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Skurril, schrill und voller Leben. – Willkommen in Sigges fabelhafter Welt! Seit Sigge Stockholm verlassen hat, ist sein Leben so viel besser geworden! In Omas Hotel, dem ROYAL GRAND GOLDEN HOTEL in Skärblacka, fühlt er sich wie zu Hause, und in der Schule ist niemand mehr gemein zu ihm. Noch besser wird es, als die coolen Zwillinge Sixten und Jona ihn bitten, in ihrer Hip-Hop-Band mitzumachen und bei der Weihnachtsshow der Schule aufzutreten. Ärgerlich ist nur, dass die Zwillinge überhaupt keinen Wert auf Proben legen - oder auch nur Texte zu schreiben! Das stresst Sigge ziemlich. Er fragt sich, warum es so schwer ist, wirkliche Freunde zu finden. Ist das der Preis dafür, unbedingt beliebt sein zu wollen? »Mein genialer Tod« ist die lang erwartete Fortsetzung zu »Mein geniales Leben« (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 in der Sparte Kinderbuch).
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Seitenzahl: 389
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Für Milla und Sam – ich liebe euch bis zum Mond und zurück!
Noch 60 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Jesus ist hier!
Noch 59 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Ständige Hochspannung
Noch 57 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Vierzig Riesen übrig?
Noch 55 Tage bis zur Weihnachtsfeier
From the streets of Rågsved
Noch 54 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Heilige Geiss
Noch 52 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Papier wächst nicht auf Bäumen!
Graffiti und fette Beats
Noch 51 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Pause! Du weißt, dass du sie brauchst!
Noch 49 Tage bist zur Weihnachtsfeier
Schmuserei mit einer Wühlmaus
Noch 46 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Absolut Pizzahut
Noch 43 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Stinkreiche Meerschweinchen
Noch 42 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Ist es erlaubt, so knickrig zu sein?
Noch 41 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Ballons für Jesus
Noch 39 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Von einer Gewürzgurke beleidigt
Noch 37 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Chillen statt killen!
Noch 34 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Unfall mit Umfall
Noch 31 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Skaters gonna skate
Chef aller Chefs – König aller Könige
Noch 30 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Ein origineller Idiot
Noch 26 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Ringelschwänze an Schweine verkaufen
Noch 24 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Ein panierter Pinguin
Noch 22 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Lebe wie ein Meerschweinchen, stirb wie Jesus!
Noch 18 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Immer auf der Hut sein
Noch 16 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Von Bären aufgezogen
Noch 13 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Ende einer Hiphop-Karriere?
Noch 12 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Eine unerträgliche Sonne
Noch 10 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Ööhd und blööhd
Handbuch für normales Benehmen
Noch 9 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Machst du Witze? Ich brauch ne Spritze!
Noch 6 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Lucia-Chaos
Noch 2 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Blut und Schlamm! Blut! Und! Schlamm!
Noch 0 Tage bis zur Weihnachtsfeier
Mein genialer Tod
1 Tag nach der Weihnachtsfeier
Ein Tanz ohne Tanzschritte
Aus für Pepsi und Cola
Weihnachten
Wollen wir tatsächlich diesen Geheimdienstchef vom Nordpol in unser Haus lassen?
Impressum
»ICH BIN DER JESUS!«, schrie Majken und warf die Haustür so fest hinter sich zu, dass die Fensterscheiben klirrten.
Ich lag gerade im Eingangsflur auf dem Boden und versuchte mein Gesicht vor Einsteins wilden Küssen zu schützen. Obwohl ich schon vor einer Viertelstunde nach Hause gekommen war, hatte ich es noch nicht geschafft, meine Inliner auszuziehen, weil Einstein mich jedes Mal, wenn ich mich aufrichten wollte, wieder überfiel. Sein Schwanz wedelte so schnell hin und her, dass mir kleine Windstöße übers Gesicht fuhren. Woher er diesen Schwanz wohl hatte? Also, er hatte ihn natürlich seit seiner Geburt, dieser buschige Schwanz passte aber weder zu einem Rottweiler (Einstein war nämlich zu drei Vierteln Rottweiler) noch zu einem Schäferhund (was Einstein zu einem Viertel war). Wer weiß, vielleicht war Einstein außerdem noch mit einem Fuchs oder so was verwandt?
Majken warf ihre Cap in einem schwungvollen Bogen durch den Flur. Die Mütze machte eine perfekte Landung auf dem Hintern des ausgestopften Zebras, fiel aber dann auf den Boden, wo sie sich zu einem grünen Hut, einem Lederhandschuh und einer Königskrone aus Goldpapier gesellte.
Einstein ließ mich endlich in Ruhe, nachdem er eine Hummel (oder vielleicht war es auch eine ungewöhnlich dicke Wespe) entdeckt hatte, hinter der er jetzt herjagte. Und das, obwohl jede Hummeljagd, die er jemals in Angriff genommen hatte, immer damit endete, dass er gestochen wurde und vor Schmerz aufjaulte – wie wir beide sehr gut wussten.
»Nein, Einstein«, versuchte ich zu warnen, aber er weigerte sich, darauf zu hören.
»ICH BIN DER JESUS!«, schrie Majken noch einmal.
Meine kleine Schwester Majken hat es in ihrem ganzen achtjährigen Leben nicht geschafft, in normaler Zimmerlautstärke zu sprechen. Aber heute war sie so exaltiert, dass ich fast taub geworden wäre.
»Aha«, sagte ich und richtete mich auf. »Und dabei hab ich immer gedacht, Jesus hätte einen Bart gehabt.«
Majken runzelte die Stirn und sah mich verständnislos an. Doch dann breitete sich ein strahlendes Lächlen auf ihrem Gesicht aus, weil sie Omas Stimme aus dem oberen Stock hörte.
»The Wilde kids are home!«
Nicht dass wir besonders wild oder so wären (ich jedenfalls nicht), aber unser Nachname ist nun mal Wilde.
»CHARLOTTE!«, sagte Majken erwartungsvoll, während sie sich schnell von ihrem Rucksack befreite und sich die Turnschuhe von den Füßen streifte.
Wir sagen immer »Charlotte« zu Oma, sie will nämlich nicht Oma genannt werden. Wörter wie »Mama« und »Oma« seien herabsetzend, behauptet sie. Als hätte sie keine eigene Identität mehr, sondern wäre nur noch eine sanfte, mütterliche und fürsorgliche Person. Und so eine Person ist Oma nun wirklich nicht! Obwohl sie sich manchmal durchaus um uns kümmert. Aber dann nur, weil sie selbst es will, und nicht weil es zu dem allgemeinen Bild von einer Mutter oder Oma passt.
»Ist ja toll, dass ihr jetzt gerade auftaucht«, rief Oma aus. »Jetzt hab ich eine fantastische Ausrede, um das Staubwischen zu verschieben!«
Als Erstes erschienen ein Paar zitronengelbe hochhackige Schuhe auf der Treppe, dann kamen grüne Glitzerleggings und danach ein flauschiger weißer Pulli und schließlich die restliche Oma – also Omas Kopf mit dem grauen Zopf, der ihr über die Schulter fiel. Majken hüpfte vor Begeisterung auf und ab und brüllte:
»CHARLOTTE! DU AHNST JA NICHT, WAS PASSIERT IST! ICH BIN JESUS!«
»Nein, darling dearest! Also das hätte ich nun wirklich nie geahnt«, sagte Oma.
Mama erschien in der Türöffnung der Küche. Wenigstens nahm ich an, dass es Mama war. Sie trug nämlich einen so riesigen Haufen Wäsche, dass nur ihre Beine zu sehen waren.
»Worüber redet ihr gerade?«, fragte die Stimme hinter dem Wäscheberg (die eindeutig Mamas Stimme war).
»Majken hat sich offensichtlich in den Sohn Gottes verwandelt«, sagte ich.
»NEIN, NEIN, IHR VERSTEHT DAS NICHT! IN DER MAUSDORFSCHULE SOLL ES EINE WEIHNACHTSFEIER GEBEN!«
»Mosstorpschule«, murmelte ich.
»MIT GESANG UND TANZ UND THEATER UND ZAUBERTRICKS UND LAUTER SO SACHEN! DAS MACHEN DIE JEDES JAHR, UND JEDER DARF MITMACHEN! ALLE VON DER ERSTEN BIS ZUR SECHSTEN. DU AUCH, SIGGE!«
»Nein danke«, sagte ich.
»UND WIR SOLLEN EIN KRIPPENSPIEL AUFFÜHREN«, fuhr Majken fort, die inzwischen vor Erregung auf der Stelle hüpfte. »DAS IST SO WAS WIE EIN THEATERSTÜCK UND HANDELT VON MARIA UND JOSEF. UND DIE MARIA ERWARTET EIN KIND, DARUM IST SIE UNHEIMLICH DICK, UND DAS KIND SOLL IN EINEM STALL GEBOREN WERDEN. ABER MARIA UND JOSEF SIND KEINE PFERDE, WIE MANCHE LEUTE VIELLEICHT GLAUBEN, WEGEN DEM STALL, SONDERN MENSCHEN, DARUM GEBÄREN SIE EIN KIND, DAS SIE AUF DEN NAMEN JESUS TAUFEN!«
»Aha«, sagte ich.
Ein Krippenspiel. Das war die Erklärung.
»UND DER JESUS, DAS BIN ICH! ICH HAB DIE HAUPTROLLE GEKRIEGT!«, teilte Majken mit.
»Das ist ja einfach fantastisch«, sagte Oma und versuchte ein paar widerspenstige Haarsträhnen auf Majkens Kopf zu glätten. Das war völlig sinnlos. Majkens Haare sahen trotzdem aus wie ein Vogelnest, das Nest eines ziemlich schlampigen Vogels. Oma hob den grünen Hut vom Boden auf und drückte ihn Majken auf den Kopf.
»ICH WEISS!«, sagte Majken und zog sich den Hut so weit herunter, dass ihr die Ohren abstanden.
»Glückwunsch, mein Schatz!«, sagte Mama.
»Hat Jesus wirklich die Hauptrolle?«, fragte ich. »Als wir in meiner alten Schule Krippenspiele aufführten, wurde Jesus immer von einer alten Puppe gespielt.«
»JA, DAS WOLLTE GUNNAR, UNSER LEHRER, ZUERST AUCH SO MACHEN, ABER DA HAB ICH GESAGT, IM KRIPPENSPIEL IST DOCH JESUS DIE HAUPTPERSON!«
»Ja, er ist die Hauptperson der ganzen Christenheit, könnte man wohl sagen«, bemerkte Krille Marzipan, der soeben mit einer Tasse Kaffee in der Hand um die Ecke kam. Krille Marzipan ist ein sehr langer, dünner Herr um die sechzig, der auch in The Royal Grand Golden Hotel Skärblacka wohnt. Er ist der einzige übrig gebliebene Gast des Hotels, alle anderen mussten ausziehen, als wir einzogen. Aber Krille räumt sein Zimmer selbst auf und bereitet sich sein eigenes Frühstück, darum kommt er uns in letzter Zeit mehr wie ein Familienmitglied vor und weniger wie ein Hotelgast.
»GENAU«, sagte Majken mit einem anerkennenden Blick auf Krille. »UND DIE HAUPTPERSON KANN DOCH NICHT VON EINER PUPPE GESPIELT WERDEN, ODER? UND DA HAT GUNNAR GESAGT, DANN KANNST DU DOCH JESUS SPIELEN, MAJKEN. UND ICH HAB ›JA‹ GESAGT, WEIL ICH WUSSTE, DASS ICH EIN SEHR GUTER JESUS WERDEN KANN, WEIL ICH ZUM BEISPIEL AUCH LANGE HAARE HABE.«
»Du wirst bestimmt ein phänomenaler Jesus«, meinte Oma. »Außerdem passt deine Stimme wirkich gut fürs Theater. Selbst die Zuschauer in der letzten Reihe werden jedes Wort hören!«
»An und für sich ist Jesus ja gerade erst geboren worden, darum sagt er vielleicht nicht unbedingt sehr viel«, wandte ich ein. »Höchstens möglicherweise mal ›wäääah‹«.
»GENAU DAS HAT GUNNAR AUCH GESAGT, ABER DA HAB ICH GESAGT, ES KANN DOCH NICHT SEIN, DASS DIE HAUPTPERSON GAR NICHTS SAGT? DAS WÄR JA ECHT VERRÜCKT. UND DARUM MÜSSEN WIR DAS STÜCK UNBEDINGT ÄNDERN. MAMA, DU MUSST ABER AUCH ZUR AUFFÜHRUNG KOMMEN, DU DARFST DANN NICHT ARBEITEN!«
»Ja, das möchte ich mir unbedingt anschauen!«, sagte Mama. »Wann findet diese Weihnachtsfeier denn statt?«
»IM DEZEMBER. AN EINEM SONNTAG.«
Majken lüftete den Hut und verbeugte sich tief, als würde sie sich jetzt schon auf den Beifall vorbereiten.
»Okay, wir müssen feststellen, an welchem Sonntag genau das ist! Ich freu mich schon darauf, dir zuzuschauen, Majken!« Mama versuchte neben dem Wäscheberg hervorzulinsen. Doch das klappte nicht so recht, nur ihr eines Ohr und eine braune Haarlocke tauchten kurz auf, dann rutschte ein T-Shirt auf den Boden, danach eine kleine Strumpfhose und schließlich ergoss sich der ganze Kleiderhaufen über ihre Füße.
»Wie unhöflich von mir«, sagte Krille und stellte die Kaffeetasse ab. »Ich schätze, du bist zur Waschküche unterwegs, Hannah?«
»Korrekt geschätzt«, antwortete Mama.
Krille bückte sich und sammelte die Kleider vom Boden auf. Er hob auch ein großes Wäschestück weg, das zuoberst auf dem Haufen gelegen hatte, sodass wir endlich Mamas Gesicht zu sehen bekamen. Sie lächelte uns an und schickte Luftküsse, zuerst an Majken und dann an mich. Ich tat so, als würde ich den Kuss mit der Hand fangen und ihn in meine Hosentasche stecken.
»Gestatte, dass ich dich begleite«, sagte Krille, der inzwischen die Arme voller Wäsche hatte.
»Oh, vielen Dank, Krister!«, sagte Mama. »Du bist ein Engel! Nachher will ich alles über Jesus hören, Majken!«, rief sie über die Schulter, bevor sie auf der Kellertreppe verschwand.
Krister folgte ihr, und ich hörte ihn sagen:
»Hannah, wie du sicher weißt, ist es sehr schwierig, einen Fuß in die Filmbranche zu bekommen. Vor allem wenn man wie ich keine direkten Kontakte hat. Darum wirst du dich hoffentlich darüber freuen, dass ich inzwischen eingesehen habe, wie mein nächster Schritt aussehen muss!«
Die arme Mama! Ich hab Krille Marzipan sehr gern, aber er verwendet oft viel zu viele Wörter, wenn er etwas erzählen will.
»Wo steckt Bobo überhaupt?«, fragte ich.
Im selben Moment ertönte die tiefe Stimme von Elvis Presley aus dem oberen Stock. Meine zweite (und jüngste) kleine Schwester liebt Elvis fast noch mehr als die alten ausgestopften Tiere, die überall im Haus herumstehen. Ständig lässt sie seine Songs auf der Jukebox in ihrem Zimmer laufen. Diesmal dröhnte Always on my mind durchs Treppenhaus.
»Aha«, sagte ich. »Oben in ihrem Zimmer.«
»Exactly!« Oma lachte.
Nachdem ich meine Füße endlich von den Inlinern befreit hatte, folgte ich Oma und Majken in die Küche, wo Einstein hinter der Hummel herrannte, die verwirrt über ihm kreiste. Ich öffnete die Terrassentür und nahm eine Zeitung, um die Hummel damit in den Garten hinauszuwedeln.
»Majken, erzähl noch ein bisschen über Jesus«, bat Oma.
»JA! DAS IST EINE SPANNENDE GESCHICHTE«, sagte Majken. »MARIA WAR JA MIT JOSEF ZUSAMMEN, BEKAM ABER EIN KIND VON GOTT. ABER FÜR JOSEF WAR DAS TOTAL OKAY, ALSO HATTE SIE GLEICHZEITIG ZWEI FREUNDE, KÖNNTE MAN SAGEN.«
Oma lachte.
»Maria war ganz klar ihrer Zeit voraus.«
»ABER GOTT HAT NICHT MIT JESUS UND MARIA UND JOSEF ZUSAMMENGELEBT.«
»Nein, als Elternteil war er wohl nicht allzu präsent.«
Majken schwieg und überlegte kurz.
»SVEDRIK UND GOTT SIND SICH ZIEMLICH ÄHNLICH, SVEDRIK IST NÄMLICH AUCH NICHT BESONDERS PRÄSENT ALS ELTERNTEIL«, sagte sie dann.
»Und genau an diesem Punkt hören die Ähnlichkeiten zwischen Gott und deinem Vater auf, denke ich«, bemerkte Oma.
Nachdem ich hinter der Hummel hergerannt und immer wieder ihr gestreiftes Hinterteil angepustet hatte, gelang es mir endlich, sie hinauszuscheuchen. Schnell machte ich die Tür zu. Einstein sah mich enttäuscht an.
»Das hab ich doch für dich getan, du Döskopp«, sagte ich und kraulte ihn hinter den Ohren. »Hättest du ein bisschen mehr Grips, würdest du das kapieren.«
Oma öffnete die Kühltruhe, holte eine Tüte Zimtschnecken heraus und schwenkte die raschelnde Tüte durch die Luft.
»Zimtschnecke? Anyone? Sigge? Majken?«
»ICH NEHME EINE GEFRORENE!«, teilte Majken mit.
»Ich nehme eine nicht gefrorene«, sagte ich. »Oder lieber zwei.«
Oma trat in den Flur und brüllte in den oberen Stock hinauf:
»Boel, Darling! Zimtschnecke?«
Bei Oma schmeckten die Zimtschnecken immer besonders gut. Sie backte sie nicht selbst (auf diese Idee wäre sie nie gekommen), sondern kaufte sie im Supermarkt. Aber sie verfeinerte die Schnecken mit Extrabutter, Zucker, Zimt und Rosinen, und damit schmeckten sie besser als alle Zimtschnecken auf der Welt.
»DAS BESTE IN DEM GANZEN STÜCK IST JEDENFALLS, ALS DREI LEISE MÄNNER KOMMEN, DIE GESCHENKE FÜR JESUS MITBRINGEN. DANN DARF ICH PAKETE AUSPACKEN!«
»An und für sich glaube ich, dass es drei weise Männer waren«, sagte ich und schenkte mir ein Glas Milch ein. »Und wie willst du überhaupt Geschenke auspacken, wo du doch neugeboren bist?«
»ICH BIN GOTTES SOHN!«
»… und?«
»DA KANN MAN ALLES MACHEN«, erklärte Majken und gestikulierte so wild mit den Armen, dass sie das ausgestopfte Wiesel Pavlov oben auf der Mikrowelle traf. Pavlov knallte auf den Boden.
»Alles, nur nicht die eigenen Gliedmaßen kontrollieren«, bemerkte ich und stellte das bedauernswerte Wiesel wieder auf die Mikrowelle hinauf. Mittlerweile sah es noch zerzauster aus als vorher.
»JESUS HAT SEINE GLIEDMASSEN SUPERGUT KONTROLLIERT! ER IST ZUM BEISPIEL AUF DEM WASSER GELAUFEN!«, sagte Majken und biss herzhaft in ihre eiskalte Zimtschnecke.
»Vielleicht war der See an dem Tag zugefroren«, schlug ich vor, aber Majken hörte mir nicht zu. Stattdessen sagte sie:
»WISST IHR ÜBRIGENS, WAS IN DEN PAKETEN WAR, DIE JESUS BEKAM? GOLD UND ZIGARETTEN!«
Oma lachte.
»Aha? Wie nett für den kleinen Jesus!«
Sie steckte die spezialpräparierten Zimtschnecken in die Mikrowelle.
»Zigaretten?«, fragte ich. »Wie kommst du darauf, dass er Zigaretten bekam? Er hat doch – wie heißt das gleich, äh – Myrrhe gekriegt? Und Räucherwerk?«
»JA GENAU! ZIGARETTEN!«, sagte Majken, den Mund voller Zimtschnecke.
»Räucherwerk und Zigaretten sind ja nicht unbedingt das Gleiche. Räucherwerk sind kleine Stäbchen, die man anzündet, damit Rauch herauskommt.«
»GENAU! ALSO DOCH ZIGARETTEN!«
Ich gab es auf. Wenn Jesus in dem Krippenspiel Zigaretten bekam, war es jedenfalls nicht meine Schuld.
Oma stellte den Teller mit den frisch gebackenen Zimtschnecken auf den Tisch, und ich schnappte mir gleich eine. Sie schmeckte himmlisch! Oma hatte es wieder mal geschafft!
Plötzlich heulte Einstein vor Schmerz auf. Ich sah die Hummel über seinem Kopf eine Siegerrunde drehen. Irgendwie musste sie wieder in die Küche eingedrungen sein! Dann sah ich es. Das Küchenfenster! Es war offen. Zwar nur einen winzigen Spalt weit, aber breit genug, damit eine Hummel sich hindurchquetschen konnte, selbst wenn sie noch so dick war.
»Oh dear. Was ist jetzt wieder los?«, wollte Oma wissen, die Einsteins Dummheiten eigentlich gewohnt war.
»Eine Hummel hat ihm in die Schnauze gestochen«, erklärte ich und lief schnell zu Einstein hin.
Seine Augen waren groß wie Tischtennisbälle, er winselte und schleckte sich wie wild die Schnauze.
»Eine Hummel? Im Oktober? That’s odd«, bemerkte Oma.
Die Hummel summte noch ein paarmal um meinen Kopf, dann flog sie zum Fensterrahmen und setzte sich dort hin, als wollte sie sich überlegen, was sie als Nächstes anstellen könnte. Dann wirbelte sie zum Fenster hinaus.
Ich hielt Einsteins Kopf fest und sah sein breites schwarzes Gesicht mit den honigbraunen Flecken über den Augen und neben dem Mund an. Besonders genau musterte ich die schwarz glänzende Schnauze, konnte aber keinen Stich erkennen.
Einstein warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Ist schließlich nicht meine Schuld, oder? Einstein, antworte mir bitte! Fällt es allen Hunden so schwer, aus ihren Fehlern zu lernen, oder nur dir?«
Einstein weigerte sich zu antworten.
Plötzlich tauchte Bobo in der Küche auf. Sie hatte sich die ausgestopften Nerze Gujko und Minko unter die Arme geklemmt.
»Hallo, Bobo«, sagte ich.
»HALLI HALLO, BOBO!«, kam es von Majken, die so damit beschäftigt gewesen war, sich mit gefrorenen Zimtschnecken vollzustopfen, dass sie mindestens eine Minute lang den Mund gehalten hatte.
»Hallohallo«, antwortete Bobo.
»Dort stehen die Zimtschnecken, Sweetheart!« Oma zeigte auf den Küchentisch. Bobo strahlte. Aber anstatt selbst etwas zu essen, hielt sie ihre Schnecke den beiden Nerzen an die kleinen schwarzen Schnauzen.
»Gujko, Minko, ihr müsst essen, damit ihr so groß werdet wie Elvis!«
Erst als Bobo sich vergewissert hatte, dass die Nerze nicht fressen wollten, gönnte sie sich selbst einen Bissen.
Oma setzte sich an den Küchentisch und steckte eine Zigarette an.
»Wenn es schon so ist, dass Jesus raucht, sollte ich mich doch nicht lumpen lassen? Nicht, dass ich eine Entschuldigung brauche – aber trotzdem!«
Es war Mitte Oktober, und wir wohnten schon über vier Monate in Skärblacka (auch als Blacka bekannt). Das bedeutete, dass ich seit sieben oder acht Wochen die Klasse 6A der Mosstorpschule besuchte.
The Royal Grand Golden Hotel fühlte sich inzwischen wie unser Zuhause an, und unsere alte Wohnung in Rågsved in Stockholm, wo mir früher jeder einzelne Zentimeter vertraut gewesen war, begann allmählich in meiner Erinnerung zu verblassen. Und obwohl Mama sich nur schwer daran gewöhnen konnte, sowohl mit Oma als auch mit Krille Marzipan zusammenzuwohnen, fiel mir das überhaupt nicht schwer. Und Majken und Bobo hatten auch keine Probleme damit, obwohl sie Svedrik vermissten.
Ich selbst vermisste Svedrik kaum. Ich weiß nicht, ob das daran lag, dass Svedrik nicht mein richtiger Vater ist, oder ob es eher damit zu tun hat, dass ich und Svedrik so verschieden sind. Svedriks absolut größtes (und eventuell einziges) Interesse ist Fußball und vor allem der Verein Bajen. Mein absolut größtes Nicht-Interesse ist Fußball und vor allem Bajen. Und daran ist nicht der Verein Bajen schuld, sondern Svedrik. Er konnte einfach nie damit aufhören, über die Spiele von Bajen zu labern und sich über die einzelnen Spieler des Vereins auszulassen. Svedrik begriff nie, dass mich das alles kein bisschen interessierte. Und genauso wenig begriff er, dass Majken tatsächlich daran interessiert war und bekannte Fußballer im Schlaf aufzählen konnte. Das war mehr als einmal passiert, als wir noch beide im selben Zimmer schliefen. Nachts um drei hören zu müssen, wie Majken MAX VON SCHLEBRÜGGE, RONNIE HELLSTRÖM und ZLATAN IBRAHIMOVIC brüllte, war nicht unbedingt die schönste Art, aufzuwachen.
Aber ich will mich nicht zu viel über Svedrik beklagen. Auch wenn er meistens nur auf der Couch saß, Erdnüsse futterte und Fußball guckte, war er immerhin rein körperlich anwesend.
Mein biologischer Vater ist auf gar keine Art je für mich anwesend gewesen. Hier ein wenig Statistik:
– Wie oft bin ich meinem Vater begegnet: 0 Mal
– Wie oft habe ich mit meinem Vater gesprochen: 0 Mal.
– Wie viele Mails oder SMS-Grüße habe ich von meinem Vater bekommen: 0 (Das Einzige, was ich von meinem Vater bekommen habe, sind seine Haare. Die sind schwarz und lockig. Und seine Augen. Die sind dunkelgrün mit einem goldbraunen Rand rings um die Iris. Und seine Hautfarbe. Die ist Hellbraun. Majken behauptet, ich hätte eine Farbe wie verdünnter Kakao.)
– Ungefähr so viel Interesse hat mein Vater wahrscheinlich für mich: 0
Na ja, jetzt bin ich vom Thema abgekommen! Ich wollte eigentlich beschreiben, woran ich mich nach vier Monaten in Skärblacka gewöhnt hatte:
1. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass die Leute auf der Rolltreppe still standen und sich nicht danach richteten, wie man eigentlich stehen sollte. In Stockholm musste man rechts auf der Rolltreppe stehen, wenn man vorhatte, während der Fahrt stehen zu bleiben, sonst musste man eiskalt damit rechnen, mindestens einmal pro Sekunde von den vielen links vorbeirennenden Personen angerempelt zu werden. In Skärblacka gab es zwar keine einzige Rolltreppe, aber im benachbarten Norrköping umso mehr. Oma kapiert übrigens nicht, warum man sich auf einer Rolltreppe überhaupt bewegen soll. »Darling! Der Witz mit einer rollenden Treppe ist doch, dass man sich dort nicht zu bewegen braucht!«, wandte sie ein, als ich darüber mit ihr diskutierte. Damit hat sie allerdings recht.
2. Dass es in Skärblacka nicht allzu viele Läden und Lokale gab. Zwei, drei Lebensmittelläden, zwei Pizzerias, eine Apotheke, einen Blumenladen. So ungefähr. In Stockholm gab es selbst im Vorort Rågsved außer Kiosks und Lebensmittelläden auch Kleider-, Uhren-, Taschen- und Stoffgeschäfte, ein Sushi-Lokal, ein Thai-Restaurant und ein indisches Lokal. Und wem das nicht genug war, der konnte jederzeit die U-Bahn ins Stadtzentrum nehmen.
3. Dass man in Skärblacka die Sterne so viel deutlicher sah. In der Stadt, ich meine in Stockholm, sah man die Sterne fast gar nicht, wegen der vielen Lichter. Aber in Skärblacka sieht man sie umso deutlicher!
Aber eine Sache, an die ich mich noch nicht richtig gewöhnt hatte, das war die Schule.
Also. Alles ging gut. Daran lag es nicht. Meine Lehrerin Agneta war lieb, und meine Mitschüler waren voll in Ordnung. Manche waren ausgesprochen supernett (Juno, natürlich, und Miriam und Maja, und dann noch zwei, die hießen Bella Bjä und Bella Bjö), andere verhielten sich neutral. Eher gleichgültig. Niemand war eigentlich fies.
Aber trotzdem befand ich mich unter ständiger Hochspannung. Als müsste ich immer darauf vorbereitet sein, dass jederzeit etwas Schreckliches passieren könnte. Zum Beispiel, dass die anderen plötzlich entdecken würden, was für ein Loser ich eigentlich war.
Ich beobachtete mich selbst. Was ich sagte. Wie ich redete. Wie ich mich bewegte. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, war ich manchmal total erledigt, weil ich so viele Impulse hatte unterdrücken müssen. Dann warf ich mich aufs Bett und schlief zwei Stunden am Stück. Egal, wie sehr die Vogelbande draußen vor dem Fenster krakeelte.
Als ich in Junos Einfahrt gerannt kam, war es zehn nach zehn. Der silberfarbene Schlitten ihrer Eltern parkte so dicht an der unglaublich viereckigen und unglaublich stachligen Hecke, dass ich seitwärts gehen musste, um nicht mit der Jacke an den spitzen Stacheln hängen zu bleiben.
Oben auf der Treppe stand der Gartenzwerg Tom Thelander, den ich im Sommer entführt hatte. (Ich hatte auch ein äußerst erfolgreiches Instagramkonto unter dem Namen Bilbo the Runawaygnome gestartet, das inzwischen über 700 Follower hatte!) Tom Thelander mit seiner roten Zipfelmütze sah quietschvergnügt aus, und es war ihm fast überhaupt nicht anzumerken, dass er in der Mitte auseinandergebrochen war.
Juno öffnete schon die Tür, kaum dass ich den Klingelknopf berührt hatte. Sie trug einen weißen Kimono mit weiten Ärmeln und hellrosa und hellgelbem Blumenmuster. Wahrscheinlich hatte sie schon im Flur gewartet.
»Konnichiwa! Du kommst zu spät!«
Juno warf den Kopf in den Nacken, dass die türkisen Locken tanzten.
»Nur zehn Minuten«, sagte ich und trat ein. Meine Brillengläser beschlugen sofort, also nahm ich die Brille ab und rieb die Gläser am Pulli trocken.
»Dreizehn!« Juno deutete auf ihre Armbanduhr.
Als ich nicht reagierte, fuchtelte sie mir mit dem Arm vor dem Gesicht herum. Da kapierte ich.
»Die Uhr! Sie ist da!«
»Jaaa!«
Ich setzte die Brille wieder auf und packte Juno am Handgelenk, um besser zu sehen. Die Uhr war goldfarben, hatte ein türkisblaues Zifferblatt und goldene und rote Uhrzeiger. Juno hatte sie vor ein paar Wochen aus Japan bestellt. Juno liebte alles, was aus Japan kam. »Alles, bis auf die Erdbeben!«, wie sie immer sagte.
»Ich bete diese Uhr an! Ich will mit ihr nach Las Vegas fahren und sie heiraten!«
»Ich kann mich schwach daran erinnern, dass du von dem Omelett, das dir letzte Woche so gut gelungen ist, genau dasselbe behauptet hast. Oder?«, bemerkte ich.
Sie runzelte die Stirn.
»Ja, hab ich vielleicht. Das war ja auch ein absolut krass gutes Omelett! Aber hier geht es nur um mich und die Uhr!«
»Bin trotzdem erleichtert, dass du nicht vorhast, irgendwelche … Eier zu heiraten.«
Juno lachte und gab der Uhr einen zärtlichen Kuss.
Dann gingen wir am Wohnzimmer vorbei, wo Junos Mutter in einer extrem eigenartigen Haltung auf dem schneeweißen Zottelteppich lag. Ihr Po ragte in die Luft, und die Beine hatte sie sich irgendwie so über den Kopf geschleudert, dass die Zehenspitzen auf dem Boden gelandet waren. In dem engen schwarzen Trainingstrikot sah sie aus wie ein Ninja, der in einem Rückwärtspurzelbaum stecken geblieben ist.
»Hallo, Sigge«, stieß sie atemlos hervor.
»Hallo …«, antwortete ich.
Während Juno und ich zu Junos Zimmer nach oben stiegen, flüsterte ich:
»Entschuldige, aber was macht sie denn da?«
»Yoga«, erklärte Juno. »Sie ist total besessen davon. Das ist wie eine Krankheit. Jetzt will sie Papa auch dazu überreden. An und für sich hätte er es schon nötig, er ist nämlich ungefähr so gelenkig wie ein Kühlschrank. Nein, wie ein Gartenzwerg! Wahrscheinlich würde er in der Mitte auseinanderbrechen, wenn er sich an so eine Übung wagen würde.«
Kichernd schlossen wir schnell die Tür zu Junos Zimmer hinter uns.
Juno und ich hatten vor, den ganzen Samstag an unserer Handy-App Happy Animals herumzubasteln. Das heißt, ich nannte es »herumbasteln«, während Juno es etwas seriöser als »App-Entwicklung« bezeichnete.
»So muss das heißen. Meine beiden Eltern sind Systementwickler, also sollte ich das ja wissen.«
Als ich mich erkundigte, was solche Leute eigentlich tun, antwortete Juno:
»Sie entwickeln Systeme.«
Davon wurde ich auch nicht viel schlauer. Also erklärte Juno, sie würden Datensysteme entwickeln, und das machte mich ein Millimü gescheiter.
Unser Plan war, alle unsere Gedanken und Einfälle zum Thema Happy Animals zu notieren. Wir hatten schon im Sommer angefangen, über diese App nachzudenken. Als die Schule losging, waren unsere Pläne allerdings vorerst eingeschlafen. Aber jetzt war es so weit! Ich hatte das Erfinder-Notizbuch mitgebracht, das Opa mir geschenkt hatte, und blätterte alle meine alten Erfindungen durch – die Lautsprecher aus Plastikbechern, den Zeitungshalter, den man in die Badewanne mitnehmen kann, und dann Arrow Sparrow – meine umgebaute Harpune, mit der man im Raketentempo anstrengende Steigungen hinter sich bringt, wenn man auf Inlinern unterwegs ist. Arrow Sparrow war meine Glanzleistung, wenn ich es selbst so sagen darf. Und das darf ich ja!
Die Idee hinter Happy Animals war, dass Tiere, die sich einsam fühlten, andere Tiere treffen könnten. Eine Art Dating-App für Haustiere. Aber auch einsame Menschen könnten durch ihre Tiere neue Freunde finden.
Wenn man z.B. Besitzer einer schwermütigen Wüstenrennmaus wäre, könnte man sie ein nettes Wirbelmeerschweinchen treffen lassen. Die könnten dann zusammen Gurken futtern und tiefsinnige Gedanken über das Leben austauschen, während man selbst mit dem Herrchen oder Frauchen des Meerschweinchens abhing.
Wir überlegten auch, dass Leute, die nicht so recht wissen, wie man sich anderen Leuten gegenüber verhält, es dank dieser App leichter hätten. Wenn Tiere im Zimmer dabei sind, gibt es nämlich immer Gesprächsstoff. Immerhin hatte ich mein ganzes Leben mit den unterschiedlichsten Meerschweinchen, Schildkröten und Hunden verbracht, darum wusste ich das nur zu gut. Wenn man nicht weiß, was man sagen soll, guckt man einfach den eigenen Hund an, der ein echtes Energiebündel ist, und bemerkt: »Der ist heute wieder mal außer Rand und Band!« Und schon ist die Stimmung weniger steif.
Juno fand, die App könnte auch ein Treffpunkt für Leute sein, die mit ihren Tieren Hilfe brauchen, und für Leute, die anderen helfen wollen. Dann könnte jemand, der sich sehnlichst eine Katze wünscht, aber keine haben darf, weil die Eltern es verbieten (genau wie bei Juno) eine Woche lang eine Katze hüten, während der Besitzer Urlaub macht. Und ein Hundebesitzer, der ein paar Tage Spätschicht hat, könnte einem hundlosen Hundefreund helfen, der voller Begeisterung durch die Gegend rennen und Stöckchen werfen würde.
Die App-Anwender mussten vorher ein Profil erstellen, mit einem Bild und einem Text, dann mussten sie ankreuzen, ob sie Mensch oder Tier waren (was ich zuerst für unnötig hielt, weil es doch aus dem Profilbild hervorging, ob man z.B. ein Meerschweinchen war, aber Juno behauptete, das sei nötig, damit die App die richtigen Partner zusammenführt.)
Dann musste man auch ankreuzen, welche Art von Tier man treffen wollte, und wir verbrachten viel Zeit damit, möglichst unterschiedliche Haustierarten in alphabetischer Reihenfolge aufzuschreiben: Eidechse, Fisch, Hamster, Hund, Iltis, Kaninchen, Katze, Meerschweinchen, Minischwein, Ratte, Schildkröte und »übrige« für die Tiere, die in keine dieser Kategorien passten. Schließlich sollte man ankreuzen, ob man mit dem eigenen Tier Hilfe brauchte, oder ob man anderen Leuten helfen wollte, die mit ihrem Tier Hilfe brauchten.
Dann schrieben wir ein paar Probetexte, um zu sehen, wie die in der App wirkten. Ich schrieb einen für unsere Schildkröte Carolina, die garantiert von Happy Animals profitieren würde. Sie war vor ein paar Monaten ausgerissen, und das lag höchstwahrscheinlich daran, dass sie sich so sehr gelangweilt hatte.
Ich bin eine unternehmungslustige Schildkröte in den besten Jahren und liebe Löwenzahnblätter und ein Bad in meinem Wassernapf. Ich suche neue Freunde, mit denen ich Yogaüben und über das Leben diskutieren kann. Wer will mit mir dem Herbst entgegenkriechen?!
Juno schrieb einen Profiltext über sich selbst:
Bin eine zukünftige Journalistin, die Japan und die japanische Kultur liebt, vor allem Manga, Anime und J-Pop. Ich würde gern anderen Tierbesitzern helfen und interessiere mich besonders für Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen und Hamster.
Wir fanden unsere Idee einfach genial! Jetzt mussten wir nur die Technik irgendwie in den Griff kriegen. Ursprünglich hatten wir vorgehabt, einen Kurs oder so was zu machen, wo man lernt, wie man eine App programmiert. Aber weil Skärblacka nicht unbedingt von Kursen für App-Entwicklung überschwemmt wird, hatten wir wohl oder übel eingesehen, dass wir irgendeine andere Person auftreiben mussten, die uns das zeigen konnte.
»Aha, und wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich.
»Null Ahnung«, sagte Juno. »Ich werd mal googeln!«
Damit holte sie ihr goldenes Laptop hervor und begann, auf den Tasten zu klappern. Der Computer war voller Aufkleber von Comicfiguren, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, bevor ich Juno kennenlernte. Aber inzwischen erkannte ich sie mühelos alle wieder – Sailor Moon mit ihren langen blonden Haaren, der Detektiv Conan mit seiner runden Brille und Deka Wanko im Schottenrock, mit einer Pistole in der Hand.
Juno schrieb schnell – mit allen zehn Fingern, nicht nur mit dem Zeigefinger so wie ich.
»Und was ist mit deinen Eltern? Müssten die so was nicht können?«
»Nein, die kennen sich nur mit stinkfadem Datenzeug aus, mit Sachen wie Finanzierungssysteme. Aber halt! Hier hab ich jetzt eine Firma gefunden, die Apps entwickelt!«
»Steht da, was das kostet?«
»Nein … aber hier ist jemand, mit dem kann man chatten. So eine Art App-Berater. Den frage ich: »Wir wollen … eine Dating-App … für Tiere machen … was würde das kosten?«
Während wir auf die Antwort warteten, bat Juno mich, sie zu fragen, wie spät es sei, was ich auch tat – es war zwanzig nach elf. (Eigentlich interessierte sie sich wohl nicht so sehr für die genaue Uhrzeit, sondern suchte nur einen Anlass, ihre neue goldige Armbanduhr verliebt anzustarren.) Dann wollte sie wissen, was ihr wohl besser steht – Pastellrosa oder Mintgrün, weil sie vorhatte, sich eine neue Perücke zu kaufen. Ich sagte, ich wäre für Pastellrosa, weil das ihre graublauen Augen besonders gut betonte.
Dann zeigte ich ihr einen Schlittschuhsprung, der Salchow heißt. Den wollte ich auf den Inlinern lernen. Bei einem Salchow springt man aus dem Rückwärtsfahren in die Luft, dann presst man die Arme an den Körper, kreuzt die Beine, als müsse man dringend aufs Klo, und rotiert, um danach auf einem Bein zu landen, die Arme seitlich und das andere Bein direkt nach hinten ausgestreckt. Der Sprung war nach Ulrich Salchow benannt, dem großartigsten schwedischen Eiskunstläufer aller Zeiten! Er hatte ein Mal die OS gewonnen, und dazu zehn WM- und neun EM-Titel!
Vor drei Jahren, kurz bevor ich mit dem Eiskunstlauf aufhörte, hätte ich fast einen doppelten Salchow geschafft – d.h. also dass man zweimal in der Luft rotiert. Aber auf Inlinern ist das natürlich wieder etwas ganz anderes.
Juno meinte, ich solle unbedingt einen Salchow auf Inlinern lernen, und überlegte, wo wir einen schönen ebenen Untergrund zum Üben finden könnten, damit ich nicht auf irgendwelchen spitzen Steinen landen und einen qualvollen Tod erleiden müsste.
Dann surfte Juno auf die Seite, wo sie die Uhr gekauft hatte, und stieß plötzlich einen Schrei aus. Sie hatte eine Halskette mit einem Anhänger entdeckt, der wie ein Eiskunstlaufschlittschuh aussah. Als sie mir den Anhänger auf dem Display zeigte, bekam ich heftiges Herzklopfen. Diesen Anhänger wollte ich unbedingt haben! Ich musste ihn haben!
Es war ein perfekt geformter kleiner Schlittschuh aus Gold, mit diamantenähnlichen Steinchen verziert, der an einer langen goldenen Kette hing und fast dreihundert Kronen kostete.
»Den kaufen wir! Ich kann das erst mal bezahlen!«, schrie Juno aufgeregt.
»Ja!«, stimmte ich zu, aber schon nach einer Sekunde kam das große Zögern. Was würde man über mich sagen, wenn ich mit so einer Halskette herumlief? Schwuchtel. Mit Schwuchtelhalskette.
Ich schielte zu Juno rüber.
»Äh … was meinst du … kann man als Junge so eine Halskette tragen?«
Juno sah mich verwirrt an.
»Warum sollte man das nicht können? Jungs haben doch auch Hälse? Du hast doch auch einen Hals? Oder?«
Sie beugte sich vor und starrte meinen Hals forschend an.
»Doch, hier sehe ich ganz deutlich einen. Einen Hals. Du hast einen. Glückwunsch!«
Ich musste lachen, zog den Laptop an mich und klickte auf »Kaufen«. In mir blühte Freude auf wie eine Blume. Die Halskette war so umwerfend schön.
Dann machte es plötzlich »Pling!« Das war der Appberater. Juno las vor:
»Hallo! Eine App, so ähnlich wie z.B. die Dating-App Tinder, würde zwischen vierzig-und hunderttausend kosten, plus Mehrwertsteuer, je nach Anspruchsniveau.«
Juno sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Vierzig- bis hunderttausend!«
»Oh! My! God!« Ich presste mir die Hand ans Herz, wie eine schockierte ältere Dame.
Juno begann eine Antwort zu schreiben:
»Autsch … ganz … schön teuer!«
Da ertönte plötzlich ein fürchterlicher Lärm aus dem Garten.
Ich trat ans Fester und sah hinaus. Junos Vater stand vor einem kleinen Baum, dessen Äste er mit einer elektrischen Heckenschere zu einer perfekten Pyramide stutzte. Mit hochkonzentrierter Miene sägte er gerade einen kleinen Zweig an der Unterseite der Pyramide ab. Neben der Pyramide stand ein weiterer Baum, der wie ein Zylinder geformt war. Und neben dem Zylinder noch einer, der aussah wie ein Partyhut, oder eigentlich wie ein Kegel. Junos Vater schien besonders viel für geometrische Figuren übrigzuhaben. Die Garageneinfahrt wurde auf der einen Seite von drei kugelförmigen Büschen gesäumt, auf der anderen von der rechteckigen Stachelhecke, in der ich fast hängen geblieben war.
»Halt, warte mal, jetzt antwortet er! Die drei Punkte bewegen sich!«
»Was schreibt er?« Ich setzte mich wieder aufs Bett.
»Folgendes: ›Wenn du eine normale Beraterfirma beauftragst, musst du zwischen hundert- und vierhunderttausend bezahlen. Meine Preise sind daher sehr moderat. Bist du interessiert?‹«
Juno hob den Kopf.
»Sigge, hast du vierzigtausend übrig? Vierzig Riesen, die zufällig in irgendeiner Schublade herumliegen?«
»Also, auf meinem Sparkonto habe ich genau 1750 Kronen.«
Bisher hatte ich noch nie so viel Geld auf meinem Konto gehabt, bis 40 000 fehlte allerdings noch viel. Im Laufe des Sommers hatte ich ein bisschen extra verdient, weil ich Omas ausgestopfte Tiere repariert und Pfanddosen gesammelt hatte. Eigentlich hätte ich für das Geld Kontaktlinsen kaufen sollen. Aber inzwischen fühlte ich mich mit der Brille überraschend wohl. Wahrscheinlich, weil meine neue Brille ungefähr tausend Mal cooler war als meine alte.
»Und ich hab vielleicht sechs- oder siebenhundert. Tja, da fehlen nur ungefähr … 37 500 Kronen«, sagte Juno.
»Außerdem habe ich soeben eine Halskette für 300 gekauft«, sagte ich. »Also 37 800, wenn man es genau nimmt.«
Wir sahen uns an und seufzten.
»Jahapp«, sagte Juno. »Aus der Traum.«
Kurz schwiegen wir. Juno starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin. Doch plötzlich erhellte sich ihr Gesicht.
»Ha! Ich hab eine Idee! Meine Eltern sparen für mich Geld, damit ich mir eine Wohnung kaufen kann, wenn ich später mal ausziehe. Aber vielleicht kann ich sie dazu überreden, mir das Geld jetzt schon zu geben? Wer gewinnen will, muss etwas riskieren, oder? Das Geld wird ja nicht verschwinden, im Gegenteil! Es wird zulegen! Mit Apps kann man nämlich stinkreich werden!«
»Ob wir alles Geld, das wir im Laufe von zwölf Jahren für dich gespart haben, abheben wollen, damit du eine App fürs Handy entwickeln lassen kannst? Nein, Juno, selbstverständlich wollen wir das nicht.«
Junos Vater hatte die Heckenschere ausgeschaltet und sich die orangefarbenen Ohrenschützer um den Hals gehängt. Er war mitten im Zurechtstutzen des Partyhutbaumes gewesen, als Juno ihn unterbrochen hatte, um mit honigsüßer Stimme zu fragen, ob er daran interessiert sei, in unsere fantastische Idee zu investieren.
»Aber checkst du denn nicht, dass wir Millionäre werden können!«, beharrte Juno.
»Juno. Jetzt hör mir zu. Weißt du, wie viele Menschen es gibt, die glauben, sie könnten mit Apps Geld verdienen? Da können wir das Geld genauso gut gleich verbrennen oder in den See werfen!«
»Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte Juno mit vor Wut zitternder Stimme.
»Nein, erzähl mal«, sagte ihr Vater voller Interesse.
»Du glaubst nicht an mich! Du … du vertraust nicht darauf, dass ich etwas zustande bringe! Wie soll ich voller Selbstvertrauen ins Leben treten, wenn nicht einmal mein Vater an mich glaubt? Wie soll ich mich da je durchsetzen können?«
»Nun, das bereitet mir allerdings nicht allzu große Sorgen!«
Er setzte den Ohrenschutz wieder auf und startete die Heckenschere, um deutlich zu machen, dass die Diskussion beendet sei. Die Heckenschere brummte so laut, dass er unmöglich hören konnte, als Juno schrie:
»Genau! Weil es dich nicht interessiert! Du willst ja nicht einmal wissen, was für eine App das überhaupt ist!«
»Komm«, sagte ich und zog Juno am Ärmel. »Wir gehen rein.«
Als wir am Wohnzimmer vorbeikamen, stand Junos Mutter gerade auf einem Bein, das andere Bein nach hinten und die Arme und den Kopf nach vorne gestreckt, als hätte sie vor, einen Kopfsprung direkt in den Boden zu machen.
»Sollen wir sie fragen?«, flüsterte ich.
»Nein, die ist noch schlimmer. Meine Eltern sind ja so was von geizig!«
Eigentlich fand ich es nicht unbedingt megageizig, eine Menge Geld für Junos zukünftige Wohnung gespart zu haben, aber irgendwie kam es mir nicht passend vor, das jetzt zu erwähnen.
Um sie aufzumuntern, fragte ich lieber: »Ach übrigens, wie spät ist es eigentlich?«
Da lächelte Juno und schaute auf ihre schöne goldene Armbanduhr.
»Das kann ich dir gleich sagen! Es ist zehn vor zwölf, genau die richtige Zeit für Dorayaki!«
Ich folgte ihr in eine Küche, die so weiß war und so perfekt aufgeräumt, dass sie eher an eine Küchenwerbung erinnerte als an eine tatsächlich benutzte Küche. Juno öffnete den Kühlschrank und holte eine weiße Plastikschüssel heraus.
»Dorayaki, was ist das?«, fragte ich.
»Das sind kleine japanische Pfannkuchen! Man isst sie mit Sahne, Eis und Kastanien. Absolut lecker! Den Teig hab ich schon vorbereitet. Der beste Lunch, den es gibt! Papa sagt, das sei eigentlich ein Nachtisch, aber wen interessiert schon, was er sagt? Der würde eine gute Idee ja nicht einmal bemerken, wenn sie ihn in den Hintern beißt. Egal, ob es um Apps geht oder um Dorayaki!«
»Na, vielleicht würde er es trotz allem merken, wenn ein japanischer Pfannkuchen ihn in den Hintern beißt?«, sagte ich.
Juno kicherte.
»Also, Sigge, das ist fraglich. Höchst fraglich!«
Am Montag kamen Sixten und Jona in der großen Pause ganz überraschend auf mich zu. Anfangs sah ich sie gar nicht, weil ich so sehr damit beschäftigt war, mit Juno, Bella Bjä und Bella Bjö Ball zu spielen. (Leider heißen die beiden nicht Bjä und Bjö, wie ich zuerst meinte. Sie werden so genannt, weil die eine Bella mit Nachnamen Bjärlind heißt und die andere Björk.)
Wie auch immer. Sixten und Jona sind Zwillinge und so etwas wie die Klassenstars. Nicht nur weil sie immer die teuersten Smartphones haben und die angesagtesten Markenklamotten. Da war auch noch etwas anderes. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber irgendwie … schwammen sie obenauf. Schlechte Testergebnisse, eine ärgerliche Ermahnung unserer Lehrerin Agneta, Chili con carne über die ganze Hose verschüttet – Sachen, für die ich mich fürchterlich geschämt oder mit denen ich mich total mies gefühlt hätte, schienen sie kein bisschen zu beeindrucken. Sie zuckten nur die Schultern und gingen weiter.
Sixten und Jona sehen sich unglaublich ähnlich. Beide haben ganz hellblonde, fast weiße Haare und hellblaue Augen mit so weißen Wimpern, dass es aussieht, als hätten sie gar keine. Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, wer eigentlich wer war. Aber ausgerechnet an diesem Tag brauchte ich nicht zu zögern, da Sixten eine rote Cap mit den Zahlen 6 und 10 auf dem Kopf hatte. Das sollte man auf Englisch aussprechen, hatte er am Morgen erklärt, obwohl niemand danach gefragt hatte. »Six ten«, also seinen Namen.
»Siggi-Boy!«, sagte Jona und klopfte mir so fest auf den Rücken, dass ich meinen Kaugummi mit Orangengeschmack direkt auf den nassen Asphalt ausspuckte.
»Yo bro«, sagte Sixten.
Bella Bjö hatte den Ball soeben in Junos Feld geschlagen, von wo aus er ins Gebüsch hüpfte.
»Och Manno! Jetzt hab ich’s verpasst!«, beschwerte sich Juno und warf den Zwillingen finstere Blicke zu.
»Wir müssen etwas mit Sigge besprechen«, erklärte Sixten.
»Eine voll wichtige Sache«, sagte Jona und legte mir die Hand auf die Schulter.
Bella Bjö und Bella Bjä protestierten lautstark, doch das schien die Zwillinge nicht zu kümmern. Und wenn Sixten und Jonas mit einem redeten, hörte man zu. Sie schlossen links und rechts neben mir auf und schafften es auf unerklärliche Weise, mich vom Ballfeld wegzulotsen, nur mithilfe von leichtem Druck und kleinen Schubsern. Ich presste die Fingernägel in die Handflächen und spürte meinen Puls. Mein Herz raste und eine leichte Übelkeit stieg in mir hoch. Unruhe. Was würden sie tun? Was konnten sie tun?
Sie waren nicht besonders groß, eher ein paar Zentimeter kleiner als ich, wirkten aber hart und kantig. Und außerdem waren sie zu zweit.
»Uns ist gerade eine Idee gekommen, ja, eine Idee«, sagte Sixten.
»Eine absolut glänzende Idee«, sagte Jona und schubste mich mit der Schulter weiter vorwärts.
»Wir haben ja eine Crew und so.«
»Eine Crew?«, fragte ich vorsichtig.
»So was wie eine Band, eine Gruppe«, fügte Sixten hinzu.
»Du hast es vielleicht nicht gewusst, aber wir sind hier in der Gegend ziemlich bekannt«, sagte Jonas.
»Blacka celebrities«, ergänzte Sixten.
»Hiphop.«
»Wir rappen, ja, rappen, das tun wir!«
»Ach, aha?«, sagte ich, ich begriff nämlich nicht, was das mit mir zu tun hatte.
Sie blieben stehen. Drehten sich gleichzeitig zu mir um. Die hellblauen Augen in ihren blassen Gesichtern schienen fast selbstleuchtend zu sein.
»Und da haben wir an dich gedacht, Siggi-Boy.«
»Jepp, an dich, Mister Wilde.«
»Wir haben uns gedacht, du solltest mitmachen. In unserer Crew.«
War das hier ein Witz? Eine hinterhältige Art, mich glauben zu lassen, ich dürfe mitmachen, um dann zu sagen, »Was hast du dir eigentlich eingebildet, du Idiot?« Das hatte ich schon mal so erlebt. Jetzt bereitete ich mich auf das Hohngelächter vor.
»Du fragst dich vielleicht, warum?«, sagte Sixten.
»Willst vielleicht wissen, was wir uns so gedacht haben?«, sagte Jona.
»Ja, vielleicht …«
»Mann, wir haben gesehen, wie du zeichnest. Echte Superskills!«
»Und wir haben dich auf diesen Inlinern gesehen! Ein echter Superprofi!«
»Und du kommst aus Stockholm, der Supercity!«
»Na ja, City …«, sagte ich. »Eher aus einem Vorort. Rågsved.«
»Noch besser!«, sagte Sixten fröhlich.
Dann gingen sie weiter, genau gleichzeitig. Als ich nicht sofort mitkam, drehte sich Jona um und nickte mir über die Schulter zu. Ein Signal, dass ich ihnen folgen sollte. Ich rannte hinter ihnen her, und als ich sie eingeholt hatte, legte mir Jona eine Hand auf die Schulter. Ob das jetzt freundschaftlich gemeint war oder ob es mich nur daran hindern sollte abzuhauen?
»Wie ist das? Was weißt du über Hiphop?«, fragte Sixten und rückte seine Cap zurecht.
»Und damit meinen wir oldschool Hiphop«, sagte Jona.
»Die alte Schule.«
»Du musst wissen, Siggi-Boy, Hiphop kommt von der Straße.«
»From the streets of Bronx!«
»Hiphop handelt davon, Graffiti zu malen.«
»Jepp, Graffiti, die sind essenziell.«
»Essenziell?«, fragte ich.
»Das heißt so viel wie lebensnotwendig«, erklärte Sixten. »Graffiti sind essenziell.«
»Skateboard fahren auch!«, behauptete Jona.
»Japp, Skaten, darauf kommt es an!«
Vor einer Bank blieben sie stehen. Sixten streckte den Arm aus, um mir deutlich zu machen, dass ich mich hinsetzen sollte.
Brav setzte ich mich, obwohl die Bank nass aussah. Die beiden nahmen rechts und links von mir Platz. Ich sah nervös von dem einen Zwilling zum anderen.
»Das kannst du uns beibringen, oder?«
»Jepp, du kannst uns zeigen, wie das geht.«
»Inliner fahren, das ist doch ganz ähnlich wie Skateboard«, meinte Sixten.
»Sowohl Skateboard als auch Inliner haben Räder, stimmt’s?«, sagte Jona.
»Malen und fahren. Genau darum geht es im Hiphop«, erklärte Sixten.
»Das kann ich euch vielleicht beibringen … aber ich hab immer gedacht, bei Hiphop geht es um Musik?«, sagte ich zögernd.
Zuerst sahen sie mich an, dann einander und dann wieder mich. Und schließlich platzten sie los. Lachten aus vollem Hals. Ich erstarrte. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand Eiswasser direkt in die Adern gespritzt. Mir wurde eiskalt vor Schreck. Jetzt war es so weit, dachte ich. Genau jetzt würden sie mir auf den Kopf hauen und Gemeinheiten brüllen, so wie Budde es immer getan hatte.
Schwuchtel, Affe mit Alzheimer, schielender Volltrottel.
Jetzt würden sie sich darüber ausschütten, dass ich so bescheuert gewesen war, zu glauben, ich dürfe in ihrer Band, oder ja, in ihrer Crew mitmachen. Es würde nichts ändern, wenn ich behauptete, natürlich hätte ich gecheckt, dass sie es nicht ernst meinten, mir sei klar gewesen, dass es nur ein Witz sei.
Ich schloss die Augen und wartete auf den Schlag. Doch der kam nicht. Stattdessen hörte ich Sixtens (oder vielleicht Jonas) Stimme:
»Klar, Mann! Alles hängt von der Musik ab!«
»Vom Rhythmus, von den Reimen, vom Rap.«
Ich schlug die Augen auf. Sie starrten mich konzentriert an.
»Aber das alles können wir schon, Siggi-Boy.«
»Jepp, Mister Wilde, darin sind wir schon perfekt.«
»Aber den Rest kannst du uns beibringen.«
»Also, was sagst du, Sigge? Machst du mit oder machst du mit?«
»Äh … ich mache mit?«
Sie beugten sich vor, sahen einander an und lächelten. Dann machten sie ein so laut geklatschtes Highfive, dass ihnen die Handflächen gebrannt haben mussten. Aber sie hielten nur die Hände hoch, damit auch ich mit ihnen highfivte. Das klatschte dann nicht ganz so laut, ich war allerdings froh, dass ich überhaupt treffen konnte.