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Die 18-jährige Soldatin Zara Senjada wird nach einer hart erarbeiteten Beförderung zum Captain nach Alcara, in die Hauptstadt von Baros, versetzt. Dort soll sie die Leibgarde des berühmten und berüchtigten Richter Brannon Tenly anführen. Ihr Herz verlangt jedoch, zuerst nach ihrem älteren Bruder Quart zu suchen, von dem sie einige Jahre zuvor getrennt wurde. Doch als Zara erfährt, dass Quart zum Tode verurteilt wurde, bricht ihre gesamte Welt zusammen. Dabei bemerkt die junge Soldatin, gefangen in ihrer Trauer, nicht einmal, wie sie mit jedem Tag im Dienste des Richters tiefer und tiefer in ein Netz aus Intrigen und Lügen gezogen wird. Between Shades of Justice ist ein aufregendes Young Adult Fantasy-Debüt über eine junge Frau, die sich versucht in einer ungerechten Welt wiederzufinden. Dabei scheint Rache, der einzige Weg zu sein, um zu überleben. Doch heiligt der Zweck wirklich alle Mittel?
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Between Shades
of Justice
Für alle, die mir
immer zugehört haben.
Ohne euch dürfte ich diese
Zeilen nicht schreiben.
Hauptmann Quart schlich wie ein Schatten durch die Stadt. Seine schemenhafte Figur zeichnete sich vor einem einsamen Vollmond ab, der die Straßen von Alcara in ein silbriges Licht tauchte. Doch die schlammige Gasse, durch die er watete, bot genug Schutz vor den Gästen gewisser Etablissements, die sich feuchtfröhlich auf den Straßen tummelten. Sie waren ohnehin zu beschäftigt, ihre Nasen in einen Krug Bier oder zwischen die Brüste von Frauen zu stecken.
Er stellte den Kragen seines Mantels gegen die Kälte auf, die ihm schon seit Wochen im Nacken saß und die drohende Gefahr ankündigte, in die er sich mit jedem weiteren schmatzenden Schritt begab. Sein Herz flehte ihn an umzukehren und in der Wärme vor seinem Kamin Zuflucht zu finden. Doch sein Verstand wusste es nun mal besser: Er hatte sich bereits zu weit in das Spinnennetz gewebt aus Intrigen und Verrat verwickeln lassen, als dass es noch einen Ausweg für ihn oder seine Komplizen gab.
Eine eisige Brise verpasste ihm bei diesen Gedanken eine Gänsehaut und trug dabei den beißenden Geruch von Ammoniak mit sich. Er würgte und versuchte diesen Reiz zu unterdrücken, während seine Finger in die Innentasche seines Mantels glitten und ein Stofftaschentuch zu greifen bekamen, das er sich vor Mund und Nase presste. Ein minziger Geruch vertrieb den fürchterlichen Gestank und jagte ihm stattdessen die Tränen in die Augen. Er blinzelte stark, um wieder eine klare Sicht zu erhalten.
Am Ende der schmalen Gasse bog er scharf nach rechts auf eine breite Straße ab und verlangsamte sein Tempo, passte es dem betrunkenen Wanken der Passanten an, um nicht aufzufallen. Dabei musste er aufpassen, auf dem schlüpfrigen Pflaster nicht selbst auszurutschen.
Auf der breiten Hauptstraße brannten die Laternen nur noch vor den schäbigen Hafentavernen und Freudenhäuser des westlichen Hafenteils, um ihre Gäste anzulocken wie Motten. Die Lichter von Annelies Haus der Vergnügungen jedoch würden die eingeschlagenen Fenster nie wieder erhellen. Das Gebäude, dessen Fassade von schwarzem Ruß überzogen war, stand in vorderster Reihe und war dazu bestimmt eines Tages einzustürzen. Denn das windschiefe Dach des ehemaligen Freudenhauses wurde nach dem Brand von angesengten Dachpfeilern gestützt.
Mit einem letzten flüchtigen Blick nach rechts und links vergewisserte Quart sich, dass niemand ihn mit besonderem Interesse beobachtete, bevor er mit einem einzelnen sprunghaften Schritt die wenigen Stufen erklomm und beinahe augenblicklich wie ein Geist durch die Tür verschwand.
Im Inneren war es stockdunkel, doch Quart brauchte kein Licht, um zu wissen, dass er nicht alleine war. Vorsichtig sich vorwärts tastend bahnte er sich seinen Weg tiefer hinein in den Raum, bis er gegen einen verkohlten Tisch stieß. Er klopfte. Einmal lang. Pause. Wieder einmal lang und danach folgten zwei Kurze.
„Wir sind hier, Hauptmann“, erklang eine flüsternde Stimme aus der rechten hinteren Ecke des Raums und mit ihr entzündete sich eine Öllampe. Die kleine Flamme erhellte die Gesichter von drei Männern, die sich alle um einen noch intakten Tisch scharrten.
„Sind wir vollständig?“, fragte Quart und richtete dabei das Wort an den kleinen gedrungen Mann mit der Öllampe in der Hand, bei dem es sich um seinen Leutnant Dawid handelte.
Dicht gedrängt neben dem Leutnant standen zwei weitere Soldaten, beides tapfere und blitzgescheite Männer, die unter dem Kommando des Hauptmanns dienten.
Verneinend schüttelte Dawid mit dem Kopf. Schwer ausatmend ließ sich Quart auf einen Stuhl fallen, der so aussah, als könnte er sein Gewicht gerade noch so tragen.
„Uns läuft die Zeit davon“, äußerte sich Quart halblaut und konnte dabei die Anspannung nicht gänzlich aus seiner tiefen Stimme verbannen.
„Sie denken, dass die Intriganten bald zuschlagen werden, Hauptmann?“, hakte Dawid unruhig nach.
„Ich denke, wenn wir ihnen jetzt kein Ende bereiten, wird sie niemand mehr aufhalten können!“
„Der Buchhalter wird noch kommen, vertrauen Sie auf die Götter“, versuchte der Leutnant seinen Vorgesetzten zu beruhigen.
„Das tue ich Dawid. Das tue ich.“
Gemeinsam hüllten sich die Männer in den nächsten Minuten in Schweigen, lauschten dem rauen Gelächter auf den Straßen, untermalt von dem fernen Rauschen der Wellen, die sich im Hafenbecken brachen. Immer wieder flogen die Blicke beim kleinsten Anzeichen eines Geräusches zur Tür. Doch der Buchhalter schien sich offensichtlich Zeit zu lassen.
Dann, als die Spannung kaum mehr auszuhalten war und jeden Einzelnen die Panik befiel, dass ihrem Informanten etwas passiert war, sprang die Tür mit einem heftigen Ruck aus den Angeln. Daraufhin folgte ein ohrenbetäubender Knall, lauter als jeder Donnerschlag, der die Hauptstadt bei einem Unwetter erschüttert hatte. Der Hauptmann brüllte Dawids Namen, als dieser von einem fremden, dunklen Objekt zu Boden geschleudert wurde.
„Verschwindet!“, befahl Quart schreiend, um sich gegen das Klingeln in seinen Ohren zu behaupten, das plötzlich aufgetaucht war und ihn betäubte.
Er zog das Schwert mit einem metallischen Surren aus der Scheide, stellte sich schützend über seinen blutenden Kameraden und bildete die Verteidigung zwischen der Tür und seinen flüchteten Komplizen, die durch den schmalen Hinterausgang schlüpften. Die Hände hatten sie dabei ebenfalls auf die Ohren gedrückt, um das schmerzende Klingeln zu vertreiben. Quart warf einen Blick auf Dawid, der röchelnd zwischen seinen Beinen lag. Ein schwarzes Loch klaffte auf seiner Stirn, wo Minuten zuvor noch eine schluchttiefe Sorgenfalte seine Stirn gespalten hatte. Strahlend rotes Blut floss aus der seltsamen Wunde wie teurer Rotwein an den Iden des März.
„Mein aufrichtiges Beileid, dieser Schuss war eigentlich für Sie bestimmt, Hauptmann“, entschuldigte sich eine förmliche Stimme und trat mit federnden Schritten in den Schankraum des Bordells. Dabei ächzte der verkohlte Holzboden unter den flachen Absätzen seiner polierten Stiefel.
„Diese neue Erfindung ist tödlicher als ich angenommen hatte.“
„Sie…“, knurrte er und streckte seinem Gegenüber die Klinge geradewegs entgegen. Sein Ziel war das Herz dieses Mörders.
Ein charmantes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus, ungetrübt von der ihm vorgehaltenen Waffe, denn Quart war umzingelt. Sechs bullige Soldaten drängten sich hinter dem Mann durch die eingetretene Tür, mit scharf geschliffene Klingen auf ihn gerichtet. Widerstand war zwecklos, er würde nicht schnell genug zur Hintertür gelangen und selbst wenn, musste er sicherstellen, dass niemand den zwei Geflüchteten folgte. Also atmete Quart tief ein, spannte seine harten Muskeln an, festigte den Griff um sein Schwert und war bereit für seine Kameraden zu sterben.
„Leg das Schwert hin, Quart “, sagte eine vertraute Stimme, dessen Klang Quarts Herz einen Stich versetzte.
„Ich bitte dich. Es hat keinen Sinn zu kämpfen.“
Ein zweiter Mann, annähernd so alt wie Quart, betrat den Raum und blickte ihm flehend in die dunkelbraunen Augen. Die Entschuldigung stand ihm ins Gesicht geschrieben, trotzdem machte er keine Anstalt, den rot gekleideten Soldaten den Befehl zu geben, die Waffen fallen zu lassen.
Der Hauptmann wich zurück, als wäre der junge Mann eine Flamme, an der er sich verbrannt hatte und das Schwert fiel ihm fassungslos aus den Händen.
„Nein, nicht du…“
Die eisigen Februarwinde zupften an Zara Senjadas dunklen Locken wie an den Flügeln der Raben, die sich weit über ihrem Kopf in den Himmel schraubten. Ein letztes Mal streckte sie die Nase in den Fahrtwind, schmeckte das Salz auf ihrer Zunge und lauschte dem Flattern der Segeltücher, bevor das alte Segelschiff im Hafen von Alcara einlief.
Dunkle Wellen rollten über das Ufer des westlichen Anlegers. Und während gedrungene Hafenarbeiter mit massigen Oberarmen die rauen Seile vertäuten, sodass der heftige Wellengang das Schiff nicht ungewollt auf die See hinaustrieb, lehnte Zara sich weit über die Reling, um einen ersten Blick auf die Hauptstadt von Baros zu erhaschen.
Zu ihrer Linken krönten windschiefe Ziegeldächer einfach gemauerte Häuser, die sich dicht aneinanderdrängten und wie in einem Kartenhaus einander stützten. Kaum eine Straße war gepflastert, die Wege vor ihr waren übelriechende schlammige Pfade. Im Osten bildeten ordentliche Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten und bunten Blumenkassetten den Kontrast zu dem Grau vor ihr. Dort waren die Straßen sauber und ordentlich mit hellen Steinen ausgebaut. Und über all dem erhob sich aus dem Herzen der Stadt eine Kathedrale aus so schwarzem Holz, dass man von weitem glaubte, sie wäre verbrannt.
„Anker setzten!“, befahl der Kapitän, der seine Position hinter dem Steuer verlassen hatte, um seine Männer und Passagiere von Bord zu scheuchen. Zara schulterte daraufhin ihren Seesack, trat von der Reling zurück, an der sie so viel Zeit in den letzten zwei Tagen verbracht hatte und stieg mit einem Dutzend Passagiere die rutschige Planke hinab.
Zara betrat zum ersten Mal das Festland, doch ihre Füße glaubten noch sich auf dem Meer zu befinden, da jeder Schritt schwach und wacklig war.
„Sie laufen wie unsere Matrosen nach ihrem ersten Seegang, Hauptmann Senjada“, lachte der erste Offizier und klopfte ihr herzlich auf die Schulter.
„Wann geht das vorbei?“, fragte sie den ersten Offizier und verschwieg dabei, dass sie zuvor noch nie in ihrem Leben ein Schiff betreten hatte.
„Verschwindet in ein paar Stunden wieder“, erwiderte der Offizier mit einem Zwinkern.
Zara bedankte sich für den Rat, als er sich wieder abwandte und sie für ihn nichts weiter wurde als ein Gesicht von vielen. Doch es störte sie nicht, dass man sie in einer ihr fremden Stadt einfach stehen gelassen hatte. Denn alles woran Zara denken konnte war, dass man sie in einer Woche nur noch mit Captain ansprechen würde. Captain der Leibgarde von… Von wem eigentlich?
Diese Frage hatte sie sich auf der Überfahrt von ihrer kleinen Heimatinsel aufs Festland so oft gestellt, da ein Name ihres zukünftigen Dienstherren nicht bekannt war. Sie wurde lediglich mit ihren Versetzungspapieren und dem Befehl sich bei dem Kommandanten der Stadtwache zu melden nach Alcara, der Hauptstadt von Baros, fortgeschickt.
In der zwischen Zeit hatte sich Zaras Fantasie jedoch die schillerndsten Helden ausgemalt. Mal war es ein adliger Ritter wie aus den Geschichten, die ihr Bruder früher erzählt hatte, dann war es ein gnädiger Fürst und wieder ein anderes Mal ein beim Volk beliebter Aristokrat. Doch ihre bevorstehende Beförderung war nicht der eigentliche Grund, weshalb sie eine Woche früher angereist war.
Zara stellte den Kragen ihres dunklen Filzmantels gegen die kalten Seewinde auf und schob die Hände in die Taschen. Ihre rauen Fingerspitzen befühlten seidiges Papier, das tiefe Falzspuren aufwies, wohl wissend, was der Inhalt des letzten Briefes war, bevor der Kontakt zu ihrem Bruder abgebrochen war.
Eine Adresse, mehr hatte er im vergangenen Monat nicht geschrieben. Mit der knappen Bitte, ihn so bald wie möglich auf dem Festland zu besuchen. Damals war es ihr nicht möglich sofort aufzubrechen, da sie gerade ihre Grundausbildung abgeschlossen hatte und sich erst ihren Platz in der Armee und innerhalb ihrer Kompanie erarbeiten musste. Durch ihre absolute Hingabe und Liebe zum Militär wurde sie jedoch belohnt, indem sie zur gefürchtetsten Ausbilderin ihres Stützpunktes wurde.
Doch nun hatte Zara genug von grünschnäbligen Rekruten, um so mehr freute sie sich jetzt ihren Bruder nach zwei langen Jahren, vier endlosen Monaten und fünfzehn schlaflosen Nächte wieder in die Arme zu schließen. Doch Zara stand am Rand einer überbevölkerten Stadt, hatte gerade so die Silhouette der Stadt am Wasser überflogen und wusste, sie würde sich in dem verzweigten Netz aus gepflasterten Straßen und matschigen Pfaden nur allzu leicht verirren. Ganz gleich wie viel sie sich auf ihren Orientierungssinn einbildete, sie musste nach dem Weg fragen, wenn sie ihren älteren Bruder so schnell finden wollte wie möglich. Der westliche Anleger erschien ihr jedoch nicht der richtige Ort dafür. Er war Knotenpunkt für alle Reisenden, Seefahrer und Handelsmänner, die sich in einem unaufhaltsamen Kommen und Gehen an dem Hauptmann vorbeidrückten, ohne sie dabei wirklich zur Kenntnis zu nehmen.
Zara kniff die Augen zusammen, um in dem leichten Gischtnebel, der wie ein Brautschleier über dem Hafen lag, etwas zu erkennen. Die Promenade, auf der sie stand, erstreckte sich über weite Teile der Küste gen Osten, bis hin zu den schwertscharfen Klippen, die auch auf dieser Seite die Stadt begrenzten. Hier im äußersten Ring war Zara zu weit weg vom lebendigen Zentrum der Stadt und so fasste sie den Entschluss ihre Hilfe weiter östlich zu suchen und dabei orientierte sie sich am Meer zu ihrer.
Die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten soll er mir zeigen, dachte sie und wandte den schiefen Gemäuern und schändlichen Tavernen den Rücken zu. Zara trat ihrem neuen Leben mit einem Schmunzeln entgegen und empfing es mit offenen Armen.
***
Sonnenstrahlen durchbrachen die graue Wolkendecke, trieben die geisterhafte Gischt langsam zurück aufs offene Meer und enthüllte eine Serie von Kriegsschiffen, bei deren Anblick Zara nicht anders konnte, als gaffend stehen zu bleiben. Sie legte den Kopf in den Nacken, um die größte der vier Galeeren vom verlassenen Krähennest bis hin zum glänzenden Bauch, vom Klipperbug bis zum Heck als Ganzes zu erfassen. Es war ein Koloss aus massivem Eichenholz, an dem sich nicht einmal die kleinste Alge angesetzt hatte und war verziert mit goldenen Spielereien, die keinen Zweck erfüllten, doch trotzdem fand Zara sie atemberaubend.
Die Königsbraut wippte fröhlich im Takt des seichten Wellengangs im Hafenbecken auf und ab. Erst vor kurzem war sie in See gestochen zu ihrer Jungfernfahrt, doch sie war bereits zuvor zum berühmtesten Schiff der gesamten Marine von Baros geworden. Nicht wegen ihrer aufwendigen Takelage, ihrer Größe oder den mächtigen Segeln, die eine gesamte Weizenplantage umfassten. Es war der Name, der sie so besonders machte. Denn die Königsbraut war ein Geschenk des Kronrats zum fünfundzwanzigsten Geburtstag von König Julius XI. und getauft wurde sie von dem ungeduldigen Volk, das sich sehnlichst eine Königin wünschte. So war der Name Königsbraut eine Widmung an die noch unbekannte zukünftige Königin und ein unübersehbarer Hinweis, dass es für den jungen König an der Zeit war zu heiraten. Die ausgewählten Frühlingsbräute jedoch würden erst in einem Monat am Hof eingeführt werden.
Zara reiste sich von ihrer Bewunderung los und schritt die Reihe ab. Die Arme hatte sie dabei hinter dem Rücken verschränkt, als inspizierte sie ihre Rekruten beim Appell. Auch sie hätte mit einem solchen Prachtstücke in scharlachroter Uniform und in bester Gesellschaft nach Alcara segeln können. Es hätte der Triumphzug ihrer bisherigen Karriere sein können.
Sie spürte den schwellenden Stolz in ihrer Brust bei diesem Gedanken. Es war dasselbe warme Gefühl wie an dem Tag als sie ihrem Bruder Quart in die Armee gefolgt war oder ihren ersten Sieg im Zweikampf errungen hatte.
Doch Zara hatte darauf gepocht, so viel Zeit mit ihrem Bruder zu verbringen, wie ihr Vorgesetzter ihr gewährte, weshalb ihre knittrige Uniform im Seesack verwahrt war und sie die billigste Passage gebucht hatte, die sie finden konnte.
„Es werden sich noch andere Gelegenheiten ergeben“, murmelte sie vor sich hin, wandte sich von der militärischen Pracht ab.
„Die Familie kommt vor“, flüsterte sie ihr Mantra vor sich hin und mischte sich unter das bunte Gedränge des östlichen Anlegers.
Das Leben auf dieser Seite des Hafens erblühte und gedieh wie Weizen in einem besonders guten Sommer. Männer, Frauen, Junge und Alte fluteten die gepflasterten Straßen und scharrten sich um die verschiedensten Stände, an denen man lautstark feilschte oder sich freundlich unterhielt.
Die Luft war erfüllt von einem fischigen Geruch, der nicht vom Meer davon gespült werden konnte. Jedoch waren da auch verlockende Düfte, die Zara an der Nase kitzelten und sie anflehten ihnen zu folgen. Gewürze, frische Schnittblumen und die erdrückende Süße eines Parfümstandes vermischten sich zu einem einmaligen Geruchserlebnis, dass es wert war zu erkunden. Und mit Freude hätte Zara sich ihrer Neugier, das Unbekannte zu entdecken, unterworfen. Allerdings zog die Sehnsucht nach ihrem Bruder sie die belebte Straße weiter hinauf.
Zara blickte im Gehen auf den zerknitterten Brief, den sie aus ihrer Manteltasche gezogen hatte und nun in den Händen hielt. Der schiefe Federschwung und die tintenfleckigen Buchstaben, standen im Gegensatz zu ihrer reinlichen Handschrift, versicherten ihr aber, dass es ihr Bruder war, der diese Zeilen geschrieben hatte. Zara erinnerte sich an die unzähligen Male, als einer seiner Briefe sie erreicht hatte, wie oft sie den Inhalt gelesen hatte und ihr Herz wieder und wieder vor Glückseligkeit übergelaufen war.
Nun konnte sie nach all der Zeit endlich wieder die Stimme ihres Bruders hören, deren Klang nur noch flüchtig in ihrem Kopf existierte. Und Zara erkannte, all die Freuden, die Alcara zu bieten hatte, waren nichts mehr wert, wenn sie ihrem Bruder erst einmal gegenüberstand. Er war der letzte Lichtstrahl in ihrem Leben, nach dem Verschwinden ihres Vaters und dem Tod ihrer Mutter.
Ihre Finger krallten sich in das dünne Papier, ballten sich zu frustrierten Fäusten wegen der Gefühle, die in ihr aufstiegen und juckten wie eine alte Narbe und zerrissen dabei beinahe die kostbare Adresse.
Ein brauner, unscharfer Fleck trat in ihr Blickfeld, der langsam die Gestalt eines Seemanns annahm. Hastig wischte Zara sich mit ihrem Mantelärmel über die feuchten Augen, als das Gewicht einer breiten Hand ihre Schulter hinunterdrückte.
„Alles in Ordnung Mädchen, hast du dich verlaufen?“, fragte der Seemann, dessen Stimme an kalten Ruß eines abgebrannten Kaminfeuers erinnerte. Ein breites schiefes Lächeln verzog sein wettergegerbtes Gesicht und dehnte den fünfzackigen Stern, der unterhalb des linken Auges auf seine Wange tätowiert war.
Sie hatte diesen Stern auf jedem Segel und Schiff entdeckt, das hier im Hafen ankerte. Es war das Symbol der Kinder des Himmels. Sie waren die Gottheiten, die den Himmel beherrschten und das Gegenstück zu ihrer Mutter Iden, die Erde, bildeten. Sagitarri, der Wegweiser auf hoher See und Andromeda, Schutzpatronin der Seefahrer und Reisenden, waren nur zwei von vielen, die über unseren Köpfen wachten.
„Nein, nicht wirklich. Ich brauche Hilfe“, antwortete sie aufrichtig und streckte ihm den Brief entgegen, „Ich suche diese Adresse. Wissen Sie, wo das ist?“
Der Seemann entriss Zara den Brief, den sie ungern hergab. Grübeln fuhr er sich über den rasierten Schädel und klemmte sich die verfilzte Wollmütze unter den Arm.
„Natürlich, ist `ne nette Gegend“, pfiff er staunend. Sie streckte die Hand aus und holte sich den Brief genauso schnell wieder zurück, wie sie ihn verloren hatte.
„Können Sie mich da hinbringen?“
Der Seemann mit dem Gesichts Tattoo nickte und streckte seine offene Hand fordernd aus. Zara glaubte fälschlicherweise, er bot ihr seinen Arm an, doch in seinen wässrigen grauen Augen funkelte die reine Gier. Er schien zu sagen: kein Geld, keine Diensterfüllung. Und selbst die anständigsten Menschen würden sich verkaufen, solange der Preis nur stimmte.
Zara verzog das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse, während ihre Finger widerwillig auf Brusthöhe in die Innentasche ihres Mantels glitten und sie dem Seemann zwei runde Münzen entgegen schnippte.
Die Münzen waren geprägt aus billigstem Kupfer, kaum des Königs Profil würdig, das auf der Rückseite abgebildet war, eben unnützes Kleingeld. Jedoch konnte er sich dafür ein schales Bier in einer der Hafenspelunken kaufen und das musste Lohn genug sein.
„Wollen wir, Gnädigste?“
Mit einem einladenden Lächeln streckte der Seemann ihr galant wie ein feiner Herr der Oberschicht seinen breiten Arm entgegen, den Zara keine noch so kurze Sekunde erwog anzunehmen. Stattdessen stiefelte sie festen Schrittes an ihm vorbei und rief spöttisch: „Nach ihnen, Gnädigster!“
Das Haus ihres Bruders hatte eine grüne Fassade. Es war nicht dasselbe frische Grün wie das der unschuldigen Blätter, die aus den Blumenkästen vor seinem Fenster hervorragten, sondern das gedeckte Grün einer ausgetrunkenen Rotweinflasche. Zara fand, dass es etwas Geheimnisvolles an sich hatte.
Auf dem Kiesweg, der durch den kleinen Vorgarten zur Haustür führte, übernahm das Unkraut die Überhand und wucherte als hätte man sich seit Wochen nicht darum gekümmert. Zara saß auf den brüchigen Treppenstufen, den Kopf in die Hände gestützt und starrte auf die grünen Büschel zwischen ihren Füßen hinab. Sie zählte jedes einzelne Blatt, während sie mit ihrem Bein hektisch auf und ab wippte, denn sie konnte genauso wie vor einem wichtigen Kampf nicht stillsitzen. Beinahe hätte sie ihr Schwert aus dem Seesack gekramt, nur um das tröstliche Gewicht ihrer Klinge in den Händen zu wägen.
Denn sie hatte geklopft, sie hatte durch die verhangenen Fenster geblickt und sie hatte einen seiner Nachbarn gefragt. Sie hatte gewartet und wartete immer noch auf ihren Bruder, dessen Dienst scheinbar nie enden wollte. Jedes Mal, wenn Zara hörte, wie eine trabende Pferdekutsche in der Nähe zum Stehen kam, riss sie den Kopf in die Höhe, um festzustellen, dass es nicht er war, der Ausstieg. Dieses Spiel spielte sie nun schon seit Stunden und während die Nachmittagssonne sich dem Horizont näherte, um dahinter gänzlich zu verschwinden, hatte Zara endlich genug. Sie überlegte ihren Bruder am Hafen zu suchen, obgleich ihr dieses Unterfangen unmöglich erschien trotz der blutroten Uniformen, die die Stadtwachen trugen. Denn die Wellen spülten stündlich zu viele Menschen an Land. Zara kannte nur noch einen Ort, an dem sie nach ihm suchen konnte.
***
Das Forum Justicare war ein weitläufiger Platz im Herzen von Alcara und bildete den Vorhof der hölzernen Kathedrale, eines der wichtigsten Heiligtümer des Landes. Die Platten unter ihren Füßen waren rutschig, galt gelaufen von Generationen von Menschen als Zara das Forum betrat und innig hoffte das zu finden, was sie suchte.
Betagte Priester der hölzernen Kathedrale spazierten an ihr vorbei, die sie mit einem kleinen Segen grüßten. Eifrige Mönche huschten immer wieder aus dem Seiteneingang, der direkt zum Kirchenschiff führte, während Gläubige durch das Hauptportal zur Messe strömten. Zara überquerte das Forum und beobachtete all diese unterschiedlichen Menschen, die in der hölzernen Kathedrale Zuflucht fanden, nur die Stadtwachen in ihren roten Uniformen, von denen sie wusste, dass sie da sein mussten, fehlten. Denn obwohl die Kathedrale ein göttlicher Ort war, befand sich unter ihr eine Kaserne, die die gesamte Stadtwache beherbergte und die für den Schutz der Schwachen sorgte und die Gerechtigkeit des Gesetztes einforderte. Beides waren Werte, die Zara zutiefst in ihr Herz eingeschlossen hatte und es als ihre heilige Pflicht betrachtete danach zu leben.
Genauso wie Zaras Gedanken schweifte auch ihr Blick ab und schnell fand sie sich die Kathedrale bewundernd wieder. Das dunkle Holz, so schwarz als hätte man sie niedergebrannt und aus ihrer eigenen Asche wiederaufgebaut, wirkte noch bedrohlicher in der sich herabsenkenden Dämmerung. Der romantische Fassadenschmuck, geschnitzt aus demselben dunklen Holz, viel Zaras flüchtigem Blick zunächst nicht auf. Hingegen staunte sie direkt bei dem Anblick der spitzen Erker, die den Himmel erdolchten. Blau-rote Buntglasfenster fingen die letzten Sonnenstrahlen des Tages ein und spiegelten den Himmel in seinen Farben wider. Die hölzerne Kathedrale war ein Bauwerk von einmaliger Schönheit, veredelt durch die unterschiedlichen Baustile, durch die sich die Architekten der Vergangenheit versucht hatten zu verewigen und… Leichen?
Nackte Füße baumelten in schwindelerregender Höhe von der Kirchenwand. Zara musste ihren Kopf weit nach hinten lehnen, um nicht nur eine, sondern gleich drei aufgedunsene Gestalten am Glockenturm hängen zu sehen. Anstelle eines bunten Halstuchs, wie es dieses Frühjahr Mode bei den Männern war, schlang sich ein dickes Tau um ihre Hälse. Mit milchig, starren blickten sie auf die Passanten hinunter, die unberührt ihren Geschäften nach gingen.
Für Zara war der Tod nichts Unbekanntes. Sie kannte beide Seiten des Gottes Mor, der ihrer Mutter ein gnädiges Ende bereitet hatte und Insassen der Gefängnisse quälend verrecken ließ. Doch selbst sie geriet bei einem solch makabren Anblick ins Stocken. Was mussten diese Männer nur verbrochen haben, um einer direkten Todesstrafe ausgesetzt zu werden, war es doch eine so unübliche Bestrafung.
Zara verspürte ein plötzliches Mitleid mit diesen armen Schweinen und erstickte das zart glimmende Gefühl, bevor es sich wie ein Wüstenbrand in ihrem Körper ausbreiten konnte. Die Richter von Alcara haben sicherlich ein gerechtes Urteil ausgesprochen, dachte sie und vertraute auf die Sicherheit des Rechtssystems.
Zara wollte weiterziehen, ihre Suche nach ihrem Bruder fortsetzten, doch das schrille Kreischen einer Krähe erregte ihre Aufmerksamkeit und ein letztes Mal spähte sie hinauf zum Glockenturm.
Der Vogel raste mit ausgestreckten Krallen auf den gehängten Mann in der Mitte zu und pflügte ihm im Flug das Auge aus dem Schädel. Gemütlich landete die Krähe auf der Schulter des Einäugigen neben einem Schopf schwarzer Ringellocken. Zara starrte in das verbliebene Auge und stolperte über ihre Füße. Die Augen, das Haar, die Haut, alles passte zusammen. Ihre Gedanken kreisten umeinander wie zwei lauernde Tiere, während Zara aus der Ferne mit rasendem Blick das Gesicht der Leiche erforschte. Die Gase blähten bereits seinen Körper auf und machten feine Gesichtszüge unkenntlich, doch selbst der Tod vermochte nicht die wulstige Narbe an der Schläfe zu kaschieren, die sich im Haaransatz verlor. Ihr Bruder Quart baumelte mit gebrochenem Genick an der dunklen Fassade der Kathedrale und sein großes Herz würde nie wieder schlagen. Nein!
Bittere Galle füllte ihren Mundraum und sie drehte der Kathedrale abrupt den Rücken zu, presste beide Hände vor ihren Mund und schluckte schwer. Sie schaute nach rechts, dann nach links, keuchte schwerfällig, wie nach einem Kampf, und dabei stieg ihr der schlechte Geruch ihres eigenen Atems in die Nase. Doch selbst das vermochte Zara nicht von ihrem Entsetzen abzulenken, das ihre Wirbelsäule hinaufkroch.
Zara packte den nächst besten Arm eines vorbeilaufenden Passanten und riss eine Wäscherin mittleren Alters an sich, der die frischen weißen Lacken aus den Händen glitt. Entrüstet blickte die Frau Zara an, holte Luft, um eine Schimpftirade auf dieses ungezogene Mädchen loszulassen. Zara kam ihr zuvor.
„Aus welchem Grund wurden diese Männer verurteilt?“
„Geht es dir gut, mein Kind?“, fragte sie und betrachtete Zara mit einer Mischung aus Verärgerung und Sorge.
Zara überging ihre Frage, verstärkte ihren Griff um das Handgelenk der Wäscherin und deutete hektisch auf den Glockenturm. „Ich will wissen, warum diese Menschen hängen!“, brach es harsch aus ihr heraus.
Die Frau folgte der Richtung in die Zaras Finger zeigte. Ihre Lieder flatterten überrascht, als bemerkte sie die Toten erst jetzt.
„Hochverräter“, antwortete sie in einem schnippischen Ton und stieß Zara verstört von sich, um eilig davon zu stolpern.
Taumelnd, ohne den Halt der Frau, blickte Zara in den dunklen Himmel hinauf. Sie atmete so schnell und tief ein wie sie konnte, doch es strömte keine Luft in ihre Lungen. Panisch kratzte sie mit den Fingern über ihre Kehle, keuchte und rang um jedes bisschen Sauerstoff. Zara ertrank, ertrank, obwohl das Meer weit weg war und sie konnte nicht dagegen ankämpfen.
Der Boden unter ihren Füßen kam näher. Um sie herum drehte sich alles, verschwamm vor ihren Augen, denn ihr Kopf war unter Wasser. Und mit einem markerschütternden Schrei, den man noch in der ganzen Stadt hören sollte, ging das Waisenmädchen zu Boden.
Die Wärme schloss Zara in die Arme und hüllte sie in die Geborgenheit ihrer lieben Mutter. Sie schmiegte ihre Wange an ihren weichen Busen und Mutter zog sie ganz nah an sich, um sie dann nie wieder loszulassen. Zara schwebte in vermeintlicher Glückseligkeit als sie so dastand, fest geklammert an die Mutter, die ein Anker für sie war.
„Schließt mich nicht aus!“, forderte die Stimme ihres älteren Bruders lautstark, ebenfalls in die Umarmung aufgenommen zu werden. Mit einem herzlichen tiefen Lachen, deren Vibrationen Zara unter ihrer Wange spürte und ihren ganzen Körper mit Liebe erfüllte, streckte sie einen Arm nach Quart aus. Zara kuschelte sich weiterhin an ihre Mutter, die Augen fest geschlossen, als er einen Arm fest um sie legte. Doch die plötzliche Kälte, die durch den Stoff ihrer Leinenkleidung drang, fühlte sich nicht richtig an. Sie hob den Kopf von der Brust und verdrehte ihren Kopf, um einen Blick auf ihren Bruder zu erhaschen.
Quarts Kopf hing schief da, seine braune Haut blutleer und ohne den Glanz des jugendlichen Esprit. Ein paar leere Augenhöhlen in einem angeschwollenen Gesicht starrten sie an und doch wieder nicht. Der süße Duft der Verwesung haftete ihm an wie ein teures Parfüm. Zara schrie. Plötzlich erdrückt von der ersehnten Umarmung, schubste sie ihn von sich. Quart sank zusammen wie eine Strohpuppe, ganz langsam auf die Knie und sein Oberkörper traf mit einem lauten Rumpeln auf die Holzdielen. Die Leiche ihres Bruders lag bäuchlings vor ihr. Der warme, weiche Körper ihrer Mutter verschwand unter ihren Händen, löste sich einfach in Luft auf und ihr Vater würde nicht kommen, um sein kleines Mädchen aufzufangen.
Zara riss die Augen auf und schnappte nach Luft, während sie sich ruckartig auf dem dunkelgrünen Samtsofa erhob. Ihr schmerzte der Kopf, sie fühlte sich ganz benommen als sie in das knisternde Feuer blickte, das fröhlich in einem gemauerten Kamin hin und her tanzte. Keuchend fuhr sie sich über die schweißfeuchte Stirn, blinzelte und versuchte sich an das letzte zu erinnern, was sie wusste. Doch da war nur das Bild von Quart, eingebrannt in ihr Gedächtnis als hätte man ihr den glühenden Schürhaken neben dem Kamin in den Schädel gerammt.
„Iden sei gepriesen! Ich dachte, du würdest nie aufwachen.“ Die Stimme kam von weiter hinten im Raum. Zara kniff die Augen in dem Zwielicht zusammen und ließ den Blick vom Sofa aus auf Wanderschaft gehen, auf der Suche nach dem Ursprung der seltsam vertrauten Stimme.
Der kleine Raum war mit einem sehr edlen Teppich ausgelegt, aber auch sehr protzig. Das schmale Sofa, besetzt mit Messingperlen, die beim Schlafen ihre Spuren auf Zaras Gesicht hinterlassen hatten, und der Kamin waren dekadente Möbel. Ein Zimmer wie gemacht für einen jungen Fürsten. Jedoch passte die Sammlung an verbeulten Schilden, Speeren und Schwertern nicht in dieses Bild. Suchend lehnte sich Zara weit über die Lehne des Sofas.
Eine große lange Gestalt glitt katzengleich aus den Schatten und lehnte sich gegen die Kante eines massiven Eichenholzschreibtisches, der die gesamte Einrichtung dominierte. Mitfühlend blickte der junge Mann aus großen blauen Augen auf Zara hinab.
„Kommandant!“, rief Zara überrascht und sprang auf, stand vor ihm stramm und schlug sich zum Gruß die Faust aufs Herz. Diese unerwartete Bewegung löste einen erneuten Schwindelanfall aus, das Zimmer um sie herum drehte sich.
„Rühren Hauptmann!“, forderte er sie auf, seine Stimme brach jedoch ab, noch bevor er den Befehl zu Ende sprechen konnte.
Automatisch übernahm ihr Körper für Zara, die sich der Lage immer noch nicht voll bewusst war, und stellte sich breitbeinig hin, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
„Wo bin ich?“, fragte sie zögernd, die Gedanken in ihrem Kopf rasten. Sie erkannte diese Umgebung nicht.
„In meinen privaten Gemächern der Kaserne“, antwortete der Kommandant nüchtern, darauf vorbereitet diese einfachen Fragen zu beantworten.
„Wie bin ich hierhergekommen?“
„Wachen fanden Sie bewusstlos auf dem Forum Justicare auf.“
Zara runzelte die Stirn, zuckte dabei zusammen als sich die kleine Platzwunde dehnte und starrte aus dunklen, traurigen Augen zu ihrem Kommandanten auf, während sie versuchte die Worte zu formen, die sie nicht aussprechen wollte.
„Was ist passiert?“
„Er hat uns alle hinters Licht geführt“, seufzte der Kommandant.
„Bereits seit Monaten arbeitete er mit einer Gruppe aus dem Untergrund gegen unsere Majestät König Julius“, seine Finger schlossen sich fester um die Schreibtischkante, als er ohne zu zweifeln, das ansprach, wovor Zara sich fürchtete - die Wahrheit.
Zara holte tief durch die Nase Luft und verschloss die Augen bei den Worten des Kommandanten. Ihr wurde schlagartig heiß. Die Wärme des Feuers, die ihr vor wenigen Augenblicken noch tröstlich vorkam, verzehrte sie nun. Ihr Kopf schmerzte noch mehr, als ihr Tränen in die Augen traten.
„Habt ihr das verstanden, Hauptmann Senjada?“
Sie antwortete nicht.
„Zara?!“
Ein schmerzerfülltes Schluchzen brach aus ihrer Kehle und Tränen sprudelten über ihre Wangen wie Blut aus einer frischen Wunde, als sie den Kampf gegen sich selbst verlor. Doch tapfer hielt sie sich aufrecht und stellte sich der Welle aus Schmerz und Kummer.
„Man hat ihn in einem versteckten Hinterzimmer gefangen genommen, kurz darauf ist er verurteilt worden.“ Kommandant Illias löste sich von seinem Platz und kam Zara ein paar Schritte entgegen.
„Ich… Ich … es tut mir leid Zara, aber Quart hat nicht nur die Krone, sondern auch uns hintergangen!“
„Er war ein guter Mann“, murmelte sie, ihre Stimme heißer, kaum mehr als ein Flüstern, das vom Knistern des Feuers beinahe gänzlich verschluckt wurde.
Illias zog verwirrt die blonden Augenbrauen zusammen.
„Er war ein guter Mann!“, schrie Zara, hob den Kopf und trat dem Kommandanten mit tränenverschmiertem Gesicht entgegen.
„Er war ein Verräter“, erwiderte er und der Klang seiner Stimme war so hart wie der Stahl einer Schwertklinge.
„Du hast ihn sterben lassen, es ist deine Schuld!“ Zara ging mit erhobenen Händen auf Kommandant Illias zu.
„Was hätte ich denn tun sollen?“
„Er war dein Freund Illias, du warst für ihn wie ein Bruder“, heulte sie und schmiss sich in die Arme des langjährigen Jugendfreunds ihres Bruders. Illias war auch für Zara wie Familie, trotzdem hatten beide eine stille Übereinkunft getroffen, in der Öffentlichkeit miteinander umzugehen, wie es sich für Kommandant und Soldat gehörte. Doch in diesem Moment brauchte Zara einfach jemanden, der sich vertraut anfühlte.
Illias riss die Augen weit auf, als sich Quarts kleine Schwester verzweifelt an ihn klammerte und ihre Tränen seine Uniform tränkten. Die Arme von ihrem zitternden Körper gestreckt, schaute er auf ihren schwarzen Schopf hinab, spürte das Beben ihrer jämmerlichen Schluchzer und überlegte mit strategischem Geschick, wie er sich verhalten sollte. Denn zum ersten Mal sah Illias sie weinen, eine Tatsache, die er bis zu diesem Tag für unmöglich gehalten hatte. Zuerst klopfte er Zara auf die Art und Weise wie er sein Pferd loben würde, auf den Rücken. Danach legte er die Hände auf ihre Schulterblätter, die sich spitz in seine Handflächen bohrten, bis er sie schließlich in seine Arme schloss.
Ein heimeliges Gefühl befiel ihn und erdrückte sein Herz so sehr, dass es ihm Schmerzen bereitete. Er betete das Kinn auf ihre Schulter und zog sie noch enger an sich, doch der Schmerz verschwand nicht. Illias war nun nah genug, um ihren warmen, hektischen Atem auf seinen stoppeligen Wangen zu verspüren und hörte, wie sie mit jedem Atem immer wieder flüsterte: „Mein Bruder ist unschuldig, er ist ein guter Mann“. Er wünschte, er könnte Zara etwas anderes sagen. Doch da war nur noch sein Trost, den er ihr spenden konnte, um sie zu beruhigen und so starrte er blicklos über ihre Schulter in das Feuer.
***
Zara war irgendwann einfach in seinen Armen eingeschlafen, erschöpft von den Tränen und Gedanken, die sie quälten und auch noch im Schlaf verfolgen würden. Illias saß neben ihr auf dem Sofa, sie hatte den Kopf in seinem Schoß gebetet. Gedankenverloren strich der Kommandant ihr über das wellige Haar, das wie einer seiner seidenen Vorhänge ihr Gesicht verdeckte, während er überlegte, wo er sie unterbringen sollte. Ein Gemeinschaftszimmer würde sie nicht vor neugierigen Blicken und fremden Kameraden schützen.
Ein Einzelzimmer? Illias schürzte die Lippen, seine eigene Idee missbilligend. Denn steckte er sie allein in ein Zimmer, könnte er ihr genauso gut strahlend einen Strick und dazu eine Flasche Rum in die Hand drücken. Und Illias wollte sie nicht auf dem Gewissen haben. Dann gab es da noch sein Bett, in dem sie sicher und beschützt wäre.
Und ihr Ruf ruiniert, sollte jemand sie dort finden, kam es ihm in den Sinn. Kommandant Ilias stieß einen langen Seufzer aus und fuhr sich über das lange, schmale Gesicht.
„Also dann das Einzelzimmer“, beschloss er und schwor sich gleichzeitig, sie außer zum Schlafen nie lange allein zu lassen.
Behutsam hob er sie vom Sofa, denn in diesem Moment sah sie nicht aus wie die stahlharte Soldatin, die mit einem Blick dutzende Rekruten dazu brachte sich vor Angst einzunässen. Ihre schlafenden Gesichtszüge wirkten weicher, weniger angespannt und ihre geschwungenen Lippen waren einmal nicht zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
Ohne viel Aufsehen zu erregen, trug Illias sie durch die Gänge der hölzernen Kathedrale, von den Offiziersquartieren hin zu den Mannschaftsunterkünften, wo er ein leeres Zimmer für sie fand. Dort, am Ende eines stillen Flurs in der Nähe der Speisehalle, bettete er sie auf die schmale Pritsche und flüsterte ihr im Schlaf ins Ohr.
„Quart stand nicht auf unserer Seite. Er stand auf der falschen Seite…“
Zara umklammerte ihre nackten Beine, stützte ihren Nacken auf den Rand der Wanne und betrachte die Steindecke genauso aufmerksam wie andere die Sterne beobachtete. Kleine Dampfwölkchen stiegen von ihr auf an den Stellen, wo die kühle Luft der Kammer ihre hitzige Haut küsste. Sie saß einfach da, lauschte dem Tropfen ihrer feuchten langen Haare, das wie die Schritte im Kasernenflur vor ihrer Tür widerhallte.
Das graue Morgenlicht drang durch ein schmales Oberlicht, erhellte ihre Kammer schwach und die Frühpatrouille bestritt bereits den ersten Kontrollgang des Tages. Ansonsten war es erstaunlich ruhig, fast schon friedlich. Nur in Zaras Kopf nicht. Innerlich schrie und brüllte sie, alles nur um das hässliche Krächzten der Krähen aus ihren Gedanken zu verjagen - vergebens. Dieses gehässige Geräusch zerpflückte ihren Geist Stück für Stück, genauso wie sich diese hässlichen Vögel an den Leichen bedient hatten. Zara fand keine Ruhe. War sie wach, wollte sie schlafen, denn sie fühlte sich kraftlos. Allein der Aufwand in die Wanne zu steigen hatte sie ermüdet. Doch der Schlaf brachte keine Erholung, denn sobald sie die Augen schloss, verstummten die Krähen und wurden abgelöst von Albträumen, aus denen sie nicht aufwachen konnte.
Zara kniff die Augen zusammen und glitt tiefer ins Wasser, sodass ihr ganzer Körper bedeckt war. Ihr Nacken rutschte vom Wannenrand, während sie weiter in ihr Bad eintauchte. Ihr Kinn berührte die Wasseroberfläche und ohne einen tiefen Atemzug zu tun, tauchte sie mit dem Kopf Unterwasser. Sie ließ sich von ihrem Körpergewicht auf den Grund der Wanne ziehen und lag friedlich wie ein schlafendes Kind da.