Der Schwur des Drachen (Die sechs Kraniche 2) - Elizabeth Lim - E-Book
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Elizabeth Lim

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Beschreibung

Von der gefeierten NYT- und SPIEGEL-Bestseller-Autorin von »Die sechs Kraniche«!  Prinzessin Shiori hat ihrer Stiefmutter Raikama auf dem Sterbebett versprochen, die magische Drachenperle ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzubringen – aber das ist gefährlicher als gedacht. Sie muss ins Königreich der Drachen reisen, politische Intrigen unter Menschen und Drachen bekämpfen und die mächtige Perle gegen Diebe verteidigen, die sie für ihre Zwecke missbrauchen wollen. Und auch die Perle selbst scheint einen eigenen Willen zu haben; sie steckt voller böser Energie und bedroht damit alles, wofür Shiori kämpft – Familie und Freunde, ihr eigenes Leben und ihre wahre Liebe. Actionreich und voller unerwarteter Twists – ein Abenteuer in einer zauberhaften, magischen Welt! »Was für ein umwerfendes Werk! Wann immer ich dachte, ich weiß, worauf es hinausläuft, lag ich falsch. Ein fesselndes Leseerlebnis!« Tamora Pierce über den ersten Band »Die sechs Kraniche«

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Elizabeth Lim

Der Schwur des Drachen

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

Die gefeierte NYT- und SPIEGEL-Bestseller-Autorin von »Die sechs Kraniche« legt nach!

Prinzessin Shiori hat ihrer Stiefmutter Raikama auf dem Sterbebett versprochen, die magische Drachenperle ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzubringen – aber das ist gefährlicher als gedacht. Sie muss ins Königreich der Drachen reisen, politische Intrigen unter Menschen und Drachen bekämpfen und die mächtige Perle gegen Diebe verteidigen, die sie für ihre Zwecke missbrauchen wollen. Und auch die Perle selbst scheint einen eigenen Willen zu haben; sie steckt voller böser Energie und bedroht damit alles, wofür Shiori kämpft – Familie und Freunde, ihr eigenes Leben und ihre wahre Liebe Takkan.

Die Bände der »Sechs Kraniche«-Dilogie:

Die sechs Kraniche (Band 1)

Der Schwur des Drachen (Band 2)

Wohin soll es gehen?

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Viten

Für meine pó po,für die Liebe, die Geschichten und die Fischsuppe

Und für alle, die sich je gewünscht haben, mit einem Drachen befreundet zu sein

Briefe zu schreiben, war für mich schon immer ein Graus. Meine Hauslehrer sagten früher gern, dabei könne man seine Klugheit, seinen Tiefgang und seine Schönschrift unter Beweis stellen. Doch meine Handschrift sieht seit jeher eher wie die einer Gans aus und weniger wie die einer Prinzessin. Und von einer Gans bekommt niemand gern einen Brief. Auch dann nicht, wenn es sich um eine königliche Gans handelt.

Ich weiß, das entschuldigt nicht, dass ich Dir nie geschrieben habe, Takkan. Wenn ich die Vergangenheit ändern könnte, hätte ich Dir auf jeden Deiner Briefe geantwortet. Jetzt habe ich sie aber endlich gelesen und kann Dir gar nicht sagen, wie schön es war, über Deine Geschichten zu lachen und mir vorzustellen, wir wären zusammen aufgewachsen. Ich wünschte, ich hätte Dich nach Deinem Namen gefragt an dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind – als Kinder auf dem Sommerfest, bei dem ich Deinen Winddrachen wegfliegen ließ.

Ich habe kürzlich noch an diesen Drachen gedacht, daran, dass er bestimmt noch immer durch die Lüfte fliegt, ohne ein Ziel oder einen Ort zu haben, an dem er landen könnte. Manchmal träume ich, dass ich dieser Winddrachen bin. Dass meine Schnur kein Ende hat. Dass ich nirgendwo mehr hingehöre.

Ich frage mich, ob meine Stiefmutter sich so gefühlt hat. Es schmerzt mich, dass ich sie das nie werde fragen können.

Wenn Du diesen Brief findest, werde ich schon im Reich der Drachen sein. Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht aber auch Wochen oder Monate. Ich hoffe, es werden keine Jahre.

Sollte ich den Winter verpassen, denk an mich, wenn der Schnee fällt und wann immer du Radieschen isst.

Deine liebste Suppenköchin

Shiori

Kapitel 1

Der Grund der Taijin-See schmeckte nach Salz, Schlick und Enttäuschung. Bis auf ein paar mysteriöse schwache Lichtstrahlen war es dort unten dunkler als im tiefsten Schlund. Das konnte wohl kaum das großartige Wasserreich sein, in dem die Drachen beheimatet sein sollten.

Als Seryu langsamer wurde und seine langen Tasthaare besonders in die Richtung eines der Lichtstrahlen zuckten, setzte ich mich auf seinem Rücken aufrecht hin. Vielleicht hatte ich mir das eingebildet, aber dieser eine Strahl leuchtete heller als die anderen – fast violett.

»Bist du bereit?«, fragte Seryu, der den Kopf zu mir gedreht hatte.

Bereit zu was?, dachte ich, nickte jedoch.

Mit einem schnellen Schlag seines Schwanzes tauchte er durch den violetten Strahl – und alles veränderte sich. Das Wasser wurde azurblau und aus Sandbänken stiegen kupferrote Dunstschwaden auf. Und Licht! Überall war Licht, welches eine unsichtbare Sonne verströmte.

Die wachsende Spannung ließ mein Herz rasen. Ich klammerte mich an Seryus Hörner, während er in derart schnellem Tempo abwärtsschwamm, dass ich beinahe den Mund geöffnet hätte.

Wir sind fast da, Kiki, dachte ich in unserer stummen Sprache, doch sie antwortete nicht. Ein Blick in meinen Ärmel erklärte es: Mein magischer Papiervogel war ohnmächtig geworden.

Ich konnte es Kiki nicht verübeln. Wir bewegten uns mit unglaublicher Geschwindigkeit, und wenn ich versuchte, geradeaus zu schauen, bekam ich hämmernde Kopfschmerzen. Aber ich durfte auf gar keinen Fall ohnmächtig werden. Ich wagte es nicht einmal, die Augen zu schließen.

Ich wollte alles mitbekommen.

Schließlich erreichten wir, klaftertief unter dem Meer der Sterblichen, ein Labyrinth aus leuchtenden Korallenriffs. Seegras wiegte sich in einer unsichtbaren Strömung, weiße Sanddünen und von Goldadern durchzogenes Gestein sprenkelten den Boden, und Baldachine aus ineinander verflochtenen Meeresblumen bildeten die Dächer von Unterwasserhäusern.

Das also war Ai’long, die Heimat der Drachen.

Es war eine Welt, die nur wenige Sterbliche je zu Gesicht bekommen würden. Auf den ersten Blick wirkte sie gar nicht so anders wie das, was ich an Land kannte. Anstelle von Bäumen gab es hier Korallensäulen, manche dünn, manche dick, von denen die meisten spiralförmige, mit Bändern aus Moos geschmückte Äste hatten. Sogar die Fische erinnerten mich an durch die Luft gleitende Vögel, wenn sie ihre spitz zulaufenden Flossen wie Flügel ausbreiteten und durchs Wasser glitten.

Und doch … war das hier anders als alles, was ich je gesehen hatte. Die Bewegung des ständig hin und her wogenden Wassers, das durch Farbblitze und das Gestöber von Fischen offenbar wurde. Die Art, wie das Seegras die vorbeiflitzenden Fische kitzelte, als könnten sie miteinander sprechen.

Seryu grinste, als ich das alles in mich aufnahm. »Ich habe ja gesagt, du wirst überwältigt sein.«

Er hatte natürlich recht, ich war wirklich überwältigt. Andererseits wäre es auch merkwürdig gewesen, wenn Ai’long eine Sterbliche wie mich nicht beeindruckt hätte. Denn schließlich machte genau das seine Gefährlichkeit aus. Das war die Falle.

Ein Ort, der so schön war, dass selbst die Zeit den Atem anhielt.

In jeder Stunde, die du hier verbringst, verlierst du zu Hause einen Tag– wenn nicht mehr, ermahnte ich mich streng. Da würde schnell eine Menge Zeit zusammenkommen, und ich war ohnehin schon so lange von meinem Vater und meinen Brüdern getrennt gewesen, dass ich nicht eine einzige Minute vergeuden wollte.

Los, weiter, signalisierte ich mit einem Tritt in die schlangenförmige, langgezogene Flanke des Drachen.

»Ich bin kein Pferd, nur dass du’s weißt.« Seryu drehte sich mit hochgezogenen grünen Augenbrauen zu mir um. »Warum so still, Shiori? Du hältst doch nicht den Atem an, oder?«

Als ich nicht antwortete, warf er mich ab. Seine Klaue schoss vor und zwickte mich in die Nase.

Ein Strom von Luftblasen kam heraus – die kostbare Luft, die ich sorgsam gehortet hatte. Aber, bei den Göttern, ich konnte atmen! Oder zumindest fühlte es sich so an, als würde ich atmen. Das Wasser schmeckte süß statt salzig – und es war berauschend wie ein schwerer Pflaumenwein, als ich zu tief einatmete.

»Solange du ein Stück von meiner Perle trägst, kannst du unter Wasser atmen«, erklärte Seryu und erinnerte mich damit an den leuchtenden Splitter, den ich mittlerweile an einer Kette um den Hals trug. »Es mag ja nicht länger in deinem Herzen sein, sodass wir uns nicht mehr in Gedanken austauschen können … aber du weißt schon, dass du sprechen kannst, oder?«

»Klar weiß ich das«, log ich.

Um meine Erleichterung zu kaschieren, griff ich nach dem winzigen Bruchstück von Seryus Perle. Selbst so tief unten im Meer leuchtete es wie ein Kügelchen aus Mondlicht.

»Du solltest es besser verbergen«, sagte Seryu. »Man könnte sonst die falschen Schlüsse ziehen.«

»Ich dachte, das wäre nur, damit ich atmen kann. Warum sollten man dann …?«

»Es ist zu kompliziert, das zu erklären«, murmelte der Drache. »Ich hatte vergessen, wie viele Fragen du stellst. Vielleicht hätte ich dich doch besser weiter die Luft anhalten lassen sollen.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Du hast ja eine fantastische Laune.«

»Menschen sind in Ai’long nicht gerade gern gesehen«, erwiderte Seryu schmallippig. »Ich denke gerade an die unendlich vielen Arten, wie dein Besuch schiefgehen kann.«

Er war schon den ganzen Tag schlecht drauf, schon seit dem Moment, in dem er an Land gekommen war, um mich abzuholen. Er hatte meine Brüder kaum begrüßt und Takkan sogar ganz ignoriert …

Ich versuchte, ihn aufzuheitern, indem ich ihn neckte: »Werde ich etwa keine lustigen Geschichten zu erzählen haben, wenn ich nach Hause komme? Dabei habe ich doch allen vorgeschwärmt, dass der Prinz der Drachen mir eine große Führung durch sein Königreich gewährt.«

»Je kürzer dein Besuch dauert, desto besser.« Seryus rote Augen blickten zu der Korbtasche, die ich über der Schulter trug. »Du bist hier nicht zum Vergnügen, sondern um meinem Großvater etwas auszuhändigen.«

So viel zu dem Versuch, ihn aufzumuntern. Jetzt war ich auch schlecht gelaunt.

Ich öffnete meine Korbtasche – nur ein kleines Stück weit. Dieses Etwas, das ich aushändigen sollte, war eine zerbrochene Drachenperle. Raikama hatte sie mir vor ihrem Tod überlassen. Die Macht der Perle war so groß, dass ich spürte, wie sie gegen den Zauberbann ankämpfte, der auf der Tasche lag und dafür sorgte, dass die Perle blieb, wo sie war – sicher und vor fremden Blicken verborgen. Kein Wunder, dass Seryus Großvater sie haben wollte.

Doch sie war nicht der einzige Gegenstand in der Tasche. Ich hatte auch mein Netz aus Sternenkraut mitgenommen – als Schutz vor dem Drachenkönig – und das Skizzenbuch, das Takkan mir zum Abschied geschenkt hatte.

»Noch mehr Briefe?«, hatte ich gefragt und das Buch mit beiden Händen entgegengenommen.

»Besser als das«, hatte Takkan versprochen. »Damit du mich nicht vergisst.«

Was konnte besser sein als seine Briefe? Sehnsüchtig blickte ich auf das Skizzenbuch und wünschte mir, mit den Fingerknöcheln über den weichen Rücken fahren und durch die mit Kohlestift gefüllten Seiten blättern zu können. Doch in Seryus Anwesenheit wäre das vermutlich unhöflich gewesen.

Zweifellos war Seryu ebenfalls dieser Meinung, denn er blinzelte mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Beim Anschauen der Perle habe ich dich noch nie rot werden sehen.«

»Ihr Licht ist so hell«, sagte ich schnell. »Davon bekomme ich immer ein warmes Gesicht.«

Er lachte verächtlich über diese Lüge. »Wenigstens ist dein menschlicher Gernegroß-Lord uns nicht ins Wasser hinterhergesprungen. Hätte mich nicht gewundert, so wie er dich beim Abschied mit großen Augen angeglotzt hat. Den hätten sich die Haie geschnappt, noch ehe er an den Korallenriffs vorbei gewesen wäre.«

Ich klappte den Korb zu. »Haie, dein Ernst?«

»Großvater beschäftigt ein ganzes Heer von ihnen.« Seryu grinste süffisant. »Sie sind immer hungrig. Wir werden in Kürze einigen von ihnen begegnen.«

Wieder bekam ich Herzklopfen. Waren wir schon so nah an Nazayuns Palast?

Seryu deutete meine Besorgnis falsch, und sein Ton wurde ein wenig lockerer. »Keine Angst – auf ein so mageres Menschlein wie dich haben die Haie keinen Appetit.«

Vielleicht ändern sie ihre Meinung ja noch, dachte ich. Sobald der Drachenkönig herausfand, warum ich wirklich in Ai’long war, konnte ich mich glücklich schätzen, wenn er mir einen so schnellen Tod bescherte.

Nervös glitt ich wieder zu Seryu hin und strampelte dabei heftiger, als nötig gewesen wäre. In Ai’long funktionierte das Schwimmen anders als in gewöhnlichen Gewässern. Hier war das Wasser so leicht wie Luft, und winzige Strömungen unter meinen Füßen trugen mich weiter. Es war fast wie Fliegen.

Entsprechend schoss ich an Seryu vorbei, weil ich mich zu stark bewegt hatte. Wie aus dem Nichts sank eine Wolke aus Quallen auf mich herab.

Es waren mindestens ein Dutzend. Ihre Körper waren leuchtende Schirme und ihre Tentakel tanzten geschmeidig durchs Wasser. Sie näherten sich keck, strichen mir über Arme und Beine und wanden sich sogar durch mein langes Haar. Ich kicherte, weil das kitzelte – bis Seryu ein böses Knurren ausstieß.

»Lasst sie in Ruhe!« Seine roten Augen funkelten die aufdringlichen Wesen böse an. »Sie ist mit mir unterwegs.«

Die Quallen zuckten zwar zurück, doch sie stoben nicht davon. Eher im Gegenteil. Als Seryu versuchte, mich an den Haaren von ihnen wegzuziehen, folgten sie mir und kamen sogar noch näher.

Dann veränderten sie sich, so blitzartig und tückisch wie die Taijin-See.

Das goldene Licht, das in ihren Körpern leuchtete, erlosch, und ihre Tentakel, die eben noch weich wie Seidenbänder gewesen waren, wurden hart und spitz. Zwei Quallen glitten zwischen Seryu und mich und drängten uns auseinander. Der Rest umzingelte uns.

Ich griff nach dem Messer, das ich in meiner Schärpe versteckt hatte. Doch ich hatte keine Chance, es herauszuziehen. Kalte, glitschige Tentakel saugten sich an meinem Rücken fest und legten sich um meine Arme.

Aus den Tentakeln meiner Angreiferin wuchsen kleine Stacheln, die über meine Haut schrammten: eine tödliche Warnung, mich nicht zu widersetzen. Ein Stich, und ich wäre für den Rest meines Lebens gelähmt.

Ich gab mich geschlagen, rührte mich nicht mehr von der Stelle und ließ mein Messer los, das daraufhin außerhalb meiner Reichweite im Wasser trieb. Als Reaktion lockerte die Qualle ihren Griff, aber nur ein wenig. Dann durchsuchten mich ihre Tentakel nach anderen versteckten Waffen, und als sie meine Kleider durchwühlten, kam Kiki aus meinem Ärmel geschossen.

Sie war wie benommen, breitete ihre Flügel halb aus und gähnte, um anzuzeigen, dass sie wach war. Doch als sie den Blick aus ihren Tintenaugen senkte und die Qualle sah, kreischte sie los.

Blubbernde, verfluchte Dämonen von Tambu!

Das ist kein Dämon, versicherte ich ihr und umklammerte meine Korbtasche, weil die Tentakel sie öffnen wollten. Das ist eine Qualle.

Eine was?

Die Qualle schob sich über Kiki und musterte sie kritisch.

Mein Vogel bedeckte sein Haupt mit einem Flügel. Oh Götter, stöhnte sie. Lasst mich wieder ohnmächtig werden.

Zu Kikis Erleichterung kam die Qualle zu dem Schluss, dass mein Vogel ihrer Aufmerksamkeit nicht wert war, und wandte sich wieder meiner Korbtasche zu. Ihre Fangarme zerrten an den Riemen, doch ich hielt sie mit aller Kraft zu.

»Du kannst mich stechen, so viel du willst«, sagte ich. »Aber die Tasche kriegst du nicht!«

Die Qualle zischte und präsentierte mir ihre giftigen Stachel.

»Verschwinde!«, brüllte Seryu. Sein Schwanz peitschte vor und zurück und erzeugte unzählige kleine Wirbel, wie winzige Stürme. Dann zog er seine Klaue einmal durchs Wasser, wodurch ein starker Strudel entstand.

Während die Qualle gegen die plötzliche Strömung ankämpfte, zog Seryu mich auf seinen Rücken, tauchte in einen Korallen-Dschungel ab und schwamm auf die vor uns aufragenden kristallenen Zierspitzen zu. Er warf mir mein Messer in den Schoß. »Ist das dein Ernst, Shiori? So was bringst du mit nach Ai’long?«

Ich zuckte die Achseln. »Dachtest du, ich käme unbewaffnet?«

»Du bist meinem Großvater doch schon mal begegnet. Dieser kleine Dolch würde gegen ihn nicht mehr ausrichten als ein winziger Splitter.«

»Aber auch Splitter können wehtun.« Mehr sagte ich nicht, während ich das Messer wieder in meine Schärpe steckte. »Was waren das für Quallen?«

»Ein Spähtrupp.«

»Auf der Suche nach wem oder was?«

»Unbefugten Eindringlingen und Attentätern.«

Seryu ging nicht weiter ins Detail – ein Zeichen, dass er das Thema nicht vertiefen wollte. Doch ich war zu neugierig. »Da war aber auch Magie mit im Spiel.«

»Die meisten von Großvaters Untertanen besitzen … gewisse Fähigkeiten. Sie helfen ihnen, jene abzuwehren, die Ai’long ohne Einladung zu betreten versuchen.«

»Und warum haben sie mich dann durchsucht? Ich bin doch eingeladen.«

»Sie haben offenkundig nach der Perle deiner Stiefmutter gesucht«, antwortete Seryu gereizt. »Quallen fühlen sich von dunkler Magie angezogen. Und sie sind darauf spezialisiert, Täuschungsversuche zu erspüren.«

»Täuschungsversuche?«, fragte ich beklommen.

»Ja, wie diesen mitgeführten Dolch, den du mir gegenüber unterschlagen hast.« Seryus Ton wurde härter. »Keine Sorge. Du wirst dich nur kurz in Ai’long aufhalten; mit unserem Hofstaat brauchst du keine Bekanntschaft zu machen.«

Das war zwar nicht das, was mir Sorgen bereitete, doch ich hielt den Mund und schaute Kiki an.

Sie saß halb ohnmächtig auf meiner Handfläche, ihre Flügel waren zu einem traurigen Klumpen zusammengesunken. Glücklicherweise hatte sie meinem Gespräch mit Seryu keinerlei Beachtung geschenkt. Ich liebte sie von Herzen, doch Geheimnisse zu bewahren, gehörte nicht zu ihren Talenten.

Sind wir bald da?, stöhnte sie. Ich hätte an Land bleiben sollen. Ich fühle mich seekrank.

Unter Wasser wird man nicht seekrank.

Kiki rümpfte den Schnabel und seufzte theatralisch. Kannst du dem Drachen nicht sagen, dass er nicht so ruppig schwimmen soll? Selbst Wale bewegen sich anmutiger als er.

Das kannst du ihm gern selbst sagen. Er ist ohnehin schon den ganzen Tag schlecht gelaunt.

Warum? Ihre Stirn legte sich in Knitterfalten. Ist er wütend auf dich?

Nein, natürlich nicht.

Ist es wegen der Quallen? Bei den Göttern, Shiori – glaubst du, sie wissen Bescheid? Vielleicht solltest du ihm sagen, dass du vorhast, Raikamas Perle zu beha…

Erschrocken riss ich die Augen auf und stopfte Kiki schnell in meinen Ärmel, ehe Seryu mitbekam, was sie da von sich gab.

… zu behalten, hätte Kiki beinahe hinausposaunt.

Nein, das hatte ich ihm nicht gesagt. Und ich würde es auch nicht tun.

Ich verspürte Gewissensbisse, schob sie aber beiseite. Es gab keinen Grund für Schuldgefühle, denn schließlich war es ja nicht so, dass ich nicht Wort halten würde. Ich hatte Seryu versprochen, seinem Großvater Raikamas Perle zu bringen, das stimmte. Ich hatte nur nicht erwähnt, dass ich sie ihm nicht überlassen würde.

Ich hatte Raikama vor ihrem Tod versprechen müssen, sie nur dem Drachen zu übergeben, »der die Kraft besitzt, sie wieder ganz zu machen«.

Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, pulsierte auf einmal die Perle in meiner Korbtasche. Ich sah sie vor mir – wie sie herumwirbelte und Mittel und Wege suchte, nach draußen zu gelangen. Sie war nicht größer als ein Pfirsich und kaum breiter als meine Handfläche, aber wenn sie ihre maximale Leuchtkraft erreichte, strahlte sie so hell wie eine Kugel aus Sonnenlicht. Doch jetzt, wo Raikama nicht mehr lebte, war ihr Licht gedämpft, und der Riss in ihrer Mitte schien, jedes Mal, wenn ich hinschaute, wieder ein Stück größer geworden zu sein.

Dieser Sprung würde erst heilen, wenn die Perle wieder mit ihrem wahren Besitzer vereint war. Und ich ahnte, dass es sich mit der Trauer, die ich in mir vergraben hatte, ähnlich verhielt; sie würde mein Herz immer weiter aushöhlen, bis mein Versprechen an Raikama erfüllt war.

»Ein Versprechen ist kein Kuss, den man in den Wind haucht«, murmelte ich leise. »Damit wirft man nicht achtlos so um sich. Denn es ist ein Stück von dir selbst, das du weggibst und erst zurückbekommst, wenn dein Schwur erfüllt ist.«

Dies waren einst die Worte meiner Stiefmutter gewesen. Worte, dich ich früher gehasst hatte, weil sie mich, auch wenn ich sie ignorierte, mit nagenden Schuldgefühlen erfüllten. Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass ich eines Tages Trost aus ihnen ziehen würde.

Die Perle reagierte mit Zittern auf mein Unbehagen, und ich hob die Korbtasche auf meinen Schoß, damit Seryu es nicht mitbekam. Ich war schon zu häufig wortbrüchig geworden – Raikama gegenüber mehr als jedem anderen. Diesmal nicht.

Ich werde dafür sorgen, dass du wieder ganz wirst, gelobte ich der Perle im Stillen. Ich werde dich nach Hause bringen.

Koste es, was es wolle.

Kapitel 2

Die Mauern, die König Nazayuns Palast umgaben, waren unfassbar hoch. Sie ragten höher empor, als mein Blick reichte – bis ganz nach oben zu den violetten Lichtstrahlen, die die Grenzen des Reiches markierten –, und ihre Zierspitzen bohrten sich wie Nadeln in die Ströme des Ozeans.

Vor dem Palast hatten sich schaulustige Meerestiere versammelt. Wale, größer als die Kriegsschiffe meines Vaters. Gefleckte Meeresschildkröten, die mit dem Sand und den Felsen verschmolzen. Delfine, Tintenfische und sogar Krebse und Seepferdchen. Dazwischen tummelten sich auch vereinzelte Drachen, von denen manche Menschen auf ihrem Rücken trugen. Als Seryu vorbeischwamm neigten alle respektvoll ihr Haupt, doch ihre Blicke klebten an mir.

»Lass meine Hörner besser los«, knurrte Seryu. »In Ai’long bemisst sich an ihnen der Status, und ich bin schließlich ein Drachenprinz und kein Stier.«

Ich ließ sie los, als hätte ich in Feuer gegriffen. »Tut mir leid.«

Es wurde schnell klar, was er meinte. Die Hörner anderer Drachen waren nach unten gebogen, wie bei Schafböcken, oder hatten Furchen oder gewellte Ränder. Und auch die Farben variierten von Grau über Elfenbein bis hin zu Schwarz. Seryus Hörner dagegen waren silbern und vollkommen glatt, vor allem aber waren sie verzweigt – wie das Geweih eines Hirschs. Und bildeten somit eine natürliche Krone.

»Versammeln sich immer so viele zu deiner Begrüßung?«

»Nein.« Seryu klang angespannt. »Sie sind deinetwegen hier.«

Ich setzte mich sofort aufrechter hin. »Meinetwegen?«

»Sie schließen Wetten darauf ab, ob Großvater dich den Haien vorwirft oder in Stein verwandelt.«

Ich konnte nicht sagen, ob das ernst oder sarkastisch gemeint war. Vielleicht beides.

»Gibt es noch andere Alternativen?«, fragte ich.

»Keine, die dir angenehmer wären. Ich hab dir ja gesagt, Menschen sind hier nicht willkommen.«

»Dafür sehe ich aber ganz schön viele.«

Seryus langer Rücken erstarrte, und seine Schuppen büßten ihren Glanz ein. »Schau noch mal genau hin.«

Ich runzelte die Stirn, wandte mich aber, neugierig geworden, noch einmal um.

Zuerst fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. Ja, die Menschen, die auf den Drachen ritten, waren mit den Reichtümern des Meeres geschmückt. Sie trugen Gewänder, die mit Blütenblättern von Seelilien bestickt waren und perlmuttern schimmerten wie die Schalen einer Irismuschel. Doch ansonsten sahen sie aus wie ich.

Erst auf den zweiten Blick erkannte ich die Kiemen an ihren Hälsen und die Fischschuppen an ihren Armen. Manche hatten sogar Flossen an den Hand- und Fußgelenken. Als sie mein Starren bemerkten, spitzten sie die Lippen und lächelten mich schief an.

»Oh«, sagte ich nervös. »Ich bin wohl wirklich wie ein Schwein.«

»Was?«

»Das hast du bei unserem ersten Treffen gesagt: Mich nach Ai’long einzuladen, wäre so, als würdest du ›ein Schwein zum Abendessen mitbringen‹. Damals hielt ich das für einen Scherz.«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich dich mal mit hierherbringen würde, Shiori«, sagte Seryu so leise, dass ich es beinahe nicht gehört hätte. Wir waren jetzt fast an den Palasttoren angekommen. »Ich möchte, dass du das weißt.«

Das klang wie eine Entschuldigung, aber wofür, verstand ich nicht. Ich kam auch nicht mehr dazu, ihn zu fragen. Denn es erklang ein ohrenbetäubender Chor von Muschelhörnern, dann riss mich eine unsichtbare Strömung wie aus dem Nichts von Seryus Rücken und beförderte mich ins Innere des Palastes.

Das alles geschah mit der Schnelligkeit eines Schwerthiebs, und erst, als es zu spät war, begriff ich, dass ich von ihm getrennt worden waren.

»Shiori!« Seryu schoss auf die Tore zu und versuchte, sich hindurchzuzwängen, bevor sie sich schlossen. »Großvater, nein!«

Das war das Letzte, was ich von ihm sah, ehe ich fortgeschwemmt wurde und in einer Rinne aus Wasser so schnell hinabglitt, dass unser vorheriges Reisetempo mir dagegen träge vorkam. Als die Rinne mich schließlich an meinem Bestimmungsort ausspie, war ich sicher, dass ich zwischendurch ohnmächtig geworden war – wenigstens einige Sekunden lang.

Ich landete in dem größten Saal, den ich je gesehen hatte. Er hatte riesige Ausmaße, seine Säulenreihen setzten sich scheinbar endlos fort, und bis auf ein Fenster, das aus kaskadenförmigem schwarzem Kristall zu bestehen schien, hatte dort alles, von den Wänden bis zur Decke, die Farbe von Knochen. Oder Schnee, wenn man ein frohsinnigeres Naturell hatte.

Ich stemmte meine Füße in den Meeresboden und richtete mich auf.

Sind wir von einem Wal gefressen worden?, drang Kikis Stimme leise aus meinem Ärmel.

Wären wir in einer weniger verhängnisvollen Situation gewesen, hätte ich vielleicht gelacht. Der Saal hatte nämlich tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Brustkorb eines Wals. Die Marmorsäulen, die in gleichmäßigen Abständen die Wände säumten, ragten dreimal höher empor als die im Audienzsaal in Vaters Palast. Und sie bogen sich an ihren Enden zu einem offenen Dach, wie ein Käfig aus Knochen.

Ich zückte sicherheitshalber mein Messer. Die Abstände zwischen den Säulen waren groß genug, um hindurchschlüpfen zu können. Ob Seryu noch nach mir suchte?

Ich hielt mein Messer ganz fest. Ich hatte nicht vor, hier zu warten, um es herauszufinden.

Stattdessen hechtete ich zwischen zwei Säulen hindurch und war schon so gut wie entwischt, als den Säulen plötzlich lange, zappelnde Ranken aus Seetang entsprossen, die sich um meine Glieder legten.

Kiki schoss aus meinem Ärmel hervor. Shiori!

Ich hackte auf den Tang ein. Seine Stängel waren zwar dünner als das Seegras, das ich in meinen Suppen mitkochte, aber der äußere Anschein kann täuschen. Dieser Tang war so widerstandsfähig wie Eisen – und quicklebendig, denn für jeden Wedel, den ich abhieb, sprossen drei neue hervor. Sie peitschten Kiki hinweg, wickelten sich spiralförmig um meine Handgelenke, entrissen mir das Messer und fesselten mich an eine Säule.

Als Nächstes kamen die Haie.

Als Seryu sie vorhin erwähnt hatte, hatte ich ihm nicht geglaubt, aber da waren sie nun. Jeder Einzelne von ihnen war zehnmal so groß wie ich, hatte reihenweise dornenscharfe Zähne und blauschwarze Augen, aus deren Blicken keinerlei Bedenken sprachen, mich in einen Imbiss zu verwandeln.

»Seryu!«, schrie ich. »Seryu!«

»Er wird sich in Kürze zu uns gesellen.«

Der Schwanz des Drachenkönigs schlängelte sich um die Säulen, und ich bekam Gänsehaut.

»Mein Enkelsohn hat mir seit unserem letzten Zusammentreffen viel über Euch erzählt, Shiori’anma«, sagte er. »Eure Götter haben Euch ein ungewöhnliches Maß von Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen: Ihr seid die Adoptivtochter der Namenlosen Königin, die Bluterbin von Kiata … und jetzt auch noch die Trägerin der Perle des Greifen.«

Des Greifen? Ich merkte auf. Diesen Namen hörte ich zum ersten Mal.

Lange, gebogene Bolzen aus Silber stießen durch die Schatten – Nazayuns Hörner. »Zeigt sie mir!«

Der Seetang lockerte seinen Griff um meine Handgelenke gerade so weit, dass ich meine Korbtasche öffnen konnte. Ich griff hinein, strich über die zerbrochene Perle und berührte dann das Sternenkrautnetz.

Es juckte mir in den Fingern, das Netz über den Drachenkönig zu werfen. Schließlich war Sternenkraut die einzige Schwäche eines Drachen. Das Einzige, was mächtig genug war, um einen Drachen von seinem Herzen zu trennen. Und bei den Dämonen, ich hatte wahrlich genug Opfer gebracht, um dieses Netz zu knüpfen.

Wenn ich es gewagt hätte, hätten die Haie mich in Stücke gerissen, aber zum Glück ließ mir die Perle keine Chance. Kaum hatte ich die Tasche geöffnet, gab sie ein leises, tadelndes Summen von sich und entschwebte ihr.

Allmählich kam mir der Verdacht, dass sie auf eine seltsame Art lebendig war. Zu Hause, in Vaters Palast, hatte ich sie, wann immer ich sie in meinem Zimmer zurückgelassen hatte, anschließend schwebend in der Luft vorgefunden – so als beobachtete sie mich. Als wartete sie.

»Die Perle dreht und wendet das Schicksal für ihre eigenen Zwecke«, hatte Raikama gesagt.

Nach allem, was sie meinen Brüdern angetan hatte, würde ich nicht so dumm sein zu glauben, dass es zu ihren Zielen gehörte, mich am Leben zu erhalten. Weshalb ich nun mit stockendem Atem beobachtete, wie die Perle immer weiter hochstieg, bis sie auf einer Höhe mit Nazayuns hellen Augen war.

Auf dem Gesicht des Drachen zeigte sich Verärgerung. »Sie hat sich an Euch gebunden.«

»Nur vorläufig«, erwiderte ich. »Ich habe meiner Stiefmutter versprochen, die Perle ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.«

»Ihr habt Seryu versprochen, sie mir zu geben«, knurrte Nazayun.

»Sie Euch zu bringen«, korrigierte ich. »Nicht zu geben. Wie Ihr schon sagtet, die Perle gehört nicht Euch.«

»Eine Drachenperle gehört nach Ai’long.« Nazayun ragte über mir auf und schlug seine Klauen in den Meeresgrund. »Und ich bin Ai’long.«

»Warum wollt Ihr sie denn haben?«, fragte ich. »Ich habe gesehen, wie eine echte Drachenperle aussieht. Sie ist rein und Ehrfurcht gebietend und ganz anders als diese hier. Diese ist …«

»Eine Abscheulichkeit.«

»Ihr sagt es«, erwiderte ich. »Warum wollt Ihr sie dann haben?«

»Ahnungslose Menschentochter!«, brüllte der Drachenkönig. »Die Perle des Greifen ist ein kaputtes Ding. Und sie lechzt genauso nach Zerstörung, wie sie Zerstörung hasst. Da sie allein kein Gleichgewicht finden kann, war sie darauf angewiesen, dass jemand wie Eure Stiefmutter ihre Macht zügelt. Aber nun ist die Namenlose Königin tot, und die Perle ist so stark beschädigt, dass sie bald ganz auseinanderbrechen wird. Und wenn das passiert, wird sie eine Kraft freisetzen, die stärker ist als alles, was Ihr Euch vorstellen könnt. Stark genug, um Euer geliebtes Kiata zu verwüsten.«

Ausnahmsweise glaubte ich ihm. »Es sei denn, sie wird dem Greif zurückgegeben.«

»Das steht nicht zur Wahl«, sagte Nazayun. »Sie muss zerstört werden, und wenn das passiert ist, wird auch der Greif untergehen. Löst Eure Bindung an die Perle und gebt sie mir.«

Ich zögerte. Die Perle schwebte über meiner Handfläche, ihre Hälften klafften ganz leicht auseinander. Auf eine trügerische Art sah sie zerbrechlich aus, wie die Blätter einer Lotusblüte. Und doch spürte ich die schreckliche Macht, die ihr innewohnte.

Konnte es sein, dass Raikama einen Fehler gemacht hatte, als sie mich bat, sie dem Greifen zurückzugeben? Oder war dies nur einer von Nazayuns Tricks?

Einen kurzen Moment lang war ich unentschieden. Aber dann ballte ich die Fäuste, und die Perle flog an meine Seite. Ich vertraue Raikama.

»Die Perle gehört dem Drachen, der die Kraft hat, sie wieder ganz zu machen«, sagte ich. »Und dieser Drache seid nicht Ihr.«

Die hellen Augen des Drachenkönigs sprühten vor Zorn. »Also dann.«

Die Haie, die sich hinter ihm gehalten hatten, schnellten wieder auf mich zu und schnappten mit ihren Kiefern. In ihren glasigen Augen blitzten Visionen eines grausigen Endes auf: Ich, in einhundert blutige Stücke zerlegt, die das Wasser rot färbten. Kiki kreischte in meinem Ohr: Nein, Shiori!

Der Seetang legte sich fest um meine Taille und meine Fußgelenke, sodass ich mich nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. Zum Glück hatte ich das kommen sehen.

Ziehe nie in eine Schlacht, ohne deinen Gegner zu kennen, sagte mein Bruder Benkai gern. Bevor ich nach Ai’long aufgebrochen war, hatte er mir so viel militärisches Wissen vermittelt, wie er nur konnte: Wer seinen Feind überraschen kann, ist stets im Vorteil.

Und hier kam meine Überraschung: Ich stieß mit der Hüfte gegen die Perle und schleuderte sie so gegen die nächstgelegene Säule. Dadurch öffneten sich ihre Hälften wie die Schale einer Muschel, und ein grelles Licht strömte heraus.

Der Seetang zuckte zurück und lockerte seinen Griff um meine Glieder gerade so weit, dass ich das Sternenkrautnetz blitzschnell aus der Tasche ziehen konnte.

Ich schleuderte es hoch und rief: »Kiki!«

Mein Papiervogel schoss aus einem Versteck und schnappte sich die andere Seite des Netzes. Zusammen warfen wir es über die riesige Brust des Drachenkönigs und spannten es über seine Schuppen.

Ich hatte das Netz vorher erst einmal benutzt, um Raikama von der Last zu befreien, die sie trug. Gegen einen echten Drachen hatte ich es noch nie eingesetzt.

Seine Magie zeigte sofort Wirkung, denn es presste sich eng an Nazayuns Schuppen und ließ deren saphirblauen Glanz verblassen. Der Drachenkönig schrie auf und warf den Kopf in den Nacken, während sich das Netz in seine Brust grub und um sein kostbares Herz legte.

Es war mindestens dreimal so groß wie das des Greifen, silbrig weiß und rund wie ein voller Mond. Ich brauchte es nur zu nehmen, dann hätte ich vollkommene Macht über ihn.

»Lasst mich los!«, befahl ich den Seetanranken, und sie lösten sich von meinen Fußgelenken. Auch die Haie zogen sich zurück.

Ich holte mein Messer zurück und stach es in Nazayuns Schuppen, damit das Netz in Position blieb. Der Drachenkönig brüllte vor Schmerz, aber ich verspürte keine Reue. Splitter konnten eben doch wehtun.

»Wo finde ich den Greifen?«, fragte ich in forderndem Ton.

Aus Nazayuns Kehle stieg ein Lachen auf wie eine Luftblase.

»Antwortet, sonst …«

»Sonst was?« Nazayun beäugte die Perle des Greifen, die über ihm schwebte wie ein Vorbote des Untergangs. »Sonst was, Shiori’anma?«

Irgendetwas stimmte nicht. Das Herz des Drachenkönigs pulsierte in seiner Brust, ein Zeichen dafür, dass das Sternenkraut ihm wehtun musste. Doch warum lächelte er dann? Warum lachte er?

»Ihr hättet mir die Perle überlassen sollen, als ich Euch die Chance dazu gab«, sagte der Drachenkönig und wand sich unter dem schmerzhaften Netz. »Euer Vergehen, solch ein Netz zu weben, darf nicht ungestraft bleiben. Dreihundert Jahre hättet Ihr geschlafen, lange genug, damit alles, was Ihr kennt und liebt, zu Staub zerfällt. Dann wärt Ihr nach Kiata zurückgekehrt, wie versprochen. Dummerweise habt Ihr eine schlechte Wahl getroffen. Und deshalb werdet Ihr Euer Heimatland nie wiedersehen.«

Plötzlich löste sich das Messer, das ich zwischen Nazayuns Schuppen gestoßen hatte, im Wasser auf, und der Drachenkönig riss sich das Sternenkraut von der Brust. Es knisterte in seinen Klauen und versengte ihm die Haut, bevor er es in ein Geflecht aus Seetang schleuderte, weit außerhalb meiner Reichweite.

»Habt Ihr geglaubt, es wäre so einfach, mir mein Herz zu stehlen?« Er lachte, während seine Wunden vor meinen Augen verheilten. »Ich bin ein Drachengott. Nicht einmal Sternenkraut kann mir ernsthaft Schaden zufügen.«

Ich stolperte und schloss meine Handflächen um die Perle des Greifen. »Und wie sieht es mit dieser …«

Doch ich konnte meine Drohung nicht zu Ende aussprechen. Die Wände hinter mir fingen plötzlich an zu singen, und durch das schwarze Kristallfenster, das mir schon aufgefallen war, schoss Wasser herein und bildete einen großen Strudel.

Aus ihm tauchte ein zweiter Drache auf. Ich sah nur einen Blitz aus roten Schuppen und zwei runde goldene Augen. Dann spürte ich, wie etwas an meinem Hals zerrte und ich nach vorn gerissen wurde.

»Wenn Ihr uns nicht die Perle gebt, die wir wollen, nehmen wir erst einmal diese.« Der scharlachrote Drache hielt die Halskette hoch mit dem Bruchstück von Seryus Herz, das es mir ermöglichte, in Ai’long zu atmen. Ehe wir abgetaucht waren, hatte Seryu mir eingeschärft, sie unter keinen Umständen abzulegen.

Meine Hände flogen an meinen Hals, und meine Lunge zog sich krampfhaft zusammen. Überall war Wasser und floss in meinen Mund, füllte meine Lunge. Ich hörte meinen Puls in den Ohren, mein Herz schlug Alarm, als das Gewicht der Meere auf mich einstürzte. Da war so viel Wasser, dass ich nicht mal würgen konnte. Ich ertrank.

»Dies ist meine Tochter, die Hohe Herrin der Östlichen Meere«, sagte Nazayun, als wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, sie mir vorzustellen. »Da Ihr mir die Perle nicht geben wollt, überlasse ich es ihr, sie mir zu beschaffen.«

Nazayuns Tochter sah mir beim Ertrinken zu. »Ich habe eine Theorie«, schnurrte sie. »Sie besagt, dass die menschliche Seele aus unzähligen kleinen Schnüren gemacht ist, die sie ans Leben binden.« Sie zwickte mir mit ihren Krallen ins Herz, und ich wand mich vor Schmerz, als sie einen langen silbrig-goldenen Faden herauszog: einen Strang meiner Seele.

»Hübsch, nicht wahr? So fragil und doch so lebendig.« Sie wickelte den Strang um ihren Nagel. »Wenn ich genügend Fäden herausschneide und, sagen wir, einen letzten darin hängen lasse, wird die Perle ihre Verbindung mit dir auflösen, um sich jemanden zu suchen, der nicht an der Schwelle zum Tod steht.« Sie versuchte, den Strang mit ihrem Nagel zu zerteilen, doch er leuchtete hell auf und sprang zurück in mein Inneres.

Vor Verärgerung wurden ihre Tasthaare ganz steif. »Es ist nicht leicht, dieses Stadium herbeizuführen, vor allem bei so einer sturen Seele wie der Euren – aber wir haben Zeit zu experimentieren.«

Ich hatte keine Zeit. Meine Welt schnurrte in Windeseile zusammen, und ich rief die Perle des Greifen an.

Rette mich, bettelte ich. Rette mich, oder du wirst nie herausfinden, wohin du gehörst, und niemals nach Hause kommen.

Die Perle pulsierte. Einmal. Zweimal. Dann schneller, ein rasender Kontrapunkt zu meinem schwächer werdenden Herzschlag, und aus den zerbrochenen Hälften drang Licht hervor.

»Eine Kämpferin«, murmelte Nazayuns scharlachrote Drachentochter, während sie dicht vor mich schwamm und mir die Sicht auf die Perle verstellte. Sie legte ihre kalte Klaue an meine Stirn.

»Treibe niemals Spielchen mit einem Drachen«, flüsterte sie. »Du hast keine Chance zu gewinnen.«

Bevor mir der letzte Rest Atemluft ausging, verschwamm die Welt vor meinen Augen und verschwand.

Kapitel 3

»Eure Hoheit«, rief meine Hauslehrerin. »Wacht auf, Shiori’anma! Bitte, wacht auf!«

Ich rührte mich nicht. Meine Hauslehrerin stand jeden Tag vor derselben Aufgabe, und fast tat sie mir leid. Aber was kümmerte es mich, wenn sie von Kiatas Poesie, Kunst und Sagenwelt schwärmte? Meine Brüder würden mich sicher nicht zu ihren Zusammenkünften einladen, nur weil ich Verse aus dem Buch der Klagelieder rezitieren oder den Hof mit meinem Wissen über die Vorzüge von Zinnoberrot gegenüber Ockergelb entzücken konnte.

»Sie schläft schon wieder wie der Mond, ehe er des Nachts am Himmelszelt erscheint«, jammerte meine Lehrerin.

Ich hasste diesen Spruch. Ich war gezwungen worden, die Geschichte zu lernen, die dahinterstand. Irgendwas über die Monddame Imurinya und ihren Ehemann, den Jäger.

Ich war keine Romantikerin, und mich würde kein Kuss wecken – es sei denn, er kam von einer Tarantel und nicht von einem Jungen. Das Einzige, was bei mir wirkte, waren der Geruch von frisch zubereiteten süßen Reiskuchen und ein gut gezielter Wurf mit den Holzwürfeln meines Bruders Reiji.

Das Lustige war, dass Reiji mich seit Jahren nicht mit Würfeln beworfen hatte. Und doch schlug etwas Kleines und Hartes gegen meinen Hinterkopf. Wiederholt.

Ich riss die Augen auf und schrie: »Hörst du wohl damit auf!«

Nun, das wollte ich zumindest rufen. Aber aus meinem Mund kam nur wirres Gemurmel, und meine Brust schmerzte, als hätte jemand alles Leben aus mir herausgequetscht und es mir dann widerstrebend wieder eingetrichtert.

Eine unwillkommene Erinnerung daran, dass ich immer noch im Reich der Drachen war – und noch dazu eine Gefangene in Nazayuns Palast. Es war zu dunkel, um meine Umgebung klar erkennen zu können, aber im Brustkorb des Wals war ich jedenfalls nicht mehr.

Ich war vom Hals abwärts mit Seetang an eine Platte aus schwarzem Kristall gefesselt – so ähnlich wie das, was ich zuvor schon gesehen hatte. Ich riss mit aller Kraft an dem faserigen Tang, um mich zu befreien. Zur Strafe wurden die Fesseln nur noch enger und stechende Schmerzen fuhren durch meine Muskeln. Ich biss mir fest auf die Lippe, bis sie wieder abebbten.

Als ich wieder atmen konnte – auch wenn ich nicht wusste, wie ich das ohne die Halskette überhaupt konnte –, stieß ich die angehaltene Luft aus.

Dämonen von Tambu, wie sollte ich denn hier wieder rauskommen? Ich legte den Kopf nach hinten und schlug ihn verzweifelt gegen die Platte aus Kristall.

Pass doch auf, wo du deinen Kopf gegen haust! Papierflügel raschelten in meinem Haar, und Kiki krabbelte zu meinem Ohr herab. Es gibt andere Möglichkeiten, mir mitzuteilen, dass du wach bist, Shiori.

Kiki!, rief ich aus. Ich freute mich so, sie zu sehen. Was ist passiert? Wo bin ich …

Du hast geschlafen, berichtete sie. Und du hattest Glück. Die Tochter des Drachenkönigs war mehrfach hier, umdeine Seele zu zerpflücken, aber sie konnte nicht mal einen einzigen Faden herausschneiden. Nazayun ist außer sich deswegen. Er hat ihr befohlen, dich zu wecken. Kiki schlug hektisch mit den Flügeln. Er will es jetzt selbst versuchen.

Wann war das?

Wer kann schon sagen, wie an diesem Ort die Zeit vergeht? Kiki wippte auf und ab. Ich hab spioniert. Da konnte ich schlecht fragen, welchen Tag wir haben. Sie glaubt, dass die Perle dich beschützt hat. Ihre Tintenaugen traten hervor. Hat sie wirklich?

Vielleicht. Das muss der Grund sein, warum ich sie immer noch habe. Warum ich noch am Leben bin.

Das war ein Trost, aber nur ein kleiner.

Kiki spähte zu der Perle hin, die gerade bebend zum Leben erwachte. Sie hat geschlafen, weißt du, genau wie du – bis jetzt. Es ist fast so, als hätte sie einen Verstand, als wäre sie lebendig.

Sie ist das Herz eines Drachen, erwiderte ich. In gewisser Weise ist sie damit wirklich lebendig.

Für ein Drachenherz ist sie aber nicht allzu clever, sagte Kiki. Sonst würde sie doch von selbst den Weg nach Hause finden, anstatt uns die ganze Arbeit zu überlassen.

Im Stillen gab ich ihr recht. Die Perle des Greifen schwebte über meinem Kopf und blieb in meiner Nähe. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich wütend oder erleichtert war, sie zu sehen. So langsam wurde klar, dass ich nicht immer auf ihre Hilfe zählen konnte.

Sieh dir an, was du getan hast, schimpfte Kiki mit der Perle. Sie flatterte zu ihr, zwängte sich in den Spalt und breitete ihre Flügel aus. Ich könnte längst wieder in Kiata sein, es mir auf seidenen Kissen bequem machen und Glühwürmchen jagen. Aber schau nur, wo wir sind! Shiori ist in diesem schrecklichen Drachenverlies gefangen – und du, du bist deinem Besitzer noch kein Stück näher gekommen.

Die Perle leuchtete kurz auf und erhellte so unsere Umgebung: eine schmale Zelle, die keine Begrenzung zu haben schien. Aber das war bloß eine Illusion. In Wahrheit hingen tausende Spiegelscherben an den Wänden, und deren Reflexionen sorgten dafür, dass der Raum unendlich groß erschien.

Ich erschauerte. Wo sind wir hier?

Kiki zuckte erneut die Achseln. Ich habe schon hundert Mal nach einem Fluchtweg gesucht, aber diese Spiegel – sie sind lebendig, Shiori! Sie haben mich die ganze Zeit beobachtet. Und dann ist da noch dieser unheimliche Geist …

Ein Geist?

Ja, da hinten! Kiki zeigte mir mit einem zitternden Flügel die Richtung an. Er hat versucht, mit mir zu sprechen.

Am anderen Ende des Raumes, da, wo das Licht der Perle nicht hinreichte, herrschte Dunkelheit.

»Zeig ihn mir!«, befahl ich der Perle.

Mit einem Zischen wurde das Licht heller, und es kam eine einzelne Statue zum Vorschein. Und nach den gurgelnden und murmelnden Geräuschen zu urteilen, die von ihr zu uns herüberdrangen, war es eine lebendige Statue.

Ein Junge, wie sich herausstellte.

Er bestand vom Hals abwärts aus Stein, aber sein Kopf war noch nicht versteinert. Ich erblickte ungewöhnlich blaue Augen, gebräunte Haut und einen widerspenstigen Haarschopf. Es war schwer zu sagen, woher er stammte, aber er konnte nicht älter als zwölf oder dreizehn sein. Er sah aus, als wäre er mitten in einer weit ausholenden Wurfbewegung verflucht worden. Sein rechter Arm war in einer dramatischen Geste ausgestreckt, sein Kinn in die Höhe gereckt und sein linkes Bein leicht angehoben. Seine Kleider waren aus Stein, ebenso wie der Rest von ihm, aber in seinem Mund sah ich etwas Rotes aufblitzen, das wie Seide aussah.

Mir gerann das Blut in den Adern bei seinem Anblick. Was machte ein Menschenkind im Drachenreich, mal ganz abgesehen davon, dass er praktisch zu Stein erstarrt war?

Hilf ihm, Kiki. Er ist geknebelt.

Aber er könnte ein Geist sein! Oder schlimmer noch, ein Meeresdämon.

Hilf ihm jetzt, ja?

Mein Vogel gehorchte, flog zu der Statue hinüber und löste den Knebel heraus.

Der Junge hustete erst und spuckte und blies sich dann mit einem übertriebenen Schnauben die Haare aus den Augen.

»Erstens«, sagte er in lupenreinem Kiatanisch, »bin ich kein Geist. Geister können – bis auf wenige Ausnahmen – keine Gegenstände in der physischen Welt berühren und werden wohl auch kaum versteinert wie ich.« Seine Nase zuckte. »Zweitens hast du ganz schön lange gebraucht, um wach zu werden. Ich dachte schon, die ganze Werferei würde nie was bringen.«

»Du hast mich also geweckt?«, fragte ich.

»Ich hatte nichts anderes zu tun.«

»Aber wie?«

Der Junge legte mit einem selbstgefälligen Grinsen den Kopf in den Nacken. »Siehst du diese schwebenden Spiegelscherben? Ihre Ränder sind schärfer, als sie aussehen, und wenn du zu entkommen versuchst, zerschneiden sie dich.« Er drehte den Kopf, damit ich die kleinen Schnittwunden an seiner Nase und seinen Wangen sehen konnte. »Ich habe die ganze Woche gebraucht, aber dann ist es mir gelungen, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Und als sie auf mich losgegangen sind, habe ich ein paar von ihnen gepackt und sie in deine Richtung geworfen.«

»Du hast mich mit Scherben beworfen?«

»Wie hätte ich dich sonst wach kriegen sollen?«, sagte er. »Keine Sorge, ich hab die Ränder vorher an meinem versteinerten Arm abgeschliffen. Es hat auch was für sich, wenn man aus Stein ist. Deine Schnittwunde ist bereits verheilt.«

Schnittwunde? Nun, das erklärte die Schmerzen an meiner Schläfe.

»Eigentlich hätte ich nur wenige Versuche gebraucht«, fuhr der Junge fort. »Normalerweise bin ich sehr treffsicher, aber mein rechter Arm ist mitten im Wurf zu Stein erstarrt. Zum Glück ist mein linker Arm noch ein bisschen beweglich. Allerdings treffe ich mit links nicht so gut.«

Ja, allerdings zum Glück, sagte Kiki und schaute den Jungen mit offenem Schnabel an. Seine Arme bestanden beide aus Granit, doch in den Adern seines Unterarms und seiner linken Hand schlug noch ein Puls.

»Danke«, sagte ich ernst. »Ist dein Gesicht …«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Entweder die Wunden heilen, oder ich gebe eben eine weniger attraktive Statue ab.«

Angesichts seiner misslichen Lage klingt er unerträglich fröhlich, murmelte Kiki. Trauen wir ihm oder nicht? Ich bin für nein.

Ich runzelte die Stirn, ohne auf Kiki einzugehen. »Hast du eben gesagt, dass ich schon eine Woche hier bin?«

»Nach meiner Zählung ja.« Der Junge verzog den Mund. »Die Zeit vergeht so schrecklich langsam, wenn man nichts zu lesen hat. Bitte sag mir, dass du ein Buch in deiner Tasche hast.«

Ich hatte aufgehört, ihm zuzuhören. Eine ganze Woche war bereits verloren! Mir zog sich alles zusammen, und ich konnte kaum noch atmen. Zu Hause waren das schon mehr als fünf Monate.

Ich schürzte die Lippen und versuchte, mich zu beruhigen. Es könnte schlimmer sein, sagte ich mir. Fünf Monate – nicht fünf Jahre. Nicht fünf Jahrhunderte.

»Keine Bücher?«, fragte der Junge; offenbar interpretierte er meinen Schrecken falsch. »Das ist wirklich jammerschade. Na ja, wenigstens kann ich jetzt mein Kiatanisch üben. Das ist echt Ironie des Schicksals. Kiata ist der letzte Ort, den ich besuchen will. Ich hätte nie gedacht, dass mir die Sprache mal was nützen würde.«

Meine Aufmerksamkeit kehrte zu ihm zurück. »Hüte deine Zunge! Das Land, das du beleidigst, ist meine Heimat.«

»Ich wollte es gar nicht beleidigen. Aber was Magie angeht, ist Kiata eine Wüste. Und ein Land ohne Magie ist wohl kaum der Ort, an dem man sich einen Ruf als exzellenter Magier erwerben kann.«

»Bist du nicht ein bisschen zu jung, um ein Magier zu sein?«

»Bei uns beginnt man früh mit der Ausbildung«, erklärte der Junge. »Wie bin ich wohl sonst in Ai’long gelandet?«

»Vielleicht hat dich ein Drache entführt. So was soll ja häufiger vorkommen.«

»Entführt?« Er rümpfte die Nase. »Ich bin ein in der Ausbildung befindlicher Zauberer, kein Krabbenfischer auf irgendeinem kleinen Kahn. Glaubst du, es wäre so leicht, jemanden zu entführen, der die Vier Arten der magischen Verteidigung beherrscht?«

Das Selbstbewusstsein eines Zauberers hat er jedenfalls schon mal, bemerkte Kiki und legte ihren Flügel um die Perle.

Der Junge beäugte Kiki, als hätte er sie verstanden. Dann krümmte er die Finger seiner linken Hand und zuckte zusammen – durch die Spiegel sah ich, dass seine Fingerknöchel grau geworden waren. »Könnte sein, dass ich nie die Gelegenheit haben werde, mein Potenzial voll auszuschöpfen.«

»Du darfst nicht aufgeben! Es muss einen Weg hier raus geben.« Ich zerrte an meinen Fesseln, doch es war zwecklos.

»Spar dir die Mühe. Ich hab es wochenlang versucht, und ich besitze magische Fähigkeiten.«

»Ich besitze auch magische Fähigkeiten, musst du wissen.«

»Ja, hab’s schon gehört. Du bist die Bluterbin von Kiata. Beeindruckend, wie du es geschafft hast, diesen Papiervogel zum Leben zu erwecken.« Der Junge drehte seinen Kopf zur Seite. »Aber wenn du die Bluterbin bist, liegt die Hauptquelle deiner Kraft in deinem Heimatland, und das ist weit weg von hier.«

Ich runzelte die Stirn. »Woher weißt du das – dass ich meine magischen Kräfte aus Kiata beziehe?«

Der Junge zuckte die Achseln. »Ich lese viel«, sagte er schnell. Doch bevor ich ihm weitere Fragen stellen konnte, fügte er hinzu: »Das hat mir allerdings auch nicht geholfen. Selbst wenn ich diesen Fluch aufheben könnte, würde ich ertrinken, sobald ich die Grenzen von Ai’long passiert hätte.«

»Und wieso?«

»Na ja, zum einen, weil ich dann kein Sangi mehr hätte.«

»Sangi?«

»Das ist der Tee, den die Drachen dir eingeflößt haben, damit du unter Wasser atmen kannst.« Der junge Magier rümpfte die Nase. »Ein fürchterlich bitteres Gebräu, schlimmer als Nanduns Tränen. Aber zurück zum Thema. Die Gewässer jenseits der Grenzen sind nicht verzaubert wie diese hier. In denen kann ich nicht einfach umhergleiten, als würde ich auf einer Wolke schweben. Ich müsste richtig schwimmen, um nicht unterzugehen, und das habe ich nie gelernt.«

Kiki schlug ungläubig mit den Flügeln. Er kann nicht schwimmen und ist aus freien Stücken ins Drachenreich gekommen?

»Gib nicht auf!«, sagte ich. »Mein Freund ist ein Prinz von Ai’long. Er kann helfen.«

»Das bezweifle ich. Er ist, wie Lady Solzaya, nur eine Marionette des Drachenkönigs.«

Bei der Erwähnung dieses Namens drehten die im Wasser hängenden Spiegel um uns herum sich so, dass sie den Jungen im Blick hatten.

»Lady Solzaya«, wiederholte ich. »Wer ist das?«

»Das ist die Hohe Herrin der Östlichen Meere. Und da du hier bist, hast du sie mit Sicherheit schon kennengelernt. In diesem Raum foltert sie nämlich die lästigsten Gäste von König Nazayun. Den Gefangenen vor dir hat sie in Gischt verwandelt, nachdem er seine Geheimisse preisgegeben hatte. Das war ziemlich grauenvoll. Was Flüche angeht, ist Stein der Gischt vorzuziehen.«

Ich schluckte. »Der scharlachrote Drache.«

»Hier gibt es viele scharlachrote Drachen. Diese Dame erkennt man an den Spiegelscherben um ihren Hals. Du musst sie gesehen haben.«

»Nein, sind mir nicht aufgefallen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, nicht zu sterben.«

»Dann wirst du sie beim nächsten Mal bemerken. Jetzt, wo du wach bist, wirst du mehr Sangi brauchen, um weiter atmen zu können. Es wird bald jemand kommen, um dich zu holen – sehr bald, würde ich sagen. Nazayun giert schon seit Ewigkeiten nach dieser zerbrochenen Perle.«

»Er giert danach? Er sprach davon, dass er sie zerstören will.«

»Und das hast du geglaubt?«, spottete der junge Magier. »Drachen sind an Schwüre gebunden, nicht an die Wahrheit.«

Seine Augen flackerten gelb, als er die schwebende Perle beäugte. »Ich kann verstehen, warum er so auf sie versessen ist. Sie ist anders als die anderen … Sie riecht förmlich nach Macht. Chaotischer, unkontrollierbarer Macht.«

»Aber sie ist kurz davor zu zerbrechen.«

»Vernunft hat einen Drachen noch nie davon abgehalten, auf etwas scharf zu sein, das er nicht haben kann.« Der Junge versuchte, sich an der Nase zu kratzen, konnte sie aber nicht erreichen. »Ich wollte selbst mal eine Drachenperle haben. Daher rührt auch meine Besessenheit von Ai’long.«

»Ist das der Grund, warum du hier bist?«, fragte ich. »Hast du versucht, eine zu stehlen?«

»Hältst du mich für so dumm? Ich würde niemals versuchen, eine Perle zu stehlen, jedenfalls nicht solange ich noch in der Ausbildung bin. Ich würde warten, bis ich ein erfahrener Zauberer bin.«

Die Unverfrorenheit dieses Jungen amüsierte und verblüffte mich gleichermaßen. »Warum bist du dann hier?«

»Ein Drache hat mir einen Auftrag erteilt. Er hatte von meinem Talent gehört.« Der Junge grinste. »Er gab mir Sangi und versprach, mir das Rezept und vieles mehr zu verraten, wenn ich für ihn in Ai’long etwas ausborge.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ohne Erlaubnis ausborgen?«

»Exakt. Wir Zauberer sind eigentlich nicht dazu bestimmt, gewöhnliche Diebstähle zu begehen, aber Wissen ist meine Schwäche. Schon immer gewesen. Und in Ai’long war schon seit Jahrhunderten niemand mehr. Ich konnte nicht widerstehen …«

»… und bist erwischt worden«, beendete ich den Satz für ihn. »Was passierte mit dem Drachen?«

»Das weiß ich nicht«, jammerte der Junge. »Ich Dummkopf habe ihn nie nach seinem Namen gefragt.«

Dann war er in der Tat ein Dummkopf, aber er war jung, und jetzt, wo ich seine Geschichte kannte, empfand ich unwillkürlich Mitleid mit ihm. »Hast du denn einen Namen, junger Dieb?«

»Ja, aber ich mag ihn nicht.« Er schloss halb die Augen. »Ich heiße Gen.«

»Gen«, sagte ich mit fester Stimme. »Ich verspreche dir, dich hier rauszuholen.«

Ein Auge öffnete sich wieder. »Gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst, schon gar nicht in Ai’long.«

Es war seltsam, dass er das sagte, doch ich konnte ihn nicht mehr fragen, wie er das meinte. Denn ich wurde kurzatmig, und mir strömte Wasser in den Mund, so wie es gewesen war, bevor ich das Bewusstsein verloren hatte.

Und wie als Reaktion darauf fingen die Spiegel auf nervige Art an zu klirren und zu klimpern.

»Dir geht langsam das Sangi aus«, flüsterte Gen. »Sie werden jeden Moment hier sein.«

Doch es kam niemand.

Stattdessen lösten sich meine Fesseln auf und hinter mir entstand plötzlich ein Strudel. Und ehe ich mich’s versah, wurden Kiki, die Perle des Greifen und ich von ihm eingesogen.

Kikis Schrei bildete das Echo meines eigenen stummen Schreckensrufes, während ich in einen Abgrund aus Wasser stürzte. Auf zwei Dinge konzentrierte ich mich ganz fest: meinen Atem und die Perle. Denn von beidem hing mein Leben ab.

Mein Fall wurde jäh gebremst und eine Strömung beförderte mich in aufrechter Haltung geradewegs vor den Drachenkönig.

Nur, dass er gar kein Drache mehr war. Er hatte von der Taille aufwärts eine menschliche Gestalt angenommen. Aus seiner Kopfhaut sprossen hellblaue Haare. Saphirblaue Meerseide in exakt demselben strahlenden Farbton wie seine Schuppen umfloss seinen Leib, schlängelte sich dann hinter ihm wie ein Fluss und verschmolz mit seinem langen, gewundenen Schwanz.

Mein Sternenkrautnetz hatte er sich wie einen Umhang über die Schultern gelegt. Die schimmernden Fäden darin ließen sein Herz leuchtend hervortreten; es so unerschrocken zur Schau zu stellen, war eine Demonstration seiner Macht.

Dennoch musste ihm das Netz Schmerzen bereiten. Ich fragte mich, ob ihm das gefiel.

Mir ging inzwischen auch das letzte bisschen Atemluft aus, und der Sauerstoffmangel ließ eine sengende Hitze bebend aus der Lunge in meine Kehle, Nase und Schläfen strömen. Bei den Göttern, ich litt Höllenqualen, doch ich hob das Kinn und versuchte, Ruhe zu bewahren. Die Perle des Greifen leistete keine Hilfe. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass Nazayun mich nicht töten würde.

Er würde mich schlicht leiden lassen … so lange wie es nur ging.

Der Blick des Drachenkönigs wurde hart und es verging eine weitere unerträgliche Sekunde. Der Todeskampf bereitete meiner vorgetäuschten Ruhe ein Ende, aber genau in dem Moment, in dem ich doch zu sterben glaubte, prügelte eine Strömung mich in eine kniende Verbeugung, und plötzlich gelangte wieder Luft in meine Lunge.

»Eure Dreistigkeit ist fast schon bewundernswert, Menschin, so unklug sie auch ist«, knurrte Nazayun. »Aber sie ist nicht das, was Euch heute rettet.«

Ich keuchte, weiterhin kniend, und verschluckte mich fast an meiner Atemluft. Vor meiner Brust baumelte die Halskette mit Seryus Perle – als hätte ich sie nie verloren.

Ich atmete ein und atmete aus, immer und immer wieder, bis das Brennen in meiner Lunge schließlich aufhörte und das erdrückende Gewicht des Ozeans nicht mehr tonnenschwer auf meinem Kopf lastete.

»Warum?«, krächzte ich.

»Mein Enkelsohn hat mich darüber informiert, dass er Euch dieses Stück seines Herzens geschenkt hat.« Der Drachenkönig strich über seinen gletscherblauen Bart. »Ihr habt Glück, Prinzessin. Denn gemäß dem Drachengesetz steht Ihr damit unter seinem Schutz.«

Ich hatte ein Eindruck, dass der Drachenkönig und ich sehr unterschiedliche Auffassungen von Glück hatten, und die Richtung, in die meine Geschicke nun gelenkt wurden, gefiel mir ganz und gar nicht.

»Die Bindungszeremonie wird unverzüglich vonstatten gehen«, sagte Nazayun. »Seid dankbar für diese Chance. Eine weitere wird es nicht geben.«

»Bindungszeremonie?«, fragte ich heiser, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte. »Was ist …?«

»Still, Shiori!« Seryu trat aus dem Dunkel hervor und hielt mir eilig den Mund zu. Dann zwang er mich zu einer erneuten Verbeugung. »Du wirst Seiner Ewigen Majestät deinen Respekt erweisen.«

Seryus Verhalten irritierte mich noch mehr als sein plötzliches Erscheinen. Ich verrenkte mir den Hals und blickte ihn forschend an. Ich wusste nicht recht, wonach ich suchte: nach Reue, Schuldgefühlen, einem Hinweis auf einen Plan? Was immer es war, ich fand es nicht.

Und das führte zu einer niederschmetternden, unleugbaren Erkenntnis: Seryu hatte mich verraten.

Ich wollte ihn schlagen, doch Seryu hielt meine Arme problemlos fest.

Seine Krallen schrammten über meine Haut. Wie sein Großvater hatte auch er seine Drachengestalt zum großen Teil abgelegt. Verschwunden waren die Schuppen, der sich schlängelnde Schwanz, die löwenartige Nase und die scharfen, spitzen Zähne – eingetauscht gegen ein menschliches Gesicht und einen menschlichen Körper. Doch Haare und Haut schimmerten noch immer in einem blassen Moosgrün, und die Krone aus Hörnern und seine Klauen hatte er in ihrem natürlichen Zustand belassen.

Schließlich ließ er mich los und nahm auch die Kralle von meinem Mund. »Wehr dich nicht«, flüsterte er mir ins Ohr, und ich konnte nicht sagen, ob es eher wie eine Bitte oder wie ein Befehl klang. Vielleicht beides.

König Nazayun beobachtete uns. »Für den Fall, dass die Menschin es nicht verstanden hat, erinnere ich dich noch einmal daran, Seryu: Dies wird ihre letzte Gelegenheit sein, mir die Perle zu überreichen. Du weißt, was passiert, wenn sie sie verstreichen lässt.«

»Ja, das weiß ich, Großvater«, erwiderte Seryu ergeben. »Ich danke dir für deine Gnade.«

»Bring sie jetzt zu deiner Mutter. Sie wird das Mädchen auf die Zeremonie vorbereiten.«

Seryu erstarrte. »Das ist nicht nötig. Ich kann Shiori selbst alles erklären …«

»Im Umgang mit diesem Mädchen ist dir nicht zu trauen«, unterbrach ihn der König. »Bring sie zu deiner Mutter. Solzaya hat eine Vorliebe für Spektakel, und das wird eines: die erste kiatanische Gefährtin seit beinahe tausend Jahren.«

Gefährtin … Bindungszeremonie. Allmählich fügte sich alles zu einem Bild zusammen, doch ich konnte keinen rechten Sinn darin erkennen. Alle möglichen Erklärungen waren zu absurd, um infrage zu kommen. Ich wich vor Seryu zurück, aber er hielt mein Handgelenk fest.

Noch während wir rangelten, bekam er rote Ohren, und der Glanz seiner Hörner verblasste. Ein deutlicheres Zeichen brauchte ich nicht.

Götter, habt Gnade mit mir, dachte ich. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihm in die Rippen getreten, aber meine Beine hatten sich noch nicht an diese albernen, ständig wechselnden Strömungen gewöhnt, und ich fürchtete, ihn gar nicht zu treffen.

Seryu verneigte sich tief vor seinem Großvater und zwang mich, dasselbe zu tun.

»Wie Ihr wollt, Eure Ewige Majestät«, murmelte er. Die Schleppe seines langen Gewands packte mich von hinten und drückte mich am Hals nach unten.

In Nazayuns kalten Augen blitzte Belustigung auf. »Ich habe Euch den Tod versprochen, weil Ihr Euer Wort gebrochen habt, Shiori’anma, und den Tod werdet Ihr bekommen. Nur nicht die Art, die Ihr erwartet habt.

Bereitet Euch auf den Abschied vor. Nach dem Bindungsritual werdet Ihr als die Gefährtin eines Drachenprinzen wiedergeboren. Eure Vergangenheit, wie Ihr sie gekannt habt, wird aufhören zu existieren, und Ihr werdet nie mehr nach Kiata zurückkehren.«

Er machte eine dramatische Pause. »Von nun an wird Ai’long Euer Zuhause sein.«

Kapitel 4

Seryu konnte von Glück sagen, dass er mich so fest gepackt hatte, denn sonst hätte ich ihn in eine der vielen rauschenden Kaskaden aus schwarzem Kristall gestoßen, an denen wir vorbeikamen. Nach meiner Erfahrung mit dem Strudel vermutete ich, dass es sich dabei um Portale handelte, und stellte mir vor, dass ich Seryu auf diese Weise auf den Grund eines Vulkans verfrachten würde.

Stattdessen musste ich mich damit begnügen, meine Nägel auf unserem Weg durch den Palast in seinen Arm zu bohren und die Haie, die die Kristallwände umkreisten, ebenso zu ignorieren wie die Krebse, die daran auf und ab huschten und uns mit ihren kugeligen kleinen Augen aus allen Richtungen beäugten.

»Gefährtin?«, zischte ich. »Das bedeutet hoffentlich nicht das, was ich vermute. Ich bin keine Konkubine, Seryu. Und schon gar nicht deine.«

Seryu zeigte kaum eine Reaktion, als sich meine Nägel in seine dicke Haut gruben. »Besser eine Konkubine als Gischt.«

Du niederträchtiges Reptil! Kiki kam aus meinem Ärmel geschwirrt und schlug dem Drachen ihren Flügel ins Gesicht. Und dich habe ich auch noch gemocht.Bring uns sofort nach Hause!

Seryu wischte sie beiseite, und sein zorniger Blick flog zu den wachsamen Krebsen. »Besitzt ihr denn gar keinen Anstand?«, knurrte er. »Ich bin ein Prinz dieses Reiches!«

Als die Krebse davonhuschten, legte er mir seine Klaue auf die Schulter und wir landeten in einem Gemach, das von blubbernden Scheiben aus Eis umgeben war.

»Du kannst mich genauso gut gleich zurück in das Verlies deiner Mutter bringen«, sagte ich. »Ich gebe die Perle nicht her.«

»Bei den Söhnen des Windes«, knurrte Seryu mich an, »kannst du nicht einmal still sein? Kannst du nicht einfach mal dankbar sein, dass ich dir das Leben gerettet habe?«

»Dankbar sein? Du hast mich angelogen!«

»Lass uns mal eins klarstellen. Du hast mich angelogen. Du hast versprochen, Großvater die Perle zu geben.«

»Ihm die Perle zu bringen, nicht sie ihm zu geben. Sie gehört ihm nicht.«

»Glaubst du denn, das kümmert ihn?« Vor lauter Ärger wurden Seryus Tasthaare ganz steif und gerade. »Mein Großvater lässt nicht mit sich diskutieren. Was glaubst du denn, warum ich sonst die Bindungszeremonie vorgeschlagen habe? Du hast ein Stück von meiner