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Sashas Mutter brachte Leute zum Weinen. Sie tut es immer noch, obwohl sie gar nicht mehr lebt. Deshalb hat Sasha kurz vor ihrem 12. Geburtstag eine Liste gemacht. Um nicht zu werden wie ihre Mutter, muss sie sieben Dinge tun. Wenn ihr das gelingt, verschwindet das andere vielleicht, das was hinter den Augen quillt und brennt und droht die Wangen herabzufließen. Als Sasha schließlich einen ganzen Saal zum Lachen gebracht hat, holen die Tränen sie ein. Doch sie sind heilsam. Und Sasha lernt, dass sie sich nicht gegen ihre Mutter wenden muss. Wenn sie am Ende ihren Cocker-Spaniel-Welpen in den Armen hält, braucht sie keine Liste mehr, um zu überleben. Jenny Jägerfeld zeigt, wie wichtig es ist, miteinander zu reden, wenn wir Schweres durchmachen. Und sie hat die seltene Gabe, mit spritzigem Humor und Wärme über das Allerschwerste zu schreiben.
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Seitenzahl: 224
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Jenny Jägerfeld
Aus dem Schwedischenvon Birgitta Kicherer
Meiner geliebten Mamaund meinem geliebten Papa
KOMISCHE KNOCHEN
WIE VON EINEM CLOWN ENTWORFEN
DIE KUNST, EIN KANINCHEN ZU STREICHELN
DIE LISTE
SKALPIERT VON EINER METALLIC-ROTEN WURST
UNFREIWILLIG EINMALIG
WASA SPORTKNÄCKE KRACHT AM LAUTESTEN
MAN WIRD SICH DOCH ÄNDERN KÖNNEN!
FRÖHLICH UND NORMAL
EIN GRAUES RECHTECK
EIN VERWICKELTES ENTWICKLUNGSGESPRÄCH
HARRY POTTER HAT SICH NICHT BESCHWERT
EIN KNUSPRIGES ERDKRUSTENBROT
AUF BESCHLAGENES GLAS GESCHRIEBEN
IN TIROLERHUT UND BADEHOSE SOLLTE MAN LIEBER NICHT FLIEGEN
ICH WERD DIR ZEIGEN, WEM ES HIER DEN SENDER RAUSHAUT
AUFHEBEN, WEGWERFEN, VERSCHENKEN
VIEL SCHWEINISCHER ALS DIE SCHWEINE IM PARK
SAUER UND UNNORMAL
FALSCH, FALSCH, FALSCH
SESSEN VOM DOIFI
EINE LIMETTE, SCHLAU IM BADEANZUG VERSTECKT
DIE TRÄNEN
EIN VERGESSENER DORN
DAS DUNKLE INNENLEBEN VON DARTH VADER
DON’T TELL ME TO SMILE
TAKE ME HOME
WELPENATTACKE DIREKT AUFS HERZ
TOFFEE
ICH LIEBE DICH ZUM MOND UND ZURÜCK
Nachwort
Meine Mama hat mal gesagt, es gibt Menschen, die haben »funny bones«. Übersetzt heißt das ungefähr »komische Knochen«. Ich stelle mir das so vor: Das sind Leute, die sind irgendwie durch und durch komisch, bis ins Skelett – also sozusagen von Komik aufgebaut. Mama sagte, diese Leute seien schon komisch auf die Welt gekommen. So eine Person kann den miesesten Witz erzählen, und trotzdem lachen sich alle schlapp. Oder, es muss nicht einmal ein Witz sein. So jemand kann einfach sagen »Reichst du mir mal die Milch?«, und schon müssen alle loskichern, weil das so ulkig rüberkommt.
Dann ist da die andere Sorte, sagte Mama. Die können lernen, komisch zu sein. Sie sammeln Witze und lernen, wie ein Witz aufgebaut ist, und dann üben sie und üben und üben. Und durch das viele Üben merken sie, was die anderen zum Lachen bringt, und daraus machen sie dann etwas.
Schließlich gibt es eine dritte Sorte Menschen, die sind überhaupt nicht komisch, und wenn sie es noch so sehr versuchen. (Ich habe den Verdacht, meine Lehrerin Cecilia gehört in diese Kategorie.)
Ich hätte unheimlich gern komische Knochen. Ich möchte eine von denen sein, die witzig sind, ohne sich anzustrengen, eine, die sich einfach ins Klassenzimmer stellt und sagt: »Also, mein Papa ist gestern mit mir ins Kunstmuseum gegangen, und das war ungefähr so spannend wie Nasepopeln.«
Und Cecilia und die ganze Klasse: »AAAHAHAHAHAHAH!«
Sie brechen zusammen und halten sich den Bauch, weil sie vor Lachen Bauchweh kriegen. Zwischen den Lachanfällen stöhnen sie:
»Sasha, hör auf … wir können nicht mehr!«
Aber eigentlich wollen sie, dass ich weitermache, und das tu ich dann auch, ich mache weiter und werde von ihrem Lachen kein bisschen angesteckt, sondern sage nur mit unbewegter Miene: »Und da standen wir dann vor einem Bild, das sah aus, als hätte jemand eine Farbdose über die Leinwand geschüttet oder auf dem Weg zum Klo einen Farbeimer umgekickt! Aber mein Papa erklärt mit ernster Stimme: ›Was der Künstler uns hier mitteilen will, ist, wie sehr er mit dem Menschsein ringt.‹ Und ich dann: ›Ehrlich? Sieht mehr danach aus, als würde er damit ringen, KÜNSTLER zu sein.‹
Und BUUUMM!
Alle explodieren vor Lachen, sie fallen vom Stuhl, Cecilia auch, sie können nicht mehr reden, sie wälzen sich auf dem Boden und brüllen hysterisch.
Leider habe ich den Verdacht, dass meine Knochen nicht unbedingt superkomisch sind, dass ich also vermutlich nicht komisch auf die Welt gekommen bin. Positiv gesehen, gehöre ich auch nicht zur dritten Sorte, die kein bisschen komisch ist. Jedenfalls wird immer mal wieder über Sachen gelacht, die ich sage. (Ab jetzt werde ich notieren, worüber genau.) Wahrscheinlich gehöre ich zur zweiten Sorte. Die Sorte, die es trotz allem lernen kann.
Aber ich will UNBEDINGT funny bones haben. Und das WERDE ich auch schaffen. Das müsste doch klappen, obwohl ich nicht damit auf die Welt gekommen bin. Mein Plan ist, meine halb langweiligen Knochen gegen komische auszutauschen, einen nach dem anderen! Eins ist jedenfalls sicher – ich bin zielstrebig. Papa behauptet zwar, ich sei in die falsche Richtung zielstrebig. Dass ich also das falsche Ziel habe. Dass ich mehr Zeit in die Schule stecken sollte. Genau in diesem Augenblick wandert er beispielsweise in der Küche umher und grummelt etwas darüber, dass ich nicht genug über die Erdkruste und den innersten Kern der Erde lerne. Tut mir leid, aber das kommt mir nicht besonders wichtig vor. Ich kann mir jedenfalls keine Situation vorstellen, wo mein Leben absolut davon abhängt, dass ich etwas über die einzelnen Schichten der Erdkruste weiß. Und wenn, dann: Halloo?! Google!
Dagegen hängt mein Leben tatsächlich davon ab, dass es mir gelingt, funny bones zu bekommen. Das ist nicht mal übertrieben. Das ist wahr. Ohne werde ich nicht überleben.
Cecilia steht vorne am Pult und redet über die Erdkruste. Ihre Stimme klingt, als wäre sie selbst total GESCHOCKT, weil das, worüber sie spricht, so irre interessant ist.
»Die Erdkruste ist zwischen 5 und 70 Kilometer dick!«
Auf der weißen Leinwand neben ihr leuchtet der Querschnitt einer Erdkugel. In der Mitte eine Art weißer Kern, dann ein paar leuchtende Schichten in Orange und Rot. Ganz oben die Erdkruste. Auf diesem Bild sieht die Erde ziemlich unseriös aus. Wie ein bunter Flummi. Ein bisschen gruselig, wenn man sich vorstellt, dass wir auf einem Planeten leben, der aussieht, als hätte irgendein Clown ihn entworfen. Ich versuche mir einen Witz auszudenken: »Hey, das würde jetzt schmecken – ein Glas Saft und dazu ein knuspriges Erdkrustenbrot mit Butter!«
Hm. Geht so. Etwas mit BLUTkruste wäre vielleicht witziger? Aber dann würden sie nur »Würg! Voll eklig!« sagen, und man will ja nicht unbedingt jemand sein, zu dem man »voll eklig« sagt.
Neben mir sitzt Märta und malt etwas auf den Zettel, den wir von Cecilia bekommen haben. Märta wird von allen außer mir »Metti« genannt. Sogar Cecilia nennt sie so. Aber für mich ist sie Märta, weil ich das schöner finde. Märta ist superlieb und hat das größte Herz von allen, die ich kenne. Ich beuge mich zu Märta rüber, weil ich sehen will, was sie malt, dabei kitzeln ihre blonden Locken mich an der Wange. Sie hat aus der Erdkugel ein Männlein mit Hut und Schnauzbart gemacht. Es hat einen Mantel an und eine dieser Brillen für Einäugige auf, die an einer dünnen Kette hängen. Wie heißt das noch mal? Molekül? Moloch? Monokel? Mein Onkel? So ähnlich ungefähr. Aus dem Mund des Männleins kommt eine Sprechblase: »Ich bin das Erdmännchen und hab meinen warmen Erdmantel an, weil es draußen so kalt ist.« Ich lächle Märta an, denn das ist ja ziemlich witzig. Sie kichert leise als Antwort. Wenn Märta kichert, klingt das, als würde ein kleines Kind gekitzelt. Total niedlich. Ich flüstere ihr zu:
»Mir ist eben was eingefallen!«
»Oh! Was denn?«, flüstert Märta zurück.
»Ich werd Komikerin! Stand-up-Komikerin!«
Bevor Märta antworten kann, steht Cecilia plötzlich vor uns.
»Ist euch das klar, Sasha Rein und Metti Sköld?«
Wir schauen zu ihr hoch. Sie legt eine Kunstpause ein.
»An manchen Stellen sind es demnach nur FÜNF KILOMETER zwischen unseren Füßen und dem, was man den Erdmantel nennt!«, sagt Cecilia und sieht uns mit großen runden Augen und offenem Mund an, wie die Moderatorin einer Kindersendung. »Wie viele Kilometer, Sasha und Metti?«
»Fünf Kilometer«, antworten wir brav im Chor.
An und für sich ist eine Lehrerin, die sich engagiert, ja echt gut. Bosse, den wir in der Vierten hatten, saß meistens nur da und fummelte an seinem Handy herum. Bosses Vorstellung von Unterricht war, einen Film über irgendein beliebiges Thema laufen zu lassen, dann aus dem Zimmer zu schleichen, um »ein paar Unterlagen zu holen«, und erst wieder aufzutauchen, wenn die Stunde um war. Letzten Herbst wurde Bosse krankgeschrieben, und dann bekamen wir Cecilia. Ich mag Cecilia. Manche in der Klasse (das heißt Tyra) stören sich daran, dass Cecilia immer die gleichen Klamotten anhat. Weißes oder graues T-Shirt. Blaue Jeans, die viel zu tight sind, wie manche (das heißt Tyra) finden. Ein typischer Tyra-Kommentar, geäußert, während sie mit offenem Mund Kaugummi kaut und zwanghaft an ihren langen braunen Haaren herumzwirbelt: »Also, ehrlich, Leute! Wie schwer kann es sein, eine Jeans in der richtigen Größe zu kaufen? Aber vielleicht findet sie es ja sexy, wenn der Speck über den Hosenbund quillt?«
Bitte, wen interessiert das schon, was für Jeans Cecilia anhat? Sie unterrichtet doch nicht mit dem Hintern?
Tyra ist meine Klassenkameradin, aber das ist ein idiotisches Wort, sie ist nämlich alles andere als meine Kameradin. Ich weiß, dass viele das gleiche Problem haben. Wie soll man es dann nennen? Klassenfeindin? Na ja, ein bisschen zu stark. Ein neutrales Wort wäre besser! Klassenmensch? Klassenwesen? Klassenperson? Tyra ist meine Klassenperson. Nicht gerade genial, muss aber genügen.
Jedenfalls. Papa meint, Cecilia sei »patent«. Und sie schafft es tatsächlich, für Ruhe zu sorgen. Das war nicht unbedingt Bosses Stärke, sagen wir mal so.
Jetzt klatscht Cecilia mit dem Stock an die weiße Leinwand, dass die ganze Erdkugel schwabbelt. Nisse zuckt zusammen.
»Wisst ihr, wie weit fünf Kilometer sind?«
Sie wartet nicht, bis jemand antwortet.
»Also, fünf Kilometer, FÜNFTAUSEND METER, das ist so weit wie von hier nach FRUÄNGEN ungefähr!«
Mir ist nicht ganz klar, wo Fruängen liegt, aber von mir aus. Meine Klassenkameraden, oder vielmehr Klassenpersonen, starren Cecilia wie hypnotisiert an. So eine Wirkung hat Cecilia auf manche Leute.
»Der Erdmantel ist VIELE TAUSEND Grad warm! Stellt euch das mal vor – hier, nur ein Stück unter unseren Füßen, gibt es eine viele tausend Grad heiße flüssige Masse!«
Cecilia stampft mit ihrem Croc auf den Boden, worauf wir alle wie gebannt auf den beigefarbenen Plastikboden starren.
»WIE viele Grad, Nisse?«
Sie richtet den Zeigestock auf Nisse. Dabei sieht sie aus wie ein Fechter, der einen Gegner zum Duell herausfordert. Nur dass Nisse keinen Degen hat. Und auch keine Antwort, wie es scheint.
»Äh … unheimlich viele?«, sagt er unsicher.
»Ja! Viele TAUSEND, ehrlich gesagt!«
Als Cecilia sich für einen kurzen Augenblick der Erdkugel zuwendet, schiebt Märta mir einen Zettel rüber, auf den sie ein lachendes Smiley gemalt hat. »Du wirst eine Superkomikerin!«, hat sie daruntergeschrieben.
Das freut mich. Und ich hoffe, sie hat recht.
Dann klinke ich mich aus. Gucke den Baum vor dem Fenster an. Kahle, dünne Äste, von einer leichten Schneeschicht bedeckt. Ich habe wichtigere Dinge, über die ich nachdenken muss, als irgendwelche albernen Erdkrusten. Wenn ich funny bones entwickeln will, muss ich mich konzentrieren. Hart und gezielt arbeiten. Zum Beispiel – die Frage, was ist eigentlich komisch? Eine Möglichkeit, Witze zu erfinden, könnte sein, verschiedene komische Themen aufzuschreiben, über die man dann frei herumgrübeln kann.
Ich starre auf das Papier mit dem Erdquerschnitt. Drehe es um. Schreibe:
Zum Beispiel hat Märta mich einmal gefragt, warum manche Typen sich diese riesigen Hamsterbärte wachsen lassen. Ich so: »Häh? Was?«, und dann hat sich herausgestellt, dass sie HIPSTER-Bärte meinte.
Wenn die Kopfhörer sich verheddern.
Leute, die beim Filmgucken ununterbrochen labern: »Wer ist der da? Was macht die? Wohin gehen die jetzt?« Ich dann: »Oh Mann! Konzentrier dich auf den Film, dann wirst du’s schon checken!«
Alles, was alle Menschen in allen sozialen Medien machen. Wenn sie zum Beispiel supergeile Bilder von sich selbst posten und dazu schreiben, wie unmöglich sie darauf aussehen, nur um Komplimente zu angeln (Tyra). Oder wenn sie #total#unlogische#Sachen#hashtaggen. Oder wenn sie als deep status schreiben: »Bin so traurig. Niemand würde es verstehen … das hier garantiert nicht.« Und man antwortet: »Shit, was ist denn los?« Und dann kommt: »Nein, es ist nichts. Ich will nicht darüber reden.« AHA! DANN LASS ES DOCH BITTE!
(Darum hab ich mich bei SÄMTLICHEN sozialen Medien abgemeldet. Das heißt, bis auf Youtube. Ich muss immerhin Stand-up-Clips checken.)
Wenn Papa ins Zimmer kommt und irgendwas verkündet und man sagt: »Okay, okay, alles klar«, und wenn er dann rausgeht, macht er die Tür nicht zu und ich muss hinter ihm herschreien: »Mach die Tür zu!«, und dann kommt er zurück und SCHIEBT die Tür nur zu, ohne sie zuzumachen, und man kann bloß noch stöhnen: »OOOOH, Mann! Was hab ich gerade gesagt?«
Wenn Mama sauer ist –
Ich höre mitten im Satz auf. Nehme den Stift vom Papier. Ich hatte nämlich vorgehabt zu schreiben; »Wenn Mama sauer ist und will, dass ich mit ihr Deutsch spreche, und mir keine Antwort gibt, wenn ich das nicht mache.«
Das wollte ich schreiben. Aber ich tu es nicht. Weil mich das nicht mehr zu nerven braucht. Wie sehr wünschte ich, dass sie mich wieder damit nerven könnte. Das wünsche ich so sehr, dass mir das Herz fast bricht. Ich würde von früh bis spät Deutsch sprechen. Obwohl ich darin so eine Niete bin. Ich würde nie etwas anderes tun, wenn ich sie dadurch wiederbekäme. Ich würde immer Deutsch sprechen.
Für kurze Momente vergesse ich, dass sie tot ist. So wie jetzt. Die paar Sekunden, die es gebraucht hat, um »Wenn Mama sauer ist« zu schreiben.
Klar ist es gut, dass ich nicht andauernd an sie denke. Aber wenn es mir dann einfällt, öffnet sich das Dunkel in meiner Brust. Das Dunkel, das wie ein Loch ohne Boden ist und sich endlos in alle Richtungen ausdehnt. Es ist, als würden Stücke meines Herzens in das Loch fallen. Sie fallen runter und verschwinden. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals wiederfinden werde. Ob das Herz jemals wieder ganz werden kann. Ich radiere die Worte aus. Ich radiere »Wenn Mama sauer ist« aus. Radiere so fest, dass ein Loch im Papier entsteht.
Ich gehe durch den Aspudden-Park nach Hause. Sonst gehen Märta und ich immer zusammen, aber dienstags hat sie Banjo-Unterricht, believe it or not. Von allen Instrumenten im ganzen Universum wählt sie BANJO. Aber was weiß ich schon darüber? Einmal hat sie gesagt, sie liebt ihr Banjo mehr als ihren kleinen Bruder. Das glaube ich allerdings nicht so ganz. Das war nach dem BANJOTRAUMA, wie sie es nennt, als ihr Bruder das ganze Banjo mit Erdnussbutter vollgeschmiert hat. Ich könnte mir vorstellen, dass sie das ein bisschen beeinflusst hat. Seither nennt sie ihn nur noch den Banjoschänder.
Sie bewahrt ihr Banjo in einer glänzend schwarzen Hülle mit goldfarbenen Verschlüssen auf. Die Hülle ist innen mit grünem Samt gefüttert. Garantiert liegt nicht einmal die Krone des Königs in einer prächtigeren Hülle.
Die Luft ist kalt und klar, die Sonne steht so tief, dass die weißgelben Strahlen mich blenden. Vereinzelt liegen noch große Schneeflecken zwischen den kahlen Bäumen. Immer wenn ich Zeit habe, besuche ich die Kaninchen im Park und sage ihnen Hallo. Wenn ich Tiere streicheln und mit ihnen spielen kann, werde ich jedes Mal ganz froh und ruhig, und mein Herz wird irgendwie weich. Okay, nicht mit ALLEN Tieren. Wahrscheinlich würde ich weder froh noch ruhig werden, wenn ich einen Alligator oder einen Giftskorpion streicheln würde, aber ich denke, ihr checkt, was ich meine.
Die Kaninchen wohnen in vier kleinen Gehegen mit je vier Kaninchen. Eins der Kaninchen ist unglaublich niedlich und verschmust, ich nenne es Cookie Dough, obwohl es eigentlich Pistazie heißt. Pistazienkerne sind ja grün, also weiß ich nicht so recht, was man sich dabei gedacht hat. Cookie Dough ist nicht grün. Nein, sie sieht aus wie sahniges Vanille-Eis, mit vereinzelten braunen Teigstücken darin. Außerdem ist sie total süß, weil sie zur Hälfte ein Widderkaninchen ist und zur Hälfte was anderes, und darum hängt eines ihrer Ohren herunter, wie bei einem Widder, und das andere ragt kerzengerade in die Luft! Ich kann mich mit Cookie Dough identifizieren, weil ich auch zur Hälfte Widder bin, sozusagen. Ich bin am zwanzigsten März nachts um drei Minuten vor zwölf auf die Welt gekommen, genau an der Grenze zwischen den Sternzeichen Fisch und Widder. Aber zum Glück habe ich weder Hängeohren noch Ohren, die in die Luft ragen, sondern ziemlich normale Menschenohren, meiner Meinung nach.
Als ich jetzt beim Gehege ankomme, sehe ich Cookie Dough sofort. Sie hockt zusammengekauert da und mümmelt an einem Strohhalm herum. Ihre dicken weißen Kaninchenbacken bewegen sich heftig. Bestimmt hat sie keinen Papa, der sie ermahnt, immer SCHÖÖN LAANGSAAM zu essen, wie gewisse andere Personen. (Damit meine ich mich selbst.) »Hallo, Cookie Dough!«, sage ich, und da hört sie auf zu kauen und guckt zu mir hoch. Und vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber jedes Mal, wenn ich sie Cookie Dough nenne, scheint sie irgendwie dankbar auszusehen. Es ist, als wollte sie sagen: »Endlich! Endlich jemand, der kapiert, dass ich nicht GRÜN bin!«
Ich klettere über den Zaun und gehe ungefähr einen halben Meter von ihr entfernt in die Hocke. Die anderen Kaninchen hüpfen nervös davon, sie aber bleibt da und knabbert weiter an ihrem Halm. Zentimeter für Zentimeter verschwindet er in ihrem Mund. Dann rümpft sie ihr hellrosa Näschen, hebt es in die Luft und schnuppert. Ich ziehe einen Handschuh aus und halte ihr vorsichtig meine Hand hin. Cookie Dough riecht daran, als wäre sie ein Hund. Dann streiche ich ihr behutsam über das kuchenteigfleckige Fell. Sie ist unvorstellbar weich. Weicher als das Innere von Märtas Banjohülle. Viele Leute wissen nicht, wie man sich verhalten soll, wenn man Kaninchen streichelt. Meistens erschrecken die Kaninchen und hüpfen davon. Der Trick besteht darin, dass man keine hastigen Bewegungen macht, sondern die Hand sehr, sehr vorsichtig nähert. Obwohl die Kaninchen selbst sich total heftig bewegen, schätzen sie es nämlich überhaupt nicht, wenn andere das tun. Langsam strecke ich mich nach noch einem Halm aus und halte ihn dann Cookie Dough hin.
»Komm her, mein Häschen«, sage ich.
Mit zwei niedlichen kleinen Hopsern kommt sie angehüpft, dabei fährt das Wattebausch-Schwänzchen in die Luft. Dann hockt sie sich neben mein Bein. Ich stütze mich mit der Hand ab und setze mich ganz, ganz langsam in den Schneidersitz. Ich spüre den kalten Boden durch meine Jeans, spüre die Schneeflecken und weiß, dass ich durchnässt sein werde, aber das ist mir egal. Cookie Dough liegt direkt neben meiner Wade und wärmt sie mit ihrem dicken kleinen Kaninchenkörper. Sie ist meine Freundin. Ihr habe ich Sachen erzählt, die ich nicht einmal Märta gesagt habe. Auch für das, was eine beste Freundin verstehen kann, gibt es Grenzen. An und für sich ist es höchst ungewiss, wie viel Cookie Dough eigentlich versteht. Aber im Zuhören ist sie absolute Weltmeisterin. Vielleicht weil sie so große, lange Ohren hat? Ich streichle sie, immer wieder, immer wieder. Papa sagt, es müsse angenehm sein, ein Tier zu sein, weil die weder über Dinge grübeln, die früher mal passiert sind, noch sich wegen der Zukunft Sorgen machen. Entschuldigung, aber WOHER will er das wissen? Cookie Dough hat vielleicht Mega-Ängste, weil ihr Kaninchenkumpel Hasel in letzter Zeit mehr mit Cashew zusammensteckt, und überlegt jetzt VERZWEIFELT, mit wem sie am Nachmittag herumhüpfen soll.
Cookie Doughs Mama hat früher auch im Aspudden-Park gewohnt, das hat mir einer erzählt, der hier arbeitet. Aber vor zwei Jahren lag sie eines Morgens plötzlich da, einfach mausetot. Niemand weiß so genau, woran sie gestorben ist. Sie war kerngesund und auch nicht besonders alt. Aber vermutlich hat irgendetwas sie zu Tode erschreckt, vielleicht ein Fuchs oder so. Der Fuchs hat ihr nicht einmal etwas getan, sie war nämlich gar nicht verletzt. Sie hat es einfach gesehen und ist so erschrocken, dass ihr Herz stehen blieb. Manchmal denke ich, dass Mama auch zu Tode erschreckt wurde. Allerdings nicht unbedingt von einem Fuchs. Eher vom Leben.
Ich spüre Cookie Doughs kleines Herz durch das Fell, spüre, wie unglaublich schnell es schlägt. Ich will, dass ihr Herz für immer schlagen soll. Dann flüstere ich ihr in das Ohr, das in die Luft ragt: »Meine süße, süße kleine Cookie. Versprich mir, dass du weiterlebst, bis wir uns nächstes Mal wiedersehen. Bitte, versprich mir das!«
Doch da hoppelt sie plötzlich davon, rüber zum Holzhäuschen, wo die anderen Kaninchen kauern.
Heftig stehe ich auf, da werden die Kaninchen unruhig und hüpfen in dem Häuschen über- und durcheinander.
»Aber das MUSST du versprechen! Das musst du!«
Cookie schaut nicht mal zu mir her, sondern kehrt mir den Hintern mit dem kleinen flauschigen Schwanzstummel zu. Sie scheint nicht der Meinung zu sein, dass sie irgendwas versprechen muss.
Ich schreibe mit dem Zeigefinger in den Schnee:
IST
Dann wische ich es mit der flachen Hand weg. Der Schnee liegt wieder glatt da. Ich schreibe:
ES
Wische es wieder weg, schreibe:
MEINE
Wische, schreibe:
SCHULD?
Ich wische alles weg und stehe auf. Gehe davon und schaue mich nicht um.
Meine Strategie ist einfach. Mama ist mit ihrem Leben gescheitert. Und gestorben. Dafür gibt es eine Menge Gründe. Mein Leben soll gelingen, das habe ich mir vorgenommen. Eine Möglichkeit, damit es gelingt, muss sein, nicht dieselben Sachen wie Mama zu machen. Aus ihren Irrtümern zu lernen und das Gegenteil zu machen. Darum habe ich eine Liste mit sieben wichtigen Punkten zusammengestellt, Lösungen für meine Probleme. Die Punkte hab ich mit winzig kleinen Minibuchstaben auf ein Blatt Papier geschrieben. Die Liste liegt in meinem großen Darth-Vader-Wecker, gut versteckt im Batteriefach.
Alle nerven mich damit, dass Mama und ich uns so ähnlich sehen. Sahen. Sahen, meine ich. Glauben die, das würde mich FREUEN, oder was? Mein Gesicht ändern, das ist natürlich ziemlich schwierig. Papa wäre wohl nicht unbedingt damit einverstanden, dass ich mir das Gesicht operieren lasse. Aber. Sowohl ich als auch Mama haben lange, braune Haare. Oder, ja, ja, klar, sie hatte. (Oje. Hatte, hatte! Ist das denn so schwer?)
1. Haare abschneiden.
Mama hat versucht, sich um ein Kind (mich) zu kümmern. Das ging total schief.
2. Versuch gar nicht erst,dich um etwas Lebendiges zu kümmern.
Mama hat unglaublich viele Bücher gelesen. Im Wohnzimmer und neben ihrem Bett lagen immer Berge von Büchern. Ist sie dadurch glücklicher geworden? Nein. Sie hat sich in das Elend anderer Menschen vergraben. Von Menschen, die nicht einmal existieren!
3. Keine Bücher lesen.
Mama hat immer schwarze Sachen angehabt. Also, ehrlich – wird man davon etwa froh?
4. Immer nur bunte Outfits anziehen.
Mama hat viel zu viel gedacht. Sie bereute alles Mögliche, was sie gesagt und getan hatte. Dachte daran, wie es früher war. Dachte zu viel daran, was andere dachten.
5. Nicht zu viel denken(am besten überhaupt nicht).
Mama machte lange Waldspaziergänge. Sie lief oft stundenlang durch den Wald und dachte bloß nach.
6. Nicht mehr spazieren gehen.Den Wald meiden.
Aber das Wichtigste von allem. Mama hatte Depressionen und weinte mehr oder weniger ununterbrochen. Sie brachte Leute zum Weinen. Sie bringt immer noch Leute zum Weinen, obwohl sie gar nicht mehr lebt. Manchmal, wenn Papa in der Dusche ist, höre ich ihn weinen. Garantiert glaubt er, dass man das nicht hört. Aber das tut man. Darum werde ich nie weinen. Niemals. Und ich habe nicht vor, Leute zum Weinen zu bringen. Ich werde Leute zum Lachen bringen. Das ist meine Mission!
7. Comedy Queen werden!
Um unsere Wohnungstür zu öffnen, muss man sie mit aller Kraft nach innen pressen und gleichzeitig den Türgriff nach oben drücken, während man den Schlüssel umdreht. Manchmal klappt das erst beim dritten Versuch. Heute bin ich so eifrig, dass ich viel zu hart mit der Hüfte dagegenknalle. Muss vor Schmerz stöhnen.
»Also echt, eure Tür …«, keucht Märta, die hinter mir die Treppe heraufkommt. Nach der Schule sind wir so schnell hergeradelt, dass wir beide ganz außer Puste sind.
»Ich weiiiiß«, sage ich und remple die Tür noch einmal mit der Hüfte an.
Endlich gelingt es mir, den Schlüssel umzudrehen und aufzumachen. Eines schönen Tages werde ich garantiert einen Trümmerschaden an der Hüfte davontragen. Nicht ganz einfach, den Rettungssanitätern dann zu erklären, wie es dazu gekommen ist: »Äh … hab bloß versucht, irgendwie eine Tür zu öffnen.«
In der Eingangsdiele hängen wir unsere Jacken in die Garderobe und lassen die Fahrradhelme auf den Boden fallen. Märta hat unterm Helm ihre Baseballkappe auf. Nie eine Mütze, obwohl es eisige Minusgrade hat. »OBEY« steht auf der Kappe, der Schirm hat ein Leopardenmuster. Die Kappe ist so tief in die Stirn gedrückt, dass Märtas Ohren abstehen. Die sind jetzt knallrot vor Kälte. Märta liebt ihre Kappe über alles. Wenn es nach ihr ginge, würde sie die Kappe nie ausziehen. Aber Cecilia zwingt sie dazu, die Mütze im Unterricht abzunehmen. Beinah jede Stunde beginnt damit, dass Cecilia sagt: »Und jetzt nimmt Metti ihre Kappe ab.«
Und jedes Mal macht Märta das gleiche bockige Gesicht. Aber die Kappe zieht sie trotzdem aus. Cecilia widerspricht man nicht. Früher, bei Bosse, durfte Märta die Kappe auflassen. Einer der wenigen Vorteile von Bosse. Man hätte in einer Ritterrüstung im Unterricht erscheinen können, ohne dass er es gemerkt hätte.
Ich klatsche in die Hände.
»Bist du bereit?«, frage ich.
»Ja! Und du?«, sagt Märta, obwohl es wie »Jaudu?« klingt, weil Märta immer so schnell und aufgeregt spricht.
»War noch nie so bereit wie jetzt!«
Ein Blick auf die Uhr. Noch zwei Stunden, bis Papa nach Hause kommt. Perfekt. Wir betreten unser enges Badezimmer, wo man zu zweit kaum Platz findet. Märta stößt gegen ein Zahnputzglas, es kippt um und die Zahnbürsten landen im Waschbecken.
Inzwischen nur zwei Zahnbürsten.
Das Zahnputzglas ist gar kein richtiges Glas, sondern ein wackliger orangeroter Plastikbecher, der fünf Mal täglich umfällt, darum sag ich, sie kann die Zahnbürsten ruhig liegen lassen. Dann suche ich im Schrank und den Schubfächern nach dem Trimmer und finde ihn schließlich in einem geflochtenen Korb unterm Waschbecken. Er ist metallic-rot und leicht angestaubt, im Kamm stecken noch kleine braune Härchen. Ich puste sie weg. Es ist eine Weile her, seit Papa sich zuletzt den Kopf rasiert hat.
Niemand kann ihm mehr mit dem Nacken helfen.
Es gibt drei verschiedene Kammlängen, außer glattrasiert. Circa drei Millimeter, circa ein Zentimeter und circa zweieinhalb Zentimeter.
»Ich denke, ich nehme doch lieber den längsten Kamm«, sage ich und stelle ihn auf zweieinhalb Zentimeter ein. Dann reiche ich Märta den Trimmer. Sie steckt den Stecker in die Steckdose überm Spiegel.
»Bist du dir ganz sicher?«, fragt Märta und sieht mich lange mit ihren lieben Augen an. Ihre Augen sind so blau wie der Abendhimmel. »Du hast doch so schöne Haare!«
Sie fährt mit den Fingern durch meine Haare, versucht es vielmehr, bleibt aber sofort hängen. Meine Haare sind dafür bekannt, unter Mützen und Helmen zu verfilzen.
»Ich schenk sie dir«, sag ich großzügig. Sie kichert. Ich notiere es im Kopf. Vielleicht lässt sich daraus irgendein Witz machen?
Ich hab nichts von der Liste erzählt. Weder ihr noch sonst jemandem. Hab nur gesagt, ich hätte meine Haare satt. Jetzt lasse ich mich auf den Toilettensitz sinken. Märta schaltet den Trimmer ein. Er summt und vibriert. Dann stellt sie sich vor mich und sagt: »Auf los geht’s los!«