der grünenden Moossandale im Walde oder am Feldrain, genau nach dem Linnéschen System, ihre Blümchen zu sammeln, die dann daheim gepreßt und dem Herbarium einverleibt wurden. Pastor Hartwig war ein wohlbeleibter Fünfziger, hatte eine kreuzbrave Frau und sieben kreuzbrave Kinder. Er saß schon an die zwanzig Jahre auf seiner Pfarre, aber in diesen zwanzig Jahren hatte er es noch nicht fertig bekommen, sich mit seiner Gemeinde zu verständigen. Er vertrug sich mit jedem einzelnen ausgezeichnet – – sobald aber die dickköpfige Bauerngesellschaft zu einer Gemeinderatssitzung zusammentrat, gab's dem armen Pastor immer etwas am Zeuge zu flicken. Klein-Busedow besaß keine Gutsherrschaft, es war eine »Dorfrepublik«, wie der großschnäuzige Matzenthien, der Schulze des Orts, bei jeder unpassenden Gelegenheit zu versichern pflegte, und der Pastor hing in gewisser Weise von dem Wohlwollen seiner Gemeinde ab. War aber die Gemeinde dickköpfig, so war es der Pastor auch, und an beständigen gegenseitigen Reibereien fehlte es deshalb nicht. In der ersten Zeit seiner pfarramtlichen Thätigkeit hatte Hartwig versucht, die störrischen Bauern durch sanfte Ermahnungen von der Kanzel aus zu bessern. Doch die ganze Gesellschaft hatte sich, wahrscheinlich nach dem Gesetz der Vererbung, durch Generationen hindurch den sonntäglichen Kirchenschlaf so sehr angewöhnt, daß der gute Pastor in des Wortes verwegenster Bedeutung nur tauben Ohren predigte. Da halfen weder sanfte Worte, noch zorniges Donnern – höchstens daß einmal Fritz Fiedlers jugendhelle Stimme einen der Andächtigen weckte. Auch in einer Gemeindesitzung hatte Hartwig einstmals – o, das war aber schon lange her – mit scharfer Betonung gegen den sündlichen Kirchenschlaf protestiert, und da war Matzenthien im Vollbewußtsein seiner Würde aufgestanden und hatte in seinem korrumpierten neumärkischen Landdeutsch also geantwortet: »Nu lassen Se man sin, Herr Paster! Wir sin andechtige Leute und kummen ahle Sunntage zu Ihnen in de Kirche und setzen uns hin und thun unsen Kirchenpfeng in den Beutel und sin mäuschenstill, und wat wir sunst thun, kann Ihnen ehngal sin. Und nu lassen Se man gut sin, denn so haben wir's allweil gehalten.«

Und wirklich – über den Kirchenbesuch konnte der Pastor nicht klagen. Es fehlte selten einer, und die Kirche war immer voll, aber alle Welt schlief. Und das lag nicht an der Predigt, denn die Gemeinde hätte auch geschlafen, wenn der berühmteste Kanzelredner der Welt vor ihr mit feurigen Zungen geredet hätte. Das lag auch nicht an der Gottlosigkeit dieses Bauernvolkes, denn dies Bauernvolk war im Grunde genommen naiver und gläubiger als die städtischen Gemeinden – – es war eben so, weil man's »allweil so gehalten hatte«, wie Matzenthien sagte. Es war auch ein Erbübel.

Besser als der Pastor vertrug sich der Kantor mit der Gemeinde, obgleich er selbst bei den reichsten Bauern sich das Schulgeld förmlich zusammenbetteln mußte, denn ehe einer von diesen Leuten außerhalb des Wirtshauses einmal einen Groschen freiwillig herausrückte, konnten Wunder geschehen. Aber Fiedler war ein stiller Socialdemokrat, der bei allen Wahlen immer einen Stimmzettel gegen den Regierungs-Kandidaten in die Urne warf – und das gefiel den Bauern in ihrer trotzigen Oppositionslust. Es war ihnen allen durch die Bank ganz gleich, wen sie wählten, denn politisches Verständnis besaßen sie wenig. Wenn aber der Landrat die Hoffnung aussprach, die Gemeinde von Klein-Busedow werde all' ihre Stimmen auf den Rittergutsbesitzer und Kammerherrn Grafen Kölpin-Deesenhoff (Reichspartei) vereinigen, dann wählten die Klein-Busedower ganz gewiß den Gegenkandidaten Rechtsanwalt Pfefferkorn (deutsch-freisinnig). Als jedoch der Schulze Matzenthien eines Tages im »Stadt- und Landboten für Tiesewalk und Umgegend« schwarz auf weiß gelesen hatte, jeder gute Bürger habe angesichts der greulichen, pechschwarzen Reaktion, die den Horizont der freien Meinungsäußerung verdunkele, die Pflicht – ja, die unabweisbare Pflicht, für den Vertreter des Fortschritts, des Lichts und der Freiheit, den Bürger Pfefferkorn, seine Stimme abzugeben, da erklärte Matzenthien im Kreise seiner Getreuen feierlich: »Nu wählen wir grade den Deesenhoffener Grafen, denn vorschreiben lassen wir uns nischt, und wir sin eine freie Dorfrepublik und könn'n allweil thun, wat wir thun woll'n! Ja, dat könn'n wir!« – Und er ging hin und wählte den Grafen Kölpin, und alle seine Lämmer folgten ihm.

Zweites Kapitel

Die Müdigkeit hatte den Knaben überwältigt. Während draußen aus einem leuchtenden Farbenmeere die Sonne aufstieg und in wonnigem Glanze der Tag anbrach, war Fritzens blonder Kopf allmählich vornüber auf das Totenbette seiner Eltern gesunken. In langsamen Atemzügen hob und senkte sich seine Brust, und aus dem Nebenzimmer tönte verstärkter das Schnarchen des alten Lennert.

Es mochte sechs Uhr sein, als eines der niedrigen Parterrefenster in der Kantorstube von außenher heftig aufgestoßen wurde. Zu gleicher Zeit rief eine dröhnende Stimme in das Zimmer hinein:

»Na, Lennert, schlaft Ihr schon wedder?! Kopp in de Höh', alter Saufaus, und die Oogen uff! – Wo steckt denn der Fritze?«

Der alte Lennert fuhr zusammen, rieb sich die rotumränderten Augen, blinzelte ein paarmal nach dem Fenster hinüber und richtete seine schäbig gekleidete, gebrechliche Gestalt mühselig auf – reckte die Arme und erwiderte dann in grämlichem Tone:

»Wo soll er denn sin? Drüben« – und er wies mit dem Daumen seiner verrunzelten Rechten nach dem Nebenzimmer. »Da hockt er – die ganze Nacht hat er geflennt, daß man nich'n Monument zur Ruhe gekommen is! Was gibt's denn schonst wedder?«

»Sei nich so dämlich, Lennert,« gab der andere vom Fenster zurück, »nu wasch dir erst 'mal den Rausch aus 'm Koppe. Du wirst dir woll wedder 'mal mit der Schnapspulle verheiratet haben . . . Punkt achte is Gemeinderatssitzung – da wird uns der Fritze gewaschen und gekämmt, wie's in der Ordnung is, vorgeführt. Hast du verstanden?«

»Na wat soll ich dat denn nich verstehen!« brummte Lennert und drehte Matzenthien den Rücken zu. Er konnte das gestrenge Dorfoberhaupt nicht leiden, denn er war Ortsarmer und wurde von der Gemeinde ziemlich karg gehalten. »Un wat soll sonst noch sin?« –

»Nischt weiter, du Esel,« antwortete Matzenthien, »als daß du dir nicht etwa unterstehst, irgend 'was aus dem Kantorshause zu mopsen, denn zu Mittage kommt das Gericht und versiegelt die Bude und über acht Tage is Aukzejohn« . . .

Matzenthien warf das Fenster zu, daß die Scheiben klirrten und die Spatzen aus der Fliederhecke flüchteten.

Fritz fuhr jach in die Höhe. Einen Augenblick starrte er verwundert um sich, dann sah er die weißen Totengesichter auf dem Bett, neben dem er entschlummert war, und große Thränen perlten ihm über die Wangen.

Durch die Thürspalte zwängte sich der graue Kopf Lennerts und nickte ihm zu.

»Flennst du noch immer, Fritze?« sagte der Alte in tröstendem Tone. »Nu laß das doch sin. Es führt zu nischt, kann ich dir sagen, denn wat hin is, is hin, und das is nu mal so. Und nu geh raus, Junge, und wasch dir und zieh dir die Sonntags-Jacke an; Uhre achte is Gemeinderatssitzung, hat der Schulze gesagt, und da wird abgestimmt, wat aus dir werden soll« . . .

Fritz stand auf, und ein trotziger Zug flog über sein blasses Gesicht. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und stellte sich breitbeinig hin.

»Das eine kann ich euch sagen, Lennerts Vater,« erwiderte er, »Kuhjunge beim Schulzen werd' ich nicht, und wenn er mir noch einen Thaler extra auf den Tisch legt!«

»Hihi,« lachte Lennert, »der wird dir wat hinlegen, der Geizkragen der! Aber du hast Recht, Fritze, laß dir nischt gefallen – laß dir gar nischt gefallen! Gieb's dem Bauernpack fuchtig – du bist ein strammer Bengel und find'st überall dein Unterkommen! Du brauchst noch lange nich Kuhjunge zu werden, Fritze – verstehste mir? Du kannst dir direkt als Knecht vermieten mit deine Muskeln und deine Bildung. Dir nimmt jeder gerne. Wenn ich du wäre, packt' ich überhaupt meine Siebensachen zusammen und wanderte aus. Verstehste? Nach Amerika würd' ich auswandern, wenn ich du wäre, Fritze!« –

Die Augen des Knaben glänzten auf. Das Wort Amerika hatte einen berauschenden Klang für ihn – es zauberte mit Blitzesschnelle endlose Prairien, geheimnisvolle Urwälder, rauschende Ströme, Büffeljagden und Indianerkämpfe vor seinen geistigen Blick, die ganze romantische Welt, die Cooper so farbenprächtig zu schildern wußte. Die drei Bände Cooper, die Fritz einmal vom Pastor geschenkt erhalten hatte, als er diesem beim Umräumen seiner Bibliothek behilflich gewesen, waren nämlich bisher seine einzige geistige Unterhaltung geblieben. Dafür hatten sich auch die Geschichten vom letzten Mohican und seinen braunhäutigen Helden unauslöschlich seinem Gedächtnisse eingeprägt.

Er nickte.

»Auswandern – ja, das wär 'was!« entgegnete er. »Aber ich würde wohl nicht weit kommen mit den paar Nickeln, die ich in der Tasche habe, und –«

Er wandte das Gesicht zurück nach dem Totenbette der Eltern und schwieg plötzlich. Das Wehgefühl, die letzten verloren zu haben, die für ihn gesorgt und sein Leben behütet hatten, drängte sich wieder so mächtig in ihm empor, daß es seiner ganzen Tapferkeit bedurfte, ein kummervolles Schluchzen zu unterdrücken.

Der alte Lennert merkte das, trat an Fritz heran, nahm ihn bei der Hand und sagte mit der rührenden Weichherzigkeit, die diesem verkommenen Trunkenbold eigen war und die einen fast aussöhnen konnte mit der Verwahrlosung seines Charakters:

»Nich heulen, Kind – dadermit machst du nich besser, wat nu 'mal is. Kurasche, Fritze, und immer getroste vorwärts! Die Zeit wird ooch vergehen, und denn is sie vorbei und denn is allens anders geworden. Sieh' 'mal mir an: ich bin ein alter versoffener Kerl un habe keine Zukunft nich vor mir und steh' schonst mit einem Fuße im Grabe und muckse doch nich und sage kein Wort. Und nu du erscht! Wer so jung is wie du und so helle Oogen im Koppe hat und so'n strammer Bengel is, der brauch nich zu flennen, weil's der liebe Gott 'mal zu strenge genommen hat in seinem Ärger mit die Welt! . . Nee, laß' man sin, Fritze – die bösen Tage werden vorbeigehen, du weißt nich wie! Und verstehste, mit die paar Nickel, da ist's ooch noch nich schlimm. Woll'n erscht 'mal abwarten, wat die Auktion dir einbringt, und dann weiter miteinander sprechen. Schulden haben die Alten nich ville gehabt, und für dat Mobiljemang wer'n schon ein paar Thaler gezahlt werden . . . Und nu komm und wasch dir und zieh dir die gute Jacke an, damit der Schulze nich wedder dat große Maul aufreißen brauch . . .«

Willig folgte Fritz dem Alten in die Küche, wo auf einer Holzbank das Waschgeschirr stand. Er holte einen Krug frischen Wassers vom Brunnen, füllte das irdene Becken, entkleidete dann seinen Oberkörper und steckte den Kopf in das hochaufspritzende Naß. Währenddessen hatte Lennert Feuer auf der Maschine angefacht und sich einen Topf mit dünnem Kaffee, der noch vom Abend stehen geblieben war, gewärmt.

»Willste ooch en Schluck?« fragte er Fritz.

»Ich danke, Lennert, ich kann nicht . . . Aber wollt Ihr euch nicht waschen? Ich werde noch Wasser holen . . .«

»Laß man sin. Ich habe mir schonst gestern gewaschen,« entgegnete Lennert über den Kaffeetopf hinüber.

Wenige Minuten später schritten die beiden über den Dorfplatz nach dem Schulzenhause. Die Sonne stand schon hoch über dem Horizonte; es war sehr heiß geworden. Auf dem Anger hüteten zwei kleine Bauernmädel die Gänse und starrten Fritz mit offenen Mäulchen nach. Mitten auf dem Platze stand die kleine Kirche, und um sie gruppierten sich, von Obstgärten freundlich eingerahmt und von Linden und Ulmen beschattet, die Gehöfte der Kossethen und Bauern. Klein-Busedow war anmutig hineingebettet in ein weites, fruchtbares Thal, durch das die Buse ihre klaren Wasser zur Oder führte. Der Kirche gegenüber, neben dem Kantorhause, lag die Pfarrei, ganz versteckt zwischen Hecken von wildem Wein und dickbuschigen Kletterrosen. Auf der andern Seite der Kirche hatte Matzenthien seinen Hof. Am Eingange desselben war eine Tafel angebracht worden mit der Inschrift: Gemeindevorstand Klein-Busedow. Die schwarzen Lettern auf weißem Grunde glänzten hell im Sonnenscheine.

Das Wohnhaus des Schulzen war das stattlichste im Dorfe. Matzenthien war ein reicher Mann, aber schmutzig geizig. Nur zeitweilig, wenn er einmal über den Durst getrunken hatte, konnte er sogar verschwenderisch sein. Dann kam es wohl vor, daß er sich im Wirtshause mit einem Fünfzigmarkscheine die Pfeife ansteckte oder eine Hand voll Goldstücke aus dem Fenster in den Ententümpel warf, um sich vor Lachen auszuschütten, wenn Alt und Jung auf allen Vieren zwischen kreischendem Federvieh in dem Morast nach den Goldfischen suchte. Matzenthien war ein riesiger Kerl mit einer dröhnenden Baßstimme. Im Vollbewußtsein seiner hohen Würde trug er gern einen dunklen langschößigen Tuchrock und eine gestrickte Weste darunter, auf der sich an einer silbernen Uhrkette ein paar als Breloques gefaßte Sauzähne schaukelten.

In der Gesindestube, dem größten Raum des Hauses, war der Gemeinderat schon versammelt, als Lennert mit Fritz Fiedler eintrat. Auf den Bänken rings um den Eichentisch saßen die Größen des Dorfes mit gewichtiger Miene und tiefem Ernst in den Zügen. Matzenthien präsidierte. Den Platz rechts neben ihm nahm Klein-Schulze ein, so genannt zum Unterschiede von seinem Namensvetter, Groß-Schulze, einem baumlangen, schwindsüchtig aussehenden Bauern. Noch ein dritter Schulze war anwesend, der Stellmacher, und der wurde Bernschulze genannt, weil er Bernhard mit Vornamen hieß. Neben Bernschulze saß der Schmied, ein gutmütiger Hüne, und neben diesem Herr Thomas Fleck, der Schneider, der allgemein für einen sehr gebildeten Mann galt, weil er einen gebundenen Jahrgang der »Gartenlaube« besaß und auf den »Stadt- und Landboten für Tiesewalk und Umgegend« (Tiesewalk war die Kreisstadt) abonniert war, aus dem er seine Weisheit für tiefsinnige politische Räsonnements schöpfte, die er gewöhnlich im Wirtshause oder nach Feierabend auf der Holzbank vor seiner Hausthür zum besten gab.

Der Widerpart des Schneiders war der dicke Fleher, der Krämer, ein würdiger Mann mit konservativen Ansichten, die er aber nicht gern laut werden ließ, wenigstens nicht in Gegenwart eines so roten Demokraten, wie der Schneider war. Der dicke Fleher roch beständig nach grüner Seife oder nach Heringen, und zwar so intensiv, daß man seine Nähe schon immer spüren konnte, wenn er sich selbst noch in ziemlich weiter Entfernung befand. Er sprach sehr wenig und pflegte jeden Satz mit der Bemerkung einzuleiten: »Wat ich sagen wollte, so mein ich doch . . .« Daß er einen Satz beendet hätte, hatte noch nie ein Mensch gehört. Nach den präludierenden Worten versank er gewöhnlich wieder in tiefes Schweigen und nickte nur noch mit dem dicken Kopfe.

Matzenthien, Klein-Schulze, Groß-Schulze, Bernschulze, Fleck und Fleher bildeten die Stützen der Verfassung von Klein-Busedow. Dazu kamen noch die Kossethen Friebe und Mennechen, Leute, die zu allem Ja sagten und für die Matzenthien der erste Mensch auf dem Erdball war, Leute »ohne Rückgrat«, wie der Schneider, der in seiner Oppositionslust selbst das geheiligte Dorfoberhaupt zuweilen nicht verschonte, sehr witzig behauptete – der Witz stammte aber aus dem »Stadt- und Landboten für Tiesewalk und Umgegend«, nicht von ihm selbst.

Es ging immer ziemlich lebhaft in den Gemeinderatssitzungen zu. Die Leute von Klein-Busedow sprachen alle das schlechte, halb dem Berliner Dialekt und halb dem oberschlesischen Patois sich nähernde Deutsch der märkischen Bauern. Nur der Schneider machte eine rühmliche Ausnahme; die Lektüre des Stadt- und Landboten hatte auch seine Sprache und seine Ausdrucksweise veredelt, und er war stolz darauf. Er fühlte sich hoch erhaben über die Mitlebenden in Klein-Busedow.

 »Setz dir,« sagte Matzenthien mit herablassender Handbewegung zu Fritz Fiedler, und der Junge nahm auf einem Holzschemel vor der Corona Platz, während der alte Lennert nach dem andern Ende des Zimmers humpelte und von einer Fensternische aus den Verhandlungen lauschte.

Matzenthien führte das Wort. Es handelte sich um die Zukunft von Fritz. Der Schulze erklärte, die Gemeinde sei gesetzmäßig verpflichtet, sich des Jungen anzunehmen, bis er großjährig geworden. Der Schneider bestritt dies in zierlichen Redewendungen. Nur bis zu Fritzens vierzehntem Jahre brauche man ihn zu erhalten und keinen Tag länger. Im übrigen sei Fritz ein so strammer Bengel, daß er sich schon jetzt allein durchs Leben helfen könne.

»Das will ich auch – ich brauche euch gar nicht!« schrie Fritz von seinem Platze dazwischen.

Das kränkte Matzenthien in seiner Schulzenwürde. Er erhob sich wuchtig und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß das alte Eichenholz ächzte.

»Du hast nich mitzureden,« sagte er und rollte die Augen; »du wirst nich gefragt. Wat wir thuen, dat thuen wir. Wir sind 'ne Republik – sind wir, und wat Rechtes is, dat soll geschehen. Wir werden deine Eltern auf Gemeindekosten begraben – das werden wir. Und wir werden auch für dich sorgen – verstehste? Und nu biste stille.«

Die Erwähnung seiner Eltern drängte Fritz wieder das ganze Weh zum Herzen. Aber die brutale Art des Schulzen kränkte ihn gleichzeitig so, daß er empört aufsprang und dicht vor den Tisch trat, um den sich die Versammlung geschart hatte.

»Ihr habt mir gar nichts zu verbieten, Schulze,« schrie er Matzenthien an, und seine kräftigen, zu Fäusten geballten Hände zitterten dabei. »Ich lasse mir von euch nichts sagen – weder von euch noch von andern! Ich will auch eure Unterstützung nicht, denn ich weiß ja doch, daß ihr froh wäret, mich los zu sein! Vater hatte ganz recht, wenn er sagte, ihr wäret ein geiziges Bauernpack! Das seid ihr! – Wenn die Auktion vorüber ist, woll'n wir uns wieder sprechen, aber nur zum Adjösagen! Ich fahre nach Hamburg und verdinge mich als Schiffsjunge und wandre nach Amerika aus! So – und nun wißt ihr's!«

Aus der Fensterecke her, wo der alte Lennert mit zusammengekrümmtem Oberkörper stand, ertönte ein leises Grunzen des Beifalls. Das war aber auch die einzige wohlmeinende Äußerung, die der überraschenden Erklärung Fritzens folgte. Die Bauern waren anfänglich starr vor Staunen. Amerika war für sie ein etwas dunkler Begriff, an den sich ungemessene Fernen, Wasserstürme und Schiffsunglücke knüpften. Und nach Amerika wollte dieser dreizehnjährige Bengel! Es war unglaublich.

Am meisten schien der dicke Krämer aus seiner Fassung gekommen zu sein. Er wiegte den Kopf hin und her, starrte Fritz mit seinen runden Glotzaugen voll maßloser Verwunderung an und entschloß sich endlich zu der einleitenden Bemerkung:

»Wat ich sagen wollte, so mein' ich doch . . .«

Und dann schwieg er wieder und schüttelte nur noch in übermächtigem Erstaunen das weise Haupt. Der Schneider aber, der nie eine Gelegenheit versäumte, mit seinen Kenntnissen zu glänzen, schnellte wie eine Feder von Stuhle auf, warf einen triumphierenden Blick auf seine Tischgenossen und begann dann mit seiner dünnen, immer etwas heiseren Stimme:

»Nach Amerika?! Ah – sieh einmal an! Weißt du denn, wo das liegt, das Amerika? Nein, das weißt du nicht. Na, nu hör' einmal zu, ich werd' es dir sagen. Amerika ist weit, sag' ich dir, und eh' du hinkommst, kannst du zehnmal von den Haifischen gefressen worden sein oder von den Seeschlangen oder den Krokodilen. Siehst du, und was ist dann aus dir geworden? . . . Oder es kommt ein Sturm, ein Orkan, wie man's nennt, und das ganze Schiff ersäuft – was hast du dann davon? . . . Oder wenn du wirklich glücklich hinüber bist, so verstehst du nicht einmal das Amerikanisch, das die Leute drüben sprechen, und wenn du Unglück hast, fällst du den Wilden in die Hände, die ihre Nebenmenschen dort noch lebendig fressen. Da sind zum Beispiel die Feuerländer, die kennen weiter kein Mitleid, und die Mexikaner schlitzen ihren Gefangenen den Leib auf und reißen das Herz heraus. Oder die Neger und die Mohren – das sind keine Leute wie hier, Fritz, und die kennen keine Bildung, und das Eine sag' ich dir noch: laß es lieber sein! Und glaubst du vielleicht, daß es da drüben keine wilden Tiere giebt? Da irrst du dich, sage ich dir. Da giebt es Brillenschlangen und – –«

Die schwere Hand Matzenthiens drückte den in förmliche Begeisterung geratenden Sprecher in diesem Augenblicke etwas unsanft auf den Stuhl zurück, und zu gleicher Zeit erhob sich von allen Seiten ein wüstes Geschrei, das indessen nur eine kurze Minute währte, da sich die Thür plötzlich öffnete und Pastor Hartwig im Rahmen derselben erschien.

»Grüß' euch Gott,« sagte der kleine dicke Herr und tupfte sich mit seinem roten wollenen Taschentuche die Schweißtropfen von der Stirn, die der brennende Sonnenschein draußen hervorgelockt hatte. »Ist das ein Gebrüll – man merkt am andern Ende des Dorfes, daß ihr Gemeinderatssitzung haltet! Kann's denn ohne Gezänk nicht gehen? Schämt euch, Leute – in Frieden und Eintracht läßt sich doch besser beraten als unter so unbändigem Gejohle!«

Und dann schritt der Pastor pustend und keuchend an den Tisch heran und reichte jedem einzelnen die Hand, und jeder einzelne reichte sie ihm freundschaftlich wieder, als ob man in herzlichster Versöhnlichkeit miteinander lebte.

»So,« fuhr der Pastor fort und setzte sich an das Ende der einen Bank, dicht neben den Krämer, »und nun erzählt mir 'mal, was es denn eigentlich giebt! Ist Fritz die Ursache eurer Spektakelei? – Ich dacht' mir's beinah' – und deshalb bin ich hergekommen . . .«

Drei Stimmen zugleich versuchten dem Pastor Aufklärung zu geben. Matzenthien überschrie sie alle. Er hatte sich breitspurig vor dem Pastor aufgepflanzt und fuchtelte mit den beiden gewaltigen Armen wie mit Windmühlenflügeln in der Luft umher. Sein Gesicht war dunkelrot, und jedes seiner Worte stieß er mit voller Lungenkraft hervor. Er schimpfte gewaltig auf Fritz und meinte, der verdiene gar nicht, daß die Gemeinde sich seiner annehme – er sei es nicht wert, er sei ein undankbarer Bursche, der auswandern wolle.

»Ja wohl, auswandern,« fügte der Schneider hinzu, dicht neben Hartwig rückend. »Nach Amerika, Herr Pastor – na, Sie wissen ja selbst, was das zu sagen hat und was einem da alles begegnen kann, wo man die Gegend nicht kennt. Aber das kommt von der Unbildung, Herr Pastor, und weil der Fritz von all' den Gefahren keine Ahnung hat, die einem da drüben umlauern. Und das wird auch nicht besser werden, wenn das Volk nicht freisinniger erzogen wird, Herr Pastor – denn wie soll der Mensch wissen, daß es in Amerika anders ist, als bei uns, wenn die Bildung im Volke unterdrückt wird und der liberale Gedanke nicht genug Ausbreitung findet . . .«

Den letzten Passus hatte Herr Thomas Fleck vor einer Stunde im Stadt- und Landboten gelesen und seinem Gedächtnisse eingeprägt. Er freute sich, daß er ihn so schnell und gut verwenden konnte, und alle Anwesenden freuten sich mit. Der Gemeinderat war wieder einmal stolz auf seinen Schneider. Man nickte ihm Beifall zu, nur der konservative Krämer meinte bedächtig:

»Wat ich sagen wollte . . .« und dann schluckte er auch den Nachsatz seiner Einleitungsphrase hinunter und bewegte den Kopf mißbilligend auf den breiten Schultern hin und her.

Der Pastor hatte den Herzenserguß des Schneiders gar nicht beachtet. Er schaute Fritz mit seinen klugen und gütigen Augen prüfend an, rief ihn dann zu sich und ergriff seine Hände.

»Ist das dein Ernst, Fritz?« fragte er milde, »das – mit dem Auswandern?«

»Ja, Herr Pastor! Was soll ich denn anders machen? – Knecht werden bei Bernschulze oder Matzenthien und mir noch sagen lassen, man ernähre mich – – das kann ich nicht, Herr Pastor, und das will ich auch nicht!« –

Fritz hatte dies in ruhigem und festem Tone gesagt und mit einer charakteristischen Sicherheit, die bekundete, daß auch seine innere Entwicklung den Jahren vorgeschritten war. Er wußte, daß Pastor Hartwig ihm wohl wollte – er hatte das mehr als einmal erfahren – und deshalb trotzte er um so zäher den Bauern.

Der Pastor schaute dem Knaben ernst in die Augen.

»Du bist noch zu jung, um von eigenem Willen zu sprechen,« sagte er sanft, »du darfst auch nicht vergessen, daß all' die Leute, die du hier um dich siehst, bereit sind, dir zu helfen, und daß du ihnen deshalb Dankbarkeit schuldig bist. Mit Trotz und Eigensinn kommt man nicht durch die Welt, mein lieber Fritz, aber ich denke, auch du wirst es erlernen, dich zu beugen, wenn es notwendig ist . . . Nun höre zu, Fritz. Deine lieben seligen Eltern waren brave und ehrenwerte Leute, und weil sie es waren und weil ich deinem Vater noch auf dem Totenbette versprochen habe, mich deiner zu erbarmen, darum will ich, wenn du einverstanden bist, dich in mein Haus nehmen. Knechtsdienst verlange ich von dir nicht, wohl aber wünsche ich, daß du die Pflichten, die ich dir auferlegen werde, sorgsam erfüllst. Meine Familie ist groß, und jeglicher muß da die Hände rühren, soll's ordentlich in unserm kleinen Gemeinwesen zugehen. Auch lernen mußt du noch tüchtig, mein Junge, mußt nachzuholen versuchen, was du bisher versäumt hast, damit du einmal als ganzer Mann ins Leben treten kannst . . . Und nun antworte mir: willst du zu mir kommen?«

Fritz wußte nicht, wie ihm geschehen war. Bei aller Hartköpfigkeit besaß er auch ein sehr weiches Gemüt und ein Herz, das warmen Regungen leicht zugänglich war. Die Güte des Pastors rührte ihn tief. Die Thränen drängten sich ihm in die Augen, aber er schämte sich ihrer. Er biß die Zähne zusammen, griff mit beiden Händen nach der Rechten Hartwigs, die er mit krampfhaftem Drucke umspannte, und stammelte nur:

»Ich will – Herr Pastor . . .«

Hartwig erhob sich und ein Lächeln glitt über sein rotes, gutmütiges Gesicht.

»Nun dürfte eure Sitzung ja wohl beendet sein,« sagte er zu den Bauern, die in tiefem Schweigen und mit dem unverhohlenen Ausdruck der Verwunderung den Worten Hartwigs gelauscht hatten. »Ich denke, ihr werdet auch zufrieden sein, daß ich euch den Fritz Fiedler abgenommen habe . . . Matzenthien, ich meine, 's ist Recht so – was?«

Der Schulze wußte anfänglich nicht ganz, was er sagen sollte. Recht war ihm das so im Grunde gar nicht, er hätte nur zu gern, gestützt auf seine Eigenschaft als Dorf-Autokrat, eine gegenteilige Meinung ausgesprochen. Aber das ging nicht an; der Pastor hatte auch ein Wort mitzureden, und Fritz konnte thun, was er wollte. So blieb Matzenthien nichts weiter übrig, als zustimmend mit dem Kopfe zu nicken und mit seinem Löwenorgan in gewichtiger Betonung das denkwürdige Votum zu fällen:

»Wenn der Herr Paster meinen, na denn können ja der Herr Paster thun, wat der Herr Paster belieben. Uns soll's ehngal sin!«

Und dabei schaute Matzenthien sich fragend im Kreise seiner Genossen um, und die Genossen nickten wie er, und Friebe und Mennichen wiederholten gleichzeitig:

»Ja, ja – uns soll's ehngal sin! . . .«

Nur der dicke Krämer schien sich mit andren Gedanken zu tragen, aber er sprach sie nicht aus, weil ihm dies zu schwer ward, und auch Herr Thomas Fleck machte den Eindruck, als sei er nicht völlig befriedigt mit der Erledigung der Angelegenheit. Doch der Pastor wartete die Entgegnung, die der demokratische Schneider im heimlichen Port seines Busens vorbereitete, nicht erst ab, schwenkte sein rotes Taschentuch Kühlung fächelnd um die Stirne, ging erst zum Schulzen und dann zu den andern heran und sagte jedem einzelnen freundlich Adieu, richtete auch an jeden einzelnen noch eine herzliche Frage, wie: »Was macht denn Eure Frau, Bernschulze – hat sie noch immer eine dicke Backe?« oder »Euer Ältester ist im letzten Halbjahr gehörig in die Hopfen geschossen, Mennichen – das wird 'mal ein Goliath!« oder »Grüßt mir Eure Kathrine, Klein-Schulze, und sie soll doch 'mal wieder meine Lotte besuchen« . . . Und die Bauern drückten die Hand des Pastors, sagten »Ich dank' ooch schön« oder »Ja ja,« und damit war die Verabschiedung vorüber.

Der Pastor nahm Fritz bei der Hand und verließ mit ihm die Stube, ohne auf den Lärm zu achten, der losbrach, sobald er die Thür geschlossen hatte.

Dicht hinter ihm humpelte der alte Lennert ins Freie.

»Herr Paster,« rief er mit seiner heiseren Stimme dem Davonschreitenden nach.

Hartwig wandte sich um. »Na, Lennert,« sagte er, »was wollt Ihr denn noch?«

Lennert humpelte näher. »Nischt weiter, Herr Paster,« erwiderte der Alte und schaute Hartwig mit seinen roten, wimpernlosen Augen treuherzig an, »als Ihnen man bloß sagen, daß Sie sich wedder 'nen Gotteslohn verdient haben, dat Sie den armen Bengel, den Fritze, zu sich nehmen wollen. Der wär' unter die Bauern zu Grunde gegangen, Herr Paster, un um den wär's schade gewesen – Herr Paster . . .«

Hartwig nickte. »Das wär's,« entgegnete er sehr ernst, »und seht einmal, Lennert, gerad' so ist's auch um Euch schade gewesen, daß Euch der Saufteufel so ganz in seine Klauen bekommen hat. Denkt Ihr denn gar nicht mehr an Euer braves Weib zurück und an das Versprechen, das Ihr der Marianne noch im Tode gegeben habt?« –

Und ohne die Antwort abzuwarten, schritt Hartwig weiter, und der alte Lennert blickte ihm mit verglasten Augen nach und murmelte dabei mit den welken Lippen unverständliche Worte. Es war ein Elend, daß er die Schnapsflasche nicht lassen konnte, und er hätte es doch so gern gethan! –

Bis zu der Staketthüre, die in den Garten der Pfarrei führte, behielt der Pastor seinen neuen Schützling an der Hand. Dort blieb er einen Augenblick, sich verschnaufend, stehen, steckte sein Taschentuch umständlich in die hintere Rocktasche und legte dann seine rechte Hand in leiser Berührung auf den Blondkopf des Jungen.

»Nun tritt ein, Fritz Fiedler,« sagte er, »und Gott der Herr segne deinen Eingang in dieses Haus.«

Drittes Kapitel

Zwei Tage später wurden der Kantor und die Kantorin auf dem Dorf-Kirchhofe zur Ruhe bestattet. Das war noch eine schwere Stunde für Fritz Fiedler. Er stand am offenen Grabe zwischen der Pastorin und Pastors Gustel, und wie er auch die Zähne fest auf die Unterlippe preßte, sodaß er das warme Blut zu fühlen vermeinte – der Schmerz ließ sich nicht meistern. Aber es war doch gut, daß die Frau Pastor und ihr zwanzigjähriges Gustel neben ihm standen – sonst hätte er laut aufgeschrieen und sich über die beiden Särge geworfen, die schwarz und mahnend neben der Gruft aufgebahrt waren. Es war ein rasender Schmerz, der die Seele des Knaben durchwühlte, etwas Ungebändigtes und Ursprüngliches, das ihm zu unterdrücken wahrhaft qualvoll wurde. Er hatte noch nicht gelernt, sich zu beherrschen; so trotzig und starrsinnig er auch sein konnte, so sehr war es anderseits ein Lebensbedürfnis für ihn, sich auszutoben, wenn er den Drang danach spürte.

Das ganze Dorf war bei dem Begräbnis zugegen. Man hielt das immer so. Freundschaft oder Pietät sprachen nur in Ausnahmefällen mit. Man ging zu den Begräbnissen, wie man zu den Kindtaufen oder des Sonntags in die Kirche ging – aus traditioneller Gewöhnung. »Dat is 'mal so,« pflegte Matzenthien zu sagen, und einen andern Grund gab es für die meisten Bauern auch wirklich nicht. Es war 'mal so, und damit war's gut. In ihren langen schwarzen oder dunkelblauen Sonntagsröcken, Hut oder Mütze in den gewaltigen, arbeitsharten Händen und das Gesangbuch unterm Arme – die Frauen in ihren besten Kleidern und mit hart gesteiften Schürzen – so stand die Gemeinde dicht gedrängt um die Grabstätte und lauschte den Worten des Pastors. Hartwig sprach kurz und schlicht, aber eindringlich und zu Herzen gehend. Und ging's auch keinem weiter zu Herzen, einer war doch da, der die warme Liebe spürte, die von den Lippen des Geistlichen floß, und der in seiner frommen Einfalt erschüttert ward durch das Gebet, das die Seelen der beiden Entschlafenen Gott empfahl.

Während der Feierlichkeit war ein Gewitter am Himmel aufgestiegen, und gerade, als man die Särge in die Gruft zu senken begann, zuckten die Blitze auf und der Donner krachte. Gleich darauf fielen die ersten Regentropfen klatschend auf die Blätter der Eichen, die an der Kirchhofsmauer standen und die Gräber in weitem Umkreise beschatteten. Es blieb aber nicht lange beim Tröpfeln; einem gewaltigen Donnerschlage, der in langhallendem, dumpfen Grollen verklang, folgte ein rauschender Guß. Und nun kreischten die Frauen plötzlich auf, rafften die Oberkleider empor und begannen zu flüchten. Die Männer lachten, obwohl ihnen der Regen wenig erwünscht kam, denn man stand mitten in der Ernte. Sie lachten über die Drolligkeit ihrer Weiber, wie sie die Röcke über den Kopf schlugen, damit das Haar nicht naß würde, und dann im Sturmlauf nach der Kirchhofsthür eilten. Auch mit der äußeren Andacht war's nun vorüber. Als der Regen heftiger wurde, flüsterte Matzenthien seinen nächsten Nachbarn einige Worte ins Ohr, und dann stülpte er seinen breitkrämpigen Sammethut auf den triefenden Kopf und zog sich langsam zurück. Der Schneider, Friebe und Mennichen waren die ersten, die ihm folgten – und nicht lange währte es, da war die ganze Gemeinde zerstoben, wie ein Haufen gelbes Laub, in das ein Windstoß bläst . . .

Der Pastor ließ sich in der Beendigung der Ceremonie nicht stören. Er stand aufrecht neben dem frischen Grabe und barhäuptig, ob auch der Regen in kleinen Rinnsalen über seine Schultern den Talar hinabfloß. Mit festen und klingenden Worten sprach er das Schlußgebet und das Amen und markierte das Zeichen des Kreuzes über den Schollen, welche die Toten deckten. Dann erst setzte er das Barett wieder auf und schaute sich um, und nun glitt etwas wie ein Lächeln über sein gutes Gesicht. Er trat an Fritz heran und streichelte ihm die blassen Wangen.

»Sieh', mein Junge,« sagte er, »so geht's oft im Leben, wie heute. Man glaubt an die Freundschaft und wird verlassen. Aber eins bleibt uns doch, wenn uns auch alles verläßt: das ist der liebe Gott und seine ewige Kirche.«

***

Ein paar Tage danach traf der neue Kantor in Klein-Busedow ein, und dann fand auch die Versteigerung des Nachlasses der verstorbenen Kantorsleute statt, in die Fritz gewilligt hatte.

Natürlich fehlte auch hierbei keiner der Bauern. Das war ein Ereignis, an dem man sich nicht alle Tage erfreuen konnte. Als Auktionslokal war anfänglich die Schulstube gewählt worden, und hier wurde zunächst das Hausgerät zur Versteigerung gebracht. Vieles davon kaufte die Pastorin, deren Gatte zu Gunsten Fritzens die Preise nach Möglichkeit in die Höhe trieb. Dann ging es von Stube zu Stube weiter an die Veräußerung des Mobiliars.

Der Pastor zog Fritz an sich heran.

»Willst du dies oder jenes behalten, so sag's,« flüsterte er dem Knaben zu – der aber schüttelte nur den Kopf. Was sollte er mit all' den Sachen! –

Das Harmonium wollte der neue Lehrer, ein junger Mann, der eben erst vom Seminar gekommen war, kaufen. Aber als er einige Mal über die Tasten gefingert hatte, verzichtete er – es war ihm allzu verstimmt. Nun wollte es Matzenthien an sich bringen – für seine »Jöhren«, wie er sagte. Das ärgerte den Pastor, und er bot drei Mark mehr, wofür ihm das wertlose Ding zugeschlagen wurde.

Unter der kleinen Büchersammlung des verstorbenen Fiedler fand sich auch noch eine alte lateinische Bibel vor, die im untersten Fache des Regals lag. Der Auktionator schlug ein Taschentuch um die Finger, ehe er den staubigen Folianten, der in dickes Schweinsleder gebunden war, hervorholte, um ihn dann auf den Tisch zu werfen.

 »Wer bietet?« krächzte der Versteigerer. »Niemand – ahä? . . .«

Der litterarisch gebildete Schneider trat näher, um sich das schweinslederne Ungetüm anzusehen, aber es war ihm zu alt – es war nichts für einen Mann von Bildung, der den Fortschritt liebte.

»Ahä – also niemand?« wiederholte der Auktionator. »Dann bleibt's . . . ahä – dann bleibt's für den Trödler . . .«

Fritz zupfte den Pastor am Rocke. Er entsann sich, daß seine Mutter in früherer Zeit öfters in der alten Bibel geblättert hatte – sie stammte aus ihrem heimatlichen Försterhause – und Fritz wollte nicht, daß sie an den Trödler verschleudert würde. Der Gedanke that ihm weh.

»Herr Pastor,« flüsterte er, »– ich möchte die Bibel behalten . . .«

Der Pastor nickte.

»Fünfzig Pfennige,« rief er, und der Auktionator wiederholte das Angebot. Das Buch wurde dem Pastor zugeschlagen, der den Folianten in die Arme Fritzens legte. Der aber stürmte damit fort, ohne erst das Ende der Versteigerung abzuwarten, und verwahrte das Schweinslederne im letzten leeren Fache der Birkenholzkommode. welche die Frau Pastorin aus ihrer eigenen Schlafstube in sein Kämmerchen hatte schaffen lassen.

Als das letzte Stück des Fiedlerschen Hausrats in andere Hände übergegangen war, wurde Kasse gemacht. Die Auktion hatte nach Abzug aller Kosten hundertundsiebzehn Thaler (man rechnete in Klein-Busedow noch gern nach Thalern) und fünfunddreißig Pfennige gebracht. Das war das Erbe und Eigentum Fritzens, der sich dafür auf Hartwigs Rat ein Sparkassenbuch kaufte.

Zwei Tage später zog Herr Baldewin, der neue Lehrer, in das kleine Haus mit dem großen Giebeldach, und von nun ab sprach man nur noch selten von den verstorbenen Kantorsleuten, um deren Doppelgrab sich das grüne Geschlinge des Epheus immer dichter zu ranken begann. Herr Baldewin war unverheiratet und von anderm Schlage als der stille selige Fiedler. Der neue Kantor rauchte keine lange Pfeife, sondern Cigarren, das Stück für fünf Pfennige, und kneipte des Abends mit den Bauern im Extrazimmer des Kruges. Er führte dort das große Wort, schlug mit der Faust auf den Tisch wie Matzenthien und schimpfte gemeinsam mit dem Schneider über alles, was nicht in seinen Kram paßte. Das gefiel den Bauern. Baldewin wurde im Umsehen beliebt.

Fritz Fiedler lebte sich inzwischen zum besten im Pfarrhause ein. Ganz oben im Giebel lag sein Stübchen, ein kleiner Bretterverschlag von wenigen Fuß Breite, sodaß darin gerade die eiserne Bettstelle, die gelbe Kommode aus Birkenholz und ein Schemel Platz hatten. Die Wände hatte Fritz sich sehr schön selbst tapeziert, und zwar mit Neu-Ruppiner Bilderbogen, von denen ihm Veitel Aron, der Lumpenmatz, aus alter Freundschaft sechs Stück für zwanzig Pfennige abgelassen hatte. Gerade über Fritzens Bette hing der Sturm auf die Düppeler Schanzen und die Einnahme von Konstantinopel durch die Kreuzfahrer, und wenn er morgens aufstand, ergötzte sich sein schönheitstrunkener Blick an der Landung des Kolumbus und an dem bunten Federschmucke der Indianer, die den großen Entdecker mit himmelblau gemalten Augen anstarrten. Ein weiteres Bild stellte Garibaldi dar, wie er in einem flammend roten Hemde und mit einem Rubens-Barett auf dem Kopfe über ein Schlachtfeld reitet, das im Hintergrunde von einem schrecklichen feuerspeienden Berge begrenzt wird – und noch ein andres die Tiere der Arche Noah, wobei jegliches Viehzeug poetisch erläutert ward, z. B.:

Die Ameise hat nimmer Ruh, Der Affe sieht behaglich zu –

oder:

Der Elefant hat einen Rüssel, Der Eber frißt aus keiner Schüssel –

oder auch:

Das Zobeltier lebt hoch im Norden, Das Zebra lebt an andern Orten.

Die tiefe Weisheit dieser Verse hatte zwar auch Fritz bisher noch nicht ergründen können, aber das that der Pracht der bunten Bilder keinen Abbruch, an deren leuchtendem Farbenreichtum sich sein Auge alle Morgen erfreute.

Das Leben im Pfarrhause war ein sehr geregeltes. Die Dienstmagd klopfte früh um fünf Uhr an Fritzens Thür, und zwar stets mit so gewaltiger Faust, daß auch der vielverschlungenste Traumfaden, der den Schlummernden umsponnen hielt, auf der Stelle schnöde zerrissen wurde. Stiefelputzen und Kleiderreinigen mußte sich Fritz selbstverständlich eigenhändig, aber auch sonst hielt ihn der Pastor scharf zu häuslicher Arbeit an. Es gab immer etwas zu thun in Haus, Hof und Garten, und ruhten die Hände aus, dann mußte der Geist heran. Das war nun eine schlimme Sache. Auf seiner Fäuste Kraft hatte Fritz immer mehr gehalten, denn auf die Zucht seiner geistigen Fähigkeiten. Vom Lernen wollte er nicht gern etwas wissen. Aber der Pastor fragte viel danach, was Fritz wollte oder nicht wollte. Jeden Tag von zehn bis zwölf Uhr – zwischen der Butterstulle des zweiten Frühstücks und dem Mittagessen – wurde gelernt. Der Pastor unterrichtete seine sämtlichen Kinder selbst. Gustel, Line und Fanny waren über die Lernzeit hinaus, die vierjährige Mieze war noch nicht reif dazu – blieben Toni, Bärbchen und Otto übrig, mit denen zusammen Fritz in den Vortempel der höheren Bildung eingeführt wurde. Der Pastor lehrte seine kleine Gesellschaft alles, was er selbst wußte, ohne in pädagogischem Sinne schematisch vorzugehen; er lehrte seine Mädchen Latein und Griechisch lesen ebensogut wie das Französische (das war aber seine schwächste Seite, weil er sich mit dem Accent nicht so recht verständigen konnte), und führte sie in die Geheimnisse der Naturkunde mit gleichem Feuereifer ein wie in den Wirrwarr der historischen Geschehnisse vor Christi Geburt. Hartwig war ein sehr geschickter Präzeptor; er hielt sich nicht lange bei Einzelheiten auf, sondern begnügte sich mit großen Zügen, und er erreichte damit vollkommen seinen Zweck: seine Mädchenschar war in allem Wissenswerten wohl bewandert, und der neunjährige Otto konnte auf der Stadtschule nachlegen, in die er Ostern übers Jahr gebracht werden sollte.

Fritzen wurde das Lernen recht schwer. Seine Gedanken waren überall anders, aber nie bei der Arbeit. Wenn er in der kleinen, vollgerauchten Amtsstube des Pastors neben Otto, Bärbchen und Toni, Hartwig gegenüber am Tische saß, dann schweifte sein Auge gewöhnlich sehnsüchtig hinaus, wo hinter den regenverwaschenen Fenstern das dunkle Grün der Apfelbäume und das sonnenbrandige Rostbraun des Dorfangers erglänzte. Und statt an die Seeschlacht von Salamis oderutmit dem Konjunktiv dachte er dann daran, daß er heute noch Matzenthiens Labander, den langen Karle, durchprügeln müsse, weil er gestern von ihm mit Sand beworfen worden war, und daß er eine notwendige Verpflichtung habe, dem bissigen Köter von Bernschulze eine Ladung Lehmkugeln durch das Pusterohr auf den Pelz zu blasen. Und wenn dann der Pastor wissen wollte, wer bei Salamis gesiegt hatte, dann sperrte er den Mund auf, gab aber keine Antwort, und wenn dann nicht Bärbchen so gutmütig war, ihm das Richtige ganz heimlich zuzuraunen, so wurde der Pastor böse, schlug mit dem Lineal auf den Tisch und behauptete, Fritz sei ein dummer Junge und werde es wohl für Zeit und Ewigkeit bleiben. Und dann wurde Fritz purpurrot im Gesicht vor Scham und Verlegenheit und nahm sich fest und heilig vor, künftighin besser aufzupassen, was aber nicht hinderte, daß sein Gedankenflug fünf Minuten später wieder hinauskreiste über die verräucherten vier Wände der kleinen Stube und sich im Karnickelstall des Kossethen Braunmüller oder in der »Sandkuhle« am Dorfende verlor, wo die männliche Jugend von Klein-Busedow sich wie die Bewohner von Patagonien in Erdhöhlen einzunisten pflegte.

Unser junger Held lernte also wenig Positives. Es fehlte ihm nicht an Begabung, aber an Lust und Liebe zur Sache; jedes Lehrbuch war ihm ein Greuel, jede Lehrstunde erschien ihm als Urbegriff der Langeweile. Das einzige, was ihn noch einigermaßen interessierte, war die Geographie, weil die weite Ferne mit ihren ungeschauten Wundern seine lebhafte Phantasie stets mächtig beschäftigte. Selbst die Violine ruhte in ihrem hölzernen Sarge aus. Er verstand ihr nur liederliche Weisen zu entlocken, wie sie die Burschen beim Heumachen und auf dem Felde sangen – das aber hatte sich der Pastor verbeten. Er gehörte nicht zu den prüden theologischen Seelen, die im heiligen Amte sich scheuten, der Erinnerung an die leichtsinnigen Strophen aus der Studentenzeit Raum zu geben – aber es paßte ihm nicht, daß man den Singsang von der Straße in das Zimmer übertrug, wo sein Harmonium stand. Draußen im Garten mochte Fritz fiedeln, wie es seinem Geschmacke zusagte, dagegen hatte der Pastor nichts – Fritz war aber trotzig genug, die Violine lieber ganz beiseite zu legen, ehe er sich auf Konzessionen einließ.

Mit seinen Spielgenossen im Pfarrhause vertrug er sich gut. Das waren Otto, Bärbchen und Toni; die andern galten schon als erwachsen, obwohl die vierzehnjährige Fanny in ihrem Äußeren noch völlig kindlich erschien. Gerade Fanny aber war Fritzen am liebsten. Er hegte eine Art romantische Schwärmerei für sie, seit sie ihm einst heimlich einen mächtigen Teller voll Butterstullen auf das Zimmer gebracht, als ihn der Pastor einer Dummheit wegen zu Hausarrest bei Mehlsuppe und trocknem Brot verurteilt hatte. Fanny war ein merkwürdiges Mädchen – völlig anders geartet als ihre Geschwister, äußerlich und seelisch. Die ganzen Pastorschen waren blond, strohblond, »märkisch blond«, wie Hartwig, dessen Familie seit Jahrhunderten im Oderbruch ansässig war, mit einem gewissen Stolze zu betonen pflegte. Nur Fanny war brünett. Sie schlug nach der Großmutter mütterlicherseits, die eine Französin war, eine geborne Dutêtre. Diese längst verstorbene Großmutter, deren Silhouette in einem schmalen goldenen Barockrahmen über dem Kamin im Zimmer der Pastorin hing, war gewissermaßen der »dunkle Punkt« in der pfarrherrlichen Familie. Sie war Bonne in einem gräflichen Hause gewesen, und dort hatte sie der seiner Zeit ebendaselbst als Hauslehrer angestellte Vater der Pastorin kennen und lieben gelernt. Die Ehe der beiden war aber nicht glücklich verlaufen. Zwei Jahre nach der Heirat wurde sie gerichtlich getrennt; die schöne Französin ließ sich als Sprachlehrerin in der Hauptstadt nieder und ging später zur Bühne. Nach jahrelangen Irrfahrten durch halb Europa erreichte sie in Brüssel ein tragisches Geschick. Das Theater, in welchem sie auftrat, brannte nieder, und auch die hübsche Soubrette fiel dem entfesselten Element zum Opfer.

Fanny sollte ihrer Großmutter ähnlich sein. Sie war ein selten schönes Kind. Ein Gesicht wie eine Camee – von wundervoller Regelmäßigkeit im Schnitt und jenem matt olivenfarbenen, weiß abgetönten Teint, den der Südländer Morbidezza nennt, und den man am häufigsten unter den jungen Jüdinnen des Orients findet, wo sich die Rasse noch rein erhalten hat. Haar und Augen waren von leuchtendem Schwarz, das Haar von seltener Üppigkeit und das von schön gezeichneten Brauen überwölbte Auge von unbeschreiblich mildem und träumerischem Ausdruck, wie er dem dunklen Blick sonst selten eigen zu sein pflegt. Es lag etwas Schwärmerisches in diesen schönen Kinderaugen, etwas rätselhaft Fragendes, das seltsam, zuweilen fast unheimlich berühren konnte, weil es in seiner geistigen Reife merkwürdig kontrastierte mit der körperlichen Entwickelung der überaus zierlichen und puppenhaften Mädchengestalt.

Fanny war ein stilles und sanftes Wesen zu eigen; unter ihren lebhaften, oft wilden und ungeberdigen Geschwistern saß sie wie eine kleine scheue Schwalbe im Nest lärmenden Spatzenvolks. Sie war der Liebling der Mutter, die sie zum steten Ärger des rauheren Vaters gern ein wenig verzog. Zu zart für die derbere und gewöhnlichere Arbeit, an der sich Gustel, Line, Bärbchen und Toni gleichmäßig beteiligen mußten, war ihr im Bereiche des Hauswesens das Gebiet der Handarbeiten übertragen worden. Sie strickte, stickte und stopfte tagein tagaus mit ihren schlanken, weißen, immer fleißigen Fingern. Im Winter hatte sie den Nischenplatz am letzten Fenster der Wohnstube inne, von dem aus sie den ganzen, unter der Schneedecke ruhenden Dorfplatz überschauen konnte – und zur Sommerszeit saß sie meist in der Fliederlaube im Vorgarten, und rings um sie her gluckerte und gackerte ein zahlreiches Volk von Hühnern und Enten, das sie zuweilen durch eine Handvoll Gerstenkörner zu erfreuen pflegte, die gewöhnlich in einer mächtigen, bunt bemalten Thonschüssel neben ihr standen. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern liebte Fanny eine stille geistige Beschäftigung. Sie las gern und viel und alles, was ihr unter die Hände kam, mit Vorliebe aber dramatische Werke. In der kleinen Bibliothek ihres Vaters standen die Dramatiker einer vergessenen Epoche zu ganzen Haufen. Gelb eingebunden leuchtete Gerstenbergs »Ugolino« zwischen der düsteren Römertragödie des Herrn von Brave »Brutus« und dem »Julius von Tarent« Leisewitzens wie ein Symbol fressenden Neides hervor; nebenan waren Klingers Sturm- und Drangwerke in Reih' und Glied aufgepflanzt, und dann folgte Maler-Müllers rührsame »Genovefa«, Leopold Wagners schaurige »Kindesmörderin« und schließlich in Massen Auffenbergs Dramen, Iffland und Kotzebue. Eine bunte Gesellschaft halb und ganz verschollener Namen, nur noch von Interesse für die Litterarhistoriker – und für Fanny. Ihre blassen Wangen röteten sich, und in fieberhaftem Eifer nestelten die Hände am Strickstrumpf, wenn sie, dicht über das Buch geneigt, sich von Maler-Müller von der Niedertracht des Ritters Golo oder von Kotzebue die abenteuerreiche Geschichte der Kreuzfahrer erzählen ließ. Während der Lektüre arbeitete ihre Phantasie mächtig mit. Sie sah die Leute handelnd vor sich und lebte und litt mit ihnen, und so ganz war sie zuweilen in ihren Lesestoff vertieft, daß sie es kaum merkte, wenn der unartige Otto sich hinter sie schlich, um sie mit den langen Zöpfen am Stuhle festzubinden oder ihr einen Frosch in den Schoß zu werfen.

Otto neckte Schwester Fanny ganz besonders gern, bekam aber dann mit Regelmäßigkeit eine gut gemeinte Tracht Prügel von Fritz. Daraus machte sich Otto freilich nicht viel, denn hatte Fritz auch derbe Fäuste – der Rücken des kleineren Gegners war nicht minder derb und konnte schon etwas aushalten. Sie waren beide ein paar rauflustige Buben, die sich beständig knufften und pufften. Sah es die Pastorin, so schalt sie, und sah es der Pastor, so freute er sich. Er war der Meinung, daß Prügel empfangen undper comptantzurückgeben, nicht nur die Muskeln, sondern auch den Charakter stärke. Er hatte Otto einmal gehörig ausgelacht, als der Junge ihm heulend geklagt hatte: »Vater – der Fritz hat mir eine 'runtergehauen.« »Hau' ihm wieder eine,« gab der Pastor zurück. »Das habe ich schon,« erklärte Otto, bereits trockenen Auges, »aber Fritzen seine war derber.« »Dann gieb ihm noch eine hinterher,« riet der spartanische Vater – und Otto ging hin, wo Fritz gerade im Sande buddelte, stellte sich breitbeinig vor ihm auf und sagte: »Fritz, guck 'mal her.« Und als Fritz neugierig aufschaute, hatte er bereits mit der Randbemerkung »Vater hat's befohlen« seinen Schilling weg. Im nächsten Augenblicke aber wälzten sich beide Burschen im Sande und prügelten sich mit vergnügten Gesichtern und wetteten dabei um Murmelkugeln, wer Sieger bleiben würde. –

Die Lust am Schmökern hatte Fritz von der Fanny erlernt. So ungern er sich mit den Lehrbüchern des Pastors befaßte, so leidenschaftlich liebte er die alten Rittergeschichten, die noch aus dem Nachlasse des Vaters der Pastorin stammten und zu Ballen zusammengeschnürt, mit Staub und Spinneweben bedeckt, in der leerstehenden Giebelstube des Hauses lagen. Da schlich er sich oft in aller Heimlichkeit hinauf, suchte sich unter den alten Scharteken irgend einen Roman mit recht schauerlich schönem Titel heraus und lief damit ins Freie, um hinter einem Heuhaufen oder in den Waldkuscheln am Dorfende sein Buch mit fiebernder Spannung von Anbeginn bis zu Ende durchzulesen. Und dabei erging's ihm genau wie Fanny: er lebte und webte mit den Leuten im Roman, sprengte als Löwenritter im heißen Wüstensande dem Sultan Saladin entgegen, begleitete die heilige Vehme an ihre unterirdischen Versammlungsorte und kämpfte mit den Seeräubern des Mittelmeeres – bis seine Wangen brannten und seine Augen glänzend wurden . . .

Viertes Kapitel

Am Sonntag Palmarum des nächsten Jahres – zur selben Zeit, da Otto in eine Pension nach der Stadt gebracht wurde, um endlich »vernünftig« zu werden – reichte der Pastor Fritzen zum erstenmale am Altare Gottes das heilige Abendmahl. Fritz wurde mit zehn Dorfkindern zusammen eingesegnet. Er war sehr bewegt und seine Augen traten voll Wasser, als der Pastor und die Pastorin und ihre sechs Mädchen ihm nach Beendigung der feierlichen Handlung mit tiefstem Ernste und einen Segenswunsch auf den Lippen die Rechte reichten.