Der Fluch der Schwestern (Die sechs Kraniche 0) - Elizabeth Lim - E-Book
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Der Fluch der Schwestern (Die sechs Kraniche 0) E-Book

Elizabeth Lim

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Beschreibung

Ein packendes Fantasy-Abenteuer über zwei unzertrennliche Schwestern – eine atmosphärische Mischung aus »Die Schöne und das Biest« und asiatischer Mythologie! Channi ist das genaue Gegenteil ihrer wunderschönen Schwester Vanna – sie wurde als Kind mit einem Schlangengesicht verflucht. Dennoch sind die beiden unzertrennlich. Als Vanna mit siebzehn in einem Verlobungswettbewerb versteigert werden soll, um die Kassen der Dorfvorsteher zu füllen, verteidigt Channi ihre Schwester gegen den grausamsten der Bräutigame und wird dabei zur Zielscheibe seines Zorns. Ein packendes Abenteuer beginnt, eine Queste über Land und Meer und eine Romanze zwischen eingeschworenen Feinden. Am Ende muss Channi eine schwere Entscheidung treffen. *** Episch und herzzerreißend zugleich: Die Geschichte von Shioris Stiefmutter erzählt von der dunklen Seite der Schönheit und ergründet die tiefe Verbindung zweier Schwestern. *** »Dieses Buch ist reine Magie!« Kristin Cashore, Spiegel- und NYT-Bestseller-Autorin über »Die sechs Kraniche« »MAGISCH, SPANNEND und WUNDERSCHÖN!« LizzyNet über »Die sechs Kraniche«

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Elizabeth Lim

Der Fluch der Schwestern

Aus dem Englischen von Beate Brammertz

Channi ist das genaue Gegenteil ihrer wunderschönen Schwester Vanna – sie wurde als Kind mit einem Schlangengesicht verflucht. Dennoch sind die beiden Schwestern unzertrennlich. Als Vanna mit siebzehn in einem Verlobungswettbewerb versteigert werden soll, um die Kassen der Dorfvorsteher zu füllen, verteidigt Channi ihre Schwester gegen den grausamsten der Bräutigame und wird dabei zur Zielscheibe seines Zorns. Ein packendes Abenteuer beginnt, eine Queste über Land und Meer und eine Romanze zwischen eingeschworenen Feinden. Am Ende muss Channi eine schwere Entscheidung treffen.

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Viten

 

Für Diana, meine nerdige Fantasy-Kollegin und die große Schwester, die ich mir immer gewünscht habe.

 

Für Amaris, eine meiner ältesten und liebsten Freundinnen und noch dazu eine Handlungsfehler-Finderin de luxe.

 

Für Eva, meine unschätzbare Freundin, die seit dem allerersten Buch an mich geglaubt hat.

 

Ich bin nicht als Monster geboren worden.

Die Menschen vergessen das gern. Die Grausamen feixen höhnisch und erzählen mir, ich sei eine Ausgeburt der Dämonen. Sie glauben, die Worte würden mich verletzen, aber sie kommen der Wahrheit näher, als sie vermuten.

Lügen höre ich nur von den Freundlichen. »Du hast ein gutes Herz, wie deine Schwester«, sagen sie in mitleidigem Tonfall. »Tief in deinem Innern bist du wunderschön – genau wie deine Schwester.«

Ich bin kein bisschen wie meine Schwester.

Auf allen Inseln ist ihre Geburt eine Legende. Unzählige Menschen kommen von nah und fern, um einen kurzen Blick auf ihre Schönheit zu erhaschen, und unsere Nachbarn haben gutes Geld damit verdient, ihre Geschichte zu erzählen – wie mein Vater in einer Mondregenbogennacht vor siebzehn Jahren eine schreckliche Entscheidung fällen musste: seine Ehefrau zu retten, die sterbend auf einer mottenzerfressenen Pritsche lag, oder seine neugeborene Tochter, deren rosige Wangen, seidenweiche Locken und göttliches Strahlen bereits jeden bezaubert hatten, der ihrer ansichtig wurde.

Adahs Wahl fiel auf seine Ehefrau. Er riss der Hebamme meine Schwester aus den Armen und rannte in den Dschungel, um sie der Dämonenhexe Angma zu opfern. Dort, auf einem flachen Felsen neben einem krummen Baum, ließ er meine Schwester zum Sterben zurück.

Doch selbst als Säugling ging von meiner Schwester bereits ein goldenes Licht aus, das die Dämonenhexe vollkommen in ihren Bann schlug und es ihr unmöglich machte, sie zu verschlingen. Und so kam es, dass Adah meine Schwester am nächsten Tag genau an dem Ort wiederfand, an dem er sie zurückgelassen hatte, lachend und singend zwischen Vögeln und Fröschen, und sie in den Schoß unserer Familie zurückkehrte.

Die Geschichte erinnert an ein Märchen, was der Grund ist, weshalb die Dorfbewohner es auch lieben, sie immer wieder zum Besten zu geben. Doch sie erklärt nicht, was mit meinem Gesicht geschah … denn so hat sich die Geschichte nicht wirklich zugetragen.

Es ist wahr, von dem Moment ihrer Geburt an strahlte meine Schwester so hell, dass sie das Licht der Sterne in den Schatten stellte, und ihr Lächeln konnte selbst Herzen aus Stein erweichen. Es entspricht ebenfalls der Wahrheit, dass Adah diese schreckliche, schicksalhafte Entscheidung treffen musste. Um meine Mutter zu retten, versuchte er tatsächlich, ein Kind zu opfern. Allerdings brachte er nicht meine Schwester in den Dschungel.

Sondern mich.

Kapitel 1

Bei der Geburt meiner Schwester schien weder der Mond noch gab es einen Mondregenbogen. Anders als in den Geschichten erblickte sie am späten Vormittag, kurz vor der Mittagsstunde, das Licht der Welt. Daran erinnere ich mich, weil mir die Sonne in die Augen stach und die sengende Hitze auf meiner Haut brannte, bis ich schweißgebadet war.

Ich war noch sehr klein, spielte gerade draußen im Freien und wischte mit einem Stock die Ameisen weg, die mir die Knöchel hochkrabbelten, als die Sonne jäh schwand – und ich Schreie vernahm. Mamas Schreie.

Anfangs waren sie leise. Donner grollte bereits und verschluckte die Wucht ihrer Schmerzenslaute. Das ohrenbetäubende Krachen am Himmel ängstigte mich nicht, denn an die launischen Winde der Insel und das tiefe Heulen, das nachts aus dem Dschungel drang, hatte ich mich längst gewöhnt. Ich blieb, wo ich war, selbst als der Regen sich schwallartig vom Himmel ergoss und die Hühner flatternd Schutz suchten. Die Erde unter meinen Zehen verwandelte sich in Schlamm, und die warme, feuchtschwüle Luft kühlte merklich ab. Die Ameisen ertranken, während das Wasser bis zu meinen Fesseln stieg.

Adah hatte mir befohlen, erst ins Haus zu kommen, wenn man mich rief, doch der Regen prasselte immer heftiger herab. Es goss in Strömen, der Schauer durchnässte mein Hemd und meine Sandalen und trommelte gegen meinen Schädel. Es tat weh.

Nachdem ich meine Sandalen von mir geschleudert hatte, kletterte ich die Holzstufen zu unserer Hütte empor und rannte in die Küche. Ich schüttelte mir den Regen aus den Haaren und wollte mich am Feuer wärmen, aber es war bis auf ein paar glühende Holzkohlen niedergebrannt.

»Adah?«, rief ich zitternd. »Mama?«

Keine Antwort.

Mir knurrte der Magen. Oben neben dem Kochtopf stand ein Teller mit Küchlein, die meine Mutter tags zuvor für mich gedämpft hatte. Ihre Hände hatten nach Kokosnuss gerochen und ihre Nägel hell geschimmert, klebrig vor Sirup.

»Channis Kuchen sind fertig!«, rief sie immer, wenn das Gebäck fertig gegart war. »Iss nicht zu viele auf einmal, sonst schwirren dir die Zuckerfliegen auf der Suche nach Essen im Bauch herum.«

Heute rief sie nicht nach mir.

Auf den Zehenspitzen streckte ich die Arme in die Höhe, aber ich war nicht groß genug, um den Teller zu erreichen.

»Mama!«, brüllte ich. »Darf ich einen Kuchen haben?«

Die Schreie meiner Mutter waren verstummt, doch ich hörte sie im Nebenzimmer keuchen. Damals war unser Haus sehr klein und nur ein Vorhang trennte die Küche von Mamas und Adahs Schlafzimmer ab.

Ich stellte mich an meine Seite des Vorhangs. Die raue Baumwolle scheuerte an meiner Nase, als mein Atem auf den Stoff traf und ich versuchte, schemenhaft auszumachen, was auf der anderen Seite vor sich ging.

Drei Schatten. Mama, Adah und eine alte Frau – die Hebamme.

»Ihr habt eine weitere Tochter«, erklärte die Hebamme meinen Eltern. »Channi hat eine kleine Schwester.«

Eine Schwester?

Mit einem Schlag waren Adahs Anweisung und mein Hunger vergessen, ich duckte mich unter dem Vorhang hindurch und kroch in eine Ecke des Raums.

Mama lag im Bett, mit einem Kissen als Stütze im Rücken. Sie erinnerte an einen Fisch, ganz durchschimmernd und blass, ihre Lippen geöffnet, allerdings ohne sich zu bewegen. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt.

Adah beugte sich über sie, und sein rastloser Blick verhärtete sich zusehends, während meine Mutter sich mit den Händen am Bettrand festklammerte, als wollte sie gleich wieder losschreien.

Stattdessen stieß sie ein weiteres Keuchen aus, und ein Schwall Rot sickerte durch die Decke.

»Sie blutet!«, schrie Adah die Hebamme an. »So tu doch was!«

Die Hebamme hob die Decke an und machte sich an die Arbeit. Nie zuvor in meinem ganzen Leben hatte ich so viel Blut gesehen, und schon gar nicht auf einmal. Ohne zu ahnen, dass es das Leben meiner Mutter war, das aus ihr herausströmte, fand ich es fast schön. Leuchtend hell, wie ein Feld rubinroter Hibiskussträucher.

Doch Mamas schmerzverzerrtes Gesicht ließ mich erstarren.

Etwas stimmte nicht.

Unbemerkt verharrte ich in meiner Ecke.

Ich wollte Mamas Hände halten und nachsehen, ob sie immer noch nach Kokosnuss rochen und ob der Zuckersirup wie immer in die Falten ihrer Handflächen gesickert war – und süß schmeckte, wenn ich ihre Haut küsste. Doch ich roch nichts als Salz und Eisen: Blut.

»Mama«, hauchte ich und trat einen Schritt vor.

Adah packte mich am Arm und zog mich vom Bett weg. »Wer hat dich hier reingelassen? Raus mit dir!«

»Es ist schon in Ordnung«, flüsterte meine Mutter schwach und drehte den Kopf, um mich anzusehen. »Komm her, Channi. Komm und lern deine Schwester kennen.«

Doch ich wollte meine Schwester nicht kennenlernen, sondern mit Mama reden. Ich streckte die Hand aus, um ihre Finger zu drücken, die fahl und blassblau schimmerten, aber die Hebamme kam mir zuvor und hielt mir meine Schwester vors Gesicht.

Die meisten Neugeborenen sind hässlich, nicht jedoch meine Schwester. Ihr schwarzes Haar war so lang, dass es ihre Schultern berührte, glatter als Glas und weicher als der Flaum von Küken. Ihr Teint war golden und gleichzeitig bronzefarben, mit einem Hauch Rosa auf den strahlenden Pausbacken und lächelnden Lippen.

Doch beeindruckender als alles andere war das Licht, das von ihr ausging und am hellsten um ihre Brust herum leuchtete, als steckte ein Stück Sonne in ihrem winzigen Herzen.

»Was für eine Schönheit!«, flüsterte die Hebamme. »Hunderte Babys habe ich entbunden – dich eingeschlossen, Channi. Von ihnen allen hat allein deine Schwester gelacht, als sie in diese Welt kam. Sieh dir ihr Lächeln an. Ich sage dir, eines Tages werden sich Könige und Königinnen vor diesem Lächeln verbeugen.« Die alte Frau legte die Hand auf die Brust meiner Schwester und verdeckte das sonderbare Leuchten in ihrem Innern. »Und dieses Herz! Nie zuvor habe ich ein Herz wie dieses gesehen. Sie wurde von den Göttern gesegnet.«

»Vanna«, wisperte meine Mutter. Ihre Stimme bebte vor Stolz. »Wir wollen sie Vanna nennen.«

Die Güldene.

Ich griff nach der winzigen Hand meiner Schwester. Sie war warm, und ich spürte ihr kleines Herz, das sanft gegen meine Finger klopfte. Für jemanden, der erst seit ein paar Minuten am Leben war, roch sie süß, wie Mungbohnen mit Honig. Am liebsten hätte ich sie an mich gedrückt und meine Nase an ihrer weichen Wange vergraben.

»Genug«, wies Adah mich scharf zurecht. »Channi, geh wieder nach draußen. Sofort!«

»Aber Adah«, erwiderte ich kleinlaut, »der Regen.«

»Raus!«

»Lass sie bleiben«, flüsterte meine Mutter und verbiss sich einen weiteren Schrei. Offensichtlich kehrte der Schmerz zurück. »Lass sie. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Damals verstand ich nicht, was meine Mutter meinte oder warum Adah sich mit dem Arm über die Augen wischte. Er sank neben dem Bett auf die Knie, richtete ein Gebet nach dem anderen an die Götter und versprach, ein besserer Ehemann zu werden, wenn Mama doch nur überlebte. Die Hebamme wollte ihn trösten, doch er entzog sich ruckartig ihrem Griff.

Schatten fielen über sein Gesicht. »Gib mir das Baby.«

Sein Blick erschreckte mich mehr als Mamas Schreie. Für meinen Vater hatte ich nie viel empfunden – er arbeitete immerzu auf den Reisfeldern, während Mama sich um mich kümmerte. Doch grausam war er nie gewesen. Er liebte meine Mutter, und ich nahm an, dass er auch mich liebte. Nun hörte ich ihn zum ersten Mal mit einer solchen Schärfe in der Stimme reden, in einem derart harschen Tonfall.

Der Hebamme fiel es ebenfalls auf. »Khuan, überstürz nichts. Ich kümmere mich um deine Frau. Geh du zum Tempel und bete.«

Mein Vater hörte nicht auf sie. Er griff nach meiner Schwester, und in Mamas erschöpften Augen flammte Besorgnis auf.

»Khuan!«, stieß sie keuchend hervor. »Nicht!«

Vor Adahs breiter, bulliger Gestalt wirkte Vanna kaum größer als eine Maus. Doch meine Schwester musste meinen Vater ebenso verzaubert haben wie mich, denn sobald er sie in den Armen hielt, begann sie zu leuchten, heller als zuvor.

Es erinnerte an Magie, wie Adahs Herz sich unvermittelt erweichen ließ. Er streichelte ihr übers Haar und gab ihr einen Kuss auf die Wangen, die rosa schimmerten. Ehrfürchtig starrte er ihre Haut an, die golden wie die Sonne strahlte.

Dann ließ er die Schultern sinken und reichte meine Schwester der Hebamme zurück. »Still sie!«

Meine Mutter röchelte vor Erleichterung. »Komm, Channi. Mama wird dich halten.«

Bevor ich ihrer Aufforderung Folge leisten konnte, packte mich Adah und schlang einen starken Arm um meine Hüfte. Er warf mich so gewaltsam über seine Schulter, dass ich anstatt eines Schreis nur einen erstickten Laut hervorbrachte.

Mit drei großen Schritten waren wir aus dem Haus, und das Rufen der Hebamme hinter uns verklang im lauten Getöse von Regen und Donner. Mein Vater rannte durch das Dickicht des Dschungels.

Ich trat schreiend um mich. »Adah! Bleib stehen!«

Mein Herz zog sich angstvoll zusammen. Ich wusste nicht, wohin mein Vater mich brachte, und meine Mutter konnte uns nicht folgen. Der Regen war stärker geworden und hämmerte mit solcher Wucht auf mein Gesicht, dass ich glaubte, gleich zu ertrinken. Mit meinen kleinen Fäusten schlug ich auf Adahs Rücken ein, doch das erzürnte ihn nur noch mehr. Sein Griff verstärkte sich, während er ungerührt weiterlief.

Im Dschungel flaute der Regen ab. Die Welt um mich schien nur noch aus Grün- und Brauntönen zu bestehen. Nie zuvor war ich im Urwald gewesen, und einen Moment lang vergaß ich, Angst zu empfinden. Stattdessen bestaunte ich die Bäume mit ihren zahnartig gezackten Blättern und die schlangengleichen Lianen, die von oben herabhingen. Schnaken surrten, Moskitos stachen Adah in den Hals, und Schlamm spritzte unter seinen Sandalen nach oben.

Plötzlich fiel mein Vater überrascht hintenüber und hätte mich beinahe unter sich begraben. Eine beeindruckende rote Schlange baumelte von einem der Bäume herab und zischte uns an, die lange, gespaltene Zunge war herausgestreckt.

Adah stemmte sich auf die Ellbogen, und ich klammerte mich an seinem Hals fest, als die Schlange ihre Giftzähne entblößte.

»Lass sie gehen«, zischte sie.

Adah schien sie nicht zu verstehen. Er rappelte sich auf, packte mich so fest an der Taille, dass ich ein kleines Japsen ausstieß, und hastete vor dem Geschöpf davon.

Die Schlange folgte uns, gab jedoch kein weiteres Wort von sich, sondern wand stattdessen ihren Leib um Adahs Knöchel.

Mein Vater schrie auf und schüttelte hektisch den Fuß, wobei er mich in seinem Kampf fast fallengelassen hätte. Dann hob er einen herabgestürzten Ast auf und begann, auf die Schlange einzuschlagen.

»Tu ihr nicht weh!«, kreischte ich. »Adah!«

Von der Schlange befreit rannte mein Vater schneller als zuvor und stürmte tiefer in den Dschungel.

Der Regen hatte aufgehört. Nebel hüllte die Bäume ein und schwacher goldener Sonnenschein fiel in Streifen über den ergrauenden Himmel. Das alles bemerkte ich nur, weil Adah mit aller Kraft lief und häufig anhalten musste, um mit bebender Brust Atem zu schöpfen. Sein Rücken war glitschig, und meine Haare waren von seinem Schweiß und Geruch durchtränkt. Nach einer Weile reckte ich den Hals, um frische Luft einzusaugen.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich.

»Sei still!«

Die Kälte in Adahs Stimme erschreckte mich, und ich verstummte.

Schließlich erreichten wir ein Tal mit einem riesigen Gewürznelkenbaum in der Mitte, umgeben von flachen weißen Felsen. Überall sonst im Dschungel rangen Bäume um Platz und ihre Äste verhedderten sich im Kampf um ein paar nährende Sonnenstrahlen. Doch dieser krumme Baum stand allein da. Nicht einmal Schnaken, Libellen oder Stechmücken wagten sich an ihn heran. Sobald wir uns dem Gewürznelkenbaum näherten, schwirrten sie jäh von Adahs Haut auf und schienen sich genug an ihm gelabt zu haben.

Mein Vater setzte mich auf dem größten Felsen ab. Regentropfen und Schweiß glitzerten in seinem Bart.

»Bleib hier«, befahl er.

»Kommst du zurück?«

»Morgen früh komme ich dich holen.«

Bei diesen Worten wich er meinem Blick aus.

»Adah …« Ich begann zu weinen. »Geh nicht!«

»Bleib, Channari.«

Beim Klang meines vollen Namens stieß ich ein Wimmern aus und kauerte mich gehorsam hin.

Im Schatten der ausladenden Baumkrone war die Oberfläche des Felsens kühl und trocken. Als Adah den Weg einschlug, den wir gekommen waren, zog ich die Knie fest an die Brust. In der Ferne erspähte ich eine Affenfamilie, die auf einen Baum kletterte. Ein Tier hatte einen Babyaffen auf der Hüfte, und ich dachte an Mama im Bett, wie sie geschrien hatte. Meine Mutter hatte mir immer verboten, den Dschungel zu betreten. Warum war ich jetzt hier?

»Adah!«

Er war fort. Die Büsche raschelten immer noch und verrieten, dass er in der Nähe war, aber ganz gleich, wie laut ich »Adah!Adah!« brüllte, er kehrte nicht zu mir zurück. Ich war allein.

Nun, nicht vollkommen allein.

Vögel zwitscherten unsichtbar in den Bäumen. Tausendfüßer und andere kleine Insekten huschten auf der Lichtung über die Erde. Dann tauchte die Schlange auf – dieselbe, die Adah vorhin angegriffen hatte.

Verängstigt wich ich vor ihr zurück, während sie sich über den Felsen schlängelte. Ihre Augen glitzerten wie Smaragde, und ihre leuchtend roten Schuppen zeichneten sich grell vor dem fahlen Sonnenlicht ab.

»Komm mit mir«, sagte die Schlange.

Ich zuckte zusammen, aber nicht, weil mich die Vorstellung einer sprechenden Schlange überrascht hätte. Ich wusste genug über Magie und Dämonen, um vor solchen Geschöpfen keine Angst zu haben. Was mich zögern ließ, war der Umstand, dass diese Schlange versucht hatte, Adah zu beißen. Ich konnte ihr nicht vertrauen.

»Geh weg!«

»Folge mir«, sagte die Schlange. »Angma ist auf dem Weg.«

Obwohl ich noch sehr jung war, kroch mir beim Klang dieses Namens ein eisiger Schauer die Wirbelsäule hinab. Meine Mutter hatte mir von Angma erzählt, immer im gleichen mahnenden Tonfall, mit dem sie mich auch vor Adahs schlechter Laune warnte.

»Vor langer Zeit«, begann Mama dann, »war Angma eine Hexe aus Fleisch und Blut, deren Tochter ihr geraubt worden war. In ihrem Zorn verwandelte sie sich in eine Furcht einflößende Dämonin, die auf der Suche nach ihrer Tochter auf der Erde umherstreifte. Um sich ihre Unsterblichkeit und Stärke zu bewahren, verschlang sie Säuglinge, und manchmal, wenn ihr ein Kind aus freien Stücken dargeboten wurde, erfüllte sie im Gegenzug einen Wunsch.«

Wie beispielsweise das Leben meiner Mutter zu retten – jedenfalls musste Adah darauf gehofft haben.

Ich war viel zu klein, um wirklich zu verstehen, was eine »Opfergabe« war. Und so schlug ich die Warnung der Schlange in den Wind.

»Adah hat mir befohlen, hier zu bleiben«, sagte ich eigensinnig.

»Wie du willst«, zischte die männliche Schlange und zögerte dann. »Doch schau ihr bloß nicht in die Augen!«

Mit diesen Worten glitt das Tier vom Felsen und verschwand.

Kurz darauf verhüllte ein Schatten den Gewürznelkenbaum, und die Melodie des Dschungels – das Zwitschern der Vögel, Zirpen der Insekten und Rascheln der Affen – verstummte.

Ich blickte mich um. Eine dunkle Silhouette huschte hinter einem der Büsche hervor.

»Adah?«, rief ich wieder.

Ich kletterte von dem Felsen und bohrte die Zehen in die feuchte Erde. Winzige Kieselsteine stachen in meine Füße. Hätte ich doch nur nicht meine Sandalen zu Hause abgestreift!

»Adah?«

Hinter mir schnurrte ein Tier, und ich wirbelte herum. Eine Tigerin!

Ihre Bewegungen waren träge, denn sie wusste, dass ich in der Falle saß. Selbst wenn ich versuchen sollte, vor ihr wegzulaufen, hätte sie mich in weniger als fünf Sprüngen eingeholt. Ihre kräftigen Beine waren länger als mein gesamter Körper, ihr Fell glänzte kupferfarben wie die Statuen im Tempel der Morgendämmerung und war von schwarzen Streifen durchzogen.

Etwas an dem Tier war seltsam. Zwar hatte ich nie zuvor eine Tigerin zu Gesicht bekommen, aber die Skulpturen im Dorf hatte ich gesehen, die Bilder und Schriftrollen, die im Tempel hingen. Ich hatte die Felle gesehen, die Jäger im Dorf feilboten, und die hatten nicht viel mit dieser Tigerin gemein.

Es lag nicht nur daran, dass aus dem Maul dieser Raubkatze Rauch quoll oder sie scharfe Elfenbeinstoßzähne wie ein Elefant besaß und lange weiße Haare von ihrem gestreiften Rücken herabwallten. Es war das Glühen ihres Fells, gleichzeitig dunkel und leuchtend hell, wie Schatten, die im Mondlicht loderten. Bei dem Anblick wurde mir eiskalt ums Herz.

»Nun«, krächzte die Tigerin. Ihre Stimme war tief und kehlig und ließ die Erde unter mir vibrieren, was mich regelrecht hochfahren ließ. »Dein Vater hat dich mir dargeboten.«

Schatten erhoben sich von dort, wo die Tigerin den Erdboden berührte, und umhüllten mich, während sie immer näher kam. Von ihr ging ein starker Geruch aus, auch wenn ich ihn nicht einordnen konnte. Weder erinnerte er an Bäume noch Blumen oder sonst etwas, das ich schon einmal wahrgenommen hatte. Vielleicht war es ein Gewürz.

Meine Lider wurden schwer.

»Du bist schon etwas zu alt«, fuhr die Tigerin fort und schnupperte an mir. »Eigentlich sollte dein Vater mir deine Schwester bringen. Den Säugling.« Ihr Schatten überzog mich mit Dunkelheit. »Die Hübsche.«

Ich rieb mir die Augen, von Schläfrigkeit überwältigt. Meine Angst vor der Tigerin war verflogen, und ich spähte zu dem Felsen vor mir. Flach und glatt: ideal für ein kleines Nickerchen.

»Sieh mich an, Kind!«, brüllte da die Tigerin. »Wo steckt deine Schwester?«

Hartnäckig starrte ich zu Boden. Dem Angebot der Schlange, ihr zu folgen, hatte ich keine Beachtung geschenkt, aber ihr Ratschlag, der Tigerin nicht in die Augen zu sehen, ergab Sinn. Mir gefiel es nicht, wie sie mich anschrie. Wenn Adah so brüllte, verpasste er mir jedes Mal eine Ohrfeige, sobald ich aufblickte.

Die Tigerin war jetzt so schrecklich nah, dass die Luft von ihrem Atem flirrte. Sie hauchte mich an, eine Wolke aus schwarzem, sich schlängelndem Rauch.

»Sieh mich an«, wiederholte sie, als ich hustete. »Sieh mich an oder ich schwöre, ich breche dir das Genick!«

Ganz langsam hob ich den Blick. Ihre Barthaare waren steif und glatt, setzten sich knochenweiß von ihren schwarz gestreiften Wangen ab. In ihren Augen loderte das leuchtendste Gelb, das mir jemals untergekommen war. Wie die Kurkumapaste, die meine Mutter mir immer verabreichte, wenn ich Bauchschmerzen hatte, aber die sie nur noch schlimmer machten.

Blut tropfte aus meinen Nasenlöchern, und ich war wie versteinert. In den Augen der Tigerin zeigte mir mein Spiegelbild, dass sich eine meiner Haarsträhnen an der Schläfe weiß verfärbte. Das Blut aus meiner Nase wurde schwarz.

Meine Knie knickten vor Angst ein, und hinter mir schoss die männliche Schlange von vorhin aus ihrem Versteck. Rot flackerte auf, so schnell, dass ich kaum sah, wie das Tier auf mich zu glitt. Seine Giftzähne blitzten funkelnd auf, und im ersten Moment glaubte ich, er wollte die Tigerin angreifen.

Stattdessen biss er mich in den Knöchel.

Seine Fangzähne bohrten sich tief in mein Fleisch. Ein grässliches Heulen, das mir ganz fremd schien, entfuhr meiner Lunge. Ich bebte am ganzen Leib, und heiße Wogen von Schmerz jagten über meine Haut, als stünde ich in Flammen.

Die Schlange zog die Giftzähne wieder heraus, und der Schmerz ebbte leicht ab. Ein Schwall Kälte überzog mich. Immer noch tropfte Schweiß meine Schläfen hinab, doch jetzt zitterte ich.

An die Tigerin hatte ich schon gar nicht mehr gedacht. Sie beugte sich vor, legte eine scharfe Klaue auf den Stein und knurrte die Schlange an. »Was tut Ihr hier?«

Die Schlange glitt vorwärts, bis sie eine Barriere zwischen der Tigerin und mir bildete. Sie spreizte ihre Haube. »Lasst sie in Ruhe. Sie ist nicht das Kind, auf das Ihr gewartet habt.«

»Was kümmert es Euch, ob ich sie fresse oder nicht? Geht mir aus dem Weg!«

»Mutter Angma«, sagte die Schlange mit respektvoller Stimme, »ich würde Euch raten, dieses Kind gehen zu lassen. Ihr Blut ist für Euch jetzt von keinerlei Nutzen mehr.«

Mit der Zunge zeigte die Schlange auf meinen Knöchel. Längst hatte sich dort eine schmerzhafte Beule gebildet, und sonderbare grüne Schlieren durchzogen meine Adern. Gütiger Gadda, tat das weh!

Die Tigerin stieß ein wutschnaubendes Knurren aus. Mit ihrem Schwanz peitschte sie nach der Schlange, traf sie und schleuderte sie in die Büsche. Dann wirbelte die Raubkatze wieder zu mir herum, bereit, ihren Zorn an mir auszulassen. Doch während sie meinen Versuch beobachtete, von der Lichtung zu humpeln, verflog ihre Wut.

Trotzdem versperrte sie mir den Weg. »Armes, armes Mädchen. Du glaubst, er hätte dich gerettet, nicht wahr?«

Nein. All meine Gedanken kreisten allein darum, wie unglaublich mein Bein schmerzte, wie sich alles um mich drehte und wie sehr ich nach Hause wollte. Wie sehr ich meine Mutter vermisste.

Ich versuchte, mich an der Tigerin vorbeizudrängen. Keine gute Idee. Sie presste eine Pfote auf meine Brust, und in ihren gelben Augen loderte ein entsetzlicher Zauber. »Der Schlangenkönig hat dein Blut vergiftet«, fauchte sie boshaft, »und aus diesem Grund werde ich dein Gesicht verfluchen. Du wirst es nie wieder ansehen können, ohne Schmerz zu empfinden.«

Es ist sonderbar, aber in jenem Moment, der mein Leben für immer verändern sollte, verspürte ich kaum etwas. Nur ein Kribbeln auf meinen Wangen, dann einen schweren, erstickenden Druck, der meinen Hals hinaufwanderte, als wäre dort eine unsichtbare Schnur, die mir den Atem raubte. Dann nichts mehr.

Nichts als einen ahnungsvollen Schauder, der meinen Rücken hinabglitt, während Schatten unter dem Fell der Tigerin durcheinanderwirbelten und ihre Augen … sich veränderten. Sie waren immer noch gelb, immer noch hypnotisierend, doch ihre Pupillen hatten sich von Schwarz zu einem hell leuchtenden, wütenden Rot verfärbt. Wie Blut.

»Bring deine Schwester vor ihrem siebzehnten Geburtstag zu mir«, flüsterte sie in leisem, tödlichem Ton, »und ich werde meinen Fluch zurücknehmen. Wenn nicht, werde ich euch beide holen – und du wirst dir wünschen, dass du heute gestorben wärst.«

Dann sprang sie mit einem gewaltigen Satz in den Dschungel.

Und war verschwunden.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis die Schlange wieder zu mir zurückkroch. Ich nahm alles nur verschwommen wahr, aber in dem wilden Dickicht aus Grün waren ihre roten Schuppen und glitzernden Augen leicht auszumachen.

Es kümmerte mich nicht, ob die Tigerin ihn verwundet hatte oder welcher Fluch auf mir lastete. »Du hast mir wehgetan«, warf ich ihm vor.

»Ich musste dich beißen«, erwiderte die Schlange. »Andernfalls hätte Angma dich verschlungen. Doch jetzt fließt mein Gift in deinen Adern. Wenn sie nochmals versuchen sollte, dich zu fressen, wird es ihr Schaden zufügen.«

Mir gefiel seine Denkweise nicht.

Als ich meinen Knöchel berührte, sprangen die grünen Schlieren auf meine Finger über und ließen sich auch nicht abreiben, egal wie sehr ich es versuchte. »Es tut weh.«

»Der Schmerz wird nachlassen«, sagte die Schlange und klang entschuldigend. Dann zögerte er. Sein Mund blieb geöffnet, und obwohl ich nicht wusste, wie Schlangen sprachen, überkam mich das Gefühl, dass er eigentlich noch etwas hinzufügen wollte. Stattdessen fragte er: »Wie heißt du, Kleine?«

»Channi«, flüsterte ich. »Channari.«

Wenn Schlangen lächeln können, so tat es diese. Das Maul des Tiers verzog sich nach oben, als seine dünne, gespaltene Zunge herausschnellte. »Mondgesicht.«

Meine Mutter und Adah hatten mich Channari genannt, da ich bei Vollmond geboren worden war und meine Augen, als ich das Licht der Welt erblickte, groß und weit geöffnet waren und sich sein silbernes Licht darin spiegelte. Doch das würde ich keinem Fremden auf die Nase binden. Und gewiss keiner Schlange.

»Wie heißt du?«, wollte ich wissen.

Sein Lächeln verschwand. Erst jetzt bemerkte ich die Krallenspuren auf seinen Schuppen, wund und rosa im gelbstichigen Sonnenlicht. Viele Jahre später erfuhr ich, dass eine Schlange vor ihrem Tod einen flüchtigen Moment lang in die Zukunft blicken kann.

»Mein Name tut nichts zur Sache«, erklärte er. »Was dich angeht, so brauchst du Hokzuh. Wiederhol seinen Namen!«

»Hok…, Hok… …zuh.«

»Präg ihn dir gut ein. Eines Tages, wenn du älter bist, wird er nach dir suchen.«

Vor meinen Augen verfärbte sich die Haut der Schlange weiß und seine Schuppen wirkten auf einmal wie winzige Muschelperlen, die seinen Körper übersäten. Sein Kopf war immer noch gereckt, während der Rest seines Körpers sich zusammenrollte, langsam runzlig wurde und erschlaffte. »Du wirst ihn brauchen.«

»Warum?«

»Eine Schwester muss fallen, damit die andere sich erhebt«, erwiderte er so leise, dass ich ihn fast nicht verstand. Dann bettete er den Kopf in die Mitte seines eingerollten Körpers und schloss die Augen. »Schlaf jetzt.«

Ich wollte nicht, doch das Gift in meinem Blut ließ mir keine andere Wahl. Längst war mein Kopf schwer wie Blei, und als der Boden sich immer schneller und schneller drehte, schlug ich unwillkürlich die Hände vors Gesicht. Mein Bein kribbelte, bis ich es nicht mehr spürte, und die Taubheit stieg von meinem Knöchel bis zu meinem Scheitel empor.

»Schlaf«, flüsterte der Schlangenkönig ein letztes Mal. Dann schlief auch er ein. Doch im Gegensatz zu mir wachte er nicht mehr auf.

Als ich die Augen das nächste Mal aufschlug, lag ich behaglich zu Hause in meinem kleinen Bettchen neben der Kochstelle. Ich hob den Kopf. Der pochende Schmerz in meinen Armen und Beinen war verschwunden, ersetzt durch ein taubes Gefühl in meinen Wangen, doch selbst das ebbte allmählich ab.

Ich krabbelte zu Mamas Bettseite. In ihren Armen lag die kleine schlafende Vanna.

Die Hübsche, erinnerte ich mich.

Meine Mutter rührte sich. Bei meinem Anblick stieß sie ein leises Keuchen aus. Angst blitzte in ihren Augen auf und ließ ihre Stimme beben. »Ch-Ch-Channi, was ist mit deinem Gesicht passiert?«

Verwirrt blinzelte ich. »Ist es schmutzig, Mama?«

»Nein, nein.« Meine Mutter schluckte. Ich versuchte, mein Spiegelbild in ihren Pupillen zu sehen, aber die Dunkelheit hatte eingesetzt. Die Sonne war untergegangen und wir waren viel zu arm, um nachts Kerzen brennen zu lassen.

Als sie wieder zu reden ansetzte, war sie ruhiger. »Vergiss dein Gesicht. Komm her!«

Liebevoll legte sie ihre kalte, fahle Hand an meine Wange. Ich hielt sie fest, spürte ich doch, wie entkräftet meine Mutter war, wie zerbrechlich sich ihre Finger auf meiner Haut anfühlten.

Dann kuschelte ich mich an sie. Ihr Puls war so schwach, dass ich das Ohr an ihre Brust pressen musste, um ihn zu hören. Ich spähte zu Vanna, die nach wie vor friedlich schlummerte. Sie strahlte immer noch, obwohl das Licht sanfter als zuvor war, kurz nach ihrer Geburt. Ein Anflug von Neid überkam mich, als ich mir vorstellte, dass ich meine Mutter von nun an mit ihr teilen müsste.

Doch dann schlug Vanna die Lider auf. Sie lächelte mich an und streckte die winzigen Finger aus, um meine Wangen zu berühren.

»Sieh nur«, flüsterte meine Mutter. »Vanna hat die Augen geöffnet. Für dich.«

Ich war der erste Mensch, das Allererste überhaupt, was sie sah.

Vanna gab ein hinreißendes, leises Kichern von sich, das mein Herz zum Erblühen brachte. Das war der Moment, in dem ich mich in meine Schwester verliebte, der Moment, in dem ich gelobte, nicht zuzulassen, dass die Dämonenhexe sie sich holen würde. Niemals.

»Versprichst du mir, auf sie aufzupassen, Channi?«, fragte meine Mutter. »Sie immer zu beschützen?«

Fast wäre ich aufgesprungen. Hatte sie etwa meine Gedanken gelesen?

Das Licht in Vannas Brust flammte auf, und auf einmal strömte Wärme aus ihren Fingerspitzen, so unerwartet und heftig, dass sie meinen gesamten Körper wie ein Blitz durchzuckte.

»Siehst du? Selbst die Götter wissen jetzt, dass ihr zwei miteinander verbunden seid.« Mit einem matten Lächeln lehnte sich meine Mutter zurück. »Ein Versprechen ist kein Kuss, den man in den Wind haucht. Es ist ein Stück von dir selbst, das du weggibst und erst zurückbekommst, wenn dein Schwur erfüllt ist. Verstehst du?«

Es war ein Sprichwort aus dem Dorf, das ich schon häufiger gehört hatte. »Ich verstehe«, sagte ich, obwohl das eigentlich gar nicht stimmte.

»Gut.« Meine Mutter holte tief Luft. »Und jetzt lass das Baby schlafen.«

Gehorsam ließ ich Vanna los und kletterte auf Mamas andere Seite. Obwohl sie müde und erschöpft aussah, war sie für mich immer noch die schönste Frau der Welt. Sie besaß unendlich warmherzige braune Augen. Sie waren weder besonders groß noch waren ihre Wimpern lang und dicht, aber es waren ehrliche Augen. Ehrliche Augen, die zu ihrer stolzen, ehrlichen Nase und ihren Lippen passten.

Ich strahlte, wann immer jemand sagte, ich sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.

Während meine Mutter mich näher an sich zog, streichelte sie mir übers Haar und begann zu singen:

Zwischen den Sternen sitzt mein schönes, mondgesichtiges Mädchen.

Channi, mein schönes, mondgesichtiges Mädchen.

Ihr Lied beruhigte mich und ich vergaß die Angst in ihren Augen vorhin beim Anblick meines Gesichts. Ich vergaß Angmas Versprechen, meine Schwester und mich zu töten. Meine Gedanken schweiften weit, weit in die Ferne, und meine Muskeln erschlafften.

Zum letzten Mal schlief ich zum Klang von Mamas Stimme ein.

Am nächsten Morgen war sie tot. Und niemand nannte mich jemals wieder schön. Zumindest für sehr lange Zeit nicht.

Kapitel 2

Siebzehn Jahre später

Es ist der perfekte Morgen für eine Tigerjagd.

Der Regen der vergangenen Nacht schimmert immer noch auf dem Gras, und überall sind Jasminsträucher und Mondorchideen erblüht. Ich vertraue auf ihren Duft, der meinen eigenen Geruch verbirgt – oder ihn zumindest überlagert, bis ich angreife.

Während das Licht der Morgendämmerung sich über den Dschungel senkt, schleiche ich mit angehaltenem Atem durch Nebelschleier. Die Tigerin taucht aus ihrem Unterschlupf auf.

Sie ist dünn. Wahrscheinlich hungrig. Doch das bedeutet nicht, dass sie auch schwach ist. Ihr gestreiftes, glänzendes Fell hat einen jugendlichen Glanz, und ihre kräftigen Muskeln zeichnen sich deutlich ab, während sie lautlos über die Wiese schreitet. Sie wird zur nächsten Wasserstelle gehen, um zu trinken, und dann ihr Frühstück erjagen.

Aber nicht, wenn ich sie zuerst erwische.

Hoch aufgeschossene, nasse Grashalme kitzeln mich an den Füßen, als ich mich näher an sie heranpirsche. Das Ende meines Kampfstocks rolle ich in der Handfläche. Noch ein paar Schritte, dann bin ich nah genug.

Nicht jeder Tiger ist einer von Angmas Dämonen, unterbricht mich eine Stimme in meinem Kopf. Glaubst du wirklich, du könntest dich vor ihr im Nebel verstecken?

Es gibt nur ein einziges Geschöpf auf der ganzen Insel, das es wagen würde, mich bei der Jagd zu stören, und ich muss nicht nach unten blicken, um zu wissen, dass sich dort um meine Füße eine grün gesprenkelte Schlange windet.

Hast du schon deinen letzten Kampf mit einem Tiger vergessen?, zischt er. Du kannst von Glück reden, dass du ohne Narben davongekommen bist. Stell dir noch einen weiteren Kratzer oder auch zwei auf deinem Gesicht vor …

Ich begrüße meinen Freund mit einem bösen Funkeln.

Nur ein Ratschlag, sagt er.

Den ich nicht brauche. Die Augen fest auf die Tigerin geheftet, schleiche ich mich weiter an. Ich werde ihr kein Härchen krümmen, wenn sie keine Dämonin ist. Aber ich muss das tun, Ukar. Es ist eine gute Übung.

Ist es auch eine »gute Übung«, wenn sie dich zum Frühstück verspeist?

Es ist viel wahrscheinlicher, dass du auf ihrem Frühstückstisch landest als ich, spotte ich. Ich bin keine Beute, immerhin fließt Gift in meinen Adern.

Jedes atmende Geschöpf weiß das. Selbst Mücken stechen mich nicht. Sie riechen sofort, dass ich keine geeignete Beute bin – und eine Kostprobe von mir sie umbringen wird.

Nur die Schlangen sind immun gegen mein Gift, so wie ich gegen ihres. Durch den Biss des Schlangenkönigs bin ich mit ihnen verbunden und spreche nicht nur ihre Sprache, sondern kann sogar in Gedanken mit ihnen kommunizieren. »Grüne Schlangendame« nennen sie mich liebevoll. Im Grunde haben sie mich großgezogen und mir ihre Weisheiten, ihre Legenden und ihre Gebräuche beigebracht. Sie sind meine Brüder und Schwestern. Meine Freunde.

Ukar ist trotz seiner ständigen Schikanen mein bester Freund.

Ich dachte, du hättest gesagt, du würdest heute nicht in den Dschungel kommen, stellt er fest.

Lass mich in Ruhe. Ich muss mich konzentrieren.

Im Schatten der Büsche ducke ich mich und krieche noch näher an mein Ziel heran. Den ganzen Sommer über habe ich auf eine Tigerin gewartet, und jetzt werde ich sie mir nicht durch die Lappen gehen lassen.

Ukar folgt mir, wobei er ärgerlicherweise ein Rascheln verursacht, als er sich über einen feuchten Farn schlängelt. Ich funkle ihn erneut böse an.

Mit hin und her zuckendem Schwanz funkelt die Schlange zurück. Lass es sein. Wenn diese Tigerin Angma wäre, würde sie nicht um den Teich streifen und alle paar Schritte furzen, um ihr Revier zu markieren. Du hast jedes Blatt in diesem Dschungel nach der Dämonenhexe umgedreht. Sie ist nicht hier.

Ohne auf Ukars Worte zu achten, beschleunige ich mein Tempo. Kein einziger Zweig knackt und die Blätter rascheln, als würde der Wind durch sie hindurchfahren. Ich bin zu einem flinken und drahtigen Geschöpf herangewachsen, mit weit auseinanderstehenden Augen und hängenden Schultern, die viel stärker sind, als es den Anschein macht. Ich bin schmal genug, um mich hinter dem Stamm eines Teakbaums zu verstecken, und geschickt genug, um ihn ohne Seil hinaufzuklettern. Wäre da nicht mein Gesicht, wäre ich ein völlig unscheinbares neunzehnjähriges Mädchen wie jedes andere. Aber da ist nun einmal mein Gesicht.

Mein Gesicht mit den grünbraunen Schuppen, das ich auf Adahs Geheiß hinter einer Maske zu verbergen habe, wann immer ich zu Hause bin. Mein Gesicht, vor dem erwachsene Männer entsetzt kreischend zurückweichen und das mich abgesehen von der meiner Schwester Vanna jeglicher menschlicher Freundschaft beraubt hat. Mein Gesicht, das mich irgendwo zwischen Mensch und Tier gefangen hält.

Im Moment bietet mein Gesicht allerdings gewisse Vorteile: Es verschmilzt perfekt mit dem grünen Farn und den Lianen und gestattet mir, mich unentdeckt zu bewegen – bis ich zwei Schritte hinter der Tigerin stehe.

Sie hat das Wasserloch erreicht, einen kristallklaren Teich, in dem ich gesprenkelte Frösche schwimmen sehe. Dann beugt sie sich nach unten, kauert sich majestätisch auf die Hinterläufe und senkt den Kopf zum Trinken. Sie ist ein herrliches Geschöpf.

Keine Stoßzähne, keine weißen Haare, kein ranziger Gestank nach kalter Bosheit.

Doch Dämonen sind Meister der Täuschung und die mächtigsten von ihnen können die Gestalt fast jeden Tieres annehmen. Also spielt es keine Rolle, wie überzeugt ich bin, ich werde erst mit absoluter Sicherheit wissen, ob es sich um Angma handelt …

… wenn ich ihre Augen sehe.

Angriffsbereit drehe ich den Stab in der Hand. Richte den Blick nach oben, Channi. Immer nach oben.

Die Ermahnung hat nichts mit der Möglichkeit zu tun, dass die Tigerin Angmas Dämonenaugen besitzen könnte. Es geht darum, nicht ins Wasser zu schauen.

Bedächtig nähere ich mich dem Teich. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Dorfbewohner ihren Kindern verbieten, den Dschungel zu betreten, um sie vor Tigern zu schützen, weshalb sie am Meer spielen und mit den farbenfrohen Fischen und Schildkröten schwimmen und planschen. Ich hingegen würde eher tausend Tigern die Stirn bieten als dem Monster, das mein Spiegelbild ist.

Das zu sehen anstatt des Mädchens, das ich eigentlich sein sollte: ein Mädchen mit schwarzen Zöpfen, braunen Augen, einer sanft geschwungenen Nase und vollen Lippen … Ich hatte angenommen, der Schmerz würde im Lauf der Jahre nachlassen, doch das hat er nicht. Er ist nur noch fester verwurzelt und hat sich in meine Seele eingebrannt.

Ich atme tief ein. Glücklicherweise bin ich gut darin, nie nach unten zu schauen.

Es reicht, Channi, rügt mich Ukar. Irgendwann wirst du dich noch mal umbringen …

Ich lüpfe ihn mit meinem Stock in die Höhe und schleudere ihn außerhalb der unmittelbaren Gefahrenzone. Ohne einen weiteren Moment zu verlieren, springe ich aus dem Farndickicht geradewegs auf den Rücken der Tigerin.

Überrascht stößt sie ein Fauchen aus. Sie ist es nicht gewohnt, aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden. Mir bleiben nur Sekunden, bevor ihr Schock sich in Wut verwandelt und dann in unermesslich brutale Stärke.

Ich klammere mich an ihrem Rumpf fest und drücke so heftig zu, wie ich nur kann. Obwohl sie noch nicht ganz ausgewachsen ist, ist sie gut doppelt so groß wie ich. Ich spüre ihre Muskeln, die sich unter ihren Schultern anspannen, ihr Blut, das unter meiner heißen Wange rauscht. Sie stellt sich auf die Hinterbeine und brüllt so laut, dass es in meinen Ohren klingelt.

Wenn ich die Wahrheit erfahren will, bleibt mir keine andere Wahl, als nach unten zu blicken. Honiggelbe Augen, jetzt geweitet von unserem Kampf, funkeln mich im Spiegelbild des Teichs an. Sie sind leer und wütend und stumpf. Und die Pupillen sind schwarz.

Anscheinend ist sie doch keine Dämonin, wird mir klar, als sie mich in den Tümpel schleudert.

Meine Welt schrumpft zusammen, und Wasser hämmert gegen meine Trommelfelle. Mit wild rudernden Armen kämpfe ich mich an die Oberfläche, ziehe mich, nach Luft japsend, mit meinem Stab aus dem Wasser – und klettere ans Ufer.

Weit komme ich allerdings nicht, denn scharfe Zähne schnappen nach meinem Hals. Ich ducke mich, und die Kiefer der Tigerin schließen sich stattdessen um meinen Kampfstab. Die Holzsplitter fliegen an meinen Schultern vorbei, während ich einen Satz nach links mache, um im allerletzten Moment dem nächsten Angriff auszuweichen.

Die Tigerin ist schnell, aber dank der vielen Jahre, in denen ich nun schon Affen jage, die mir Kuchen aus den Taschen stibitzen wollen, der Jahre, in denen ich Ratten- und Spinnendämonen aus ihren Höhlen scheuche und den harten Schlägen von Adahs Rohrstock ausweiche, bin ich ausgesprochen agil.

Bevor die Tigerin sich erneut auf mich stürzen kann, stoße ich meinen wildesten Schrei aus. Sie wirft den Kopf zurück und schnaubt.

»Ich bin noch nicht fertig«, zische ich durch zusammengebissene Zähne.

Dann ritze ich mir mit gezücktem Messer die Handfläche auf und halte sie ihr hin.

Sie zieht die Krallen ein. Dann faucht sie zwar, aber es klingt nicht mehr höhnisch. Als mein Blut aus der Schnittwunde quillt, nimmt der Geruch des Gifts an Intensität zu. Die Tigerin weiß, dass es tödlicher als jedes Schwert ist.

Statt miteinander zu kämpfen, sehen wir uns nur noch drohend an. Die Tigerin umrundet mich, doch meine Augen lösen sich keine Sekunde von ihren. Ich wage nicht einmal zu blinzeln. Die Hand hoch in die Luft gestreckt, lasse ich das Blut meinen Unterarm entlang auf die Erde tropfen.

Schließlich brüllt sie los. Ein ohrenbetäubendes, zorniges Brüllen, das ich ganz gewiss verdiene. Dann trottet sie in den Dschungel und verschwindet in den Nebelschwaden.

Sobald sie fort ist, breche ich regelrecht zusammen. Das Herz hämmert mir in den Ohren, die immer noch vom Heulen der Tigerin dröhnen. Meine Brust tut so weh, dass es sich anfühlt, als stünden mein Herz und meine Lunge auf Kriegsfuß miteinander. Am liebsten hätte ich mich übergeben, aber stattdessen perlt ein Lachen aus meiner Kehle.

Kichernd sacke ich zu Boden, während die Sonne meine Haare und Kleidung trocknet.

Da taucht Ukar auf. Seine Schuppen verschmelzen mit der Erde, und fast hätte ich ihn nicht gesehen. Nur Nachfahren des Schlangenkönigs können ihre Farbe verändern, und Ukar liebt es, mit seiner Fähigkeit zu prahlen und sich unbemerkt an mich heranzuschleichen.

Dein Blut zu benutzen, ist Schummeln, tadelt er mich. Du hast gesagt, du würdest es nicht mehr tun.

Ich verdrehe die Augen. »Ich habe gewonnen, oder?«

Es war unbesonnen und ohne jedes Fünkchen Ehre.

»Dämonen besitzen keine Ehre.«

Nicht alle Dämonen sind gleich.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich bin am Leben. Ich brauche die Übung.«

Der ganze Wald wird sich darüber das Maul zerreißen. Es gibt einen Kodex, wie dir sehr wohl bewusst ist. Einigen von uns stößt es bereits auf, dass du auf der Insel freie Hand hast. Du solltest keine Kämpfe provozieren. Und schon gar nicht mit Tigern.

»Ich mag Tiger nicht«, erwidere ich und wische mir Erde von den Armen. »Gerade du solltest das wissen.«

Und ich mag keine Menschen. Meinesgleichen sind die ältesten Geschöpfe im Dschungel, Nachfahren der großen Drachen höchstpersönlich – bis die Menschen erbarmungslos Jagd auf sie gemacht haben und sie sich in ihren Verstecken verkriechen mussten. Trotzdem erlebst du nicht, wie ich bei jeder Gelegenheit deinesgleichen angreife.

Ich lache glucksend, doch in meinem Innern entsteht ein heftiger Druck, der bis hinauf in meine Brust steigt. »Bis zu Vannas Geburtstag sind es nur noch drei Tage. Wenn die Dämonenhexe kommt, um sie zu holen, muss ich bereit sein.«

Kein Tiger kann dich auf einen Kampf gegen Angma vorbereiten. Ukar sieht so ungehalten aus, wie es bei einer Schlange nur möglich ist. Das hätte ich dir sagen können, bevor du ein weiteres Obergewand ruiniert und die Erde mit deinem Blut besudelt hast. Ich werde meinesgleichen bitten müssen, sie wieder zu reinigen.

Das Lachen bleibt mir in der Kehle stecken. »Es tut mir leid.«

Nein, tut es nicht.

Tut es wirklich nicht, das stimmt. Es war mein Ernst, als ich sagte, ich bräuchte die Übung. Da fällt mir wieder das Blut an meiner Handfläche ein und ich reiße mit den Zähnen ein Stück meines Ärmels ab und verbinde die Schnittwunde mit dem Stoffstreifen. Mit einem Knoten halte ich mich nicht auf, die Wunde schließt sich bereits wieder.

Du magst stark genug sein, um mit einem Tiger zu ringen, Channi, aber um Angma zu besiegen, brauchst du mehr als Muskelkraft.

Ich weiß. Ich brauche Hokzuh, wer – oder was – auch immer das sein mag. In all den Jahren meiner Suche habe ich nie auch nur die kleinste Spur von ihm gefunden.

»War das der letzte Tiger im Dschungel?«, frage ich und schüttle die Gedanken ab.

Du meinst, der letzte, mit dem du noch nicht gekämpft hast? Ukar legt eine theatralische Pause ein. Ja.

Ich verziehe die Lippen. »Wie bedauerlich.«

Ukar schnaubt verächtlich. Es ist ein weicher Zischlaut, die Entsprechung eines Seufzers bei einer Schlange. Besonnenheit und Wachsamkeit – das, so hatte ich gehofft, lehrt dich der Dschungel. Keine Rachsucht …

»Es ist Verteidigung, keine Rache.«

… außerdem, bringt es nicht Unglück, am Tag der Auswahlzeremonie deiner Schwester auf die Jagd zu gehen?

»Es wäre noch größeres Pech, wenn eine Tigerin am Tag der Auswahlzeremonie meiner Schwester das gesamte Dorf umbringt«, erwidere ich.

Unwahrscheinlich. Die Tigerin hat gestern gefressen.

»Woher weißt du das? Sie hat hungrig ausgesehen.«

Tiger sehen immer hungrig aus. Sie wird mindestens drei Tage nicht auf die Jagd gehen. Bis dahin ist deine Schwester längst fort. Und dann wäre es dir völlig egal, ob die Tigerin dein Dorf auffrisst.

Wie immer ein echter Spaßverderber, mein bester Freund. Ich sehe ihn finster an, hauptsächlich, weil ich weiß, dass er recht hat. Außerdem muss mich niemand daran erinnern, dass Vanna fortgeht. Ganz bestimmt nicht.

Beherzige meinen Ratschlag und geh nach Hause. Dein Vater wird sich schon wundern, wo du bist. Noch dazu heute.

»Das hier ist mein Zuhause.«

Du weißt, was ich meine.

Ich beiße die Zähne fest zusammen. Adahs Haus ist nicht mein Zuhause. Sondern der Dschungel.

Mein Zuhause ist hier – wo ich meine Maske wegschleudern kann und die Sonne meine Wangen berührt, wo ich von so viel Grün umgeben bin, dass ich kaum den Himmel sehe. Nur hier fühle ich mich wirklich wach, wirklich lebendig und wirklich frei. Nur hier vergesse ich, dass ich ein Monster bin.

Ukar ignoriert meine leidenschaftlichen Gedanken. Der Himmel ist bereits eine Stunde mit Licht befleckt. Du bekommst Ärger, wenn er herausfindet, dass du fort bist.

»Ich werde rechtzeitig zurück sein, um meine Hausarbeiten zu erledigen. Außerdem werde ich heute Morgen das Letzte sein, woran Adah denkt, immerhin wird doch Vanna verheiratet.« Ich verziehe das Gesicht. An den Meistbietenden verhökert, auch wenn niemand das so klar aussprechen will.

Wütend schiebe ich Äste beiseite. Ich weiß nicht, was mich mehr anwidert: dass ein Dutzend Könige in der Hoffnung kommt, sich mit Vanna zu vermählen, oder dass Adah den ganzen Monat mit den Kugeln an seinem Rechenbrett geklappert hat, um zu überschlagen, wie reich er durch ihren Verkauf wird.

Solltest du dann nicht bei ihr sein?, fragt Ukar. Anstatt den Dschungel in Aufruhr zu versetzen?

Der Kloß in meiner Kehle verhärtet sich. »Ich mache mir größere Sorgen wegen Angma als wegen irgendeines aufgeblasenen, übertrieben fein angezogenen und mit Schmuck behängten Königs.«

Du meinst, du bist nicht eingeladen.

Verdammt noch mal, warum kennt Ukar mich nur so gut?

Das hat dich doch bisher nie abgehalten. Ich habe dich tausendmal gebeten, keine Tiger zu jagen, und du tust es dennoch.

Ja, aber es ist anders, wenn ich im Dschungel bin. Ukar vergisst das häufig. Ich nie.

»Du glaubst, Angma könnte früher erscheinen?«, frage ich leise. »Du glaubst, sie könnte bei der Auktion aufkreuzen?«

Nein. Die Winde von Sundau sind frei von ihrer Magie, seit mein König verstorben ist. Selbst wenn es ihr wieder einfällt, dass sie dich töten will, es wird nicht heute geschehen.

»Oh, sie wird es bestimmt nicht vergessen«, murmele ich. Meine Hand gleitet an meine Wange, und ich rufe mir Angmas Versprechen ins Gedächtnis, mich zu verschonen und den Fluch von meinem Gesicht zu nehmen, wenn ich ihr meine Schwester bringe.

Eher würde ich mich mit den eigenen Fingernägeln ausweiden, als Vanna zu hintergehen, doch ich kann nichts gegen das tiefe Verlangen tun, das sich wie ein Knoten in meiner Brust zusammenzieht.

Bevor Ukar noch etwas spürt, drücke ich ihm einen sanften Kuss auf den Kopf. »Du willst immer noch nicht mitkommen?«

Ich werde für dich da sein, wenn du mich bei deinem Kampf gegen Angma brauchst. Aber mit anzusehen, wie deine Schwester stolz herumgezeigt wird, als wäre sie eine Trophäe, die es zu gewinnen gibt? Auf ein solches Spektakel kann ich gut und gern verzichten.

Das kann ich nachvollziehen.

Ich mache mich auf den Weg zu Adahs Haus, nehme die Beine in die Hand und renne so schnell ich nur kann die sanft geschwungenen Hügel hinauf, vorbei an den Reisfeldern und Maniokhöfen. Das Rauschen meines Bluts in meinem Kopf hilft, die Besorgnis zu zerstreuen, die in meiner Kehle emporkriecht. Egal, was Ukar sagt, ich bin fest davon überzeugt, dass die Tigerin eine von Angma geschickte Warnung war. Die Dämonenhexe ist zurück.

Und wartet auf mich.

Kapitel 3

Die Channi des Dschungels und die Channi, die in Adahs Haus lebt, sind zwei völlig unterschiedliche Mädchen. Die eine läuft barfuß in den Dschungel, eine Königin der Wildnis, zufrieden und frei. Die andere sitzt auf einem kaputten Schemel und schält den lieben langen Tag Wasserbrotwurzeln.

Ich sitze jetzt auf diesem kaputten Schemel, umgeben von vier Wänden. Wände waren mir schon immer ein Graus, und die Wände von Adahs Haus hasse ich ganz besonders. Sie versperren mir die Sicht auf die Sonne. Sie heizen die Luft wie in einem Backofen unerträglich auf und lassen die Frische nach einem Gewitterregen nicht herein. Sie sind ein Gefängnis und verstecken mich, wie eine weitere Maske über meiner Maske, halten mich zurück, damit ich nicht weglaufen kann.

»Wände beschützen uns vor Regen und Hitze und Tigern«, hatte Vanna einmal gesagt in dem Versuch, mich zu trösten. »Manchmal sogar voreinander.«

Da war ich völlig anderer Meinung, aber damit sie sich keine Sorgen mehr um mich und Adah machte, nickte ich.

Tief in meinem Innersten weiß ich, dass ich Adahs Haus vor langer Zeit verlassen hätte, wäre Vanna nicht dort. Vielleicht hätte ich mich auf die Suche nach den Drachen im Meer begeben und in einem Korallenpalast gewohnt. Vielleicht hätte ich die Neunäugige Hexe von Yappang aufgespürt und einen Weg gefunden, mein Gesicht von diesem Fluch zu befreien. Höchstwahrscheinlich hätte ich jedoch bei den Schlangen gelebt und wäre die wahre Königin des Dschungels geworden.

Um Vannas willen bin ich geblieben. Mein Versprechen an meine Mutter, dass ich meine kleine Schwester immer beschützen würde – vor Angma oder sonst jemandem, der ihr Böses will –, habe ich nicht vergessen.

Selbst wenn sie meinen Schutz überhaupt nicht will.

Krähen krächzen am Himmel und die Koels in den Bäumen stoßen verzweifelte Balzlaute aus. Ich streife meine zerrissene Hose ab und wische mir den Moschusgeruch des Dschungels aus dem Gesicht.

Meine Stiefmutter sucht nicht nach mir, wie sie es normalerweise tut, sobald sie erwacht. Auch Vanna taucht nicht auf.

Ich schlage acht Eier in eine Pfanne und brate sie. Hitze steigt mir ins Gesicht, und ich füge eine Prise Kreuzkümmel und Ingwer hinzu, bevor ich die Eier auf vier Teller gleiten lasse.

Dann stecke ich den Kopf aus dem Fenster und rufe: »Frühstück!«

Niemand beachtet mich, denn ein goldenes Licht dringt aus Vannas geöffnetem Fenster, und das entzückte Jauchzen meiner Schwester hallt über den Hof.

»Lintang!«, höre ich sie kreischen. »Vielen, vielen Dank! Das ist das schönste Kleid, das ich jemals gesehen habe. Ich mag es sehr.«

Duftige rosafarbene Kleider und Armbänder und Haarnadeln – solche Dinge bringen das Licht meiner Schwester zum Strahlen. Manchmal kann ich es kaum glauben, dass wir miteinander verwandt sind, so unterschiedlich sind wir.

Es folgen hastige Schritte, Schiebetüren werden aufgerissen und dann taucht Vanna im Innenhof auf.

Ihr Anblick versetzt mich jedes einzelne Mal in Erstaunen. Ihr schwarzes Haar, weich wie der Flaum von Wasservögeln, fällt wie ein glänzendes Seidentuch ihren Rücken hinab, und ihre Augen, umrahmt von dichten dunklen Wimpern, leuchten entzückt. Das rätselhafte Licht in ihrer Brust, das seit ihrer Geburt an Stärke zunimmt, ist selbst durch ihre Kleiderschichten deutlich zu erkennen.

Unsere Stiefmutter umarmt sie. Adah ist ebenfalls bei ihnen und lächelt mit offenem Mund. Er ist in prächtiger Stimmung. Das sind sie alle.

Ein Sperlingsdämon hockt auf meinem Fensterbrett und von seinen ausgefransten Flügeln steigt Rauch auf. Ich füttere ihn mit einer Chilischote. Dann, als er gesättigt davonfliegt, schneide ich meine eigene Schote auf, kratze die Kerne heraus und würze meine Eier damit. Mein Magen knurrt, hungrig von meiner Jagd am frühen Morgen. Auch wenn sonst niemand etwas essen will, ich schon.

Ich schlinge mein Frühstück hinunter und lasse meine Zunge von dem scharfen Gewürz wärmen, während ich Vanna lausche. Ihr Lachen klingt wie Musik, süßer als das Vogelgezwitscher bei Sonnenaufgang – und Welten entfernt von dem rachsüchtigen Versprechen der Dämonenhexe.

Vannas Gelächter wirbelt unaufhörlich im Kreis, während sie in ihrem neuen Kleid tanzt. Lintang hat Wochen darauf verwendet, Mondorchideen und Schmetterlinge auf den Rock zu sticken, wobei sie meinen knausrigen Vater ausnahmsweise überreden konnte, ihr die erlesenste farbenfrohe Stickseide für ihre Handarbeit zu kaufen. Während Vanna ausgelassen Pirouetten dreht, wölbt sich ein Regenbogen über die niedrige Hügellandschaft hinter uns. Selbst die Götter würden sich hüten, es am heutigen Tag regnen zu lassen.

Vermutlich sind auch sie Vannas Zauber erlegen. Denn wenn sie glücklich ist – wenn dieses sonderbare Licht in ihr am stärksten glüht –, dann stellt sie selbst die Sonne in den Schatten. Ihr heller Glanz berührt jedes Lebewesen in ihrer Umgebung, von Adah und Lintang bis zu den Schmetterlingen und Eidechsen, den Blumen und Bäumen. Selbst ich strahle dann übers ganze Gesicht.

Als Lintang nicht hinsieht, wirft Vanna mir eine Kusshand zu. Lächelnd klopfe ich mit den Füßen den Takt, bis meine Schwester unvermittelt stehen bleibt.

»Genug getanzt! Du überanstrengst dich nur.«

Es ist Adah. Er eilt um den Obstgarten herum in Richtung Küche, und ich ziehe rasch den Vorhang zu, bevor er mich noch erspäht. Ich soll mich versteckt halten, nur für den Fall, dass einer von Vannas Verehrern unserem Haus vor der Auswahlzeremonie am Vormittag einen Besuch abstattet. Sollte Adah auch nur einen Blick auf mich erhaschen, hat er gedroht, mich so kräftig auszupeitschen, dass mein Rücken fortan wie mein Gesicht aussehen würde. Keine leichte Aufgabe, aber Adah ist stark für einen Mann. Nicht so stark wie ich, aber das weiß er natürlich nicht.

Sämtliche Böden sind bereits gefegt und jede Ecke blitzblank geputzt. Die einzige Arbeit, die es noch zu erledigen gibt, ist das Dämpfen der Küchlein – Vannas Wunsch. Ich gebe die Maniokwurzeln, die ich nachts zuvor klein gerieben habe, in eine Schüssel und teste mit den Fingern die Konsistenz. Nicht feucht genug, weshalb ich einen Löffel Wasser darübersprenkle und mich dann schließlich ans Werk mache, die restlichen Zutaten zusammenzusuchen.

Dieses Rezept habe ich schon so oft nachgekocht, dass meine Hände sich ganz von allein bewegen und der Teig zum Leben erwacht, wie Ton in den Händen eines Töpfers. Mamas Kuchen ist alles, was mir von ihr geblieben ist. Ansonsten sind da nur noch Erinnerungsfetzen – der Klang ihrer Stimme, die sanften Gesichtszüge –, an die ich mich verzweifelt klammere, um sie keinesfalls zu vergessen.

Manchmal wünschte ich, Vanna sähe ihr ähnlicher. Doch meine Schwester erinnert an keine Frau, die jemals auf dieser Erde gewandelt ist.

Genauso wenig wie ich.

»Ich hole rasch meinen Schleier, Adah«, höre ich Vanna sagen. »Ich bin gleich zurück.«

Ihre Stimme ist schrill vor Aufregung. Sie ist eine gute Schauspielerin und hat gewiss das gesamte Dorf überzeugt, dass sie außer sich vor Begeisterung ist, im Mittelpunkt von etwas so Erniedrigendem und Lächerlichem wie einer Auswahlzeremonie zu stehen. Mir jedoch kann sie nichts vormachen.

Ich überlege gerade, wie ich mich heimlich aus der Küche stehlen kann, um ihr Vernunft einzubläuen und sie vor Angma zu warnen, als ich jemanden hinter mir höre. Die Schritte sind leicht und rhythmisch, ein federndes Hüpfen. Sogar im Schlaf würde ich sie erkennen.

Selbst als ich den Schatten zweier ausgestreckter Hände sehe, die mich berühren wollen, drehe ich mich nicht um. Stattdessen sage ich: »Ich dachte, du wolltest deinen Schleier suchen.«

Vanna stößt einen Seufzer aus. »Du hast das Gehör einer Fledermaus.«

»Und du die Verschlagenheit eines Maulesels. Auf diesen Trick falle ich nicht wieder rein.«

»Diesmal wollte ich dich nicht erschrecken, nur kitzeln.« Meine Schwester droht mir mit dem Finger und streckt wieder den Arm nach mir aus.

Spielend leicht weiche ich ihr aus. »Ich versuche zu arbeiten.«

»Wie kannst du ausgerechnet heute auch nur an Hausarbeit denken?«

»Nicht jeder bekommt den Morgen für deine Auswahlzeremonie frei«, erwidere ich. »Obwohl ich tatsächlich fassungslos bin, dass du überhaupt schon wach bist. Normalerweise liegst du doch bis mittags schnarchend im Bett.«

Entrüstet verschränkt Vanna die Arme vor der Brust. »Ich schnarche nicht.«

»Erzähl das den Krähen auf dem Dach.« Ich drehe mich zu ihr und verbeiße mir ein Lächeln. »Die würden widersprechen.«

»Das ist nicht lustig.« Vanna gibt vor, ungehalten zu sein, doch auch sie kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Musst du immer ein solcher Griesgram sein?«

»Ja.«

Vanna streckt mir die Zunge heraus, und unwillkürlich schenke ich ihr ein zärtliches Lächeln. Ein Hauch von Puderzucker klebt an ihrer Nase, und ihre schwarzen Haare hängen ihr von all den Pirouetten zerzaust um die Schultern. Ich würde rein gar nichts an ihr verändern, abgesehen von dem Licht, das in ihrem Herzen lodert.

Wir wissen immer noch nicht, was es damit auf sich hat. Unser Priester behauptet, sie sei mit Gaddas Licht gesegnet, aber er würde alles sagen, um den Menschen mehr Münzen für seinen Tempel zu entlocken. Manchmal frage ich mich, ob es dieses Licht ist, das Begehrlichkeiten in Angma geweckt hat, ob Vanna aus diesem Grund so besonders ist.

»Du solltest lieber rauskommen«, sagt Vanna, die nichts von meinen Gedanken ahnt. »Du versteckst dich immer hier drinnen.«

»Im Gegensatz zu dir muss ich Hausarbeiten erledigen. Du hast dir Kuchen gewünscht, schon vergessen?«

»Darf ich naschen?« Sie will den Finger schon in den Teig tauchen, doch ich verpasse ihrer Hand spielerisch einen Klaps mit dem Löffel.

»Nicht so schnell. Es fehlen immer noch Pandansaft und Kokosmilch und …«

»Weißer Sesam«, beenden wir meinen Satz wie aus einem Munde.

Mamas magische Zutat. Es hat Jahre gedauert, bis ich dahintergekommen bin, und es ist ein Geheimnis, das allein Vanna und ich teilen.

»Sind die Kuchen bald fertig?«, fragt meine Schwester. »Mutter wartet auf mich, um mir die Haare zu flechten, und du weißt, wie sehr es ihr missfällt, wenn ich zu viel Süßes esse.«

Mein Lächeln schwindet, und ich knalle die Schüssel energisch auf den Tisch. »Du bist alt genug, um essen zu können, was auch immer du willst. Und Lintang ist nicht unsere Mutter. Sie ist unsere Stiefmutter.«

»Sie ist die einzige Mutter, die ich kenne.« Mit einem melodiösen Rasseln sacken Vannas Arme nach unten, Gold- und Silberarmreife klimpern an ihren Handgelenken. »Ich wünschte, du würdest sie nicht so hassen.«

»Ich hasse Lintang nicht. Sie ist nur nicht … unsere Mutter.« Ich hebe die Schüssel wieder in die Höhe. »Das ist unsere Mutter.«

Vanna zieht die Augenbrauen hoch. »Der Kuchen?«

»Der Geruch.« Ich atme tief ein. »Mamas Hände haben nach Kokosnuss gerochen.«

Gierig nach jedem noch so winzigen Informationsfetzen über unsere Mutter, beugt Vanna sich vor, und ich wünschte, ich könnte ihr mehr geben als ein paar Kuchen. Ich wünschte, ich hätte mehr als eine Dämonenhexe und ihren Fluch. Aber so ist es nun mal!

»Vanna«, setze ich an, »erinnerst du dich an die Geschichte, die ich dir früher erzählt habe, als wir klein waren?«

Meine Schwester weiß genau, worauf ich hinauswill. Mit einem schweren Seufzer lässt sie sich auf einen Schemel sinken. »Über Angma und die Schlange, die dein Gesicht verflucht hat?«

»Angma hat mein Gesicht verflucht«, korrigiere ich sie. »Hör mir genau zu: Dein Geburtstag ist in drei Tagen. Angma hat geschworen, zurückzukommen und …«

»Sie wird mich nicht töten«, fällt Vanna mir ins Wort. »Damals warst du zwei Jahre alt.«

»Fast drei.«

»Glaubst du nicht, du könntest dir all das vielleicht nur eingebildet haben? Ich weiß, du bist überzeugt, mit Schlangen reden zu können, und du glaubst, dein Gesicht einem schrecklichen Fluch zu verdanken, aber …«

»Aber was?«, sage ich mit todernster Stimme.

Ich kann die Worte hören, die sie gleich aussprechen wird: Aber vielleicht bist du so geboren worden.

Doch das bin ich nicht.

Meine Schwester erkennt, dass sie zu weit gegangen ist. Sie beißt sich auf die Lippe und sagt dann: »Ich will, dass du glücklich bist.«

Unwillkürlich spanne ich den Unterkiefer an. Ich drehe ihr den Rücken zu und träufle zu viel Pandansaft auf den Teig. »Ich bin glücklich.«

»Du kannst nicht glücklich sein, solange du derart von Angma besessen bist. Ich dachte, du hättest sie bei all den Vorbereitungen für die Auswahlzeremonie vergessen, aber dann habe ich bemerkt, wie du dich heute Morgen rausgeschlichen hast. Du warst wieder im Dschungel auf Tigerjagd, nicht wahr?«

Ich schnappe mir das Gemüsemesser, das hinter den Kokosnüssen liegt. Wie hat sie es nur geschafft, dass sich diese Unterhaltung auf einmal um mich dreht? Eigentlich wollte ich sie vor Angma warnen.