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»Ja! Ich bin gay, homo, schwul! – Na und?« Sigge kennt sie noch immer: die Angst davor, gemobbt zu werden. Obwohl er in Skärblacka Freunde und Anerkennung in der Klasse hat. Doch er ist »schwul« und in Adrian verliebt. Wenn das rauskommt, geht alles von vorne los. Wird er es geheim halten können? Oder würde er es wagen, sich zu outen? Und seine Gefühle zu Adrian zu zeigen? Als wäre das nicht schwierig genug, zieht Sigges Mutter mit ihm und seinen Geschwistern in eine kleine Wohnung. Sigge vermisst sein Zimmer, seine Privatsphäre, seine herrlich-schrille Oma und die Nähe zu Juno schrecklich! Wie kann alles je wieder gut werden? Jenny Jägerfeld erzählt mit außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen von der schwierigen Situation eines Jungen, der erkennt, dass er homosexuell ist, und es geheim halten will, um Mobbing zu entgehen. Mit spritzigem Humor lässt sie ihre Charaktere in einem unkonventionellen, schrägen Ambiente agieren. Ein bewegendes Leseerlebnis mit Tiefgang!
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Seitenzahl: 415
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Jenny Jägerfeld
MEINE GENIALE LIEBE
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Min storslagna kärlek bei Rabén & Sjögren, Stockholm.
Die Übersetzung dieses Buches wurde durch die freundlich gewährte Förderung des Swedish Arts Council finanziell unterstützt.
ISBN 978-3-8251-6272-6
Erschienen 2024 im Verlag Urachhaus
www.urachhaus.de
© 2024 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart
© 2022 Jenny Jägerfeld, durch Vereinbarung mit Grand Agency
Umschlaggestaltung: Sara R. Acedo
Umschlagfotos: iStock by Getty, Unsplash
Gestaltung und Satz: Klaus H. Pfeiffer
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Für Magnus, meinen allerliebsten Schatz!
Meine Liebe für dich ist wirklich genial!
NOCH 58 TAGE ANSICHTSKARTEN FÜR FAULE LEUTE
MIT EINEM TOASTER IN DIE BADEWANNE
NOCH 56 TAGE DAS GELD DES GURKENKÖNIGS
NOCH 55 TAGE BLADES OF GLORY
NOCH 53 TAGE JUST DO IT
NOCH 51 TAGE DEM TODE NAH IN RÅGSVED
NOCH 50 TAGE KIEKSEN VOR LAUTER ENTSETZEN
NOCH 47 TAGE DARTH VADER ALS PAPAGEI
NOCH 46 TAGE MATHE-LIMONADE
NOCH 44 TAGE DIE ENORME BRATPFANNE VON IWAN DEM SCHRECKLICHEN
NOCH 42 TAGE LIEBE KLEINE GANGSTER
NOCH 39 TAGE GRÜSSE DEN RALLYEFAHRER …
NOCH 37 TAGE EIN JAZZPAPAGEI
NOCH 35 TAGE MEIN KANINCHEN HAT GERADE EIN DATE BEKOMMEN!
NOCH 34 TAGE BIST DU IN MEINE OMA VERLIEBT?
NOCH 31 TAGE WILLKOMMEN IN MORDOR!
NOCH 29 TAGE SIEBEN TAGE IN TOTALER HARMONIE
NOCH 28 TAGE MIT EINEM PINGUIN IN DIE SAUNA
NOCH 25 TAGE PERLHUHN AUF MORCHELPÜREE GIBT ES NICHT UMSONST!
NOCH 23 TAGE ICH WILL KEINE GURKENWERBUNG MACHEN!
NOCH 22 TAGE DAS WAR LUZIFER AUCH!
NOCH 21 TAGE HAPPY DEATHDAY TO MEEE!
NOCH 18 TAGE MIT EINER RIESIGEN ABRISSBIRNE
NOCH 16 TAGE MAKRELE, AN HOSENBEIN SERVIERT – GUTEN APPETIT!
NOCH 15 TAGE KUNSTLAUFKÖNIG
NOCH 14 TAGE EIS AM STIEL IN SÖDERKÖPING? – NEVER!
NOCH 12 TAGE VERMALEDEITER VIELFRASS
ESKIL LIEBT CHARLOTTE
NOCH 10 TAGE HEADBANGING MIT PERÜCKE
NOCH 7 TAGE IRGENDWANN IST JETZT!
NOCH VIER TAGE EIN PFERD OHNE PFERDESCHWANZ
NOCH 2 TAGE SAG ES DOCH MIT EINEM IMPRESSIONISTISCHEN TANZ!
NOCH 0 TAGE UNTERWEGS ZU MEINER EIGENEN HINRICHTUNG
MOMENTAUFNAHMEN
WILDE-SPRUNG(-HAFTIGKEIT)
CLEAR EYES, FULL HEARTS, CAN’T LOSE
ZWEI WOCHEN SPÄTER EPILOG
ZITATE IM TEXT
»Knoblauchsalami? Was haltet ihr davon? Sigge, was meinst du?«
»Äh – wie?«
Ich war auf meiner Bank im Halbschlaf weggedämmert und hatte etwas von Adrians goldbraunen Augen geträumt, bis mich Agnetas Stimme soeben geweckt hatte. Sofort richtete ich mich auf, kerzengerade, wie ein Soldat, der in Habachtstellung kommandiert wird.
Knoblauchsalami? Was sollte das heißen? Mir war klar, dass irgendeine Antwort von mir erwartet wurde, aber welche? Agneta schob ihre Brille hoch und lächelte mir aufmunternd zu.
Ich sah mich im Klassenzimmer um, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden, aber die anderen sahen mich nur grinsend an. Adrian, der hinten am Fenster saß, begegnete meinem Blick, und sofort brannte mein Gesicht. Was meinte Agneta damit? Bot sie mir ein Knoblauchsalamibrot an? Nein, das war nicht sehr wahrscheinlich. Sollte ich aufzählen, woraus eine Knoblauchsalami besteht? Knoblauch und – na ja, eben Schweinefleisch? Nein, das war es wohl kaum, was sie wissen wollte. Wir hatten ja nicht direkt Lebensmittelkunde, oder?
»Sag einfach, was du denkst«, sagte Agneta und zupfte sich eine Fussel von ihrer hellgelben Strickjacke.
Ich schluckte. Presste die Fingerspitzen in meine Handflächen und spürte, wie der Puls klopfte. Sollte ich das Wort buchstabieren? Unwahrscheinlich, nachdem sie ja bereits »Knoblauchsalami« mit rotem Stift auf das Whiteboard geschrieben hatte. Direkt darüber stand das Wort »Socken«. Was Knoblauchsalami und Socken miteinander zu tun hatten, war mir ein absolutes Rätsel.
»Äh … nein, vielen Dank, ich esse kein Fleisch«, brachte ich schließlich zögernd heraus.
Da brachen Sixten und Jona, Nico, Maja, die Basketballmädels und viele andere in schallendes Gelächter aus.
Nach ein paar stressigen Sekunden begann ich auch zu kichern, um zu zeigen, dass »das natürlich ein Witz gewesen sei!« Mit diesem Kichern hätte ich garantiert keinen Oscar gewonnen, meine Mundwinkel waren total steif, und außerdem klang es eher so, als wäre ich erkältet und würde fauchen.
»So, jetzt sollten wir die ganze Sache mal ernsthaft diskutieren«, sagte Agneta. »Wenn wir wie geplant eine Klassenfahrt machen wollen, müssen wir immerhin noch zehntausend Kronen zusätzlich aufbringen. Und bis dahin sind es nur, mal sehen …«
Sie trat an den Kalender, der an der Wand hing, blätterte an März und April vorbei, hielt bei Mai an und zählte leise vor sich hin.
»Ja … wir fahren also am 6. Mai. Bis dahin sind es noch ungefähr acht Wochen, genauer gesagt, achtundfünfzig Tage! Und wir brauchen noch wenigstens zehntausend Kronen, um starten zu können!«
Agneta schrieb »10000« an die Tafel und unterstrich die Zahlen dreimal.
»Klassenfahrt? Was denn für eine Klassenfahrt?«, flüsterte ich Bella Bjö zu, die soeben hochkonzentriert mit lila Filzstift ein Kaninchen auf ihren Unterarm malte. Bella war durch meine Frage so überrascht, dass ihr der Stift ausrutschte und das eine Ohr des Kaninchens plötzlich wie ein Ballon aussah.
»Machst du Witze?«, fragte sie mit geschockt weit aufgerissenen Augen.
Ich übertreibe nicht. (Ehrlich gesagt hatte Bella Bjö immer ein bisschen extra erstaunt ausgesehen, seit sie auf die »schlaue« Idee gekommen war, sich den Pony selbst zu schneiden. Das war so oft schief ausgefallen, dass ihre kupferroten Stirnfransen jetzt mindestens fünf Zentimeter über den Augenbrauen endeten.)
»Äh … nein?«
»Hör mal! Die Klassenfahrt!«
»Was denn für eine Klassenfahrt?«
»Das musst du doch mitbekommen haben!«, flüsterte Bella Bjö aufgeregt. Meine Ahnungslosigkeit schien sie fast persönlich zu kränken. »Die Klassenfahrt! Zur Insel Esterö! Das Happening des Jahres! Wir werden zweimal übernachten und in roten Holzhäuschen wohnen und Würstchen grillen und schwimmen und es gibt eine Schatzsuche und eine Nachtdisco … und … und … Das ist doch unsere letzte gemeinsame Aktion, bevor die Klasse aufgeteilt wird! Und das haben wir seit der vierten Klasse geplant! Okay, du bist ja noch nicht so lange in unserer Klasse, aber trotzdem!«
»Aha …«
Die Esterö-Insel. Irgendwo weit hinten im Kopf begann ein winziges Glöckchen zu klingeln. Vielleicht war im Herbst von Esterö und der Klassenfahrt die Rede gewesen? Aber im Herbst hatte ich so viel damit zu tun gehabt, mich anzupassen und normal zu wirken, dass ich mich kaum auf etwas anderes hatte konzentrieren können. Und im Winter hatte mir vor allem vor der Weihnachtsfeier gegraust, an der ich teilnehmen musste, weil Sixten und Jona mich dazu überredet hatten. Da war in meinem Kopf vermutlich nicht allzu viel Platz übrig geblieben, um an irgendeine Klassenfahrt zu denken. Aber okay, Klassenfahrt! Das würde doch garantiert super werden? Oder?
Ich nahm Bella Bjö den Stift aus der Hand und verbesserte das Kaninchen. Es bekam zwei normale Ohren, und aus dem Ballonohr machte ich einen richtigen Ballon, den das Kaninchen in der Hand hielt. Ich gab ihm auch einen Partyhut auf den Kopf und eine Torte in die andere Hand.
»Wie soll es heißen?«, flüsterte ich.
»Albin O«, sagte Bella Bjö. »So heißt mein eigenes Kaninchen.«
Mit verschnörkelten Buchstaben schrieb ich »Glückwunsch Albin O« so auf die Torte, dass es wie Zuckerguss aussah. Bella Bjö machte ein zufriedenes Gesicht.
»Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, wie man Geld verdienen kann«, fuhr Agneta fort. »Man kann wie gesagt Knoblauchsalami verkaufen und Socken und … ja, was schlägst du vor, Maja?«
»Die Klasse meiner großen Schwester hat Handtücher und Bettwäsche verkauft. Und die haben so viel Geld verdient, dass sie nach Italien fahren konnten!«
Agneta drehte sich zur Tafel um und schrieb »Handtücher« und »Bettwäsche« auf.
»Und die 6D fährt zum Surfen nach Gotland.«
Aus der hintersten Bankreihe kam Andrzejs Stimme. Alle außer Juno drehten sich um und sahen ihn an. Er war einer der Fußballjungs, groß, gutaussehend und beliebt. Außerdem war er ein total fairer Typ, denn obwohl er selbst in Sport ein Ass war, hörte man ihn nie stöhnen, wenn jemand weniger Begabtes in seiner Mannschaft landete oder wenn man einen Pass vermasselte (was des Öfteren vorkam, wenn man ich war). Über Hugo, der mit dem blauweißen Schal des Fußballklubs Norrköping neben ihm saß, konnte man das nicht unbedingt behaupten. Hugo beschwerte sich regelmäßig über die Mannschaftsaufteilungen – d. h., wenn er nicht bei den Topfußballern landete, und er fluchte und lästerte jedes Mal, wenn jemand irgendeinen Fehler machte. Andrzej fuhr fort:
»Ja, die haben offenbar megamäßig viel Geld mit dem Verkauf von Schokokugeln verdient. Mein Bonusbruder gibt andauernd damit an!«
Agneta kam gar nicht dazu, etwas zu sagen, bevor Sixten schrie: »Supertrist Antichrist!« Und Jona ergänzte: »Boring snoring!«
Die Zwillinge scherten sich nicht darum, dass Andrzej so beliebt war. Sie unterbrachen jeden, wenn sie Lust dazu hatten. Auf die Art verhielten sie sich echt demokratisch. Aber das war auch der Grund, warum Agneta sie möglichst nah am Lehrerpult platziert hatte und gleichzeitig so weit auseinander wie möglich.
»Sixten und Jona, oder vielmehr Apple. Zum tausendsten Mal! Streckt die Hand hoch, wenn ihr etwas sagen wollt.«
Sixten streckte sofort und begann so wild mit der Hand zu wedeln, dass er seiner Banknachbarin Maja auf den Kopf schlug.
»Entschuldige, hallo! Ich sitze hier!«, sagte sie empört und schob ihren blonden hohen Pferdeschwanz zurecht, der nach dem Schlag verrutscht war.
»Entschuldigung angenommen!«, sagte Sixten mit einem breiten Grinsen.
Maja verdrehte die Augen. Agneta nickte Sixten zu, der daraufhin endlich mit dem Gefuchtel aufhörte.
»6 10 und Apple sind old news, Agneta. Aber du darfst mich gern Smoking Bandit nennen, das ist nämlich mein Kartingname.«
»Ja, und ich wäre dankbar, wenn du mich Count von Crash nennen würdest«, sagte Jona.
Agneta wischte sich mit einer Papierserviette die Nase und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Obwohl es erst vormittags um Viertel nach zehn war, sah sie leicht erschöpft aus.
»Ich frage lieber gar nicht erst, was Karting ist.«
»Nur der coolste Sport der Welt«, rief Sixten begeistert.
»Obwohl eure Spitznamen und Freizeitaktivitäten natürlich hochinteressant sind, können wir unsere kostbare gemeinsame Zeit nicht damit verbringen, darüber zu diskutieren«, sagte Agneta. »Wir haben nämlich nur noch zwei Monate Zeit! Darum müssen wir alle mithelfen und scharf überlegen. Wie können wir so viel Geld auftreiben? Und ich möchte nicht, dass ihr eure Vorschläge gegenseitig ›disst‹.« Agneta hielt Zeige- und Mittelfinger als Anführungszeichen in die Luft und sah dabei Sixten und Jona ein bisschen extra scharf an.
Bella Bjä und Bella Bjö (die eigentlich mit Nachnamen Bjärlid und Björk hießen), Miriam und Maja, Sixten und Jona und viele andere schrien sofort verschiedene Ideen laut durcheinander. »Kuchen backen und verkaufen!«, »Altglas sammeln!«, »Leuten helfen, Papier und Glas zum Wertstoffhof zu bringen!«, »Flohmarkt mit altem Spielzeug und Kleidern!«, »Miriams Großvater fragen, ob er das Geld spenden will!« (Dem Gerücht nach war Miriams Großvater Millionär. Niemand wusste, ob das stimmte oder nicht, da Miriam nie darauf antwortete, sondern nur geheimnisvoll lächelte, wenn der Großvater erwähnt wurde.)
»Einer nach dem anderen! Und immer die Hand hochhalten!«, sagte Agneta.
»Entschuldigung«, kam es da von Juno, die ihren Arm kerzengerade an die Decke streckte, »aber ich halte die Hand ungefähr seit zwei Stunden hoch.«
»Zwar haben wir ja erst seit fünfzehn Minuten unsere Klassenrat-Stunde«, bemerkte Agneta, deutete aber dennoch auf Juno, die ihren Arm sofort senkte.
»Man kann seine Haare verkaufen, dafür kriegt man jede Menge Geld.«
Ein paar Sekunden lang wurde es still. Alle starrten Juno an. Maja und Miriam sahen so entsetzt aus, als hätte Juno vorgeschlagen, wir sollten die kleinen Brüder der beiden verkaufen.
»Also, bitte«, sagte Maja, »aber wer will schon Haare kaufen?«
»Perückenmacher.«
»Aber … die Haare in den Perücken sind doch nicht echt?«, wandte Adrian ein, und ich nutzte die Gelegenheit, eine schwarze Locke zu bewundern, die ihm gerade voll cool über die Wange fiel. Ich stellte mir vor, ich würde sie beiseiteschieben, um seine goldbraunen Augen besser sehen zu können.
Aber solche Tagträume durfte ich mir gar nicht erst erlauben! Um das nicht zu vergessen, kniff ich mir in den Arm. So etwas wie »Knoblauchsalami, Sigge, was meinst du?« wollte ich nicht noch einmal erleben. Andererseits sprachen wir ja jetzt gerade über Haare, also war ich doch irgendwie beim Thema geblieben!
»Doch, dafür nehmen sie echtes Haar«, erklärte Juno. »Jedenfalls für erstklassige Perücken.«
»Aber trotzdem, wie viele Leute tragen überhaupt eine Perücke?«, fragte Miriam und fuhr sich durch ihre braunen Locken. »Bis auf dich, natürlich«, fügte sie kichernd hinzu und deutete auf Juno, die ihre aktuelle hellrosa Perücke so gestylt hatte, dass sie an eine Frisur aus dem achtzehnten Jahrhundert erinnerte. Die rosa Haare waren fast zwanzig Zentimeter hoch aufgetürmt, so hoch, dass sie nicht mehr unter den Fahrradhelm passten. (Wir trafen uns ja regelmäßig morgens am Briefkasten und fuhren zusammen zur Schule, Juno auf dem Fahrrad und ich auf meinen Inlinern. Aber jetzt im Winter ging das nicht, darum nahm Juno mich inzwischen auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads mit, wenn es nicht zu glatt war.) Sie hatte die Perücke in den Fahrradkorb legen müssen, hatte sie aber rechtzeitig wieder aufgesetzt, bevor wir bei der Schule ankamen.
Miriams Kommentar schlug mir auf den Magen. Ich wollte Juno verteidigen, aber mir fiel nichts Passendes ein. Zum Glück war das gar nicht nötig, weil Juno sofort konterte:
»Miriam, also, ich weiß nicht, aber Krebs? Kennst du dich damit aus? Das ist ja eine sehr häufige Krankheit. Mindestens jede dritte Person wird im Lauf ihres Lebens Krebs bekommen.«
Als sie das sagte, veränderte sich etwas im Klassenzimmer. Irgendwas mit der Stimmung. Und Agnetas Blick schien zu dem Fenster gezogen zu werden, wo Nico und Bella Bjä saßen. Auch Maja und Adrian schauten hin. Juno schien das nicht zu kümmern, sie fuhr fort:
»Wir sind sechsundzwanzig in der Klasse. Das heißt, dass mindestens acht von uns im Lauf ihres Lebens Krebs bekommen werden.«
Alle waren verstummt. Miriam starrte Juno an. Sie sah aus wie eine Comicfigur, mit kugelrunden Augen und offenem Mund.
»Und fast alle verlieren von der Krebsbehandlung die Haare. Was glaubst du wohl, wie froh ihr dann seid, dass es Perücken gibt?«
»Bitte, Juno, ich glaube, das reicht jetzt«, sagte Agneta und schob irritiert die Brille hoch.
»Wieso reicht das? Es ist doch so, oder?«, versetzte Juno gekränkt.
Etwas unerwartet meldete sich Nico zu ihrer Verteidigung: »Und schließlich hat Miriam gefragt.«
»Ja, schon klar.« Agneta zog ihre hellgelbe Strickjacke zurecht, die über den Hüften leicht hochgerutscht war.
»Danke, Nico«, sagte Juno anerkennend.«
»Alles cool«, kam es von Nico.
»Jedenfalls kann man für langes Haar über eintausendfünfhundert Kronen bekommen. Wenn also du, du, du, du, du, du …« Sie deutete der Reihe nach auf Maja, Bella Bjä, Bella Bjö, Agneta und Miriam und sah sich nachdenklich in der Klasse um, bevor ihr Zeigefinger schließlich ausgerechnet auf Nico landete, »… und du! Wenn ihr alle eure Haare verkauft, haben wir’s geschafft!«
»Ich?«, schrie Miriam erschrocken und presste die Hände auf ihre Haare, als befürchtete sie, dass jemand in der nächsten Sekunde ankäme, um sie zwangszuscheren.
»Zehntausend direkt in die Klassenkasse!«, fuhr Juno unbekümmert fort. »Dann brauchen wir nicht wie irgendwelche Loser im Regen herumzulaufen und Würstchen zu verkaufen.«
»Knoblauchsalami«, verbesserte Agneta. »Meine vorige Klasse hat damit viel Geld verdient, kann ich euch sagen! Aber wie dem auch sei … ich glaube kaum, dass jemand von euch bereit ist, sich für ein paar Tage auf Esterö die Haare abschneiden zu lassen.«
»Nein, das vielleicht nicht. Aber für die Krebspatienten kann man es ja tun, Agneta«, sagte Juno streng.
Agneta hatte recht. Bis auf Sixten und Jona, die Junos Vorschlag erstaunlich positiv aufnahmen, schien niemand scharf darauf zu sein, sich die Haare abschneiden zu lassen. Juno meinte zwar, die einmalige weißblonde Haarfarbe der Zwillinge wäre sehr gefragt, aber die Haare seien leider zu kurz. Sie müssten mindestens fünfundzwanzig Zentimeter, am liebsten aber eher einen halben Meter lang sein, teilte Juno mit.
Schließlich gab Juno die Idee mit den Haaren auf, worauf die Diskussion wieder zu Socken und Knoblauchsalami zurückkehrte. Ich nahm nicht direkt daran teil. Zwar würde ich lieber Socken als Knoblauchsalami verkaufen, wenn ich die Wahl hätte, aber keins von beidem war mir superwichtig, sagen wir mal so. Die Klassenfahrt dagegen war mir supermegawichtig. Die bedeutete nämlich, dass ich zwei Tage lang rund um die Uhr mit Adrian zusammen sein dürfte! Hoffentlich, hoffentlich kamen wir beide in dieselbe Hütte! Noch 58 Tage! Plötzlich sehnte ich mich wie besessen nach einer Klassenfahrt, von der ich vor einer halben Stunde noch kaum etwas gewusst hatte.
Im Januar war ich zum letzten Mal allein mit Adrian zusammen gewesen. Wir hatten uns in der Bibliothek getroffen, um das Buch abzuholen, das er für mich bestellt hatte, weil ich noch keinen Bibliotheksausweis besaß. Wir hatten uns kurz über die Weihnachtsfeier und die Ferien unterhalten und tatsächlich auch über Eiskunstlauf. Das war an sich nicht weiter verwunderlich, schließlich war das Buch, das ich mit seiner Hilfe ausleihen konnte, ein Handbuch für den Eiskunstlauf von der Eiskunstlauflegende Ulrich Salchow. Erstaunlich war vielmehr, dass ich es gewagt hatte, Adrian zu erzählen, dass ich selbst auch Eiskunstlauf trainiert hatte. Adrian fand das total cool und wollte wissen, warum ich aufgehört hatte. Ich murmelte irgendwas Unverständliches als Antwort. Dann musste Adrian nach Hause – und das war’s. In der Schule sahen wir uns natürlich. Doch das war nicht dasselbe.
Ich seufzte. Kurz vor dem Ende der Klassenrat-Stunde, als wir uns schon fast für Knoblauchsalami entschieden hatten, nahm die Diskussion eine neue Wendung.
Sixten schnellte ganz plötzlich aus seiner Bank hoch und verkündete:
»Mir ist gerade eine echt amazing Idee gekommen! Ansichtskarten für faule Leute!«
»Wie bitte?« Agneta runzelte die Stirn.
Sixten drehte sich um und sah auf die Klasse. »So ungefähr: Heutzutage schicken alle ja SMS und mailen und chatten und so. Aber neulich hat mein Dad eine Ansichtskarte gekriegt.«
»Und Scheiße noch mal, hat der sich gefreut!«, ergänzte Jona.
»Jona, keine solchen Ausdrücke«, mahnte Agneta.
»Count von Crash, wenn ich bitten darf.«
Agneta ignorierte die Berichtigung und nickte Sixten zu, fortzufahren:
»Mein Dad hat uns und meiner Mom die Karte zweimal vorgelesen, echt. Und hat sich das Bild vorn auf der Karte lange angeguckt, obwohl da nur ein paar Hochhäuser und eine Straße drauf waren. Das will man doch, dass die Leute sich so riesig freuen. Aber wer hat schon Lust, eine Ansichtskarte zu schreiben? So viele Wörter? Und dann noch Briefmarken kaufen und das alles? Eben – und da hab ich mir gedacht: Ansichtskarten für faule Leute! Da musst du nur was ankreuzen, aber nix schreiben. Hier – checkt mal!«
Sixten lief vor ans Whiteboard und malte ein großes Rechteck, das wohl eine Ansichtskarte sein sollte. Rechts zog er drei Zeilen.
»Okay«, sagte Agneta zögernd und sah auf die Uhr. Nur noch wenige Minuten bis Schluss.
»Auf diese Zeilen hier muss man die Adresse schreiben. Das muss man leider selbst machen. Aber hier, auf dieser Seite, da steht vielleicht so was …«
Mit seiner krakeligen Handschrift schrieb er: »Liebe …«
»Und dann ergänzt man selbst mit ›Oma‹ oder ›Tante‹ oder ›Bengt‹ oder an wen man gerade schreiben will. Und dann steht da vielleicht so was …«
Sixten schrieb: »Hoffentlich geht es dir …«
Dann malte er vier Kästchen hin, die man ankreuzen konnte. Neben das erste schrieb er »gut«, neben das zweite »schlecht«. Beim dritten schrieb er »super«. Dann überlegte er kurz und schrieb schließlich neben das vierte Kästchen: »okay, obwohl du im Knast sitzt.«
»Knast? Das ist vielleicht ein wenig … ich meine, das ist doch nicht allzu normal«, wandte Agneta ein.
»Nein, aber überleg mal, wie irre man sich freut, wenn man tatsächlich im Knast hockt und dann eine Ansichtskarte kriegt«, sagte Sixten, worüber Maja laut kichern musste.
Jona sprang von seinem Stuhl hoch, lief nach vorn und zog Sixten den Stift aus der Hand.
»Und zum Schluss steht da: ›Mit freundlichen Grüßen von‹«, schrieb er rasch hin. »Und dann schreibt man den eigenen Namen. Das muss man leider selbst machen. Und abschließend steht ›Grüße an …‹ und da kann man ausfüllen, wem man Grüße schicken will.« Während er redete, malte er vier Kästchen an die Tafel. »Deine Frau« und »… die Katze«, »alle, die ich kenne« und … Er überlegte kurz, dann schrieb er: »Die Äbtissin.«
»Die Äbbe – was?«, fragte Nico.
»Die Äbtissin! So nennt man die Vorsteherin eines Nonnenklosters«, teilte Jona mit.
»Das sind vielleicht … ein klein wenig, wie soll ich sagen … ausgefallene Alternativen«, meinte Agneta.
»Klar, sind ja nur Beispiele. Und hier können wir eine leere Zeile hintun, da dürfen die Leute dann schreiben, was sie wollen.«
Nach einer lebhaften Diskussion war klar, dass die meisten in der Klasse Ansichtskarten für faule Leute gut fanden. Hugo und die übrigen Fußballjungs stimmten wahrscheinlich vor allem deshalb zu, weil sie rechtzeitig zum Kicken in die Pause wollten. Nur Andrzej schien echt begeistert. Er lachte boshaft und sagte, er freue sich darauf, »seinem Bonusbruder damit eins auszuwischen«. Agneta, die eindeutig zum Team Knoblauchsalami gehörte, sah etwas skeptisch drein, musste sich jedoch der Mehrheit fügen. Sogar Juno, die von ihrem eigenen haarigen Vorschlag so begeistert gewesen war und den Zwillingen nur ungern in irgendetwas zustimmte, gab zu, dass es eine gute Idee sei.
»Und Sigge muss sie zeichnen und malen!«, rief sie. »Die Ansichtskarten, meine ich!«
»Äh … was?«, fragte ich verwirrt.
»Ja, Sigge ist ein Genie«, sagte Bella Bjö und zeigte ihren Unterarm, wo die Kaninchenparty sich vom Handgelenk bis zur Armbeuge in lila Filzstift ausbreitete.
»Jaaa!«, schrie Jona, während Sixten gleichzeitig einen Satz übers Lehrerpult zu Junos Bank machte, ohne zu merken, dass er dabei einen Stapel Schreibhefte vom Pult warf. Er streckte die Hand aus, um Juno zu highfiven. Nachdem sie seine Hand ein paar Sekunden in der Luft hatte hängen lassen, schlug sie widerstrebend ein.
»Na dann!«, sagte Agneta. »Dann sind wir endlich einen Schritt weitergekommen! Ansichtskarten für … äh, hm … für faule Leute! Und damit ist jetzt Schluss für heute! Gute Leistung, alle miteinander!« Die letzten Worte gingen in dem Lärm unter, als an die zwanzig Stühle über den Fußboden schrammten und alle gleichzeitig anfingen zu reden, zu schreien und zu lachen.
Ich wartete, während Juno ihr Federmäppchen und ein paar Hefte in ihre Katzentasche steckte, dabei schielte ich verstohlen zu Adrian rüber, der an seinem Platz beim Fenster sitzen geblieben war und an einem Bleistift kaute.
Maja und Sixten alberten weiter vorne in den Bänken herum. Maja behauptete, sie hätte von Sixtens Schlag eine Gehirnerschütterung kriegen können und habe das Recht auf Schmerzensgeld in Form von sauren Geleeautos. Das sei eine völlig übertriebene Wiedergutmachung, fand Sixten, wo er Maja doch gar nicht mit Absicht geschlagen habe. Stattdessen bot er Maja an, sie dürfe ihm jetzt auf den Kopf hauen. »Dann sind wir even Steven«, sagte er und nahm seine Cap ab.
Maja verpasste ihm einen Schlag auf den blonden Schopf – es sah aus wie ein recht ordentlicher Schlag, aber Sixten verzog keine Miene. Er grinste nur spöttisch und sagte: »Sag mir Bescheid, wenn du anfängst.«
»Blödmann!«, rief Maja frustriert und haute ihm noch einmal auf den Kopf.
Juno hängte sich ihre Tasche über die Schulter und ging auf die Tür zu. Ich trödelte absichtlich, weil ich Adrian eine Chance geben wollte, uns einzuholen. Als ich mich umdrehte, war er zwar aufgestanden, befand sich aber immer noch neben seiner Bank. Er blickte verträumt aus dem Fenster auf einen Baum, der seine dünnen schwarzen Zweige in den blassblauen Himmel streckte.
»Sigge, könntest du nicht noch einen Tick langsamer gehen?«, fragte Juno ironisch.
»Oh, entschuldige.«
»Macht nix, ich wollte nur gern aus dem Klassenzimmer sein, bevor die Pause vorbei ist.«
Juno packte mich am Arm und marschierte energisch mit mir im Schlepptau in den Flur hinaus, als wäre sie eine gestresste Mutter und ich ein übermüdetes Kind.
Hinter mir hörte ich Maja lachen und Sixten, der sagte: »Kannst ruhig draufhauen, bis du müde wirst, Baby. Als Kartingprofi bin ich härteren Tobak gewohnt als das hier!«
Als ich am Abend auf der Couch lag, hörte ich aus dem oberen Stockwerk Elvis Five Sleepy Heads singen. (Bobo, meine jüngste Schwester, ließ das zum Einschlafen immer zehnmal hintereinander in der Jukebox laufen). Ich dachte: Ist Verliebtsein für alle Menschen so qualvoll? Oder ist das nur bei mir so? Das hier ist nämlich echt widerlich! Und so war es seit Weihnachten gewesen, als ich eingesehen hatte, dass ich in Adrian verliebt war, und im gleichen Augenblick begriff, dass die eine Sache, mit der mich mein Quälgeist Budde drei Jahre lang geplagt hatte, tatsächlich stimmte: Ich war gay.
Abgesehen davon, dass die Schmerzen in der Brust, die scharfen Stiche ins Herz und das dumpfe Ziehen im Bauch echte körperliche Qualen waren, gab es da auch noch eine Art Zwang! Ich dachte unablässig an ihn. Jede wache Sekunde. Das war alles andere als angenehm! Nur scheißätzend! Ich wollte nicht andauernd an ihn denken! Mein Gehirn schien irgendwie zu kochen.
Und als ich mich aktiv bemühte, an etwas anderes zu denken, nach dem Abendessen zum Beispiel, als ich versuchte, deutsche Verben zu lernen, drängte sich der Gedanke an Adrian wie ein hartnäckiger superaufdringlicher Einbrecher herein. Etwa so: »ich spiele, du spielst, Adrian! er sie es spielt, ADRIAN! wir spielen, ihr spielt, sie spielen ADRIAN!ADRIAN! ADRIAN!« Als wäre in meinem Kopf ein Sender eingeschaltet, der nur Infos mit Adrian-Bezug sendete, ganz gleich, was ich gerade machte oder wo ich mich befand. Sogar, wenn ich bewusstlos war! (Etwas weniger dramatisch ausgedrückt: wenn ich schlief.)
Manchmal tagträumte ich mich in eine Welt, in der Adrian und ich zusammen sein könnten. Ich stellte mir vor, wir würden einen ganzen Abend lang irgendwo sitzen und reden, uns dann zusammen einen Film reinziehen und über dieselben Witze lachen, mit Einstein einen Spaziergang um die Kullerstad-Kirche machen und uns an der Hand halten, dann würde Adrian mich zum Abschied küssen und weggehen, nur um wieder zurückgerannt zu kommen, weil er mich einfach unbedingt noch einmal küssen musste.
Doch dann war es, als würde ein Eimer mit Eis über mich gekippt, und ich wachte in der Wirklichkeit auf. Denn wie wahrscheinlich war es, dass Adrian überhaupt gay war? 4 bis 6% aller Jungs sind homosexuell, das habe ich in einer Untersuchung gelesen. Also einer von zwanzig. In meiner Klasse sind wir dreizehn Jungs. Da ist es recht unwahrscheinlich, dass ausgerechnet in unserer Klasse noch jemand gay sein könnte. Aber selbst wenn Adrian gay wäre, wie wahrscheinlich wäre es dann, dass er ausgerechnet auf mich abfahren würde? Dass er mich besonders amüsant, intelligent und gutaussehend finden würde?
Also, es gibt doch extrem viele Menschen, in die man sich nicht verliebt. Viele Milliarden! Da wäre es total unglaublich fantastisch, wenn Adrian sowohl gay als auch in mich verliebt wäre. Das war genauso unwahrscheinlich, wie mit einem dieser Rubbel-Lose, die Svedrik (der Vater von Maja und Bobo) immer so gern kauft, 25 Millionen zu gewinnen. Und selbst wenn ich das Glück hätte, dass Adrian sowohl gay als auch in mich verliebt wäre, würde ich es höchstwahrscheinlich nie wagen, meine Liebe offen zu zeigen … Gestern hat Hugo gesagt: »Aber hallo, bist du schwul oder was?«, als ich ihn in der Mittagspause beim Anstehen in der Essensschlange versehentlich anstieß. Und dabei war es noch nicht mal meine Schuld! Ich war von hinten geschubst worden. Hugo und seine Kumpel warfen den Leuten zwar täglich »schwul« und »gay« an den Kopf – z. B. konnte ein Paar Schuhe »schwul« sein, oder irgendeine Äußerung klang »gay«, und »Letzter auf dem Fußballplatz ist eine Schwuchtel.« Aber mich hatte er bisher noch nie schwul genannt. Darum fand ich das jetzt doch recht stressig.
Nein, mit mir und Adrian, daraus würde nie etwas werden. Das musste ich eben einsehen.
Einstein kam zum zehnten Mal ins Wohnzimmer getrottet, legte den Kopf schief und warf mir einen finsteren Blick zu. Er war eindeutig frustriert, weil ich hier so ganz allein auf der Couch lag. Manchmal gewann die Schäferhundseite in ihm die Oberhand (er war ja zu 25% Schäfer und zu 75% Rottweiler), und dann fand er plötzlich, dass alle an ein und demselben Ort zu sein hatten und sah sich gezwungen, zwischen den Zimmern hin und her zu laufen, um die Schafe einzusammeln, also uns. Und jetzt saß ein Teil der Herde (Majken, Oma und Krille Marzipan) in unserem Kino und guckte Your name.
Unser Kino lag hinter der Küche und war ein total neues Ding! Früher hieß der Raum, den man auf dem Weg zur Waschküche, Werkstatt oder Garage durchqueren musste, bei uns »Rumpelkammer«. Wir hatten ihn nie genutzt, weil das Wohnzimmer (wo ich jetzt schlief) viel gemütlicher war. Ein paar Tische und Sessel hatten da noch gestanden, und früher hatten Omas Hotelgäste dort Schach, Backgammon und andere Brettspiele gespielt. Ansonsten war das Zimmer voller Gerümpel gewesen, das Oma im Laufe der Jahre gesammelt hatte.
Nach Neujahr hatte Oma die Sessel, Sofas und Kartons rausgeworfen und die Rumpelkammer in ein Kino umgewandelt. Sie hatte einen Projektor gekauft und eine weiße Riesenleinwand, die fast die ganze Breitseite des Zimmers bedeckte. Sie hatte außerdem schwarze Tücher angeschafft, aus denen sie Vorhänge genäht hatte, um das Zimmer damit ganz verdunkeln zu können, einen flauschigen Teppichboden verlegt, im Second-Hand-Markt acht besonders breite Kinosessel aus rotem Samt gekauft, durch den Teppich Löcher ins Parkett gebohrt und die Sessel angeschraubt.
Ich liebte unser neues Kino und ich liebte Your name, aber ausgerechnet an diesem Abend schaffte ich es einfach nicht, den Film anzugucken. Ich weiß nicht, ob ihr ihn kennt, aber er handelt von unglücklicher Liebe. Ich brauchte wirklich nicht noch mehr unglückliche Liebe in meinem Leben. Stattdessen hatte ich vor, möglichst früh einzuschlafen, um dieser Qual zu entgehen.
Einstein stupste mich mit der Pfote ans Bein, als Aufforderung, mich der Herde im Kino anzuschließen, aber ich schüttelte den Kopf und richtete mich auf. Sammelte mein Handy, die deutsche Grammatik und das Schreibheft ein.
»Komm, Kumpel«, sagte ich.
Als ich durch den Flur ging, strich ich dem ausgestopften Zebra übers Maul und nahm eine frisch gewaschene schwarze Jeans mit, die meine Mutter ihm zum Trocknen über den Rücken gehängt hatte. Dann stieg ich mit Einstein die Treppe hinauf.
Einstein schätzte es ganz besonders, wenn ich ins Bett ging. Denn ab da brauchte er nur mich zu bewachen. – Nachdem ich die Zähne geputzt und mein Schlafshirt angezogen hatte, schaute ich in Bobos Zimmer. Elvis war verstummt, und Bobo lag friedlich schlummernd neben Pingo im Bett. Der Schnuller war ihr aus dem Mund gefallen, und die Discolampe warf grüne, blaue und rote Lichtstrahlen an die Wände. Auf Bobos Nachttisch lag das Buch über Taxidermie (über das Ausstopfen von Tieren), das Oma ihr als Einschlaflektüre vorgelesen hatte. Am liebsten war es Bobo, wenn Mama sie ins Bett brachte, aber Mama hatte wie üblich Spätschicht. Von Oma ins Bett gebracht zu werden, hatte aber den Vorteil, dass Oma aus diesem besonderen Buch vorlas, das Bobos Lieblingsbuch war. Mama weigerte sich nämlich. Sie fand, es sei schon genug, das ganze Haus voller ausgestopfter Tiere zu haben. Da wolle sie nicht auch noch darüber lesen.
Ich stopfte die Bettdecke um Bobo herum fest, damit Bobo es schön warm hatte, und ging dann in mein eigenes Zimmer, kroch ins Bett und klopfte mit der Hand aufs Fußende. Einstein hüpfte herauf, drehte sich ein paarmal um sich selbst und scharrte den Überwurf zu einem Haufen zusammen, bevor er sich drauflegte.
Es war nicht unbedingt bequem, einen 55 Kilo schweren Hund auf den Füßen liegen zu haben, aber trotzdem war es irgendwie gemütlich. Und es brachte mich auf andere Gedanken. Ungefähr drei Sekunden lang. Dann schrie mein Gehirn plötzlich mit einer Stimme, die sogar Majken übertönt hätte: ADRIAN! ADRIAN! DU HAST UNGEFÄHR EINE MILLISEKUNDE LANG NICHT AN ADRIAN GEDACHT! HALLO! HALLO! RED ALERT!!!
Ich wurde nicht allmählich verrückt, ich war schon verrückt! Ich versuchte meinem Gehirn zu sagen, es solle aufhören zu denken und sanft in den Schlaf gleiten. Aber obwohl ich das wirklich laut und nachdrücklich sagte und mein Gehirn zum Einschlafen zu zwingen versuchte, weigerte es sich. Der Schlaf befand sich mindestens so weit weg, als würde ich auf dem Rummelplatz im House of Nightmares von mordlüsternen Clowns gejagt.
Ich seufzte und holte meinen Notizblock aus dem Rucksack. Fand eine leere Seite und machte, was ich immer zu tun pflege, wenn ich mein Leben auf die Reihe bringen will. Eine Liste. Eine Liste über fünf Dinge, die angenehmer wären als in ADRIAN verliebt zu sein!
Sich Tabasco ins Auge träufeln.
Zwei Wespennester als Handschuhe verwenden.
Mit einem Toaster in die Badewanne steigen.
Sich mit einem Durchschlagslocher Löcher in die Ohrläppchen machen.
Zu einem Grizzly mit Aggressionsproblemen in die Höhle ziehen.
Ich presste meine Hände zusammen, flocht die Finger ineinander und betete zu Gott. Sagte, ich würde gern die Verliebtheit in Adrian gegen eines der Dinge auf der Liste tauschen. Versuchte, die Liebe wegzuverhandeln. Am liebsten nähme ich das mit dem Tabasco, erklärte ich, fügte aber hinzu, ich könne verstehen, falls Gott zu etwas Schlimmerem greifen müsste – zum Beispiel zu dem Grizzly –, um meine Gefühle auszulöschen. Ich sagte sogar »Amen« und all das.
Während ich wartete, sah ich mich im Zimmer um. Mir war klar, dass Gott selten direkt mit Worten antwortete. Vielleicht würde er das Flipperspiel in Gang setzen? Oder den schief geratenen Fuchs auf dem Bild, das neben dem Flipper hing, mit seiner klobigen Pfote winken lassen?
Obwohl ich über eine Viertelstunde lang wartete, bekam ich keine Antwort. Ich verstehe ja, dass Gott vielbeschäftigt ist und so, aber ein kleiner Gruß wäre doch nicht verkehrt gewesen, nur so viel, dass man weiß, dass das Gebet, das man geschickt hat, angekommen ist. So ungefähr: »Vielen Dank für deine Nachricht. Ich bin bis zum 26. März im Urlaub, melde mich aber so bald wie möglich mit einem Bescheid. In dringenden Fällen wende dich an den Erzengel Gabriel. Mit freundlichem Gruß, Gott.«
Dem Gehirn energisch etwas zu befehlen, funktionierte offensichtlich nicht. Beten auch nicht. Meine letzte Hoffnung war ein Versuch, das Herz zu überreden. Ich beschloss, dabei etwas freundlichere Töne anzuschlagen als beim Gehirn. Strenge hatte ja nicht funktioniert, und außerdem war das Herz garantiert etwas sensibler.
Ich schlug eine neue Seite in meinem inzwischen fast vollgekritzelten Notizbuch auf und schrieb:
Hallo, Herz! Wärst du bitte so freundlich, nicht mehr in
Adrian verliebt zu sein? Am liebsten ab sofort, wenn möglich. Das wäre unglaublich nett von dir und ich wäre dir
ewig dankbar und würde nichts mehr verlangen. Von mir
aus darfst du auch jedes Mal wie wild wummern, wenn ich
in der Schule irgendwas erklären muss, das war mir bisher
ja immer so schrecklich lästig. Ich verspreche, dass ich mich
in Zukunft nicht darüber beschweren werde, Hauptsache, du
hörst auf, in Adrian verliebt zu sein. Vielen Dank im Voraus! Mit freundlichen und erwartungsvollen Grüßen, Sigge Wilde.
Jetzt konnte ich nur warten und auf das Beste hoffen.
»Majken! Nimm noch eine Salzgurke!«
Krille Marzipans Gesicht war fast hinter der großen schwarzen Filmkamera verborgen. Ich sah nur sein linkes Auge, das in die Linse schielte, die Brille hatte er in seine grauen Locken hochgeschoben.
Obwohl wir uns alle daran gewöhnt hatten, mit Krille Marzipan zusammen zu wohnen (übrigens der einzige Hotelgast, der noch im The Royal Grand Golden Hotel in Skärblacka geblieben war), hatten wir uns an seine neueste erstaunliche Idee dann doch noch nicht gewöhnt. Die lief nämlich darauf hinaus, uns rund um die Uhr zu filmen, weil er eine Reality-Serie über unsere Familie drehen wollte. Und das ist kein Witz.
»Kamera läuft!«, rief Krille und näherte sich dem Esstisch.
Mama presste den Mund zu einem geraden Strich zusammen. Sie sah leicht erschöpft aus.
»Bitte, Majken, nimm jetzt eine Gurke!«, wiederholte Krille.
»OKAY, DANN MACH ICH DAS!«, sagte Majken und spießte eine Gurke mit der Gabel auf. Sie biss hinein und begann wie wild zu kauen. Aber schon nach ein paar Sekunden verzog sich ihr Gesicht vor Ekel, und sie spuckte hellgrünes Gurkenmus auf den Teller.
»BLÄH, PFUI, AAH! UÄÄH!«
Majken sprach sowieso schon sehr laut, aber jetzt schrie sie mit solcher Stimmgewalt, dass Mama, die neben ihr saß, das Gesicht verzog und sich die Ohren zuhielt.
»DIE GURKE IST JA SALZIG!«
»Ja, das ist doch wohl der Witz mit einer Salzgurke«, sagte ich.
»Ich nehme sie«, bot Bobo an.
Bobo schien nicht genug bekommen zu können, obwohl sie schon zwei Gurken verdrückt hatte und außerdem eine halb gegessene in der Hand hielt.
Majken reichte die Gurke an Bobo, die sie mit liebevollem Blick entgegennahm und ihr zärtlich über die grüne raue Haut strich.
»Guck mal, Pingo mag auch Gurke!«, sagte sie dann und presste dem ausgestopften Pinguin die Salzgurke auf den spitzen Schnabel.
»O ja, das sehe ich«, sagte Mama und versuchte Bobo eine blonde Locke von der Wange zu streichen. Aber die Locke klebte fest – wahrscheinlich von dem vielen Salzsud. Schließlich musste Mama die Locke mit dem Fingernagel abkratzen.
»Ich glaube, Pingo darf diese Gurke für sich allein behalten, Bobo. Wann haben wir seinen Schnabel denn zuletzt desinfiziert?« Dann stützte Mama die Stirn in die Hände und murmelte vor sich hin: »Mein Gott, was ist das für ein Leben, in dem ich fragen muss, wann ich den Schnabel des ausgestopften Pinguins meiner Tochter zuletzt desinfiziert hab?«
Krille Marzipan rückte mit der Kamera näher und zoomte zuerst Pingo heran und dann Bobo, die neugierig direkt in die Kameralinse starrte. Dann richtete er den Sucher auf Mama, die sich sofort eine Milchpackung vors Gesicht hielt. Sie war eindeutig nicht von Krilles neuem Projekt begeistert. Aber Majken dafür umso mehr.
»DU WOLLTEST MICH DOCH FILMEN!«, sagte sie und wedelte mit der Hand vor der Kamera hin und her.
Krille drehte sich folgsam um und drängte sich neben mich, um einen besseren Aufnahmewinkel zu bekommen.
»Ja, dann musst du jetzt aber noch eine Gurke essen«, sagte er. Majken steckte die Gabel in das Gurkenglas und spießte eine weitere grüne Salzgurke auf. Dann sah sie die Gurke so missbilligend an, als hätte diese sie persönlich gekränkt.
»ICH VERSTEHE NICHT, WARUM MAN EINE GUTE GURKE MIT SALZ KAPUTT MACHT!«
»Cut!«, schrie Krille und senkte sofort die Kamera. »Majken, wir haben das doch schon mal besprochen! Wenn man von einer so angesehenen und bekannten Firma wie Brinks Gurken gesponsert wird, heißt das, dass man die Gurken weder ausspucken noch schlechtmachen darf! Außerdem wäre es natürlich ideal, wenn du das Gurkenglas zur Kamera drehen würdest, damit man das Etikett deutlich sieht.«
Das alles hatte ein paar Wochen nach Weihnachten angefangen, als Krille Marzipan zufällig erfuhr, dass man mit Reality-Serien Millionen verdienen könne. Danach war er offensichtlich total davon besessen, selbst auch eine zu drehen. Besonders erfolgreich seien Fernsehsendungen, in denen man einer ganzen Familie folgen konnte.
Als Krille Marzipan erklärt hatte, wir würden gesponsert werden, hatte ich angenommen, wir würden Geld bekommen! Oder wenigstens ein paar neue Fahrräder oder so was. Aber nein. Was wir bekamen, das waren Salzgurken. Krille rechnete jedoch damit, dass wir noch weitere Sponsoren finden würden. Und da hoffte ich auf irgendeine coole Klamottenmarke oder einen Kaugummihersteller – am besten von Kaugummis mit Orangengeschmack. Bobo war allerdings hochzufrieden mit den Salzgurken, die ringsum in der Küche in durchsichtigen Plastik-Eimern aufgestapelt waren.
Jetzt setzte Krille Marzipan seine Brille auf und sah konzentriert in den Sucher der Kamera.
»Liebe Majken, du musst wissen, Brinks, das ist nicht irgendeine Gurkenfirma. Nein, Brinks, das sind die Könige aller Gurkenzüchter!«
»KRIEGST DU ETWA GELD VOM GURKENKÖNIG?«, fragte Majken erstaunt.
»Ja, irgendwie schon. Ich bekomme Gurken, und die kosten Geld.«
»DU KRIEGST ALSO GURKEN, WEIL DU UNS FILMST, WENN WIR GURKEN ESSEN?«
»Ja, genau. Darum muss ich schon keine Gurken kaufen und verdiene dadurch etwas. Wie jetzt zum Beispiel: Wie viele Eimer und Gläser hab ich bekommen? Mehr als zwanzig. Ich weiß nicht genau, wie viel so ein großer Eimer kostet, aber sicher weit über hundert Kronen. Also hab ich mindestens ein paar Tausender gespart!«
»Na ja, normalerweise hättest du vielleicht keine zwanzig Eimer Salzgurken gekauft«, bemerkte Mama trocken.
Mama war anders als sonst. Eindeutig. Sie, die sonst mit allem und jedem so viel Geduld zeigte, hatte heute einen säuerlichen Ton in der Stimme.
»ABER WENN DU WAS VERDIENST … MÜSSTE ICH DOCH AUCH WAS VERDIENEN?«, fand Majken.
»Ein Punkt für dich, Darling!«, bemerkte Oma und prostete Majken anerkennend mit ihrem Weinglas zu.
»ICH LIEBE NÄMLICH GELD«, sagte Majken. »GELD IST DAS BESTE, WAS ICH KENNE.«
»Ist Geld wirklich das Beste?«, fragte Mama.
»JA«, sagte Majken. »DAS BESTE, WAS ICH KENNE.«
»Aber es gibt doch noch wichtigere Dinge im Leben?«, sagte Mama versuchsweise.
»JA! WENN MAN GEWINNT! DARUM WERD ICH JA AUCH FUSSBALLPROFI!«
»Ich hab eher an so etwas wie Liebe und … und Freundschaft und Familie gedacht«, fuhr Mama fort.
»Als ich jung war, glaubte ich auch, Geld wäre das Wichtigste im Leben«, sagte Oma und steckte sich eine Zigarette an.
»Genau«, sagte Mama. »Aber dann, wenn man älter wird, sieht man ein, dass …«
Oma stieß schnell drei Rauchringe hintereinander aus und unterbrach Mama.
»Jetzt, wo ich älter bin, weiß ich, dass es so ist.«
Mama starrte Oma an. »Aber Charlotte! So was kannst du doch nicht sagen!«
»I’m joking, darling! Aber trotzdem … wenn du überhaupt kein Geld hast, kannst du weder Essen noch Kleider kaufen oder eine Wohnung bezahlen. Liebe, die kannst du ja nicht anziehen, oder? In einem Freund wohnen geht auch nicht. Oder deine Familie essen? In kürzester Zeit würdest du sterben.«
Mama beugte sich über den Tisch vor und sah Oma durchdringend an.
»Aber Charlotte, ohne Liebe, Freunde oder Familie wäre das Leben doch ziemlich sinnlos? Selbst wenn du in einem Schloss wohnst, goldene Kleider trägst und jeden Tag Fasanenbraten isst. Dann vereinsamst du ja völlig.«
Bobo kam Oma unerwartet zu Hilfe.
»Man kann Tiere haben.« Sie streichelte Einstein, der ihr auf der Jagd nach einem leckeren Krümel schnell mit der Zunge über die Hand fuhr.
»Das ist wahr, Boel«, sagte Oma. »Man kann Tiere haben.«
Mama öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder und kniff die Lippen fest zu.
»ICH WILL HUNDERT KRONEN DAFÜR HABEN, DASS ICH EINE GURKE ESSE!«, verkündete Majken.
»Ein bisschen viel, oder?«, meinte Krille.
»FÜR MICH NICHT!«, sagte Majken.
»Das gefällt mir nicht!« Mama wedelte gereizt den Rauch weg, der wie ein hellgrauer Schleier über dem Tisch hing. Sie stand auf, nahm ihren Teller und ging zur Spüle, wo sie ihn mit einem Knall hinstellte.
»Was denn?«, fragte Oma.
»Es gefällt mir nicht, dass du verkündest, Geld sei das einzig Wichtige.«
»Das hab ich natürlich nicht gesagt«, protestierte Oma. »Am allerbesten ist es selbstverständlich, Geld, Liebe, Freunde und Familie zu haben!«
Krille senkte die Kamera.
»Jetzt wird die Stimmung vielleicht ein bisschen zuuuu … wie soll ich sagen? Zu negativ. Außerdem wäre es gut, wenn ihr euch mehr auf die Gurken konzentriert. Ihr könntet vielleicht ein bisschen mehr Gurken essen? Oder darüber reden?«
»ICH WILL 99 KRONEN HABEN«, sagte Majken, »DAS IST MEIN LETZTES ANGEBOT!«
»Oh, tut mir leid, dass die Stimmung nicht positiv genug ist für deine Dokusoap, Krister!«, sagte Mama sarkastisch.
»Es ist keine Dokusoap, sondern eine Reality-Serie«, murmelte Krille.
»Entschuldigung! Bedaure, dass die Stimmung nicht positiv genug für deine Reality-Serie ist!«, sagte Mama und begann am Küchentisch Teller und Besteck einzusammeln.
Mir wurde ganz komisch. Mama klang sonst nie so wütend. Bobo sah sie mit großen Augen an, und sogar Majken verstummte.
»Aber irgendwie ist das hier reality!«, fuhr Mama fort. »So sieht die Wirklichkeit aus: Meine Mutter sitzt kettenrauchend in der Küche und bringt meinen Kindern bei, Geld sei das Wichtigste im Leben! Na und! Wen kümmert das schon! Los, filme das hier, Krister. Filme, wie ich noch eine Gurke nehme.«
Mama versuchte das Gurkenglas mit einer Hand hochzuheben, das Glas war aber zu schwer und kippte fast um. Dabei schwappte Wasser auf ihre Hand und auf den Tisch.
Krille sah Mama unsicher an, hob dann aber die Kamera hoch und filmte weiter.
»Ist das hier positiv genug, Krister? Ein bisschen Action mit einem umgekippten Gurkenglas?« Wieder schwappte etwas Gurkenwasser über den Rand. »Oh, entschuldige, ich glaube, das Etikett zeigt in die falsche Richtung – sooo! Jetzt ist’s besser.« Mama steckte eine Hand ins Gurkenglas, angelte eine Salzgurke herauf und biss hinein. »Mmmm, schmeckt himmlisch! Du filmst doch hoffentlich, Krister? Halloo?!« Dann knallte sie das Gurkenglas auf den Tisch und sagte: »War das positiv genug für dich?«
Krille trat zwei Schritte zurück und nahm die Kamera von der Schulter. Er sah fast ängstlich aus, als er antwortete:
»Ja, das war … äh … super!«
»Und übrigens –, hoffentlich hat euch das Essen geschmeckt!« Sie gestikulierte zum Backblech auf dem Herd hinüber.
Wir starrten Mama ein paar Sekunden an, dann fingen wir alle gleichzeitig an zu versichern, wie gut das Essen gewesen sei.
»MAMA, DAS HAT SUPERGUT GESCHMECKT, VIEL BESSER ALS DIE SALZGURKEN!«, sagte Majken.
»Das war echt mega, Mama«, sagte ich.
»Es hat einmalig geschmeckt! So ein Essen, das nicht angebrannt ist wie bei mir, das ist doch was ganz anderes, Hannah«, versicherte Oma.
Da drehte sich Mama müde zu Oma um und sagte:
»Charlotte. So geht das nicht!«
»Aber Hannah, Darling«, sagte Oma.
Mama schüttelte den Kopf und hielt Oma die Hand wie ein Stoppzeichen vors Gesicht. Mit stockender Stimme sagte sie: »Verstehst du denn nicht, Charlotte? Also – so geht das einfach nicht!«
Dann marschierte sie aus der Küche. Verstummt starrten wir uns an und hörten, wie sie die Treppe nach oben stapfte und eine Tür zuschlug.
Bobo sah mich betrübt an und sagte: »Mama ist böse.«
Ich stand auf und hob sie und Pingo aus dem Hochstuhl.
»Ja, aber nicht auf dich«, sagte ich und setzte sie mir auf den Schoß.
Ihr warmes Gewicht auf meinen Knien fühlte sich beruhigend an. Die blonden Locken kitzelten mich an der Wange.
»Ich mag das nicht«, sagte Bobo.
»Ich auch nicht«, sagte ich. Ich hatte einen Klumpen im Bauch. Warum war Mama so? Das verstand ich nicht. Ich nahm mir ein Stück Gurke und reichte es weiter an Bobo. Sie biss ein Stück ab und ging dann dazu über, Pingo zu füttern. Das schien sie zu beruhigen.
»Ich glaube, es tut Hannah gut, ein bisschen böse zu werden«, sagte Oma. »Sie war schon immer viel zu lieb.«
»DAS FINDE ICH NICHT«, sagte Majken. »ICH FINDE, SIE IST GENAU RICHTIG LIEB.«
»Of course, darling. Ich meine nur, es ist gut, dass sie reagiert, wenn sie findet, dass jemand etwas Dummes macht oder sagt. Viel besser, als wenn sie so tut, als wäre nichts passiert.«
»WER HAT WAS DUMMES GEMACHT?«, wollte Majken wissen.
»Ja, das war wohl ich«, sagte Oma und drückte ihren Zigarettenstummel im Aschenbecher aus. »Und vielleicht auch du, Krister«, fügte sie hinzu, bevor sie mit dem Aschenbecher zum Abfalleimer ging.
»Ach du liebe Zeit!«, sagte Krille Marzipan.
Er stellte die Kamera auf dem Tisch ab und sah aufrichtig unglücklich aus.
»Aber nur ein klein wenig«, sagte Oma und legte ihm ihre Hand auf die Schulter.
»BIN ICH FROH, DASS ICH DAS NICHT WAR!«, erklärte Majken.
Ich selbst konnte mich nicht so unbeschwert freuen. Klar war es gut, dass Mama nicht auf mich böse war. Aber irgendwas war mit ihr los. Irgendwas Beunruhigendes. Wie wenn dunkle Wolken vom Horizont plötzlich näher ziehen. Warum hatte sie Oma so angestarrt und gesagt, dass es nicht mehr ging? Was war es denn, das nicht mehr ging?
Ich zögerte. Ließ den Finger knapp über dem Display schweben. Das hier hatte ich doch schon so lange gewollt. Hatte aber irgendwie so getan, als würde ich es nicht wollen. Sogar mir selbst hatte ich etwas vorgemacht. Aber jetzt hatte ich keine Ausrede mehr. Ich hatte Schlittschuhe. Ich hatte Geld für den Kurs. Zweitausendeinhundert Kronen. Der Kurs fing schon nächste Woche an.
Etwas scharrte an der Tür. Einstein natürlich. Ich streckte den Arm Richtung Klinke aus, bis es mir gelang, die quietschende Tür zu öffnen, ohne das Bett zu verlassen. Einstein schob seine schwarze wolfsähnliche Schnauze herein und sah mich vorwurfsvoll an.
»Tut mir leid, mein Freund, das war keine Absicht«, sagte ich und klopfte auf den Überwurf. Sonst ließ ich die Tür immer angelehnt, damit er jederzeit hereinkonnte, aber diese Sache mit dem Eiskunstlauf fühlte sich irgendwie so privat an, dass ich am liebsten ganz allein sein wollte. Bevor ich die Tür wieder schließen konnte, sah Mama durch den Türspalt und teilte mit, sie werde jetzt Pepsi und Cola abholen. Pepsi und Cola waren zwei Katzen, die bei unserer Nachbarin Barbro gelebt hatten. Dort konnten sie aber nicht bleiben, weil Barbro eine heftige Pelztierallergie entwickelt hatte.
Der Plan war, die Katzen bei uns unterzubringen, bis Junos und meine gemeinsame App Happy Animals starten würde. (Was in knapp drei Wochen der Fall sein sollte! Wir waren beide mächtig aufgeregt. Schließlich hatten wir uns ja seit vorigem August mit dieser App beschäftigt!) Dann würden die Katzen hoffentlich neue Besitzer finden. Juno wollte sich natürlich am liebsten selbst um Pepsi und Cola kümmern, aber ihre Eltern hatten Nein gesagt – alle zwanzigtausend Mal, die Juno sie gefragt hatte.
Mama hatte ihre hellblaue Steppjacke angezogen und ihre rote, etwas zu große Mütze, dadurch erinnerte sie stark an Junos Gartenzwerg Tom Thelander, auch als Bilbo bekannt (von meinem Erfolgskonto auf Instagram: Bilbo the Runawaygnome!)
»Mir tut Barbro leid. Hoffentlich ist sie nicht allzu traurig«, sagte Mama.
»Wenn sie Lust hat, kann sie ja herkommen und die Katzen besuchen«, meinte ich.
»Ja, aber dieses Haus löst garantiert einen totalen Allergieschock aus. Ein Hund, zwei Meerschweinchen, vierzig ausgestopfte Tiere, Charlottes Zigarettenrauch und die Staubmäuse im Untergeschoss …«
Ich musste lachen. Sie hatte recht.
»Brauchst du Hilfe? Mit den Katzen?«, fragte ich dann.
»Du bist ein Schatz! Aber das ist wirklich nicht nötig.