Bevor Erinnerung Geschichte wird - Simone Müller - E-Book

Bevor Erinnerung Geschichte wird E-Book

Simone Müller

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Beschreibung

Simone Müller porträtiert 14 Jüdinnen und Juden sowie eine Zeugin Jehovas, die zwischen 1923 und 1942 geboren wurden und als Kinder oder Jugendliche Hitlers Terrorregime überlebten. Sie gehören zur jüngsten Überlebenden­Generation und zur einzigen, die jemals erfährt, wie sich Verfolgung, Flucht oder Inhaftierung im Konzentrationslager achtzig Jahre später auf das Leben im Alter auswirken. Die Erfahrungen der Porträtierten, die aus unterschiedlichen europäischen Ländern und sozialen Schichten stammen, decken ein breites Spektrum ab. Die Zeitzeugen erzählen zum Beispiel von einer unbeschwerten Kindheit in einer grossen Schneiderfamilie, vom Aufwachsen als Einzelkind oder von Jugendjahren in einer jüdischen Familie, in der Religion kaum eine Rolle spielte. Unterschiedlich ist auch, wie sie überlebt haben, versteckt in einem katholischen Kloster, auf der Flucht in den Bergen, im Vernichtungslager Auschwitz. Das heutige Umfeld dieser Menschen kontrastiert ihre traumatischen Erinnerungen drastisch. Mit einem Vorwort von Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin, und Eva Lezzi, Privatdozentin an der Universität Potsdam und Autorin.

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Seitenzahl: 252

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Wie gehen die Menschen, die das nationalsozialistische Terrorregime überlebt haben, im 21. Jahrhundert mit ihren Erfahrungen um? Wie beeinflussen Flucht und Deportation, der frühe Verlust von Eltern oder Geschwistern das Leben im hohen Alter?

Simone Müller porträtiert 14 Jüdinnen und Juden und eine Zeugin Jehovas, die zwischen 1923 und 1942 in zehn verschiedenen europäischen Ländern geboren wurden und seit langem in der Schweiz wohnen. Sie gehören zur jüngsten und gleichzeitig zur einzigen Überlebenden-Generation, die jemals über eine Zeitspanne von acht Jahrzehnten zurückblickt. Ihre Geschichten halten Erinnerung und Alltagsgegenwarten fest, bevor diese Geschichte werden.

Foto Mara Truog

Die Autorin

Simone Müller, 1967 geboren in Boston (USA), ist Autorin und freie Journalistin in Bern. Sie studierte Germanistik und Ethnologie in Bern und Wien. Von 2003 bis 2005 lebte und arbeitete sie in London; Reportagen für Schweizer Zeitungen. Ab 2012 Recherchen zu Schweizerinnen, die vor und nach dem Zweiten Weltkrieg nach England emigrierten. 2015 veröffentlichte sie die Biografie «Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Die Geschichte der Claire Parkes-Bärfuss». Im Limmat Verlag erschien 2017 «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England».

Simone Müller

BevorErinnerungGeschichtewird

Überlebende desNS-Regimes inder Schweiz heute— 15 Porträts

Mit Fotografien von Annette BoutellierVorwort von Raphael Gross und Eva Lezzi

Inhalt

Vorwort

«Leiden spiegelt sich in der Musik»

Ein Stottern im Lautsprecher

Zentrum des osteuropäischen Judentums

Evakuierung im letzten Moment

Typhus

Baracken ohne Fundament

An der Ostfront verschollen

Eine Extraportion Kohle

Emigration in den Westen

Das Fahrrad

«Ich sehe die Welt nicht so, wie andere sie sehen»

Tagsüber existierte das nicht

Perfekt sein

120 Kilometer zu Fuss

Peitschensausen

Andere Wahrnehmung

Üben, trotz der Kälte

Musikerdynastie

Dieses Glücksgefühl

«Manche haben geahnt, wer ich bin»

Der Hass ist abhandengekommen

Nach 1945 war diese Welt ausgelöscht

Ein letzter Brief

Falsche Geburtsurkunde

Nach Deutschland

Die Angst schaut aus den Augen

Fotos aus dem KZ

Das Ausmass der Zerstörung

«Mir fehlt ein grosses Kapitel»

Der liebe Gott hielt mir den Mund zu

Tante Mama

Kriegskinder

Hunger

Das weisse Köfferchen

«Manchmal zittere ich, wenn ich daran denke»

Ein Land im Ausnahmezustand

Ich weiss nicht, wie ich heisse

Ein letztes Bild

Wir müssen weg

Was hat der alte Jude denn getan?

Erzähl, Oma

Suppe aus Schnee

Ach, ihr lebt noch

Der linke Fuss

«Ich sehe die Gesichter dieser Kinder bis heute vor mir»

Schreiben gegen die Angst

Keine eindeutige jüdische Identität

Ein Sohn des Satans

Sechzehn Stiche ohne Anästhesie

Keine Entschuldigung

Antisemitin und Faschistin

Fussball

«Ein Zufall war das nicht. Er wollte uns retten.»

Früh vorausgesehen

Öffnung im Stacheldraht

Vier Pfeilkreuzler

Russische Soldaten einquartiert

Picknick an der Donau

«Es ist ein Teil von mir»

Briefe aus der Haft

Noch zusätzlich etwas Böses

Der muss man helfen!

Im Frauengefängnis

Wir hatten es trotzdem schön

Was macht die Kleine, schläft sie viel?

«Die Gefühle von früher sind in mir»

Ein Albtraum

Versteckt

Monsieur et Madame

Weg von Europa

Was ist das, eine Jüdin?

Ruhig wie eine Statue

Immer nur überlebt

Möblierte Zimmer

Niemand kommt

«Meine Seele wird strapaziert»

Mit zwei gepackten Koffern

Grauenhafter Durst

Vier Selektionen

Keine deutschen Soldaten mehr

«Wiedergutmachung»

Mit einer Axt

Nachts zu Fuss über die Grenze

Ein wahnsinniges Glück

Zeugnis ablegen

«Schuhe wie Charlie Chaplin»

Einen Strich ziehen unter die Vergangenheit

Ein Wunder ist geschehen …

Mensch ist Mensch

Der gelbe Stern

Von den Partisanen gerettet

Flüchtlinge ohne Pass

Eine Uhr von Onkel Max

Heute bin ich glücklich

«Wir haben nie mehr aufgehört zu reden»

Er sah es kommen

Ida war mein Glück

Made in Bulgaria

Von der Schule ausgeschlossen

Bonjour Monsieur

Antisemitismus nach dem Krieg

Die alte Tunesierin

Schritt für Schritt

«Nachts ím Traum schreie ich noch immer»

150 Zentimeter gross und 25 Kilogramm schwer

Transportbefehl

Die Puppe

Riesige Schäferhunde

Eiskalte Hände

Mit alten und gebrechlichen Menschen

Was sollte man mit mir machen?

Onkel Karel

Niemals vergessen

«Da wusste ich, jetzt bin ich frei»

Wenn Gott das so will

Stoff für Militäruniformen

Explosion der Margaretenbrücke

Eine Heldin

Bombenteppich über Budapest

Das Schweizer Schutzhaus

Schüsse über die Donau

Mit einem rumänischen Pass

Eine Schnur aus Kastanien

Nachwort

Glossar

Zeittafel

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Von Raphael Gross und Eva Lezzi

In 15 eindrucksvollen Porträts erschliesst die Autorin Simone Müller die Geschichten von Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors. Es sind häufig die Nächte, in denen Erinnerungen und quälende Fragen laut werden, erzählen viele ihrer grösstenteils jüdischen Gesprächspartnerinnen und -partner. Auch Bronislaw Erlich fragt sich «nachts, wenn er wach liegt im Altersheim», was die Eltern und der kleine Bruder erlebt haben und wie sie umgekommen sind. Er vermutet, dass sie im Sommer 1942 in Treblinka ermordet wurden. Gewissheit gibt es nicht. «Die Erinnerungen im Alter sind stärker», sagt Erlich an anderer Stelle.

Es ist bekannt, dass traumatische Erfahrungen bis ins hohe Alter fortwirken und ihre Kraft und Bedeutung sich auch noch einmal verstärken können. Dies zeigt speziell das Interview mit Agathe Rona, die trotz zunehmender altersbedingter Vergesslichkeit prägende Ereignisse aus der Zeit der Verfolgung deutlich erinnert. Klar und eindringlich erzählt sie, wie sie und die Mutter mit anderen Budapester Jüdinnen und Juden in einer Pferderennbahn ausserhalb der Stadt zusammengetrieben wurden. Sie entkamen nur dank des mutigen und entschlossenen Handelns der Mutter.

Die in diesem Buch porträtierten Menschen wurden zwischen 1923 und 1942 geboren, einige sind also über neunzig Jahre alt. Ihre Ehepartnerinnen und -partner, auch andere wichtige Weggefährten, sind häufig bereits verstorben. Alleinsein im Alter gibt den Erinnerungen eine zusätzliche Wucht. «Ich kämpfe mit der Vergangenheit und mit der Einsamkeit. Jetzt im Alter noch viel mehr», so formuliert es Monique Simon. Ihre Erinnerungen zeugen von der Einsamkeit, der sie nie ganz entkommen konnte. Sie hat die NS-Verfolgung als Enfant caché in Belgien überlebt. Die Isolation, die sie im Versteck erlebte, blieb auch in der Nachkriegszeit. Die Gleichaltrigen wussten nicht, wie sie mit ihr spielen sollten. Die Eltern hatten mit eigenen Traumata zu kämpfen, zu viele waren in der Familie ermordet worden. Monique Simon, die als Pseudonym den Namen aus der Zeit des Versteckes wählte, ist kinderlos. Die Schweiz wurde nie zu ihrer Heimat. In ihrer Alterswohnung rechnet sie nicht mit Besuch, sie kann beim ersten Treffen mit Simone Müller noch nicht einmal ein Glas Wasser anbieten; es fehlt das Geschirr für Gäste. Es sind solche Beobachtungen aus den Interviewkontexten, die den schriftlich festgehaltenen Erinnerungen eine zusätzliche Dimension verleihen. Zu einer Rahmung der Gespräche tragen auch die beeindruckenden Porträtfotos von Annette Boutellier bei. Das Bild von Monique Simon zeigt eine sorgsam gekleidete Frau mit hellem Schal und Perlenohrringen, die ihr Gesicht jedoch hinter einer Fotografie des zweijährigen Kindes, das sie einst war, verbirgt. So sind uns Lesenden beide zugewandt: Das damalige Kind und die heutige Erzählerin, die – bei aller Offenheit im Gespräch – doch immer auch versteckt bleibt.

Die meisten der hier Interviewten haben die nationalsozialistische Verfolgung als Jugendliche oder Kinder überlebt. Die sogenannten Child Survivors wurden in der Forschung lange vernachlässigt, u. a. weil ihren Erinnerungen objektivierbare, historiografische Relevanz fehle. Für ein Verständnis ihrer schwierigen Situation auch nach dem Überleben fehlte wiederum ein breiteres, gesellschaftlich verankertes psychologisches Wissen.1 Die porträtierte Flora Neufeld ist wie Monique Simon 1942 geboren. Sie lebte im besetzten Holland unter falscher Identität und teilt mit anderen überlebenden Kindern ein typisches Schicksal: In der Nachkriegszeit bleibt sie zerrissen zwischen den geliebten Pflegeeltern und der fremd gewordenen Mutter.

Neben den erwähnten Fotografien bieten das Glossar und eine Zeittafel im Anhang dieses Buches eine wichtige Kontextualisierung für die Gespräche: Hier finden sich Erläuterungen zu den historischen Orten und Ereignissen – nicht nur während der NS-Zeit. So können die Erzählungen selbst auf einer persönlichen Ebene bleiben. Alle in diesem Band porträtierten Überlebenden sind erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Schweiz gekommen. Viele haben eine zweite Flucht hinter sich: Sie flohen aus Ungarn oder aus der Tschechoslowakei, sie kamen aus der Ukraine oder aus Polen. Wie Betty Brenner fühlten sie sich in der Schweiz willkommen, erlebten hier als Geflüchtete aus den «Staaten des Ostblockes» Solidarität. Nur eines wunderte und wurmte Betty Brenner: Wie konservativ die Schweiz in den 1970er-Jahren gegenüber berufstätigen Frauen war. Die Vorstellung, dass allein die Männer für das Familieneinkommen sorgen sollten, war weiterhin vorherrschend. In der sozialistischen Tschechoslowakei hatte Betty Brenner ganz selbstverständlich als Informatikerin gearbeitet, in der Schweiz sollte sie – wie für Frauen eben üblich – ihr Geld durch Schreibmaschinentätigkeiten verdienen. Dennoch überwiegt bei ihr wie bei vielen anderen der Interviewten das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der Schweiz als Aufnahmeland. David Wiener hingegen fühlt sich manchmal «fehl am Platz in der Schweiz». Über die Gewalt, die er als zwar getauftes, aber eben doch jüdisches Kind in Italien erfahren hat, kann er hier nicht sprechen; es gibt keine Zuhörerschaft. Er bleibt allein mit seinen Erinnerungen. Auch aus diesem Grund sehnt sich David Wiener zurück nach Israel, wo er für einige Jahre gelebt hat. In Israel fand er Menschen, die wie er schreckliche Erfahrungen als jüdische Verfolgte durchlitten haben. Es sind die Gespräche mit ihnen, die er in der Schweiz vermisst.

Als wir vor bald 25 Jahren an unserem Interviewbuch mit jüdischen Überlebenden des Holocaust in der Schweiz arbeiteten, stellten sich die Lebensumstände unserer Gesprächspartnerinnen und -partner anders dar. Sie standen teilweise noch mitten im Berufs- und Familienleben, und es gab jüdische Organisationen wie die Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust2, die einigen einen Gesprächskontext und Zusammenhalt bot.3 Was uns motivierte – zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Marc Richter –, Gespräche mit Überlebenden des Holocaust in der Schweiz zu veröffentlichen, war nicht zuletzt ein gesellschaftspolitischer Umstand: Damals – Ende der 1990er-Jahre – war die öffentliche Diskussion in der Schweiz, wenn es um Jüdinnen und Juden ging, praktisch ausschliesslich auf den Umgang mit sogenannten nachrichtenlosen Vermögen gerichtet. Und diese Verbindung von jüdischen Menschen und Geld erschien uns vergiftet, historisch kontaminiert. Dagegen wollten wir zumindest in Erinnerung rufen, wie das Leben von Jüdinnen und Juden in der Schweiz real verlief und wie stark die Gegenwart für die Holocaust-Überlebenden noch immer von der Geschichte geprägt war.

Das Verhältnis der Schweiz zum Holocaust hat sich verändert. 2004 trat die Schweiz der International Shoah Remembrance Alliance (IHRA) bei, seither wird am 27. Januar der Befreiung von Auschwitz gedacht. Trotzdem bleiben die Auseinandersetzungen um die Verstrickungen zurückhaltend und wirken oftmals defensiv.

Die Verbindungen zwischen der Eidgenossenschaft und dem Hitler-Regime reichten von der Flüchtlings- über die Aussenhandelspolitik, die Waffenexporte bis hin zum Kunsthandel. All diese Spannungsfelder wirkten in der Nachkriegsgeschichte fort. Erst spät brachen sie auf und es wurden Debatten geführt, die oftmals schmerzhaft sind, denn zwischen Selbstbild und Realität gab und gibt es eine Kluft. Zu erinnern ist etwa an die kontroversen Diskussionen zur schweizerischen Flüchtlingspolitik der 1930er- und 1940er-Jahre, die bereits früh durch das Buch und später den Film «Das Boot ist voll» ausgelöst wurden.4 Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus spielte in diesen frühen Diskussionen nur eine geringe Rolle. In den 1990er-Jahren kam es schliesslich zu einer längst fälligen Aufarbeitung und Revision des unhaltbaren Umgangs mit den erwähnten «nachrichtenlosen Vermögen», aufgrund dessen Jüdinnen und Juden bis dato der Zugang zu ihrem auf Schweizer Banken liegenden oder beurkundeten Erbe vielfach mit endlosen bürokratischen Hindernissen praktisch verweigert worden war. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) legte zu all diesen Themen 2002 den «Bergier-Bericht» vor, der 25 Bände und einen Schlussbericht umfasst.

In den letzten Monaten sind die Schweizer Verstrickungen in die Aufrüstung Nazi-Deutschlands erneut ins Zentrum der Diskussionen gerückt – nicht zuletzt aufgrund der im Kunsthaus Zürich gezeigten, aus privatem Eigentum stammenden Sammlung Emil Bührle. Eine Sammlung, die gleich zwei sehr problematische Elemente in sich vereinigt: Einerseits stammt das Geld für ihren Ankauf aus Waffengeschäften Emil Bührles mit Nazi-Deutschland. Andererseits ist die Provenienz der Bilder, ihr rechtmässiger und nicht aufgrund von NS-Verfolgung erfolgter Verkauf an Bührle, vielfach umstritten. Heftig tobt ein Streit über den Umgang mit Kulturgütern, die aus NS-verfolgungsbedingtem Verlust stammen. Fragen von Eigentum, Besitz, Recht und (vergangenem) Unrecht werden vor dem Hintergrund des Holocaust in der Schweiz mit hoher Emotionalität erörtert.

Das Interesse an den wenigen Überlebenden beschränkt sich in der heutigen Schweiz hingegen nach wie vor primär auf offizielle, ritualisierte Gedenkveranstaltungen oder auf Zeitzeugen-Gespräche an Schulen. Die Dringlichkeit bleibt bestehen, ihre Geschichten an eine breite Öffentlichkeit zu bringen – auch für Zeiten, in denen persönliche Auftritte der Überlebenden nicht mehr möglich sein werden. Das vorliegende Buch geht noch einmal auf die persönlichen Erfahrungen von Menschen ein, die das Grauen direkt erlebt haben und es seit über achtzig Jahren mit sich tragen, die mit ihren schmerzlichen inneren Bildern und Verlusten Tag für Tag leben. Die vielfältigen Erinnerungs-Geschichten können helfen, die Verfolgten und Überlebenden nicht aus den Augen zu verlieren und die Schweiz in ihrer ambivalenten Rolle – als ersehntes Zufluchtsland und politisch verstrickter Staat – wahrzunehmen.

1Hierzu siehe Eva Lezzi, «Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah», Köln 2001; Rebecca Clifford, «‹Ich gehörte nirgendwohin.› Kinderleben nach dem Holocaust», Berlin 2022 (Original: «Survivors – Children’s Lives After the Holocaust», New Haven 2020).

2Zur Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust und ihrer offiziellen Auflösung siehe den Dokumentarfilm von Peter Scheiner, «Ende der Erinnerung?», Schweiz 2017.

3Raphael Gross, Eva Lezzi, Marc R. Richter (Hg.), «‹Eine Welt, die ihre Wirklichkeit verloren hatte …›. Jüdische Überlebende des Holocaust in der Schweiz», Zürich 1999.

4Alfred A. Häsler, «Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933–1945», Zürich 1967; Markus Imhoof (Regie), «Das Boot ist voll», Schweiz 1980.

«Leiden spiegelt sich in der Musik»

Mark Varshavsky, Basel.*1933 in Melitopol, Ukraine

Er sitzt vor einem antiken Holzschrank mit Glastüren, die Augen halb geschlossen. Im Schrank stapeln sich Musiknoten, gut sichtbar durch die transparenten Scheiben. Mark Varshavsky tut, was er fast sein ganzes Leben lang getan hat, er spielt Cello. Nur in der kasachischen Steppe hat er nicht Cello gespielt. In Kasachstan ging es ums Überleben.

Im Musikzimmer steht noch ein zweiter grosser Schrank mit Noten und ein Schreibtisch mit Computer und Bildschirm, an der Wand hängt eine einzige Schwarz-Weiss-Fotografie: Rosalia Chainowskaja, seine Mutter. In der Wohnung von Mark Varshavsky gibt es nur wenige Bilder.

Zur Familie gehören noch: Alexander Varshavsky, der Vater, und Ilya, der vier Jahre jüngere Bruder. Der Vater ist im Krieg gefallen; er spricht kaum über ihn. Alexander – so heisst auch Mark Varshavskys Sohn.

Basel, 21. September 2020, der Bogen streicht über die Saiten, die Augen sind jetzt ganz zu. Er spielt auswendig, Johann Sebastian Bach.

«Schmerz», sagt Mark Varshavsky, 87, «verändert die Musik». Was er erlebt hat in Kasachstan, prägt die Art und Weise, wie er spielt.

Ein Stottern im Lautsprecher

Er war sieben Jahre alt, als er Cello zu spielen begann. Drei oder vier Monate lang, dann kam der Krieg. Wenn die Cellostunde gut gelaufen war, hatte die Mutter ihm jeweils ein Stück vom «allerbesten» Kuchen gekauft. «Aber ich wurde verwöhnt und wollte dann jedes Mal Kuchen, nach jeder Stunde!» Mark Varshavsky, dunkle Haare, dichte buschige Augenbrauen, hält den Kopf ein wenig schief, lacht.

«Vor dem Krieg»: So beginnen viele seiner Sätze. «Vor dem Krieg», das heisst: vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Er erinnert sich genau an diesen Tag. «In den Innenhöfen vieler Häuser standen trichterförmige Radiolautsprecher. Sie waren selten eingeschaltet, nur, wenn es wichtige Mitteilungen gab. Aber dann hörte man das überall.» Mark lebte mit den Eltern und dem Bruder in der ostukrainischen Stadt Charkiw und war draussen auf der Strasse, als am frühen Nachmittag plötzlich die stotternde Stimme von Wjatscheslaw Molotow aus den Lautsprechern dröhnte. Der Aussenminister hatte am 23. August 1939 für die Sowjetunion den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt unterzeichnet. Molotow stotterte auch unter normalen Umständen, «aber diesmal stotterte er vor Aufregung noch viel mehr». Er sprach von «unseren besten Freunden», die in der vergangenen Nacht überraschend in die Sowjetunion eingefallen seien. Noch am gleichen Tag kamen die ersten Flugzeuge: «So begann der Krieg.» Wenn sich zwei Lichtstrahlen am Himmel kreuzten, «dann wussten wir, dass ein Flugzeug verfolgt und mit Artillerie beschossen wurde». Ein nächtliches Spektakel für die Kinder: «Wir fanden es lustig, weil wir den Ernst der Lage nicht verstanden.»

Zentrum des osteuropäischen Judentums

Er lebt seit vielen Jahren im gleichen Haus in einer kleinen, ruhigen Seitentrasse des Basler Bruderholz-Quartiers. Drei Stockwerke, kein Aufzug, Mark Varshavsky wohnt zuoberst. 1975 ist er in die Schweiz gekommen, der Liebe wegen. Sie: wohnt auch heute noch ganz in der Nähe. Wieder hält er den Kopf schräg und lacht: «Wir sind geschieden, aber verstehen uns sehr gut. Das ist ein seltener Fall!» Sie, das ist Christine Lacoste, Berufsmusikerin wie er, sie spielen das gleiche Instrument.

Mark Varshavsky holt ein Fotoalbum, blättert, stoppt bei einem der wenigen Bilder, die er vom Vater hat, eine Porträtaufnahme. Dunkle Augen, hinter einer Nickelbrille versteckt, ein ernster Blick; weisses Hemd mit Krawatte. Ein paar Seiten weiter die Mutter am Strand, 1939 auf der Halbinsel Krim, neben sich die beiden Söhne, im Badeanzug. Ihre Geschichte führt zurück in die Zeit, als das Gebiet der heutigen Ukraine ein religiöses, kulturelles und politisches Zentrum des osteuropäischen Judentums war. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten ungefähr drei Millionen Jüdinnen und Juden dort, ein Drittel der gesamten jüdischen Weltbevölkerung. Rosalia, mittendrin; das jüngste von sechs Geschwistern, das einzige Mädchen, Tochter eines angesehenen Kantors in der kleinen Stadt Melitopol. «Ihr Vater hatte eine wunderschöne Stimme.» Zu Hause sprach die Familie Jiddisch. Rosalia trat in die Fussstapfen des Vaters, wurde Pianistin, später in Charkiw Direktorin einer Musikschule. Ihre beiden Söhne wurden Musiker wie sie. Ilya, der jüngere, ist Klarinettist.

Evakuierung im letzten Moment

Er sagt, gleich zu Beginn des ersten Gespräches: «Sie müssen wissen, ich war nicht im KZ.» Er wird den Satz wiederholen, als ob er der Bedeutsamkeit seiner Erfahrungen nicht traute – andere haben Auschwitz überlebt. Dann erzählt er vom Sommer 1941. Von den Verbrechen der deutschen Besatzer, die nach dem Einmarsch in die Sowjetunion sofort damit begannen, die nationalsozialistische Rassenideologie umzusetzen, und die systematische Vernichtung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, aber auch von psychisch Kranken, Kommunistinnen und Partisanen zügig vorantrieben. In Babyn Jar, einer Schlucht bei Kiew, kam es im September 1941 zum grössten einzelnen Massaker, das die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg anordnete, mehr als 33 000 Menschen wurden getötet. Der sowjetische Staat reagierte mit der Evakuierung der jüdischen Bevölkerung ins Innere der Sowjetunion, in die zentralasiatischen Gebiete des Landes – ein im Westen bis heute wenig bekannter Aspekt des Holocaust. Allein aus der Stadt Charkiw wurden im Herbst 1941 etwa 100 000 Frauen, Männer und Kinder vor den anrückenden deutschen Truppen in Sicherheit gebracht. Zurück blieb, wer zu schwach war für die Flucht, Alte, Kranke und Gebrechliche, aber auch Intellektuelle, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatten und die Situation falsch einschätzten. Mark Varshavsky formuliert es so: «Sie dachten, es kämen wieder die gleichen Deutschen wie damals, korrekte Offiziere mit einem Monokel an der Westentasche und einem gewissen Kulturniveau. Aber das war ein grosser Irrtum. Die SS, das waren Kriminelle, arbeitslose, deklassierte Elemente ohne Skrupel, die hatten mit jenen Offizieren nichts zu tun.» Juden und Jüdinnen, die in Charkiw zurückblieben, wurden im Dezember 1941 auf dem Gelände einer Traktorenfabrik zusammengetrieben und von dort in die nahe Schlucht Drobyzkyj Jar gebracht, bis zu dreihundert Menschen täglich. Die Männer wurden erschossen, Frauen und Kinder meistens in einem Gaswagen getötet.

Rosalia Chainowskaja und ihre beiden Söhne Mark und Ilya entkamen im letzten Moment: Sie wurden am 7. Oktober 1941 evakuiert, knapp zwei Wochen, bevor die deutschen Truppen in Charkiw einmarschierten. Als sie das Haus verliessen, klappte die Mutter Marks Fahrrad zusammen und verstaute es hoch oben auf dem Schrank. Er hatte das Fahrrad kurz vor dem Krieg bekommen und war stolz darauf: «So ein Fahrrad war damals etwas sehr Spezielles in Russland.»

Der Vater musste als Angehöriger des Zivilschutzes noch in der Stadt bleiben, er wurde erst später nach Kasachstan gebracht.

Typhus

Die Evakuierung auf die andere Seite des Urals ins kasachische Aktjubinsk dauerte fünfundzwanzig Tage. Sechzig Menschen in einem Viehwaggon, manchmal fuhr der Zug zwölf Stunden ohne Unterbrechung, manchmal nur zwei. «Die Mutter hatte Konservendosen, Zwieback, Käse mitgenommen. Auch ihren Schmuck, Wertsachen und Teeblätter.» Die Kasachen, so hiess es, seien ganz versessen auf diesen Tee, den sie so stark zubereiteten, dass er «wie eine Droge wirkte». Mehrere Tagesreisen weg von Charkiw, in der Nähe des Urals, eine Szene wie im Theater. Unerwartet für den Achtjährigen, bedrohlich vielleicht, jedenfalls spektakulär: Die Kasachen reiten auf grossen Kamelen ganz nahe an den Zug heran. Die Jüdinnen aus Charkiw werfen Pakete mit Teeblättern aus den Viehwaggons, die Reiter fangen sie in der Luft auf, werfen Butterröllchen und Fleisch zurück. «Ein faires Tauschgeschäft», Mark Varshavsky lacht, «sie hauten uns nicht übers Ohr.» Ein inneres Bild, das Jahrzehnte überdauerte; ein anderes zeigt jenen Schreckensmoment, als der Zug losfährt, bevor die Mutter und die Tante mit den Wassereimern zurück sind. «Wir wussten nie, wie lange ein Aufenthalt dauerte. Aber wer nicht da war, wenn sich der Zug wieder in Bewegung setzte, riskierte sein Leben.» An den Bahnstationen gab es Trinkwasser, abgekocht wegen der Typhusbakterien. Sobald der Zug hielt, sprangen die Frauen, «meistens waren es Frauen», von den Viehwaggons hinunter, um die leeren Eimer zu füllen.

Überleben, das war auch immer dem Zufall geschuldet. Rosalia Chainowskaja und die Tante hatten Glück, der Militärkommandant gab keinen Erschiessungsbefehl. Er liess sie auf einen Lastwagen aufsteigen, der dem Zug bis zur nächsten Station hinterherfuhr.

In Kasachstan erkrankten sie dann doch noch an Typhus, die Mutter erwischte es gleich zweimal und Mark so heftig, dass er nach Aktjubinsk ins Spital gebracht wurde.

Baracken ohne Fundament

Wenn Mark Varshavsky heute als Zeitzeuge über den Holocaust spricht, wenn er von den Evakuierungsaktionen des sowjetischen Staates erzählt, dann geht es immer um diese drei Jahre von 1941 bis 1944. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war das anders. Mark Varshavsky machte sich als Cellist und Dirigent einen Namen, er trat auf grossen Bühnen in Ost- und Westeuropa, in Russland oder in den USA auf und das Publikum wusste nichts vom kleinen Jungen, der aus dem Viehwaggon klettern und sich draussen flach auf den Boden legen musste, wenn feindliche Flugzeuge in der Nähe waren; von den «Baracken ohne Fundament» in der kasachischen Steppe, sechs Kilometer entfernt von Aktjubinsk, wo Insekten herumkrochen, «grosse, eklige Tiere», und die hygienischen Bedingungen «katastrophal» waren; von der extremen Hitze im Sommer und wie es sich anfühlt, wenn das Thermometer im Winter minus vierzig Grad anzeigt und die Kälte den Hunger unerträglich machte. Keiner seiner Zuhörer, keine der Zuhörerinnen wusste, dass er anders Cello spielen würde, wenn er nicht in Kasachstan gewesen wäre. «Leiden», sagt Mark Varshavsky, «spiegelt sich in der Musik.»

Wenn er erzählt, skizziert er nur in groben Strichen. Ein letztes Bild aus Kasachstan: der Onkel, ein Bruder von Rosalia Chainowskaja, der zusammen mit dem Vater evakuiert worden war, Chemiker von Beruf, vor einem grossen Kübel. Er erhitzt Phosphor und tunkt kleine Holzspäne in die Flüssigkeit. Er macht Streichhölzer, die er auf dem Schwarzmarkt in Aktjubinsk verkauft. Die Kinder helfen, «obwohl das sehr gefährlich war». Der Onkel stellte auch Seife her, aber trotz der Rationierungsmarken, trotz Seife und Streichhölzern – zu essen hatten sie kaum je genug.

An der Ostfront verschollen

27. Januar 2020, «International Holocaust Remembrance Day», eine Gedenkveranstaltung im Konservatorium Bern, vor genau 75 Jahren befreiten die Streitkräfte der Alliierten Auschwitz: Mark Varshavsky sitzt auf der Bühne im grossen Saal des Konservatoriums, das Cello zwischen den Knien. Andere Holocaust-Überlebende sprechen über das, was sie erlebt haben, Mark Varshavsky spielt: «Kaddisch» von Maurice Ravel und «Baal Shem» von Ernest Bloch.

Seinen Vater, Alexander Varshavsky, sah er zuletzt in Kasachstan, er war damals etwa zehn Jahre alt. Dann wurde der Vater eingezogen, an die Ostfront, von dort hatte er noch Briefe geschrieben. «Er schrieb, dass er im Graben sitzt. Etwas anderes durfte er nicht sagen, denn die Briefe wurden zensiert.» Später hiess es, Alexander Varshavsky sei verschollen, «irgendwo in der Umgebung von Leningrad». Das ist alles, was Mark Varshavsky weiss; darüber sprechen möchte er nicht.

Eine Extraportion Kohle

1944, als sie zurückkamen nach Charkiw, war die Stadt beinahe vollständig zerstört. Die Ukraine gehörte zu den Hauptkriegsschauplätzen der Ostfront, Millionen von Menschen hatten ihr Leben verloren, 714 Städte und 28 000 Dörfer waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Inmitten der Trümmer begann Mark wieder Cello zu spielen. Widerwillig zuerst, ein oder zwei Jahre später bereits so oft, wie es nur ging – leidenschaftlich, ambitioniert. In ihrem Haus hatte sich ein Kollaborateur eingenistet, «ein sehr merkwürdiger Typ mit kriminellen Neigungen», der sich weigerte zu gehen. Also lebten sie zu viert unter einem Dach, Rosalia Chainowskaja, Mark, Ilya und der Kollaborateur, bis ein Bekannter von Rosalia, «ein Militärkorrespondent in Uniform und mit Waffe», dem Mann ein Ultimatum stellte. Der Kollaborateur verschwand.

Mark hatte zu Hause Cellounterricht, auch andere Kinder kamen für ihre Musikstunden in das kleine Holzhaus – die Mutter erhielt dafür eine Extraportion Kohle. So war es immer warm im Haus, beim Essen sassen oft mehrere Leute am Tisch. Mark, elf Jahre alt, besuchte erstmals in seinem Leben eine Schule.

Emigration in den Westen

Die Stationen seiner Biografie nach dem Krieg? Mark Varshavsky umreisst sie mit ein paar wenigen Stichworten: Ausbildung zum Cellisten am Musikkonservatorium in Moskau – da war er erst 16 Jahre alt – und zum Dirigenten am staatlichen Konservatorium Sankt Petersburg, einer der bedeutendsten russischen Musikhochschulen. Ein Bild im Fotoalbum zeigt ihn auf der Bühne des Bolschoi-Theaters, Moskau 1962, eine «Schwanensee»-Inszenierung. In der Mitte die Ballerina im weissen Tutu, links von ihr Mark Varshavsky mit ernstem Gesicht. Scheu (so scheint es), zurückhaltend; dabei immer freundlich. Dass er schon in der Sowjetunion zu den grossen seines Fachs gehörte, deutet er höchstens an; dass der Komponist Dmitri Schostakowitsch und Wladimir Aschkenazi, der Pianist, ihn schätzten, erfährt man auf der Webseite seiner Agentur. Nicht wegzudenken aus seiner Lebensgeschichte: Yehudi Menuhin, der grosse Geiger und Dirigent. 1972, als er Präsident des Musikrates der UNESCO war, kritisierte Menuhin in einer Rede in Moskau den Umgang der sowjetischen Regierung mit Dissidenten. Am anderen Tag ging Mark Varshavsky zum Hotel, in dem Menuhin untergebracht war, fragte nach dem Musiker. Es war Menuhin, der schliesslich dafür sorgte, dass Mark Varshavsky die Einladung erhielt, die es für eine Ausreise in den Westen brauchte, zuvor hatte er sich jahrelang vergeblich darum bemüht. Zehn Tage gaben ihm die sowjetischen Behörden Zeit für die Ausreise; um sich zu verabschieden, die Wohnung aufzuheben, zu packen. Dann flog er nach Wien. «Das war ein unglaubliches Gefühl. Ich war 39 Jahre alt und mein ganzes Leben lang nie im Ausland gewesen.» Er lebte ein paar Monate in Israel, in Italien, später in New York. Yehudi Menuhin half ihm, auch im Westen musikalisch Fuss zu fassen. Als er in Siena ein Konzert gab, lernte er Christine Lacoste kennen, die Schweizer Cellistin. Wieder war es Menuhin, der sich dafür einsetzte, dass Mark Varshavsky in der Schweiz bleiben konnte.

Drei Sätze zu Alexander, mehr nicht. Alexander, der Sohn, wurde 1970 geboren, zwei Jahre bevor Mark Varshavsky die Sowjetunion verliess. Da er mit der Emigration seine Staatsbürgerschaft verlor, konnte Mark Varshavsky nicht mehr in die Sowjetunion einreisen. Erst 1989, als die Mauer in Berlin fiel und die Grenzen zu den Staaten des Ostblocks aufgingen, sah er Alexander wieder, er war inzwischen achtzehn Jahre alt. Rosalia Chainowskaja starb 1988, Mark Varshavsky hat die Mutter nie mehr gesehen.

Das Fahrrad

21. September 2020, er spielt noch einmal ein Stück. Wer es komponiert hat? Mark Varshavsky antwortet lange nicht – und sagt dann plötzlich doch: «Edouard Lalo, ein französischer Komponist.» Wichtig ist das nicht. Wichtig ist, wie er spielt; wie die Gefühle in die Musik kommen, die Erfahrung von Schmerz und Verlust; das Verschwinden des Vaters, für das es keine Worte gibt.

1944, als sie in das Haus in Charkiw zurückkamen, Rosalia, Ilya und Mark, war sein Fahrrad, das die Mutter auf dem Schrank verstaut hatte, verschwunden. Nur das Klavier stand noch da, unbeschädigt und genau dort, wo es schon immer gewesen war.

«Ich sehe die Welt nicht so, wie andere sie sehen»

Katharina Hardy, Zürich.*1928 in Budapest, Ungarn

Katharina Hardy kann man nicht beschreiben. Katharina Hardy muss man erleben. Ihre Ausstrahlung, ihre Energie; diese Zugewandtheit. Man muss sie erleben, um Sätze zu verstehen wie diesen: «Bergen-Belsen ist meine Heimat.»

Sie wohnt in Zürich Wiedikon, Kreis 3, ein Quartier, in dem viele orthodoxe Jüdinnen und Juden leben, es gibt hier einen koscheren Supermarkt und die Synagoge steht gleich um die Ecke. Eigentlich ist es Zufall, dass sie, 92, und ihr Mann Erwin, 98, da wohnen, zweimal mussten sie in den letzten Jahren umziehen, weil das Haus abgebrochen wurde, jetzt sind sie in dieser städtischen Alterswohnung und Katharina Hardy, eine «liberale Jüdin», sagt: «Ich habe das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.»

Im Januar 2020 öffnet sie die Wohnungstür – aber ist sie das wirklich? Die Frau, die im Türrahmen steht, sieht mindestens zwanzig Jahre jünger aus, als sie ist.

Tagsüber existierte das nicht

«Kommen Sie wieder und bringen Sie jemanden mit», wird sie beim Abschied sagen, nach drei Stunden Gespräch über Leben und Tod, vor allem über den Tod. Das Leben? Sie gliedert es in drei Abschnitte:

Das Mädchen Katharina. Mit sechs Jahren begann sie Geige zu spielen. Eine Kindheit in Budapest, zunehmend vergiftet durch unverhohlenen Antisemitismus, auf der Strasse wurde sie angespuckt, mit elf Jahren aus der renommierten Franz-Liszt-Akademie in Budapest ausgeschlossen, «weil ich Jüdin bin». Dann die Deportation, zwei Konzentrationslager Ravensbrück, und Bergen-Belsen. Katharina Hardy war 16 Jahre alt und wog 29 Kilogramm, als britische Soldaten sie fanden, die einzige Überlebende in der Baracke.

Der zweite Abschnitt, April 1945 bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ungarn 1956. Ihre Geige war noch da, als sie im August 1945 zurück nach Budapest kam, aber kaputt, demoliert von «russischen Soldaten». Eine amerikanische Hilfsorganisation gab ihr eine neue. Sie begann wieder zu üben, täglich, wie besessen. «Ich war ein anderer Mensch, nicht mehr diejenige, die man verschleppt hatte. Ich kam zurück und sagte, das ist alles nicht wahr, was ich erlebt habe. Es gab nur noch die Arbeit.» Nachts im Traum sassen die Mutter und die Schwester an ihrem Bettrand, jahrelang. «Das war das Nachtleben. Tagsüber existierte das alles nicht.»