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Ein Sommer in einer fremden Großstadt? Måns ist 11 und begleitet seine Mutter zu Tonaufnahmen nach Malmö. Für ihn ist das großartig! Endlich kann er der sein, der er ist und sein will! Keiner kennt ihn und seine Vorgeschichte. Und Mikkel wird sofort sein Freund: Sie skaten, haben einfach Spaß zusammen, sie sind richtige Blutsbrüder. - Bis Mikkel sich Måns' Pass ansieht, und nichts mehr von ihm wissen will... Wie schon in "Comedy Queen" und der "Genial"-Trilogie um Sigge nimmt sich Jenny Jägerfeld eines gesellschaftlich hochaktuellen und brisanten Themas an und erzählt mit außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen von der schwierigen Situation eines Jungen, der mit dem falschen Geschlecht geboren wurde. Sie zeigt, wie absurd der Alltag wird, wenn die Perspektive verrutscht. Und wie alles gut werden kann, wenn, wie Måns sagt: »sich alle bisschen zusammenreißen«. Ein bewegendes Leseerlebnis!
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Für die Sonne, den Mond, den Luchs, die Rose und Saile Äppelskrutt!
Und für alle anderen geliebten Himmelskörper und Himmelsseelen.
DER ANFANG VON ALLEM
DER KOMISCHSTE JOB DER WELT
DIE MUTTER ALLER PEINLICHKEITEN
ME KILL!
EINE LEUCHTENDE WINDEL
HAI HAI HAI HAI!
SCHLÄGE, DIE MAN EINSTECKEN MUSS
DER WOLF KOMMT!
WER IST DER KÖNIG?
BLUTSBRÜDER
EIN RIESIGES KOHLPECHRABENSCHWARZES M
DIE ÜBELSTE FLEISCHWUNDE!
ERSCHÜTTERTES GEHIRN
DER SCHLECHTESTE JONGLEUR DER WELT
COOL IM ALTERSHEIM
AUF EWIG IN MEIN GEHIRN GERITZT
EIN BISSCHEN BLÖD IM KOPF
JASMINE RULES THE WORLD!
DIE KÜRZESTE PARTY DER WELT
EINE PFÜTZE AUS HELLGRÜN UND ROSA
DAS SCHWERE IN DER BRUST
EINE GLITZERNDE SPUR
KEIN SUPERHELD
EIN SCHMERZENDER BLAUER FLECK
THE RETURN
WAS IST WAHR?
NIE WIEDER AUFSTEHEN
AM ENDE
DANKE!
Wenn ich das linke Auge zumachte, wurden alle Farben kräftiger. Die Felder, an denen wir vorbeifuhren, wurden gelber, der Himmel blauer und das Gras mehr grasgrün. Dann machte ich das rechte Auge zu. Yes. Alle Farben waren plötzlich ein wenig blasser, wässriger, trister. Wie auf einem alten Zeitungsausschnitt, der zu lange am Kühlschrank gehangen hat.
Ich probierte es noch einmal. Linkes Auge zu. Rechtes Auge zu. Kräftig! Blass. Welches Auge hatte wohl recht? Welches Auge zeigte die Welt so, wie sie war? War die Welt so kräftig und intensiv? Oder war sie so blass und trist? Vielleicht irgendwas in der Mitte.
»Was machst du, Måns?«, fragte Mama, die mich offensichtlich schon eine Weile beobachtet hatte.
»Nichts Besonderes.«
»Du wirst doch wohl keine Brille brauchen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Woher sollte ich das wissen?
Sie faltete die Hände, als würde sie beten, und sah zur Decke des Zuges hinauf, wo mein Skateboard und unsere riesigen schwarzen Sporttaschen aus dem Gepäckfach ragten.
»Oh, Jesus, hoffentlich hat er keinen Sehfehler!«
Mama glaubt nicht einmal an Gott. Trotzdem macht sie das manchmal. Beten. Hauptsächlich, wenn sie Angst hat, dass irgendwas zu teuer wird. »Es ist nicht so, dass wir in Geld SCHWIMMEN«, pflegt sie immer zu sagen. Eine andere Sache, die sie auch oft sagt, ist: »Das Geld REGNET ja nicht gerade vom Himmel.« Eine dritte Sache, die sie auch schon mal sagt, ist: »Es ist ja nicht so, dass ich GOLD mit dem Tafelmesser SCHNITZE.« Ich weiß nicht mal, was ein Tafelmesser ist. Ein Messer, mit dem man Sachen in die Tafel ritzt?
»Wie, Sehfehler?«, fragte ich.
»Na ja, wenn man nicht so gut sehen kann. Ich hoffe wirklich, dass du das nicht hast! Eine Brille ist so teuer. Und außerdem ist es anstrengend. Du weißt schon. Die Leute hänseln einen.«
»Wie, hänseln? Haben sie dich gehänselt, als du klein warst?«
»Ja!«
Mama sah mich mit zusammengekniffenen Augen an und zischte:
»Brillenschlange!«
Ich zog die Augenbrauen hoch.
»Echt jetzt? Haben die Leute das gesagt? Hedwig in meiner Klasse hat eine Brille, und alle finden, sie sieht cool aus damit. Komisch sieht sie eigentlich nur aus, wenn sie die Brille NICHT aufhat.«
Mama sah aus, als würde sie darüber nachdenken.
Ich schaute aus dem Fenster und dachte, dass sie einfach nicht kapierte, was für ein Glück sie hatte, dass sie nur wegen ihrer Brille gehänselt worden war. Da wusste ich Sachen, die schlimmer waren.
Mama holte unsere Pässe aus der Tasche.
»Warum hast du denn die PÄSSE dabei? Malmö ist doch kein Ausland.«
»Wer weiß? Vielleicht ist uns danach, mal ein Wochenende nach Kopenhagen zu fahren. Oder nach Berlin!«
»Du weißt, dass ich dieses Foto hasse.«
»Niemand mag sein Passfoto. Sieh dir bloß meins an!«
Sie zeigte ihr Passfoto und machte das Bild nach, wobei sie natürlich enorm übertrieb. Riss die Augen auf und verzog den Mund zu einem schmalen Strich, sodass sie aussah, als hätte sie Todesangst. Na klar. Vielleicht sah sie auf ihrem Foto ein bisschen blöd aus, aber ich HASSTE meines.
Ein Mann im Anzug ging den Gang herunter. Er sah Mama an.
»Bin ich peinlich?«, flüsterte sie und schob die Pässe zurück in die Tasche.
»Ziemlich. Übrigens, Mama, was ist da so gelb?«
»Das sind Rapsfelder. Die sind schön, oder? Es gibt nichts, was so schön ist wie die Rapsfelder in Skåne.«
Ich machte das linke Auge zu, sah Mama mit dem rechten an, und alle Farben leuchteten. Ihre Augen strahlten grün-blau und die langen blonden Haare lockten sich an der einen Schläfe. Sie lächelte mich an und machte auch das eine Auge zu.
»Ja, das bist tatsächlich du!«
Ich erwiderte das Lächeln. Sah aus dem Fenster, wo mein Spiegelbild schwach zu erkennen war. Rapsfelder. Ich weiß nicht, ob ich jemals etwas so Gelbes gesehen hatte.
Mama hat den komischsten Job der Welt. Sie ist nicht Lehrerin oder Krankenschwester oder Busfahrerin wie andere Mütter. Sie macht Stimmen. Für gezeichnete alte Opas. Und alte Omas. In Filmen. Animierten Filmen. Erst macht man also den Film selbst, zeichnet ihn und animiert ihn am Computer und all das. Und dann muss Mama eine lustige Stimme für eine Figur erfinden. Sie kann ihre Stimme total krass verändern, kann wie eine gestresste Hummel klingen und wie ein erkälteter Bär und wie eine richtig miesepetrige, superalte Tante.
Wegen so einer Stimmenaufnahme waren wir mitten in der schlimmsten Junihitze nach Skåne gereist, was das unterste Südschweden ist. Und deshalb standen wir jetzt mit zwei riesigen schwarzen Taschen auf dem Bahnsteig in Malmö, quasi der Hauptstadt von Skåne, und versuchten zu kapieren, wo wir hinmussten. Mama fummelte aufgeregt mit ihrem Telefon, sie sollte einen Typen anrufen, der Flemming hieß und ein Freund aus der Zeit war, als sie Pantomimen-Theater gespielt hat. Ihr wisst schon, so ein Theater, wo man das Gesicht weiß geschminkt hat und nicht spricht, sondern irgendwie mit den Händen zeigt, dass man in einem Glaskasten eingesperrt ist, und dazu die Augen weit aufreißt. Echt. Am liebsten möchte ich nicht darüber reden.
Ich sah mich um. Das Dach war weiß und fast ebenso hoch wie der Himmel und wurde mithilfe von riesigen roten Stahlträgern gehalten. Auf einem Schild stand mit schwarzen Buchstaben auf weißem Grund MALMÖ. In mir kribbelte eine Art blubbernde Vorfreude. Hier wusste niemand was von mir. Hier konnte ich genau der sein, der ich war. Ich stellte die Sporttasche auf den Boden und setzte mich auf mein Board. Rollte ein bisschen vor und zurück.
»Måns, musst du auf dem Skateboard sitzen? Das stresst mich total, wenn du so nah an der Kante entlangrollst!«
Ich lächelte, und um sie zu ärgern, rollte ich noch näher an den Rand des Bahnsteigs.
»Hör auf! Ich nehme es dir weg, Måns! Ich meine es ernst!«
»Ist ja auch sehr wahrscheinlich, dass ich hier runterfahre! Was glaubst du eigentlich, wie blöd ich bin?«
Ich verdrehte die Augen. Aber da ich nichts riskieren wollte, rollte ich zurück.
Es roch hier anders und die Leute sahen ein bisschen anders aus, es war aber schwer zu sagen, inwiefern. Vielleicht waren sie ein wenig roter im Gesicht? Und dann war da noch der Dialekt, den sie hier in Südschweden sprachen. Ganz ehrlich, es war ein bisschen schwer mitzukriegen, was sie redeten.
Jedenfalls. Mama würde vier Wochen lang die Stimme zu einem Mädchen in einer gezeichneten Fernsehserie machen. Das klingt vielleicht lustig, aber das kann ich nicht bestätigen. Ich hatte mir die Serie ein wenig angeschaut, und sie war megalangweilig. Echt, ich meine wirklich schnarchlangweilig. Da passierte NICHTS. Wenn ich nichts sage, dann meine ich nicht, dass da nur super, superwenig passierte. Nein. Ich meine, dass absolut nichts passierte. Die Leute gingen hauptsächlich rum und aßen und redeten. Manchmal fuhren sie mit dem Auto. Einmal war da ein Typ, der loszog, um Strümpfe zu kaufen. Ihr hört es ja! SCHNAAARCH!
Obwohl sie gezeichnet war, handelte es sich um eine Erwachsenenserie. Ich begreife nicht, warum man nicht die Gelegenheit nutzt, die Leute fliegen zu lassen, ihnen eine schlanke Taille gibt oder sie aussehen lässt wie Monster, wenn sie schon nur gezeichnet sind. Da kann man schließlich machen, was man will!
Plötzlich fing Mama an zu winken.
»Da ist er! Da ist Flemming!«
Ich sah, wie ein mittelalter Mann die Rolltreppe runter- und auf uns zurannte. Brille, hellblaue flattrige Jeans. Ich erkannte ihn wirklich nicht, obwohl ich ihn schon sowohl im Film gesehen als auch in echt getroffen hatte. Aber das war natürlich mehrere Jahre her.
»Flemming, Flemming!«, kreischte Mama und hüpfte auf eine Weise auf und nieder, die ABSOLUT peinlich war, aber da ich in Malmö niemanden kannte, machte ich mir nicht die Mühe, ihr das zu sagen. Rollte einfach ein paar Meter weg, um eine Grenze zu setzen.
»Hai Schätz!«, rief Flemming. Das Malmöisch, das er redete, war wie eine völlig andere Sprache. Er umarmte meine Mutter lange, schlug ihr auf den Rücken und streichelte ihr den Kopf, als wäre sie ein Kind. Dann wandte er sich mir zu.
»Steh mal auf und sag Hallo«, forderte Mama mich auf.
Ich stand auf.
»Nein, aber das ist doch nicht M …«, er zögerte. Und irgendetwas in seinem Zögern ließ meinen ganzen Körper sich anspannen.
»Måns«, sagte Mama rasch.
»Ja, Måns«, echote Flemming. »Weiß ich doch!«
Flemming sollte uns die Wohnung zeigen, in der wir wohnen würden, also gingen wir zusammen vom Bahnhof zu etwas, was »Möllan«, also »Die Mühle«, genannt wurde, aber eigentlich »Möllevången« hieß. Hallo? Tschuldigung mal, alle Malmöer, aber MÜHLENACKER? War das wirklich der beste Name, der euch eingefallen ist?
Wir latschten und latschten so ungefähr hundert Jahre. Oder: Ich fuhr auf dem Board, obwohl die Tasche meine Schulter so weit runterzog, dass ich nichts anderes tun konnte, als langsam vorwärtszurollen. Wir kamen an Kanälen und Plätzen und Cafés und Geschäften vorbei. Mama und Flemming redeten die ganze Zeit, und er schleppte ihre Tasche, obwohl Mama locker sowohl größer als auch stärker aussah. Die ganze Zeit hatte er eine Zigarette im Mundwinkel, auf der er herumpaffte und die wippte, wenn er sprach.
Sie redeten über die Zeit, in der sie in Europa herumgefahren waren und Theater und Pantomime gespielt hatten. Berlin, Kopenhagen, Paris. Wie gesagt, ich habe die Filme von einigen der Stücke gesehen. Der schlimmste ist einer, wo Mama keine Kleider anhat. Nicht einmal eine Unterhose. (Ich falle vor Scham fast in Ohnmacht, wenn ich nur daran denke.) Sie ist einfach nur am ganzen Körper schwarz angestrichen und im Gesicht weiß. Leider ist der Film auf YouTube. Flemming war wenigstens vernünftig genug, sich ein paar Boxershorts anzuziehen, ist aber am ganzen Leib blau angemalt. Also KNALLBLAU. Wie ein Schlumpf. Keiner weiß, warum. Der Film hat über 18.000 Klicks. Ich weiß, das ist total wenig, wenn man bedenkt, dass manche Videos an die eine Milliarde Klicks haben. Aber trotzdem: 18.000 Menschen haben also meine Mutter gesehen, wie sie versucht, eine Treppe runterzugehen, die es nicht gibt, und mit einem Lasso, das es nicht gibt, einen Stier zu fangen, den es nicht gibt, und in einen Käfig gesperrt wird, den es nicht gibt. Mitten in Paris. Nackt.
Manchmal sagte Flemming etwas zu mir, und ich nickte und machte ein fröhliches Gesicht, denn was soll man sonst machen, wenn jemand so fantastisch undeutlich spricht? Hoffentlich hatte er nicht gesagt: »Das wird ja wohl okay sein, zusammen mit zwanzig Kreuzottern in einem lehmigen Loch in der Erde zu wohnen, was?« Oder: »Ist es okay, wenn du mein kleiner Sklave wirst?« In dem Fall hätte ich nämlich ein echtes Problem. Zum Glück stellte sich heraus, dass Flemming zumindest schon mal aus DÄNEMARK war und nicht aus Skåne, auch wenn er mit seiner Tochter zusammen hier lebte. Das erklärte einiges, denn deshalb war er noch weniger zu verstehen als alle anderen. Und dann würde ich mich mit den Menschen hier in Malmö vielleicht ja doch verständigen können.
Die Wohnung lag auf der Admiralsgatan in einem hellgelben Haus. Es gab keinen Fahrstuhl, weshalb wir unsere Taschen drei Treppen raufschleifen mussten. Flemming keuchte wie ein verwundeter Seehund. Mama zog ihn damit auf, dass er so eine miese Kondition hatte. Sie meinte, das käme davon, dass er zu viel raucht. »Däs ist es wärd!«, gab Flemming halbdänisch zurück.
Die Wohnung hatte eine grüne Decke und vielleicht das kleinste Klo der Welt. Ich fragte mich, ob Papa da überhaupt reinkommen würde. Er ist noch größer als Mama, fast zwei Meter, und auch recht breit. (Mein Kumpel Oliver nennt meine Eltern Ghasts, das ist eine Art großes Monster in Minecraft, das Feuerbälle versprühen kann. Oliver ist BESESSEN von Minecraft.) Papa würde so ungefähr in einer Woche auch mal nach Malmö kommen. Das schien noch nicht ganz klar zu sein.
Die Dusche hatte einen eigenen kleinen Raum mit ein paar viereckigen kleinen Milchglasscheiben, sodass man in den Flur raussehen konnte. Man hatte also den Eingang unter Kontrolle, während man sauber wurde. Praktisch!
Mama sah so fröhlich aus. Sie lief herum und lächelte und streichelte irgendwie die Wände, was vielleicht ein bisschen übertrieben war.
»Måns, die Wohnung ist doch superschön! Findest du nicht? Sie ist ja nicht so groß, aber … schön!«
Sie war schön, definitiv. In der Diele hatte der Fußboden genauso wie zu Hause in unserer Küche ein Schachbrettmuster, ansonsten war überall Holzfußboden. Dann ein kleines Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, das zur Küche hin offen war. An der Wand über dem Küchentisch hing ein einziges RIESIGES Bild, das einen fetten Spatz darstellte, der tot aussah. Das war nun ziemlich hässlich, wenn man mich fragt.
Flemming zeigte aus dem Küchenfenster und sagte etwas zu mir, und ich lächelte und nickte, obwohl ich nichts verstand, aber diesmal übersetzte Mama.
»Flemming sagt, da unten gibt es einen Innenhof, Måns, willst du dir den nicht mal ansehen? Wir werden hier noch all das Praktische mit Miete, Vertrag und so regeln. Wäre doch ein bisschen öde für dich, hierzusitzen und zuzuhören.«
Ich seufzte. Ein Innenhof. Dachte sie, ich sei fünf Jahre alt, oder was?
»Wir beeilen uns. Nimm das Skateboard mit!«
Mama sah flehend aus. Ich zuckte mit den Schultern, nahm das Board und ging raus. Ich nehme an, dass sie über noch ein paar andere Sachen als nur die Wohnung reden würde, und da wollte ich nun wirklich nicht zuhören.
Ich ging die drei Treppen runter und erkannte dann, dass ich noch eine weitere halbe Treppe tiefer gehen musste, um auf den Innenhof rauszukommen. Ganz unten im Treppenhaus war es dunkel. Nur ein bisschen Licht sickerte durch ein schmutziges, halbmondförmiges Fenster ganz oben in der Tür. Ich öffnete die Tür, die schwer und träge war, und plötzlich stach mir das Sonnenlicht in die Augen. Also drehte ich mich um. Die halbe Treppe war ja perfekt! Ich zählte vier Treppenstufen. Das könnte gehen. Ich stellte die Tür mit einem Türstopper aus Metall fest, den ich auf dem Boden fand. Dann ging ich wieder die halbe Treppe hinauf und stellte mich auf das Board. Nahm Anlauf und hüpfte die vier Treppenstufen herunter und geradewegs durch die Tür. Mitten in der Luft musste ich abspringen, und das Board schoss wie eine Rakete quer über den Rasen.
Papa kann es nicht leiden, wenn ich Treppen und solche Sachen runterfahre. Vor allen Dingen ohne Helm. Er glaubt, ich könnte dabei sterben. Okay, na klar, eines Tages werden wir alle sterben, wie Oma immer sagt, aber ich wäre doch extrem erstaunt, wenn ich es tun würde, nur weil ich ab und zu mal eine Treppenstufe runterfahre.
Die Tür hinter mir glitt sachte zu und der Metallstopper kratzte über den Kies. Ich ging zurück, um sie wieder ordentlich festzustellen, doch als ich den Stopper mit dem Fuß weggeschoben hatte, knallte die Tür zu, ohne dass ich sie aufhalten konnte. Ich probierte die Klinke. TYPISCH! Die schien sich verrammelt zu haben. Na ja. Mama würde schon nach einer Weile merken, dass ich fehlte.
Ich sah mich nach dem Board um, doch das musste ein gutes Stück weggerollt sein. Plötzlich plingte das Telefon. Das war Oliver. Er schrieb: »Ich habe soeben einen Desert Temple gefunden!!!«
Ich schrieb zurück: »Was? Einen Tempel mit Desserts?«
Er: »Bist du blöd? Einen Wüstentempel! In Minecraft.« Und dann plingte es wieder: »Also, die sind superungewöhnlich!«
Ich kapierte irgendwie gar nichts, aber das klang ja auf jeden Fall cool mit einem Wüstentempel, also schrieb ich: »Aha, shit, wie cool!« Oliver ist wirklich nett und auf eine Art mein bester Freund und so, aber wir haben ziemlich unterschiedliche Interessen.
Der Hof war wie ein riesiges Rechteck, komplett umringt von gelben dreistöckigen Häusern. Als würde ich mich auf der Innenseite einer Festung befinden. Ich zählte fünf grüne Bäume, und es gab einen kleinen Minispielplatz mit zwei Schaukeln, einem Sandkasten voller bunter Eimer, Schaufeln und Plastikspielzeug und eine hellgelbe Rutsche, die wie ein Elefant aussah – die Rutsche selbst war der Rüssel. Ein kurzer Asphaltweg führte zu einem Tisch und ein paar Bänken, die türkisfarben angestrichen waren. Mama würde hier frühstücken wollen, da war ich sicher. Sie ist besessen davon, draußen zu essen.
Einmal haben wir im Orkan auf einer Wiese gepicknickt. Mamas Haare standen wie eine Flagge von der Seite ihres Kopfes ab. Sie sagte, oder nein, sie musste schreien, weil es so windig war:
»Es gibt kein schlechtes WETTER, es gibt nur schlechte KLEIDUNG!«