Bestickt mit den Tränen des Mondes (Ein Kleid aus Seide und Sternen 2) - Elizabeth Lim - E-Book
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Bestickt mit den Tränen des Mondes (Ein Kleid aus Seide und Sternen 2) E-Book

Elizabeth Lim

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Beschreibung

Für die begabte Schneiderin Maia steht mehr auf dem Spiel als je zuvor!  Maia Tamarin hat alle drei magischen Kleider aus dem Blut der Sterne, dem Lachen der Sonne und den Tränen des Mondes vollendet. Doch der Preis dafür war hoch: Sie kehrt in ein Königreich zurück, das am Rande eines Krieges steht. Edan, der geheimnisvolle Magier, den sie liebt, ist verschwunden – und kaum hat sie den Herbstpalast betreten, ist sie gezwungen, das Kleid der Sonne anzuziehen und den Platz der zukünftigen Braut des Kaisers einzunehmen, um den Frieden zu wahren. Als die Rivalen des Kaisers die Wahrheit erfahren, bricht der Krieg los – doch das ist nicht der einzige Kampf, den Maia durchstehen muss: Seit sie von Dämon Bandur berührt wurde, verwandelt sich Maia langsam, aber stetig in einen Dämon. Wird sie Edan finden und hat sie eine Chance, den bösen Mächten zu entkommen?  Elizabeth Lim entführt ihre Leserinnen und Leser in diesem Zweiteiler in eine Welt voller Magie und Abenteuer, die an das alte China erinnert.  Die Bände der Fantasy-Dilogie:  Band 1: »Ein Kleid aus Seide und Sternen«  Band 2: »Bestickt mit den Tränen des Mondes«  »Meine Lieblingsschneiderin gleich nach Coco Chanel ist zurück!«  5-Sterne-Rezension auf goodreads 

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Elisabeth Lim

Bestickt mit den Tränen des Mondes

Aus dem Englischen von Barbara Imgrund

Maia Tamarin hat es geschafft: Sie hat drei magische Kleider aus dem Blut der Sterne, dem Lachen der Sonne und den Tränen des Mondes erschaffen. Doch der Preis dafür war hoch: Der Dämon Bandur bekommt immer mehr Gewalt über sie, und schleichend verwandelt sich auch Maia in einen Dämon. Zuerst versucht sie, ihren Geliebten, den geheimnisvollen Magier Edan, zu schützen und hält es vor ihm geheim. Doch wenn sie seine Hilfe annimmt, kann sie vielleicht den bösen Mächten noch entkommen …

Wohin soll es gehen?

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Viten

Für Mom, weil sie mir stets Mut macht,

für Dad, weil er meiner Fantasie Nahrung gibt,

für Victoria, die immer mit mir lacht

Ich hatte einmal eine Mutter.

Sie lehrte mich, das feinste Garn, den feinsten Faden zu spinnen, aus Seidenraupen, die wir in unserem Garten voller Maulbeerbäume züchteten. Geduldig weichte sie Tausende Kokons ein, und gemeinsam wickelten wir die hauchdünnen Fäden auf Holzspulen auf. Als sie sah, wie flink meine kleinen Finger mit dem Rad hantierten und Seide wie Stränge aus Mondschein spannen, drängte sie meinen Vater dazu, mich als Näherin anzustellen.

»Lerne gut von Baba«, sagte sie zu mir, als er einwilligte. »Er ist der beste Schneider in Gangsun, und wenn du hart arbeitest, wirst du das eines Tages auch sein.«

»Ja, Mama«, erwiderte ich gehorsam.

Wenn sie mir damals gesagt hätte, dass Mädchen nicht Schneider werden konnten, hätte meine Geschichte vielleicht eine andere Wendung genommen. Doch so …

Während Mama meine Brüder großzog – den mutigen Finlei, den nachdenklichen Sendo und den ungestümen Keton –, lehrte mich Baba das Zuschneiden und Nähen und Sticken. Er schulte meine Augen darin, mehr als nur einfache Linien und Formen zu sehen, Schatten zu manipulieren und Schönheit durch Struktur herzustellen. Er ließ mich mit den verschiedensten Stoffen umgehen, von grober Baumwolle bis hin zu feiner Seide, um alle möglichen Arten von Gewebe zu beherrschen und zu erfahren, wie sie sich auf der Haut anfühlten. Er ließ mich alle Stiche auftrennen, wenn ich einen ausließ, und aus meinen Fehlern lernte ich, dass eine einzige Naht den Unterschied ausmachen konnte zwischen einem Kleidungsstück, das saß, und einem, das nicht saß. Dass sich ein unbeabsichtigter Riss ausbessern, aber nicht ungeschehen machen ließ.

Ohne die Ausbildung bei Baba hätte ich niemals die Schneiderin des Kaisers werden können. Aber es war Mamas großer Vertrauen in mich gewesen, das mir den Mut einflößte, es zu versuchen.

Abends, wenn wir die Werkstatt abgeschlossen hatten, rieb sie mir Salbe auf die wunden Finger. »Du bist wirklich die Tochter deines Vaters. Denk immer daran: Das Schneidern ist ein Handwerk, aber es ist auch eine Kunst. Setz dich ans Fenster, spüre das Licht und beobachte die Wolken und die Vögel.« Sie hielt inne und blickte über meine Schulter auf die Schnittmuster, an denen ich den ganzen Tag lang gearbeitet hatte. »Und vergiss die Freude nicht, Maia. Du solltest auch etwas für dich selbst anfertigen.«

»Aber ich wünsche mir nichts.«

Mama neigte bedächtig den Kopf. Als sie die heruntergebrannten Räucherstäbchen an unserem Familienschrein austauschte, nahm sie eine der drei Statuen von Amana hoch, die dort aufgestellt waren. Sie waren grob geschnitzt, Gesichter und Kleider hatte die Sonne gebleicht. »Warum nähst du nicht drei Kleider für unsere Mutter Göttin?«

Meine Augen wurden groß. »Mama, das könnte ich nicht. Sie müssten …«

»… die schönsten Kleider der Welt werden«, beendete sie den Satz für mich, zerstrubbelte mir das Haar und küsste mich auf die Stirn. »Ich werde dir helfen. Wir erträumen sie uns gemeinsam.«

Ich umarmte Mama, barg mein Gesicht an ihrer Brust und drückte sie ganz fest, sodass sich ihrer Kehle ein Lachen entrang, perlend wie der Saitenklang einer Zither.

Was würde ich darum geben, dieses Lachen noch einmal zu hören. Mama noch einmal zu sehen – ihr Gesicht zu berühren und mit den Fingern durch ihren dicken schwarzen Zopf zu fahren, während er sich auflöst und ihr das Haar in Wellen auf den Rücken fällt. Ich weiß noch, dass es mir nie gelang, Seide so weich wie ihr Haar zu spinnen, wie sehr ich es auch versuchte, und ich weiß auch noch, dass ich immer dachte, die Sommersprossen auf ihren Wangen und Armen seien Sterne. Keton und ich saßen auf ihrem Schoß, ich versuchte, sie zu zählen, und Keton versuchte, sie wegzuwischen.

Und die Geschichten, die sie uns erzählte! Es war Mama, die davon träumte, Gangsun zu verlassen und am Meer zu leben. An uns gab sie die Geschichten weiter, mit denen sie selbst aufgewachsen war – von furchtlosen Seeleuten, Wasserdrachen und goldenen Fischen, die Wünsche gewährten – und die Sendo in seine Seele aufsog.

Sie glaubte an Feen und Geister, an Dämonen und Götter. Sie brachte mir bei, Amulette für durchziehende Reisende zu nähen, Papierkleider zuzuschneiden, die wir für unsere Ahnen verbrannten, und Bannsprüche zu schreiben, um böse Geister zu vertreiben. Am meisten von allem glaubte sie an das Schicksal.

»Keton sagt, es sei nicht mein Schicksal, ein Schneider wie Baba zu werden«, kam ich eines Nachmittags einmal weinend zu ihr, tief verletzt über die Worte meines Bruders. »Er sagt, dass Mädchen nur Näherinnen werden können, und wenn ich zu hart arbeite, werde ich nie Freunde gewinnen, und kein Junge wird mich je haben wollen …«

»Hör nicht auf deinen Bruder«, sagte Mama. »Er begreift nicht, welche Gabe du hast, Maia. Noch nicht.« Sie trocknete meine Tränen mit dem Saum ihres Ärmels. »Nur eines zählt: Willst du Schneiderin werden?«

»Ja«, sagte ich kleinlaut. »Mehr als alles andere. Aber ich will auch nicht allein bleiben.«

»Das wirst du auch nicht«, versprach sie mir. »Das ist nicht dein Schicksal. Schneider sind dem Schicksal näher als die meisten Menschen. Weißt du auch, warum?«

Ich dachte angestrengt nach. »Baba sagt, dass die Fäden, mit denen er die Kleidungsstücke zusammennäht, ihnen Leben verleihen.«

»Es ist mehr als das«, entgegnete Mama. »Das Schneidern ist ein Handwerk, das selbst die Götter achten. Es besitzt etwas Magisches. Selbst dem einfachsten Faden wohnt große Macht inne.«

»Macht?«

»Habe ich dir je vom Faden des Schicksals erzählt?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Jeder hat einen Faden, der an jemand anderen gebunden ist – einen Menschen, der dazu bestimmt ist, an deiner Seite zu sein und dich glücklich zu machen. Meiner ist an Baba gebunden.«

Ich sah auf meine Handgelenke und Knöchel. »Ich sehe nichts.«

»Du kannst ihn nicht sehen.« Mama gluckste leise. »Nur die Götter können das. Der Faden ist vielleicht sehr lang und reicht über Berge und Flüsse, und es kann Jahre dauern, ehe du sein Ende findest. Aber du wirst es wissen, wenn du den Richtigen triffst.«

»Aber was, wenn jemand ihn durchschneidet?«, fragte ich besorgt.

»Nichts kann ihn zerstören, denn das Schicksal ist das stärkste Versprechen. Ihr werdet aneinander gebunden bleiben, egal, was geschieht.«

»So wie ich an dich und Baba gebunden bin? Und an Finlei und Sendo?« Ich war gerade wütend auf Keton, und so kümmerte es mich nicht, ob mein jüngster Bruder und ich aneinandergebunden waren.

»Es ist ähnlich, aber doch anders.« Mama berührte meine Nase und rieb sie sanft. »Eines Tages wirst du es erleben.«

An diesem Abend nahm ich eine Spule mit rotem Faden und schnitt ein Stück ab, um es mir um den Fußknöchel zu binden. Ich wollte nicht, dass meine Brüder es sahen und sich über mich lustig machten, daher steckte ich das lose Ende unter den Aufschlag meines Hosenbeins. Während ich mich mit meinem kleinen Geheimnis umherbewegte, das meinen Knöchel kitzelte, fragte ich mich, ob ich es fühlen würde, wenn ich den Menschen traf, mit dem zusammenzubleiben mir bestimmt war. Würde der Faden ein wenig rucken? Würde er sich dehnen und sich mit seiner anderen Hälfte verbinden?

Ich trug den Faden monatelang um den Knöchel. Nach und nach verschliss er, aber mein Glaube an das Schicksal tat das nicht.

Bis das Schicksal mir Mama nahm.

Es suchte sie langsam heim, über viele Monate, wie es auch die Bäume vor unserer Werkstatt heimsuchte. Jeden Tag regneten Blätter von ihren Ästen herab – zuerst nur wenige, aber dann mehr und mehr, je näher der Herbst rückte. Dann, eines Tages, wachte ich auf und fand alle Äste kahl vor. Und so blieb es, zumindest bis der Frühling kam.

Mama hatte keinen Frühling mehr.

Ihr Herbst begann mit einem vereinzelten Husten hier und da, das sie stets mit einem Lächeln kaschierte. Sie vergaß, Kohl in die Schweineklößchen zu geben, die Finlei so liebte, und sie vergaß die Namen der Helden in den Geschichten, die sie Sendo und mir immer erzählte, wenn wir schlafen gingen. Sie ließ sogar Keton im Kartenspiel gewinnen und gab ihm zu viel Geld für seine Einkäufe auf dem Markt.

Ich schenkte diesen kleinen Aussetzern nicht viel Beachtung. Mama hätte es uns doch gesagt, wenn sie sich nicht gut gefühlt hätte.

Dann, eines Wintermorgens, als ich gerade unseren Statuen von Amana unsere drei Kleider der Sonne, des Mondes und der Sterne angezogen hatte, wurde Mama in der Küche ohnmächtig.

Ich schüttelte sie. Ich war noch klein, und ihr Kopf war schwer, als ich ihn anhob und in meinen Schoß bettete.

»Baba!«, rief ich. »Baba! Sie wacht nicht mehr auf!«

An diesem Morgen änderte sich alles. Anstatt zu unseren Ahnen zu beten und ihnen ein gutes Leben im Jenseits zu wünschen, betete ich darum, dass sie Mama verschonten. Ich betete zu Amana, zu den drei Statuen, denen ich Kleider genäht hatte, darum, dass sie sie am Leben ließen. Darum, dass sie Mama sehen ließen, wie meine Brüder und ich aufwuchsen, und darum, dass Mama Baba, der sie so liebte, nicht allein ließ.

Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss und mir die Zukunft ausmalte, sah ich meine Familie vollzählig. Ich sah Mama neben Baba, wie sie lachte und uns mit den Wohlgerüchen ihrer Küche den Mund wässerig machte. Ich sah mich inmitten meiner Brüder – Finlei, der mich ermahnte, aufrecht zu sitzen, Sendo, der mir eine Mandarine zusteckte, und Keton, der mich an den Zöpfen zog.

Wie sehr ich mich irrte.

Mama starb eine Woche vor meinem achten Geburtstag. Ich verbrachte meinen Geburtstag damit, für meine Familie weiße Trauerkleider zu nähen, die wir die nächsten hundert Tage tragen würden. In jenem Jahr fühlte sich der Winter besonders kalt an.

Ich schnitt den roten Faden von meinem Knöchel ab. Da ich sah, welch gebrochener Mann Baba ohne Mama war, wollte ich nicht an jemanden gebunden sein und denselben Schmerz erleiden.

Im Laufe der Jahre schwand mein Vertrauen in die Götter, und ich hörte auf, an Magie zu glauben. Ich schob meine Träume beiseite und konzentrierte mich ganz darauf, meine Familie zusammenzuhalten, stark für Baba zu sein, für meine Brüder, für mich.

Jedes Mal, wenn ein kleines Glück es wagte, sich durch die Risse Zugang zu meinem Herzen zu verschaffen, schritt das Schicksal ein und erinnerte mich daran, dass ich meiner Bestimmung nicht entrinnen konnte. Das Schicksal ergriff Besitz von meinem Herzen und zermalmte es nach und nach: als Finlei starb, dann Sendo, und als Keton mit gebrochenen Beinen und Gespenstern in den Augen aus dem Krieg zurückkehrte.

Die Maia von gestern sammelte die Bruchstücke auf und nähte sie peinlich genau wieder zusammen. Aber ich war nicht mehr diese Maia.

Von heute an würde alles anders sein. Von heute an würde ich dem Schicksal erhobenen Hauptes begegnen, wenn es an meine Tür klopfte, und es mir zu eigen machen.

Von heute an würde ich kein Herz mehr haben.

TEIL EINSDAS LACHEN DER SONNE

KAPITEL EINS

Tausende rote Laternen erleuchteten den Herbstpalast. Sie hingen an Schnüren, die so fein waren, dass die Lampen wie Drachen aussahen, die von Dach zu Dach schwebten. Ich hätte sie die ganze Nacht betrachten können, wie sie so im Wind tanzten und das Halbdunkel in ein rostrotes Glühen tauchten – doch meine Gedanken waren anderswo. Denn unter dem Meer aus hüpfenden Lichtern war der Platz der Herrlichen Harmonie für eine kaiserliche Hochzeit vorbereitet.

All das Rot zu Ehren der Vermählung von Kaiser Khanujin mit Lady Sarnai zu sehen, hätte mich froh stimmen sollen. Ich hatte so hart gekämpft und so viel für den Frieden geopfert, den ihre Verbindung A’landi endlich bringen würde.

Aber ich war nicht mehr dieselbe Maia wie zuvor.

Die zinnoberroten Tore des Herbstpalastes öffneten sich polternd, und ich schob mich durch das Gedränge der Dienerschaft, um einen Blick auf die Hochzeitsprozession zu erhaschen. Lady Sarnais Vater, der Shansen, sollte sie anführen. Ich wollte den Mann sehen, der das Land von innen hatte ausbluten lassen, dessen Krieg mir zwei meiner Brüder geraubt hatte und dessen bloßer Name erwachsene Männer erschauern ließ.

Der Shansen, dessen vergoldete Rüstung wie Drachenschuppen unter seinem prächtigen smaragdgrünen Umhang hervorblitzte, ritt auf einem majestätischen weißen Hengst. Sein Bart und seine Augenbrauen waren grau meliert. Er wirkte nicht so furchterregend, wie ich es mir vorgestellt hatte – bis ich in seine Augen blickte. Sie glänzten wie schwarze Perlen, so wild wie die seiner Tochter, nur grausamer.

Ihm folgte sein Lieblingskrieger, Lord Xina, dahinter kamen die drei Söhne des Shansen, alle mit den verstörenden Augen ihres Vaters, und eine Legion von Soldaten, auf den Ärmeln das gestickte Emblem des Shansen – einen Tiger.

»Der Shansen wird die Stufen zur Halle der Harmonie hinaufsteigen«, verkündete Ministerpräsident Yun lauthals. »Dort wird sich seine Tochter, Sarnai Opai’a Makang, als die Braut unseres Kaisers zeigen. Und morgen«, fuhr Ministerpräsident Yun fort, »werden die Hochzeitsgaben dem kaiserlichen Hof in einer Prozession vorgeführt werden. Am dritten Tag wird Lady Sarnai formell ihren Platz als Kaiserin neben Kaiser Khanujin einnehmen, dem Sohn des Himmels. Ein Schlussbankett wird folgen, um ihre Vermählung vor den Augen der Götter zu feiern.«

Die Hochzeitsmusik schwoll an und mischte sich in das Klirren der Rüstungen, während der Shansen und seine Männer die Stufen erklommen. Feuerwerkskörper krachten wie Donner, und jeder Schlag der Hochzeitstrommeln dröhnte so laut, dass der Boden unter meinen Füßen erbebte. Acht Männer schritten durch die Halle; sie trugen eine goldene Sänfte, die mit bestickter Seide drapiert und mit glasierten Fliesen gepanzert war, auf denen türkis- und goldfarbene Drachen prangten.

Als der Shansen seinen Platz vor der Halle einnahm, stieg Kaiser Khanujin aus seiner Sänfte. Die Musik brach ab, und wir alle verbeugten uns bis zum Boden.

»Herrscher über Tausend Länder«, skandierten wir, »Großkhan der Könige, Sohn des Himmels, Auserwählter der Amana, unser Ruhmreiches Oberhaupt von A’landi. Möget Ihr zehntausend Jahre leben.«

»Willkommen, Lord Makangis«, begrüßte Kaiser Khanujin den Shansen. »Es ist mir eine Ehre, Euch im Herbstpalast zu begrüßen.«

Ein Feuerwerk wurde hinter dem Palast gezündet und schoss hoch hinauf zu den Sternen.

»Aaaah!«, staunten alle mit offenem Mund.

Flüchtig staunte auch ich. Ich hatte noch nie zuvor ein Feuerwerk gesehen. Sendo hatte einmal versucht, es mir zu beschreiben, obwohl auch er noch nie einem beigewohnt hatte.

Es ist, als würden Lotusblumen aus Feuer und Licht am Himmel erblühen, hatte er gesagt.

Wie kommen sie da hinauf?

Jemand schießt sie hinauf. Er hatte die Achseln gezuckt, als ich skeptisch die Stirn runzelte. Zieh nicht so ein Gesicht, Maia. Ich weiß nicht alles. Vielleicht ist es Zauberei.

Das sagst du bei allem, was du nicht erklären kannst.

Was ist falsch daran?

Ich hatte lachen müssen. Ich glaube nicht an Zauberei.

Aber als jetzt das Feuerwerk am Himmel explodierte – grelle Spritzer von Gelb und Rot vor schwarzer Nacht –, wusste ich, dass Zauberei keineswegs so aussah. Magie war das Blut der Sterne, die vom Himmel fielen, das Lied meiner Zauberschere, die es gar nicht erwarten konnte, aus Garn und Hoffnung Wunder zu wirken. Nicht farbiger Staub, der gen Himmel geschleudert wurde.

Während die Umstehenden jubelten, trugen acht weitere Männer eine zweite goldene Sänfte zum Kaiser. Laternen hingen an jeder Seite und beleuchteten einen kunstvoll aufgemalten Phönix. Einen Phönix, der an die Seite des kaiserlichen Drachen treten sollte. Der dem Land neues Leben einhauchen sollte, um es aus der Asche des Krieges wiederauferstehen zu lassen.

Die Träger stellten die Sänfte ab, aber Lady Sarnai zeigte sich nicht. Stattdessen wehklagte sie so laut, dass ich es selbst vom Ende des Platzes aus hören konnte. In einigen Dörfern war es Tradition, dass eine Braut als Zeichen des Respekts vor ihren Eltern damit ausdrückte, wie untröstlich sie war, sie zu verlassen.

Aber es sah der Tochter des Shansen ganz und gar nicht ähnlich.

Ein Soldat teilte den Vorhang der Sänfte in der Mitte und Lady Sarnai stieg aus. Mit unsicheren Schritten ging sie auf den Kaiser und ihren Vater zu. Ein bestickter Schleier aus rubinroter Seide bedeckte ihr Gesicht, und die Schleppe ihres Kleides, purpurn im schwachen Mondschein, schleifte hinter ihr her. Sie schimmerte nicht einmal, wie jedes der Kleider, die ich für sie genäht hatte, es getan hätte: gewoben aus dem Lachen der Sonne, bestickt mit den Tränen des Mondes und bemalt mit dem Blut der Sterne. Sonderbar, dass Khanujin nicht darauf bestanden haben sollte, sie möge eines von Amanas Kleidern tragen, um vor dem Shansen damit zu protzen.

Ich runzelte die Stirn, als sie nicht aufhörte zu klagen. Schrill zerriss ihr Heulen die gespannte Stille.

Sie verbeugte sich vor ihrem Vater, dann vor dem Kaiser, wobei sie auf die Knie ging.

Langsam, feierlich, begann der Kaiser ihren Schleier zu lüften. Der Schlag der Trommeln setzte wieder ein, wurde lauter, schneller, bis sie so dröhnten, dass meine Ohren schmerzten und die Welt sich zu drehen anfing.

Dann – als die Lautstärke der Trommeln ihren Höhepunkt erreicht hatte – stieß jemand einen Schrei aus.

Ich riss die Augen auf. Der Shansen hatte Khanujin zur Seite gestoßen und packte seine Tochter beim Kragen. Jetzt hob er sie, die kreischte und um sich trat, über die achtundachtzig Stufen, die hinauf zur Halle der Harmonie führten – und riss ihr den Schleier ab.

Die Braut war nicht Lady Sarnai.

KAPITEL ZWEI

Die Beine der falschen Prinzessin strampelten wild unter ihren Röcken, und die lange Satinschleppe ihres Kleides kräuselte sich unter ihr.

»Wo ist meine Tochter?«, brüllte der Shansen.

Um mich her schlossen alle bereits Wetten auf das Schicksal des armen Mädchens ab. Würde der Shansen ihr die Kehle durchschneiden – oder würde der Kaiser ihm damit zuvorkommen? Nein, sie würden sie am Leben lassen, bis sie redete. Dann würden sie sie töten.

»I-i-i-ch w-weiß nichts«, stammelte sie. Ihr Weinen wurde noch heftiger, bevor sie wiederholte: »Ich weiß nichts.«

Sie stieß einen Schrei aus, als der Shansen sie auf die Steinstufen fallen ließ.

»Findet meine Tochter!«, herrschte er den Kaiser an. »Findet Sarnai, oder es wird keine Hochzeit geben – sondern Krieg.«

Seine Drohung brachte jeden auf dem Platz zum Schweigen.

Wo war Lady Sarnai? Kümmerte es sie nicht, dass Tausende sterben würden, wenn diese Hochzeit nicht stattfand?

Der Krieg hätte nie ein Ende gefunden, hatte Keton zu mir gesagt. Mein jüngster Bruder sprach so selten von der Zeit, als er für Khanujin gekämpft hatte, dass ich seine Worte nicht vergessen konnte: Erst als der Kaiser und der Shansen einen Waffenstillstand aushandelten. In der Morgendämmerung zu Neujahr trafen sie sich, um Frieden zu schließen. Der Shansen erklärte sich einverstanden, seine Männer aus dem Süden zurückzuziehen und den Kaiser seiner Gefolgstreue zu versichern. Im Gegenzug wollte Kaiser Khanujin die Tochter des Shansen zu seiner Kaiserin machen und ihrer beider Blutlinien miteinander verbinden. Aber die Tochter des Shansen weigerte sich. Sie hatte in der Armee ihres Vaters gekämpft, so grimmig wie jeder andere Soldat. Sie musste am Tag zuvor wenigstens fünfzig Männer umgebracht haben. Keton hatte kurz innegehalten und dann weitergesprochen. Es hieß, sie habe gedroht, sich lieber umzubringen, als den Kaiser zu heiraten.

Als Keton mir diese Geschichte erzählt hatte, zweifelte ich an ihrem Wahrheitsgehalt. Welches Mädchen würde nicht einen Mann heiraten wollen, der so umwerfend war wie Kaiser Khanujin?

Aber nun, da ich Lady Sarnai – und den Kaiser – kennengelernt hatte, wusste ich es besser.

Götter, ich hoffte, dass sie nichts Übereiltes getan hatte.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, was geschah, doch ein stechender Schmerz bohrte sich hinter den Augen in meinen Schädel, und sie begannen zu brennen. Ich rieb sie hektisch. Mir kamen die Tränen, als wollte mein Körper die Hitze ausspülen. Aber meine Augen brannten nur umso heftiger, und ich sah einen blutroten Glanz widergespiegelt in dem Tränenfilm auf meiner Hand.

Nein, nein, nein – nicht jetzt. Ich bedeckte mein Gesicht, um das Mal von Bandurs Fluch zu verbergen, den schrecklichen Preis, den ich bezahlt hatte, um Lady Sarnais Kleider zu nähen und A’landi den Frieden zu sichern.

Mein Herz begann in meiner Brust zu hämmern, mein Magen flatterte wie wild. Hitze wallte durch meinen Körper, und ich sank zu Boden.

Dann, plötzlich, schwand das Brennen in meinen Augen.

Meine Sicht klärte sich. Ich sah den Aufruhr der Menschen, die mich umgaben, nicht mehr. Ich hörte sie murmeln und sich bewegen, aber sie waren weit, weit entfernt. Meine Augen und Ohren waren irgendwo anders, außerhalb meines Körpers.

Ich war dort drüben, auf der Treppe zur Halle der Harmonie. Die Luft stank nach Schwefel und Salpeter vom Feuerwerk; der Himmel war gezeichnet von weißen Rauchschwaden.

Ich sah das Mädchen, seine rosa geschminkten Lippen und tränenverschmierten Wangen, und ich erkannte sie – sie war eine von Lady Sarnais Zofen. Kaiserliche Gardisten zerrten sie die Stufen hoch, während Khanujin sich ihr näherte.

Er hatte Mühe, seinen Zorn zu zügeln – seine Finger zuckten, nur Zentimeter von seinem Dolch entfernt, dessen goldener Knauf kunstvoll unter Lagen von Seidengewändern und einer dicken Schärpe verborgen war, von welcher Amulette herabbaumelten.

Er hob das Kinn des Mädchens an und blickte ihr in die Augen. Einmal hatte er mich genauso berührt, als ich seine Gefangene gewesen war. Wie fabelhaft ich ihn damals gefunden hatte, nicht wissend, dass ich einem machtvollen Zauber verfallen war, den Kaiser Khanujins Lord Magus gewirkt hatte.

Ohne Edans Magie rann glitzernd Schweiß seinen Nacken herunter, und sein Rücken ächzte unter dem Gewicht seiner kaiserlichen Robe.

Ich fragte mich, ob es dem Shansen auffiel.

Der Kaiser grub seine Finger so hart in ihre Kehle, dass sie Blutergüsse hinterlassen würden. Kalte Wut stand in seinen schwarzen Augen.

»Sprich«, befahl er.

»Ihre Hoheit … hat es mir nicht gesagt. Sie bat uns, mit ihr Tee zu trinken, um ihre bevorstehende Vermählung mit Euch zu feiern, und das konnten wir nicht ablehnen.« Die Zofe barg ihr Gesicht im Saum von Khanujins Gewändern.

»Sie hat dir also einen Zaubertrank verabreicht.«

Vor Angst gerieten ihre Atemzüge scharf und stockend. »Als ich aufwachte, trug ich ihre Kleider, und sie sagte, dass sie mich töten würde, wenn ich mich nicht als sie ausgeben würde.«

Khanujin ließ sie los. Er hob den Arm, wahrscheinlich, um anzuordnen, dass man sie wegbrachte und irgendwo still und leise hinrichtete, als …

»Lord Xina ist fort!«, rief einer der Männer des Shansen.

Mit einem Schlag wurde mir die Sicht genommen. Was auch immer mich aus meinem Körper gerissen hatte, zwang mich jetzt dorthin zurück, bis ich wieder unter den Dienern des Kaisers stand wie zuvor und mir die Ohren dröhnten von dem allgemeinen Aufschrei über Lord Xinas Verschwinden.

»Sucht sie beide!«, rief Khanujin. »Zehntausend Jen für jeden, der die Tochter des Shansen findet und sie mir bringt. Und neunfacher Tod jedem, der ihnen bei der Flucht geholfen hat.«

Neunfacher Tod. Das bedeutete nicht nur die Hinrichtung des Schuldigen, sondern auch die seiner Eltern, Kinder, Großeltern, Tanten, Onkel – der gesamten Blutlinie.

Benommen sah ich zu, wie sich die Menge zerstreute, Eunuchen und Handwerker und Soldaten und Diener, die alle nach Lady Sarnai suchen wollten. Auch ich musste zusehen, dass ich wegkam, ehe mich jemand bemerkte – oder für den Fall, dass jemand beobachtet hatte, wie meine Augen sich rot färbten.

Aber ich konnte mich nicht rühren, nicht während die Trommeln so heftig dröhnten, dass die Wolken selbst zu erbeben schienen. Die Trommelschläge erschütterten mich, jeder fuhr mir in Mark und Bein und erinnerte mich daran, was ich geworden war.

Wusstest du, dass sie früher getrommelt haben, um Dämonen zu verjagen? Ich konnte noch immer hören, wie Bandur mich verhöhnte. Bald werden nur noch die Trommeln dich an das Herz erinnern, das du einmal hattest. Jeder Schlag, den es aussetzt, jeder Schauer, der dich überläuft, ist ein Zeichen für die Dunkelheit, die von dir Besitz ergreift. Eines Tages wird sie dich von allem trennen, was du kennst und gernhast: von deinen Erinnerungen, deinem Gesicht, deinem Namen. Nicht einmal dein Zauberer wird dich noch lieben, wenn du als Dämon erwachst.

»Nein«, flüsterte ich, presste meine Hand auf mein Herz und spürte seinen ungleichmäßigen Takt.

Noch immer da.

Ich war kein Dämon. Noch nicht.

Sobald der Kaiser Lady Sarnai geheiratet hatte und der Frieden für A’landi gesichert war – sobald Baba, Keton und alle A’landier in Sicherheit waren –, würde ich jeden wachen Augenblick danach streben, meinen Fluch zu brechen. Bis dahin …

Jemand packte mich beim Ellbogen, riss mich aus meinen Gedanken – und weg von dem großen Platz.

»Ammi!«

»Bewegt Euch, Meister Tamarin«, sagte sie schroff. Sie warf einen Zopf über ihre Schulter zurück. »Ihr werdet Euch noch selbst in den Kerker bringen, wenn Ihr hier einfach so herumsteht, vor allem jetzt, da alle Welt weiß, dass Euer Bein nicht wirklich gebrochen ist.«

Dann wandte sie sich abrupt ab und verschwand in einer Schar Serviererinnen.

Ich war verblüfft. Meine Hände fielen herab, meine Füße vergaßen, wohin sie eigentlich hatten gehen sollen.

Warum hatte Ammi so barsch mit mir gesprochen, als ob ich ihr etwas getan hätte?

Meister Tamarin.

Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. So wie sie meinen Namen gesagt hatte, verstand ich plötzlich, warum sie wütend auf mich war.

Sie hatte mich als den Schneider Keton Tamarin kennengelernt, nicht als Maia. Doch dann hatte der Kaiser allen meine wahre Identität enthüllt. Wie betrogen sie sich gefühlt haben musste, von meiner Lüge durch ihn zu erfahren, nicht durch mich, nach all der Freundlichkeit, die sie mir während des Wettbewerbs um den Titel des kaiserlichen Schneiders erwiesen hatte.

»Ammi!«, rief ich und lief ihr nach. »Bitte, lass es mich erklären.«

»Erklären?« Sie kniff ihre runden Augen zusammen und versuchte, kalt zu wirken, was ihr nicht ganz gelang. »Ich habe keine Zeit für Euch. Es stehen zehntausend Jen auf dem Spiel. Das mag für Euch nicht mehr viel sein, aber für unsereins ist es ein Vermögen.«

»Ich kann dir helfen.«

»Ich brauche Eure …«

»Ich kann sie finden.«

Die Worte meiner Freundin erstarben auf ihren Lippen, und sie holte tief Luft. »Was wisst Ihr?«

Um ehrlich zu sein, wusste ich nichts. Die alte Maia, die eine schrecklich schlechte Lügnerin war, hätte das sofort eingestanden. Aber in diesem kleinen, scheinbar unbedeutenden Punkt hatte ich mich bereits verändert.

»Ich werde es dir zeigen.«

Ich setzte mich in Bewegung, bevor sie es mir abschlagen konnte, und als ich ihre widerstrebenden Schritte hörte, die mir vom Platz weg folgten, schlug ich die Richtung zu Lady Sarnais Gemächern ein. Ich hätte froh sein sollen, dass Ammi mitkam, und ich hätte noch einmal versuchen sollen, mich bei ihr zu entschuldigen; aber ich wollte nicht, dass sie weitere Fragen über Lady Sarnais Verbleib stellte. Außerdem machte mir noch etwas anderes zu schaffen. Eine bleierne Schwere auf meiner Brust, die zu verstehen ich einen Moment brauchte.

Ich beneidete Lady Sarnai. Beneidete sie darum, dass sie die Chance genutzt hatte, mit dem Mann zusammen zu sein, den sie liebte.

Die Chance, die ich mit Edan nicht haben durfte.

Komm mit, hörte ich ihn wieder bitten.

Wie sehr ich das gewollt hatte, mehr als alles andere. Die Wärme seiner Hand an meiner Wange, der Druck seiner Lippen auf meinen – all das genügte, um mich dahinschmelzen zu lassen.

Aber selbst wenn ich diesen Augenblick noch einmal hätte erleben können, so hätte ich ihm trotzdem dieselbe schmerzhafte Lüge aufgetischt, damit er ging. Es war besser, allein all das zu erdulden, was mir widerfahren würde – und Edan wäre endlich frei von den Banden, die ihn so lange Zeit gefesselt hatten.

»Wohin gehen wir?«, fragte Ammi. Sie klang irritiert. »Alle anderen suchen vor den Toren.«

»Hier entlang«, erwiderte ich und steuerte den Garten an. Meine Stimme klang erstickt, aber ich hoffte, dass es Ammi nicht auffiel. »Ich kenne eine Abkürzung zu ihren Gemächern.«

»Warum sollte sie noch dort sein?«

Ich antwortete nicht. Ich begann nur zu laufen.

Ich drückte die Tür zu Lady Sarnais Räumen auf. Weihrauch brannte, und dichte Schwaden vernebelten das Zimmer. Ich griff mir eine Laterne und schwenkte sie herum auf der Suche nach Anzeichen für einen Kampf.

Ein Schatten rührte sich flatternd in Lady Sarnais Schlafgemach.

Ammi erschauerte. »Vielleicht sollten wir wieder g…«

Ich legte den Finger an die Lippen und winkte sie mit der anderen Hand zu mir.

Lautlos betraten wir Lady Sarnais Schlafgemach. Die Seidenvorhänge an ihrem Himmelbett wehten, aber es gab keinen Luftzug, keinen Wind heute Abend.

Ich stellte die Laterne ab und riss die Vorhänge auf.

Lady Sarnais Dienerinnen lagen auf ihrem Bett, geknebelt und an Händen und Füßen mit Bettlaken gefesselt. Bewusstlos, aber sie regten sich bereits.

Ich wirbelte herum. Ein Haufen Kleider lag auf dem Boden verstreut, ein gelbes Stück Stoff lugte unter einem Tisch hervor. Ich ging in die Hocke und hob den abgerissenen Fetzen auf, um ihn zu untersuchen.

Lady Sarnai verabscheute Gelb, und weder sie noch ihre Zofen hätten je einen Stoff getragen, der so grob war.

Der Fetzen gehörte zu einem Ärmel und stammte zweifelsfrei von der Uniform eines kaiserlichen Wachpostens. Er war zerknüllt, so als hätte sich jemand daran festgeklammert.

Ich untersuchte den Rest des Raumes. Ein Schwert, das zu schwer und unhandlich war, um Lady Sarnai zu gehören, lehnte an einer der großen Truhen vor ihrem Wandschirm.

In einem brennenden Lichtblitz, auf den ich keinen Einfluss hatte, erblickte ich Lady Sarnai und Lord Xina draußen vor den Palasttoren. Sie waren wie kaiserliche Gardisten angezogen und mischten sich unter all jene, die ausgesandt worden waren, nach ihnen zu suchen. Ich blinzelte und sah wieder normal.

»Sie ist nicht mehr im Palast«, murmelte ich. »Sie ist als Wache verkleidet.«

»Woher wisst Ihr das?«

Anstatt eine Antwort zu geben, nahm ich mir das an die Truhe gelehnte Schwert. »Schau nicht hin«, befahl ich Ammi.

Sie wurde blass, zog sich aber gehorsam aus dem Gemach zurück. Ich hob das Schwert hoch, zerschmetterte das Schloss der Truhe und stemmte den Deckel auf. An dem Gestank, der ihr entströmte, erkannte ich, was ich in der Truhe vorfinden würde.

Einen kaiserlichen Gardisten, die Augen umwölkt vom Tod.

Getrocknetes Blut, fast schwarz, auf seinen Lippen geronnen. Seine Nase war gebrochen und seine Kehle sauber aufgeschlitzt – von jemandem mit einer ruhigen Hand, der wusste, wie man am schnellsten, lautlosesten tötete. Seine Uniform gestohlen.

Vor dem Schlafzimmer schrie Ammi auf. Vermutlich hatte sie die anderen toten Wachposten gefunden.

»Gut gemacht«, lobte Kaiser Khanujin, als wir ihm Bericht über unsere Entdeckungen erstattet hatten.

Ammi, die sich tief neben mir verbeugte, strahlte. Auf dem gesamten Weg hinüber zu den Gemächern des Kaisers waren ihre Gefühle zwischen dem Grauen über den Fund der Leichen und der Begeisterung, den Kaiser leibhaftig zu treffen, hin und her geschwankt.

Nun war das Grauen vergessen, aber ich konnte es ihr nicht verdenken. Schon ein kurzer Blick in den Audienzsaal des Kaisers war mehr, als eine Magd ihres Standes je erhoffen konnte.

Ich hätte mir gewünscht, ihre Aufregung teilen zu können, doch ich fühlte nur den scharfen Stachel der Reue.

»Sie wird wie ein Gardist gekleidet sein«, sagte ich ruhig. »Lord Xina ebenfalls. Sie sind mit den übrigen Suchenden losgezogen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie können noch nicht weit sein.«

Der Kaiser, hinter einem großen hölzernen Wandschirm vor unseren Augen verborgen, ergriff erneut das Wort.

»Ihr beide habt das entdeckt? Niemand sonst?«

»Ja, Eure Majestät.«

»Wenn es wahr ist, was Ihr sagt, werdet Ihr belohnt. Ihr könnt gehen.«

Ich wollte mich schon erheben, doch der Kopfputz des Kaisers klingelte leise. »Meister Tamarin.« Furcht überfiel mich, noch bevor er die nächsten Worte sprach. »Einen Augenblick noch.«

Ammi warf mir einen neugierigen Blick zu, und ich brachte irgendwie ein Lächeln zuwege, um ihr zu versichern, dass alles in Ordnung sei. In Wahrheit hatte ich allerdings ein mulmiges Gefühl.

Er wartete, bis sich die Türen hinter ihr schlossen und wir allein waren. »Ihr wart heute Nachmittag nicht im Palast.«

»Seine Majestät war so huldvoll, mich heute von meinen Pflichten als kaiserliche Schneiderin freizustellen.«

Der Ton des Kaisers wurde hart. Tödlich. »Wo wart Ihr?«

Keine Spielchen mehr. Ihm war bekannt, dass ich wusste, was Edans Weggang für ihn bedeutete und warum er sich hinter diesem hölzernen Wandschirm versteckte.

»Ich bin zum Schrein gegangen, um zu beten«, log ich. »Um Glück für die Hochzeit Euer Majestät.«

Der Schatten des Kaisers bewegte sich an der Wand, als dieser sich zurücklehnte und misstrauisch schnaubte. »Sicherlich seid Ihr im Bilde darüber, dass der Lord Magus vermisst wird.«

Er hatte Edan also noch nicht gefunden.

»Das bin ich nicht«, log ich wieder.

Gereiztheit schwang in Khanujins Stimme mit. »Das fällt mir schwer zu glauben, Meister Tamarin, angesichts der Tatsache, dass er zuletzt mit Euch gesehen wurde.«

Mein Herz schlug schneller. »Eure Majestät, ich habe den Lord Magus nicht gesehen, seitdem ich Lady Sarnai die Kleider vorgeführt habe.«

»Ihr wagt es, mich erneut anzulügen?« Wütend erhob sich Kaiser Khanujin und trat hinter dem Wandschirm hervor. Ich wagte nicht aufzublicken und verbeugte mich rasch.

Die kalte Spitze eines Dolchs hob mein Kinn an, als hinge ich wie ein Fisch am Haken.

Der einstige Glanz des Kaisers war verblasst, aber noch nicht ganz geschwunden. Er war noch immer von imposanter Größe, mit breiten und stolzen Schultern, und seine Stimme noch immer schmeichelnd genug, um einen Tiger in den Käfig zu locken.

Doch sein Gesicht hatte begonnen, sich zu verändern. Schminke kaschierte die Fahlheit seiner Haut. Der Mund war grausam verzerrt, die Zähne waren größer und schiefer, und seine Augen, von denen ich früher gedacht hatte, dass sie die Wärme des Hochsommers verströmten, waren kalt wie die einer Schlange.

Der Kaiser zuckte zusammen, als er meinen Blick bemerkte. »Ich werde Euch nicht noch einmal fragen. Wohin ist der Lord Magus gegangen?«

Sein Dolch grub sich in meine Haut, und ich betrachtete mein Spiegelbild auf seiner glatten Klinge. Ich erkannte das Mädchen kaum, das ich dort erblickte, ebenso wenig wie die Stimme, die sagte: »Ich würde es nicht wagen, Eure Majestät anzulügen. Wirklich, ich weiß es nicht.«

Kaiser Khanujin starrte mich mit zusammengekniffenen, berechnenden Augen an.

Ich wartete mit hämmerndem Puls, bis er endlich den Dolch sinken ließ.

»Er hat etwas getan, als Ihr jenes Kleid angezogen habt«, zischte er. »Da war ein Lichtblitz – das war Magie, ich weiß es. Ihr beide habt es zusammen geplant.«

»Wenn ich geplant habe, mit dem Lord Magus fortzugehen, warum bin ich dann noch hier?«

»Meine Wachen haben das in Eurer Unterkunft gefunden.«

Der Kaiser hielt eine einzelne schwarze Feder hoch. Die eines Habichts.

Edans Feder.

Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, aber seltsamerweise blieb ich ruhig. Es sah mir gar nicht ähnlich: Gestern hätte ich noch auf den Boden gestarrt und etwas Unzusammenhängendes gestammelt – und ich hätte den Kaiser angefleht, Edan nichts anzutun. Heute faltete ich einfach die Hände und beugte den Kopf. »Der Lord Magus ist bekannt dafür, dass er zuweilen im Dienste Eurer Majestät die Gestalt eines Habichts annimmt. Wenn er meine Gemächer besucht hat, ist das ohne Zweifel geschehen, um sicherzustellen, dass ich an den Kleidern für Lady Sarnai arbeitete.«

»Ihr habt die Sprache eines Höflings gelernt, während Ihr fort wart, Tamarin«, erwiderte Kaiser Khanujin. Das Lob klang hohl in meinen Ohren, und so war es auch gemeint. »Ihr seid monatelang mit ihm zusammen gereist. Warum ist er fortgegangen?«

Darauf wusste ich eine Antwort. Edan war gegangen, weil ich ihn darum gebeten hatte. Weil ich ihn angelogen und ihm gesagt hatte, es würde mir gut gehen ohne ihn. Weil ich seinen Schwur dem Kaiser gegenüber gelöst hatte, und hätte er den Palast nicht verlassen … Die Götter allein wussten, was Khanujin ihm dann antun würde.

Aber das konnte ich dem Kaiser nicht sagen.

Ich konnte lügen, aber keine Lüge würde Edan für immer vor Khanujins Zorn bewahren. Es sei denn …

Ich leckte mir über die Lippen, schmeckte die Süße eines neuen Gedankens. Ich blickte auf Kaiser Khanujins Kehle, die der reich bestickte Kragen seiner Jacke kaum schützte.

Denk doch nur, wie leicht es wäre, schmeichelte eine Stimme in mir. Meine Stimme.

Wenn du Edan schützen willst, ist es das, was du tun musst. Du hast die Kraft dazu. Khanujin ist schwach und er ist allein.

Hitze brannte in meinen Augen, und die Versuchung ließ meine Finger zucken.

Ja. Tu es. Die Stimme hallte tief in mir nach, übertönte meine Sinne und meinen Verstand. Töte ihn.

Nein! Ich grub die Nägel in die Handflächen. Geh weg.

Die Stimme in meinem Kopf lachte. Kleine Maia. Du weißt, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Ich werde jede Minute stärker. Bald werden meine Gedanken deine sein. Unsere Gedanken werden eins sein. Du wirst es nicht einmal bemerken.

Das war es, wovor ich Angst hatte. Ich knirschte mit den Zähnen. LASSMICHINRUHE.

Als das Gelächter abebbte und endlich verklang, streckte ich meine Finger wieder und rieb über die Halbmonde, die sich in meine Handflächen eingedrückt hatten.

»Tamarin!«, knurrte der Kaiser. »Wenn Ihr mich anlügt, werde ich Euren Vater und Bruder herbringen lassen, um sie zu hängen.«

Wut flammte heiß in meiner Brust auf und schnürte sie so zusammen, dass ich kaum noch atmen konnte. Ich hätte ihm am liebsten gesagt, dass ich ihn töten würde, bevor das geschah – dass ich mich der Dunkelheit in mir ergeben würde, um seine Knochen einen nach dem anderen zu zerschmettern, bevor ich zuließ, dass er meine Familie anrührte.

Aber ich sagte es nicht. Die Wut wich so rasch von mir, wie sie gekommen war. In einer tiefen Verbeugung berührte ich den Boden mit der Stirn.

»Vergebt mir, Eure Majestät, aber ich weiß es nicht. Ich bete, dass der Lord Magus und Lady Sarnai beide gefunden werden.« Ich hielt inne und wartete darauf, dass der scharfe Stachel der Reue, der meine Brust durchbohrte, stumpf wurde. Ich wünschte, ich hätte niemals Lady Sarnais Schlafgemach durchsucht, hätte niemals dem Kaiser mit meinen Hinweisen geholfen.

Ich verbeugte mich abermals, und endlich entließ mich Khanujin mit einer wedelnden Handbewegung.

»Danke, Eure Majestät.« Meine Stimme war einmal mehr eiskalt und troff vor Lügen. »Mögt Ihr zehntausend Jahre leben.«

KAPITEL DREI

Ohrenbetäubendes Glockengeläut riss mich aus dem Schlaf. Es war eine oder zwei Stunden vor der Morgendämmerung und der Himmel noch dunkel, aber doch hell genug, dass ich die grauen Rauchschwaden über den heruntergebrannten Laternenlichtern ausmachen konnte.

Die Glocken lärmten weiter und weiter, ihr Klang drang durch die geöffneten Fenster herein. Als ich endlich aufstand, um sie zu schließen, erhaschte ich den Blick auf eine Bewegung draußen – und hörte das Schnalzen einer Peitsche, die sich in Fleisch verbiss.

Lady Sarnai. Lord Xina. Man hatte sie gefunden, und nun züchtigten die Wachposten sie.

Bambusblätter klebten an Sarnais Rücken, und Wasser tropfte von ihren schwarzen langen Haaren. So wie es aussah, hatten sie es bis zum Leyang geschafft, bevor die Wachen sie und ihren Geliebten stellten.

»Ihr werdet keinen meiner Männer mehr niedermetzeln«, sagte einer der Soldaten zu ihr. »Nicht wenn ich Wache habe. Bringt sie zurück in ihre Gemächer, und den hier werft ihr in den Kerker.«

Ich lehnte mich an die Wand, ein eisiger Klumpen formte sich in meinen Eingeweiden. Wenn ich nicht gewesen wäre, wären die beiden vielleicht entkommen.

Lady Sarnais Glück war ein geringer Preis für den Frieden, rief ich mir in Erinnerung. Nie wieder würden Familien so einen Verlust erleiden wie Baba, Keton und ich, als Finlei und Sendo im Krieg umgekommen waren.

Aber warum schmeckte meine Erleichterung dann so bitter?

Eine Stunde später hatte ich meine Antwort. Minister Lorsa platzte in mein Gemach, um zu verkünden, dass die Hochzeitsfeierlichkeiten am Nachmittag mit der Prozession der Gaben weitergehen würden. Ich sollte Lady Sarnai das »Sternenkleid« anpassen. Sofort.

Ein Trupp Soldaten bewachte den vorderen Eingang von Lady Sarnais Unterkunft, und eine Reihe Bogenschützen stand unter den Fenstern hinter den rauschenden Weiden.

Heute brannte kein Weihrauch auf ihrem Tisch, und alle Laternen, die an der Decke gehangen hatten, waren abgenommen worden. Was sich als Waffe gebrauchen ließ, hatte man entfernt.

Wind drang durch die zerbrochenen Fenster herein, die hastig mit Baumwolltüchern und Pergament geflickt worden waren. Die kühle Luft verursachte mir Gänsehaut.

Ich verbeugte mich. »Eure Hoheit, ich bin gekommen, um Euch für die Hochzeitsfei…« Ich unterbrach mich. Lady Sarnai würde das Fest heute Abend nicht als Feier betrachten. »Für das Bankett heute Abend anzukleiden.«

Sie erhob sich nicht von ihrem Stuhl. Man hatte ihr dichtes schwarzes Haar geölt und geflochten; es glänzte im Sonnenlicht. Aber ihre vollen Lippen waren aufgesprungen, und sie starrte mit glasigem Blick vor sich hin. Sie sah aus, als könnte sie jeden Augenblick zerspringen.

Lady Sarnai war indes nicht aus Glas. Vielleicht aus Stein. Und Steine brachen nicht.

»Ich könnte Euch mit diesen Kleidern erdrosseln«, sagte sie mit einer leisen Stimme, die wie das Knurren aus der Kehle eines Tigers klang. »Wenn Ihr nicht wäret …«

Sie biss die Zähne zusammen. Der Hass ließ sie nur stoßweise atmen, und ich wusste: Ohne die Wachen draußen vor ihren Gemächern und ihren Geliebten, der im Kerker saß, hätte sie ihre Drohung wahr gemacht.

Ich senkte den Blick und wählte meine nächsten Worte mit Bedacht. »Ich bin erleichtert, dass Eure Hoheit wohlbehalten in den Herbstpalast zurückgebracht wurde. Zehntausend Jahre Freude und Glück für Lady Sarnai und Seine Majestät …«

»Genug!«, bellte sie. »Ihr glaubt, dass Ihr Khanujins Gunst erringt, indem Ihr ihm helft?«

»Nein, Eure Hoheit, das glaube ich nicht.«

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ihre langen Finger umklammerten die hölzernen Armlehnen. »Wenn ich Kaiserin bin, seid Ihr die Erste, die dafür bezahlen muss.«

Ihre Worte waren ein Todesversprechen, aber ich hatte keine Angst mehr vor ihr.

»Ganz wie Ihr wünscht, Eure Hoheit.«

Lady Sarnai runzelte die Stirn. »Ihr habt Euch verändert«, stellte sie fest. »Etwas an Euch ist anders.« Ein grausames Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. »Es ist der Zauberer, oder?«

Ich riss meinen Blick vom Boden los und begegnete kühl ihrem zornigen Starren. Das gefiel ihr, und ich bereute es.

»Es gibt Gerüchte, er sei verschwunden. Ich versichere Euch, dass diese Neuigkeit meinen Vater sehr interessieren wird, besonders, wenn ich sie ihm heute Abend bestätigen werde.«

»Der Lord Magus ist nicht verschwunden«, log ich.

»Ach? Ich wäre nicht bis zum Leyang gekommen, wenn Edan noch hier wäre.« Ein kleines Lachen drang heiser aus ihrer Kehle. »Keine Sorge, Schneiderlein. Khanujin wird ihm bis ans Ende der Welt folgen, um ihn zurückzuholen. Ist es nicht das, was Ihr wollt?«

Sie versuchte, mir wehzutun. Ich hatte ihr schreckliches Unrecht zugefügt, und sie hatte nur noch Worte, die sie mir entgegenschleudern konnte.

»Ich will, dass Ihr den Kaiser heiratet«, erwiderte ich. »Diese Hochzeit ist unsere einzige Hoffnung auf Frieden.«

Verachtung machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Es ist zu spät für Frieden.«

Keton hatte mir einmal erzählt, dass der Fünfwinterkrieg nur dank einer Pattsituation zu Ende gegangen war. Der Shansen fürchtete Edan, und Edan war auf der Hut vor den dunklen Kräften, die hinter der gewaltigen Macht des Shansen standen.

Aber wie sollte der Kaiser gegen den Shansen noch länger bestehen, nun da Edan fort war?

Diese Hochzeit musste stattfinden.

»Die Zeit drängt, Eure Hoheit«, sagte ich ruhig. »Ich muss Euch das Kleid anpassen.«

Lady Sarnais Zofen – ihre neuen Zofen, Jun und Zaini – trugen eine große Truhe aus Walnussholz herein. Bittere Wehmut überkam mich, als ich sie öffnete und die Kleider der Sonne, des Mondes und der Sterne herausnahm. Ihr Glanz flutete Lady Sarnais dunkles Gemach, und goldene und silberne Lichtstrahlen huschten über die Decke des Raumes.

»Wie wunderschön«, flüsterten die Zofen. »Sie sind …«

»Ich vermute, er will, dass ich das hier anziehe.« Sarnai deutete knapp auf das Kleid aus dem Blut der Sterne. Streifen von Sonnenschein tanzten über seine schwarze Seide und erweckten Garben aus Farbe zum Leben, die nicht von dieser Welt zu sein schienen, wie Sternschnuppen am Nachthimmel.

Bevor ich etwas entgegnen konnte, nahmen die Zofen mir das Kleid aus den Händen und begleiteten Lady Sarnai in ihren Ankleidebereich.

Während ich wartete, wandte ich mich dem großen Rosenholzspiegel zu meiner Linken zu. Tief eingesunkene Augen sahen mich an, müde von der Sorge und dem Schlafmangel, und Strähnen meines schwarzen Haars lugten unter meiner Kappe hervor. Ich berührte die Sommersprossen, die mein Gesicht sprenkelten, und meine blassen, blutleeren Lippen.

Ich war ein Schatten meines alten Ich.

Lady Sarnai war hinter ihrem Wandschirm hervorgetreten. Die Röcke des Sternenkleides bauschten sich hinter ihr auf. Das Mieder schnürte ihre schmale Taille ein, der Ausschnitt betonte die scharfen Umrisse ihrer Schultern und Brust. Wir hatten fast dieselben Maße, und alles passte perfekt. Ich hatte es gewusst.

Aber der Stoff, der unter meiner Berührung wenige Augenblicke zuvor noch zum Leben erwacht war, hing nun matt und stumpf an ihr – in der Farbe von verkohltem Holz, der Farbe einer endlosen Nacht.

»Ihr nennt das ein Hochzeitskleid?«, fragte sie finster.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das Kleid hatte sich verändert, als ich es getragen hatte. Über die Röcke waren Azur- und Indigo- und Purpurschattierungen geflirrt, die satter waren, als man sie irgendwo auf der Gewürzstraße finden konnte, und sie hatten einen silbernen Schein auf meine Haut geworfen, bei dem selbst der Kaiser mich staunend bewundert hatte.

Aber an Lady Sarnai war das Kleid ohne jeden Glanz. Ohne jedes Leben. Ich näherte mich ihr mit dem Maßband und versuchte, sie dazu zu bewegen, ins Licht zu treten. »Lasst mich sehen, ob …«

»Vielleicht sollte Eure Hoheit ein anderes Kleid anprobieren«, unterbrach mich die jüngere der beiden Zofen, Jun. »Das Kleid der Sonne.«

Lady Sarnais Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Bringt es her.«

Sie meinte mich, nicht die Zofen. Ich hängte mir das Maßband über den Arm und nahm das Sonnenkleid vom Stuhl.

Sie blinzelte, und ihre Augen tränten angesichts des strahlenden Glanzes, der von dem Kleid ausging.

»Eure Hoheit, geht es Euch gut?«

»Das Kleid will ich nicht«, begann sie. »Ich …« Lady Sarnai hielt inne. Ihr fiel die Kinnlade herunter, ihre Schultern zuckten, und sie schlug wild mit den Armen um sich. Dann begann sie zu keuchen, als hätte sie Atemnot.

»Eure Hoheit?« Jun und Zaini fächelten ihr Luft zu und klopften auf ihr Handgelenk, als würde das helfen. »Eure Hoheit, ist Euch nicht wohl?«

Sarnai hustete und röchelte. Ihre Lippen bewegten sich, aber es kam nur ein erstickter Laut heraus. »Dämonen«, hauchte sie tonlos. Ihre blutunterlaufenen Augen weiteten sich vor Panik. Sie schrie: »Dämonen! Sie verbrennen mich.«

Sie zitterte heftig, während sich ihre Finger in ihr Mieder verkrallten und versuchten, es aufzureißen. Die Zofen packten sie an den Armen, um ihr Halt zu geben, doch sie entwand sich ihrem Griff. Sie stolperte über ihre Röcke und taumelte blindlings nach hinten gegen die Wand. »Tamarin, nehmt es mir ab«, krächzte sie. »Nehmt es mir …«

Dann sackte sie mit einem dumpfen Laut zu Boden.

Die Zofen schrien auf, und ich ließ das Kleid der Sonne fallen und eilte zu Lady Sarnai. Ich hob ihren Kopf in meinen Schoß und hielt ihren Nacken ruhig, während ihr übriger Körper krampfte.

Es war das Kleid. Ich musste es ihr ausziehen, bevor es sie umbrachte.

Ich drehte sie auf den Bauch und nestelte an meinem Gürtel nach meiner Schere. Es blieb keine Zeit, Dutzende Knöpfe zu öffnen, daher schnitt ich kurzerhand ins Rückenteil. Zumindest versuchte ich es. Der Stoff war so stark, dass er den Klingen meiner Schere widerstand. Ich schnitt wieder und wieder, bis die Fäden sich lösten und die Zofen und ich Lady Sarnai das Kleid vom Leib reißen konnten.

»Dank sei den Göttern«, schnaufte ich, als sie endlich aufhörte zu zittern. Doch meine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Ihre Arme waren schlaff geworden, und als ich sie wieder umdrehte, wollte sie die Augen nicht öffnen.

Ich ließ die Schere los. Ich hatte sie so fest umklammert, dass die Griffe sich in meine Finger eingedrückt hatten. Was geschah da mit der Tochter des Shansen?

Die ältere Zofe, Zaini, presste ihr Ohr an Lady Sarnais Brust.

»Sie atmet nicht!«, rief sie schrill vor Bestürzung. »Sie atmet nicht!«

»Schsch«, sagte ich. »Bringt mir Wasser.«

Zaini gehorchte, und ich goss es Sarnai übers Gesicht. Doch sie rührte sich noch immer nicht.

Geräuschlos trugen die beiden Lady Sarnai in ihr Bett.

Ihre Augen waren geschwollen und die Lippen schmerzverzerrt. Blutergüsse zeigten sich an Brust und Hals, und ihre Haut hatte einen elenden blaugrauen Ton angenommen. Aber am schlimmsten – und sonderbarsten – war, dass tintenartige violette Male ihren Körper hinaufwanderten und grauenhafterweise wie brennende Sterne schillerten.

»Ist sie … am Leben?«, fragte ich. Ich konnte nicht tot sagen. Ich wollte es nicht.

Zaini biss sich zögernd auf die Lippe. »Gerade noch so.«

Mein Magen krampfte sich zusammen. Lady Sarnai hatte einen Puls, aber nur, wenn ich ihren Mund berührte, spürte ich auch ihren sehr schwachen Atem. Es war, als läge sie in tiefem Schlaf und könnte nicht aufwachen.

Edans Warnung fiel mir ein. »Die Kleider sind nicht für diese Welt bestimmt.«

Er hätte gewusst, was zu tun wäre. Aber er war nicht hier, und ich selbst besaß keine Magie … nur die Schere. Was konnte meine Schere für Lady Sarnai tun?

Was sollte ich nur tun?

Die Prozession der Gaben würde schon bald beginnen. Es würde keine Hochzeit ohne Lady Sarnai geben. Nur Krieg.

»Kümmert euch um Lady Sarnai«, sagte ich. »Bis es ihr wieder gut geht, werde ich ihren Platz bei der kaiserlichen Hochzeit einnehmen.«

Jun und Zaini sahen mich an, und an die Stelle ihrer Angst traten Besorgnis und Erschrecken.

Ich reckte das Kinn, um meine Entschlossenheit zu unterstreichen. »Sprecht mit niemandem über all das hier.«

Es waren keine weiteren Worte nötig; sie verstanden, was ich meinte. Ihr und mein Leben hingen von ihrer Verschwiegenheit ab und von Lady Sarnais Genesung.

Mein Blick verweilte auf dem Kleid der Sterne, das als Haufen schwarzer Seide auf dem Boden lag. Die Nähte waren zerrissen, das Mieder zerfetzt, und die einzelnen Lagen der Röcke in Unordnung gebracht. Es war keine Zeit, das jetzt auszubessern.

Ich griff nach dem Kleid der Sonne und ging auf den Wandschirm zu.

Bei den Neun Himmeln, ich betete, dass es funktionieren würde. Wenn nicht, stünde A’landi wieder im Krieg, noch ehe die Nacht vorüber war.

KAPITEL VIER

Was ich am meisten fürchtete, war die Begegnung mit dem Shansen von Angesicht zu Angesicht. Er wirkte nicht wie ein Mann, der sich leicht hinters Licht führen ließ.

Die Leute werden sehen, was sie sehen wollen, sagte ich mir. Es schien so lange her zu sein, dass Keton mir diesen Rat gegeben hatte. Nur, dass ich mich damals als er verkleidet hatte, nicht als die Tochter des Shansen. Ironischerweise fiel die Strafe für beides vermutlich gleich aus.

Doch der Tod machte mir nicht mehr so viel Angst wie früher.

Jun und Zaini schminkten mein Gesicht, um die Sommersprossen auf Nase und Wangen zu verdecken, und ließen meine Lippen so voll und rot erscheinen wie die von Lady Sarnai. Sie flochten mein Haar so straff, dass das Denken wehtat, und jedes Mal, wenn ich den Kopf bewegte, klingelten ein Dutzend Smaragd- und Rubinnadeln an meinem Kopfputz.

Ich brauchte keinen Schleier, um mich dahinter zu verbergen. Mein Kleid blendete so, dass mich niemand länger als einen kurzen Augenblick ansehen konnte. Das Lachen der Sonne schien von meiner Anspannung und Nervosität zu zehren, denn das Kleid hatte noch nie so lebhaft geleuchtet. Jede einzelne Faser strahlte Licht ab, das selbst die dunklen Wolken draußen durchdrang.