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Spitzenköchin Katharina Schweitzer kehrt für einen besonderen Kulinarischen Anlass nach Baden zurück: Ein Wettkochen krönt das Fest, mit dem ihr Heimatdorf und das elsässische Scherwiller fünfundvierzig Jahre grenzüberschreitende Partnerschaften feiern. Am Morgen danach liegt ein Toter im Aubach, und der ist keineswegs zufällig dort hineingestürzt. Natürlich steckt Katharina ihre Spürnase in diesen Fall und verheddert sich in einem Netz dörflicher Intrigen und alter Familiengeheimnisse rechts und links des Rheins.
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Seitenzahl: 507
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Brigitte Glaser, geboren 1955 in Offenburg, wuchs im Badischen auf. Sie studierte in Freiburg Pädagogik und wechselte danach nach Köln, wo sie heute als freie Schriftstellerin lebt.www.brigitteglaser.de.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.de/UlrikeA Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-262-3 Der Badische Krimi Originalausgabe
Für Gebhard und die deutsch-französische Freundschaft
EINS
Hör auf deinen Bauch, sagen alle, lausche in dich hinein, der Verstand kann so trügerisch sein! Wenn’s dann rumpelt oder flattert, drückt oder zwickt, gärt oder verstopft, dann stimmt etwas nicht. Der Bauch als Alarmanlage, als verlässlicher Hüter vor Ungemach, als siebter Sinn. Aber mal ernsthaft: ein Organ mit verschlungenen Windungen, ein Labyrinth aus Därmen, ausgestattet mit Kassandra’schem Weitblick? Alles Humbug, alles maßlos überschätzte Hobbypsychologie.
Mein Bauch zumindest muckte kein bisschen auf, als an diesem Spätsommertag in aller Herrgottsfrühe der Bus auf dem Parkplatz der Linde vorfuhr. Gut, er hatte aufgemuckt, als Martha vor ein paar Wochen in Köln anrief und mir dazu gratulierte, dass ich die Weiße Lilie tatsächlich für zwei Wochen schloss, um Ferien zu machen. Aber bei meiner Mutter muckt mein Bauch immer auf, der traue ich selten über den Weg.
Der Bus war ein Oldtimer, ein original Büssing-Senator von 1964. Besorgt vom Busunternehmer Käshammer aus Oberkirch, der das alte Teil selbst kutschierte.
Der dicke Mann kletterte aus dem Bus und erzählte jedem, wie viel Mühe es ihn gekostet hatte, den Oldtimer zu beschaffen, weil doch die Fautenbacher in einem baugleichen Modell dieses Busses anno 1967 zum ersten Mal ins elsässische Scherwiller gefahren waren.
»Fünfundvierzig Jahre deutsch-französische Freundschaft«, wiederholte er immer wieder. »Wer hätte gedacht, dass es so lange gut geht?«
Käshammers Worte gingen im Geschnatter der Wartenden unter, die nach der Ankunft des Busses in Bewegung gerieten. Das halbe Dorf fuhr mit ins Elsass. Manche sausten noch schnell über die B 3, um beim Ganter-Beck Kaffee und Frühstücksweckle für die Fahrt zu kaufen, andere drückten hastig die erste Zigarette des Tages unter unserem Lindenbaum aus, ein paar Nachzügler signalisierten vom Rathausparkplatz her, dass sie es gerade noch geschafft hatten. Die meisten aber drängten bereits mit ihren Taschen und Instrumenten ins Innere des Busses.
Instrumente, ja. Denn natürlich war bei den Feierlichkeiten der Musikverein mit von der Partie. Von Anfang an war der Musikverein dabei gewesen, weil Musik die Völker verbindet wie sonst kaum etwas. Der Ortschaftsrat kam natürlich auch mit und die Fußballer. Freundschaftsspiele machte man immer gerne, auch wenn diese, Freundschaft hin oder her, je nach Spielverlauf und Ergebnis durchaus auch mal völkertrennend sein konnten. Neu war dagegen das diesjährige Wettkochen. Essen verbindet natürlich auch, doch die Frage, ob die elsässische oder die badische Küche die bessere sei, wurde links und rechts des Rheins unterschiedlich beantwortet. Ein Kochduell sollte am heutigen Tag Klärung schaffen.
Martha winkte mir von der hinteren Bustür zu. Sie werde mir einen Platz frei halten, rief meine Mutter, bevor Erwin Droll ihren breiten Hintern weiter nach drinnen schob. Auf dem Parkplatz schüttelte Käshammer Hände, klopfte Schultern, zeigte auf seine Armbanduhr, deutete auf den Bus. Wie ein Rattenfänger trieb er die Leute zusammen.
Keinen störte es. Ein Schubsen und Drängeln, ein Lärmen und Wiehern, ein Kichern und Grummeln am frühen Morgen war das. Und mein Bauch ruhig, kein bisschen gekräuselt, glatt wie der Mummelsee an einem Sommertag. Vielleicht war es für einen Morgenmuffel wie mich zu früh für Bauchgefühle. Vielleicht war es zu früh für Alarmantennen aller Art. Wird wieder heiß werden, dachte ich nur, als sich hinter der Hornisgrinde eine prächtige Sonne in den blassblauen Morgenhimmel schob. Und die Vögel in unserem Lindenbaum trällerten so laut, dass sie den geschwätzigen Käshammer fast übertönten.
Als ich endlich in den Bus steigen wollte, klopfte mir jemand auf die Schulter, und beim Umdrehen strahlte mich mein alter Freund FK Feger an. Direkt hinter ihm seine Frau Rita. Die zwei waren also wieder zusammen. Die Kinder, das Geld, die Einsamkeit, das Alter, die Liebe. Irgendwas davon musste sie bewegt haben, es noch einmal miteinander zu versuchen. Ich hoffte nur, dass FK Rita im großen Beziehungsaufwasch nichts von unserer kurzen Affäre vor drei Jahren erzählt hatte. Ein Blick in Ritas Augen und ich wusste: Er hatte.
»Die Presse darf natürlich nicht fehlen«, sagte ich, umarmte FK und schüttelte dann Rita die Hand, die durch mich hindurchsah. Sie war eindeutig der Typ Frau, der dem Gatten einen Seitensprung schwer verzieh. Dabei war es wirklich nur eine harmlose, sentimentale, folgenlose, sehr, sehr kurze Affäre gewesen.
»Komm schon, Fritz-Karl«, drängelte Rita.
Rita war die Einzige, die ihn mit vollem Namen anredete, den FK hasste, seit er fünfzehn war. Schon das wäre für mich ein Trennungsgrund gewesen, aber nun ja. Wo die Liebe hinfällt oder liegen bleibt …
»Ich habe eine ganze Seite in der Montagsausgabe«, sagte FK. »Schließlich ist Fautenbach die Gemeinde in unserer Region, die sich nach dem Krieg als Erste ein französisches Partnerdorf gesucht hat. Und wehe, ihr gewinnt das Wettkochen nicht.«
Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dachte ich, während FK strahlte, Rita die Lippen zusammenpresste und ich blöd zwischen den beiden stand. Felix Ketterer löste durch sein Auftauchen die missliche Situation auf.
»Grüß dich, Katharina«, sagte er leise und drückte zuerst seine Zigarette aus und dann vorsichtig meine Hand.
Er besaß immer noch diesen herzerweichenden Hundeblick, der ihm in unserer gemeinsamen Grundschulzeit die Herzen aller Mädchen hatte zufliegen lassen. Beim »schönen Felix«, wie wir Mädchen ihn wegen seiner blonden Locken nannten, standen wir damals Schlange für einen Kuss. In der dritten Klasse gab es keinen besseren Knutscher, und das Leckerste an Felix’ Küssen war, dass sie nach MAOAM schmeckten. Ich hatte keine Ahnung, wie er heute küsste, aber seine Attraktivität war unwiederbringlich dahin. Dabei war er immer noch gut aussehend, aber ein bisschen zu grau und ein bisschen zu schlaff für Mitte vierzig. Er wirkte wie einer, der zu früh verwelkt war.
»Jetzt aber«, drängelte Käshammer und wies auf die Bustür.
»Sophie, meine Frau, kommt noch«, erklärte Felix, deutete mit dem Kopf in Richtung Rathausparkplatz und zündete sich schnell noch eine weitere Zigarette an.
»Die kommt immer auf den letzten Drücker!« Käshammer schnaubte verärgert, stieg nun seinerseits in den Bus, fragte nach, ob noch jemand fehlte, was nicht der Fall war, kam zurück und knurrte: »Zwei Minuten. Dann fahr ich.«
Die Frau, die da telefonierend auf uns zukam, war keine, die sich hetzen ließ. Klein und drall, mit einem Hintern breiter als mein eigener oder der von Martha, winkte sie schon mal, pausierte dann aber vor der Tankstelle und führte in aller Seelenruhe ihr Gespräch zu Ende.
»Der Fraktionsvorsitzende. Die Sache mit dem Hochregallager, der Teufel steckt wie immer im Detail. Grüß dich, Manfred«, sprudelte sie los, und Käshammer schien tatsächlich zu verstehen, wovon sie redete. Sie bat Felix, im Bus einen Platz für sie beide zu suchen, dann musterte sie mich neugierig. »Das ist also die erfolgreiche Köchin! Sterne, Hauben, Gäbelchen, Lobeshymnen. Chapeau!«
Die Bewunderung wärmte mir das Herz, auch wenn das mit den Sternen, Hauben und Gäbelchen schwer übertrieben war. Für die Weiße Lilie, mein Kölner Restaurant, hatte ich vor zwei Jahren gerade mal zwei Gäbelchen im Gault Millau bekommen.
»Bist auf Heimaturlaub, hat der Felix erzählt. Recht so. ’s gibt wenig Gegenden, die so schön sind wie die Ortenau.«
Heimaturlaub, das stimmte irgendwie, aber eher gezwungenermaßen. Ich nickte stumm, während Sophie Ketterers Aufmerksamkeit von mir weiter zu Käshammer wanderte.
»Bin ich wirklich die Letzte?«, fragte sie.
»Fast wären wir ohne dich g’fahre!«
»Bestimmt nicht.« Ein kurzes, knackiges Lachen, dann schlängelte sie ihren gewaltigen Hintern behände ins Businnere. Käshammer zwängte sich nach ihr hinein, ich und mein gewaltiger Hintern mussten warten, bis Käshammer sich hinter das Lenkrad geklemmt hatte.
Martha winkte aus dem Fond, ich kämpfte mich an Musikinstrumenten und Fußballerbeinen vorbei nach hinten und ließ mich dann neben meine Mutter auf den einzigen noch freien Platz fallen.
Käshammer lenkte den Bus auf die A 5 in Richtung Basel. Martha nutzte die Zeit für eine Lagebesprechung der Küchencrew. Rezepte wurden memoriert, Aufgaben rekapituliert, Notfallpläne besprochen. Alle, wie sie da saßen, fuhren ihr Adrenalin hoch. Ich hoffte, dass noch etwas davon übrig sein würde, wenn wir es beim Kochen wirklich brauchten.
Martha sprühte an diesem Morgen vor Energie und strahlte die unverschämt gute Laune eines aufgekratzten Teenagers aus. Ich dagegen dachte an den Jörger-Metzger, der mit seinem Kühlwagen bereits auf dem Weg ins Elsass war. Gestern Abend hatte ich mit ihm die Töpfe mit Rinderbrühe, die Schäufele, Markklößle und Flädle und all die anderen Dinge, die wir zum Kochen brauchten, einer letzten Inspektion unterzogen. Super Zutaten, alles Eins-a-Qualität. Aber damit konnten die Elsässer mit Sicherheit auch aufwarten. »Vergiss deinen Ehrgeiz«, hatte Martha gemeint, »s’ geht doch nur um den Spaß an der Freud. Und wenn wir verlieren, dann wetzen die Fußballer die Kerbe aus. Die gewinnen sowieso meistens.«
Dass wir gewinnen und die Fußballer verlieren würden, sagte mir weder mein Bauch noch sonst was. Zudem trieb an diesem Morgen nicht eine dunkle Wolke über dem Rhein. Der glitzerte unter einem blitzblauen Sommerhimmel und floss gemächlich gen Norden, als wir ihn eine halbe Stunde später auf der neuen Pierre-Pflimlin-Brücke bei Altenheim überquerten.
Dabei wäre an diesem Morgen eine dunkle Wolke das Mindeste gewesen. Als sichtbarer Vorbote des Unheils, das uns auf der anderen Seite des Flusses, jenseits von Kochen und Fußballspielen, erwartete.
ZWEI
So also setzte der Bus die Reise durch die französische Rheinebene unbekümmert fort. Die Musiker nutzten die Fahrt, um ihre Instrumente auszupacken und sich warm zu spielen. Sie stimmten einen fröhlichen Walzer an, Martha summte die Melodie mit und tätschelte mütterlich meinen Oberschenkel.
»Das wird dir gefallen.« Sie unterbrach für einen Moment ihr Summen. »Außerdem bist du schon so lange nicht mehr in Scherwiller gewesen.«
Martha hatte mich für dieses badisch-elsässische Wettkochen weichgeklopft. Dabei, das musste ich meiner Mutter lassen, war sie äußerst geschickt vorgegangen. Ein Anruf vor ein paar Wochen just zu dem Zeitpunkt, als der Ecki-Trennungsschmerz besonders heftig an mir nagte, weil nichts mehr aus den Ferien in der Wachau und aus all den anderen gemeinsamen Plänen wurde. Ein Geschenk wolle sie mir machen, jetzt, wo ich wieder Single sei, kündigte sie ohne Vorrede an. Gaston Deville, der beste Patissier Frankreichs, biete einen Dessert-Kurs für Profi-Köche in Straßburg an, den spendiere sie mir. »Wohnen tust du bei uns, ist ja nur ein Katzensprung nach Straßburg, und das Wettkochen in Scherwiller erledigen wir dann ganz nebenbei.«
Ich hatte zugesagt. Wegen dem Ecki-Schmerz, der Wachau-Lücke und Deville. Das Wettkochen hatte ich glatt vergessen, bis Martha es mir vor einigen Tagen in allen Einzelheiten aufs Butterbrot schmierte. Austragungsort: Salle polyvalente Scherwiller, eine Schulküche, zwei Kochmannschaften, drei Gänge, dreihundert Portionen, vier Stunden Vorlauf. Das badische Menü: Markklößchensuppe mit Flädle, Schäufele mit Meerrettichcreme und Kartoffelsalat, zum Nachtisch Schwarzwälder Kirschtorte. Das passte zum elsässischen Pendant: Pâté en croûte, Coq au Riesling, Tarte aux myrtilles. Aber sonst passte wenig: eine mir unbekannte Küche, außer Martha und mir kein Profi in der Küchencrew. Martha, mit der ich noch nie gemeinsam kochen konnte, als Küchenchefin. Das musste schiefgehen.
Vor zwei Tagen hatte Martha die Küchencrew zusammengetrommelt, um das Essen vorzubereiten. Obwohl ich Felix seit einer Ewigkeit nicht gesehen hatte, wusste ich nach einem Blick in seine Hundeaugen sofort, wer vor mir stand. MAOAM kaute er heute nicht mehr, stattdessen zeigte er sich als begeisterter Hobbykoch. Teure Messer, eigene Kochjacke, Abonnent von Beef. So der Typ Koch. Ich vermutete, dass er bestimmt ein ordentliches Steak braten und dabei die Küche gründlich in Unordnung bringen konnte, aber sonst?
Beef schätzte auch Pascal Eckerle, der zweite Mann unserer Truppe. Groß, ein wenig schwerfällig, auch in der Küche in robuster Outdoor-Kleidung, eher der bärige, fleischfressende Typ. Der zerteilte einen Ochsen oder stand am Grill seinen Mann, beides Eigenschaften, mit denen er bei unserem Kochduell nicht unbedingt punkten konnte. Erna Burger und Hedwig Lang, die eine dürr, die andere rund, zwei gestandene Landfrauen, komplettierten unsere Brigade. Die konnten schuften und wurden unter Druck nicht nervös. Aber Erna war eine große Freundin von Fondor-Würze, die sie bei Bedarf über alles streute, und Hedwig liebte Dr.Oetkers chemische Wundermittel.
»Die Hedwig«, so schwärmte meine Mutter, »ist die Kuchenkönigin von Fautenbach. Was kann die dir für Torten zaubern! Nachtische auch, selbstverständlich. Ich bin natürlich froh, dass sie dabei ist, aber …« Und dann tratschte sie darüber, dass Hedwig vor allem einen neuen Mann suche, seit ihrer sie im letzten Jahr sitzen gelassen habe, sie Pascal Eckerle, den ewigen Junggesellen, im Blick habe, der sich aber ein bisschen sperre. Ich hatte nur die Augen verdreht. Beziehungsstress in der Küche war ein verlässlicher Garant für verunglückte Gerichte. – Wie gesagt, die Sache mit dem Wettkochen konnte nur schiefgehen.
Abgeerntete Weizenfelder, Weideland und nicht enden wollende Maisplantagen zogen an uns vorbei. Ich schloss die Augen und dachte an die Weiße Lilie, mein verwaistes Restaurant in Köln. Nach sieben Jahren leistete ich mir zum ersten Mal seit der Eröffnung zwei Wochen Ferien. Jedem, der mir vor einem halben Jahr erzählt hätte, dass ich den hart verdienten Urlaub auf einer Busfahrt zu diesem Wettkochen verbringen würde, hätte ich den Vogel gezeigt. Doch jetzt, wo die Liebe mal wieder den Bach heruntergegangen war und ich nicht ewig Trübsal blasen wollte, war mir jede Art von Ablenkung recht.
Mais, Mais und noch mehr Mais. Achtzig Prozent der Gesamtfläche des Oberrheingrabens wurde auf deutscher Seite mit Mais bebaut, auf der französischen nicht weniger. Ich dachte an das große Bienensterben vor vier Jahren. Chemische Keulen zur Vernichtung von Maisschädlingen waren dafür verantwortlich gewesen. Den öffentlichen Aufschrei von damals hatte man längst niedergeschlagen, nirgendwo war eine Reduzierung des Maisanbaus erfolgt, im Gegenteil. Bis ans Ende ihrer Tage würden sich die Lobbyisten der Saatguthersteller die Hände reiben, weil es ihnen zudem gelungen war, der EU den Mais auch noch als Grundlage für Biogas anzudrehen. Darüber konnte ich mich ohne Ende aufregen.
Tat ich auch. Zudem stach mir die Erinnerung an das Bienensterben ins Herz, weil der Tod meiner Patentante Rosa damit zusammenhing. Rosa, die ich sehr gemocht hatte. Rosa, die mir in den schwierigen Jugendjahren weit nähergestanden hatte als meine leibliche Mutter.
»Guck mal, Störche!«, unterbrach diese meine Gedanken und deutete aus dem Fenster. »Die begrüßen uns. Der Storch ist das Wahrzeichen des Elsass!«
Drei, vier, fünf landeten auf einem abgeernteten Weizenfeld. Ganz zum Schluss setzte mit noch ungelenkem Flattern ein Jungvogel am Boden auf.
»Wie schmeckt eigentlich Storch?«, wollte Felix wissen.
»Badischer oder elsässischer?«, fragte Pascal.
»Storch schmeckt auf der rechten und auf der linken Rheinseite nach Frosch«, behauptete Erna. »So wie Katze nach Maus schmeckt.«
Antoinette fiel mir ein, Rosas elsässische Freundin. Die hätte auch so eine Antwort geben können. Seit Rosas Tod hatte ich sie nicht mehr gesehen, und mit einem Mal freute ich mich auf Scherwiller, denn ich würde den Aufenthalt für einen Abstecher zu Antoinette nutzen.
Aufgereiht wie eine Perlenkette zogen in der Ferne die Dörfer der Elsässischen Weinstraße an uns vorbei. Obernai, Heiligenstein, Barr, Dambach la Ville. Orte, eng in die Täler und Ausläufer der Vogesen geschmiegt, Fachwerk, Blumen, schmale Sträßchen, alte Kirchen, stolze Weingüter, feine Restaurants. Ein Bilderbuchdorf nach dem nächsten! Scherwiller, so erzählte mir Martha, musste sich im Reigen dieser prächtigen Orte erst seinen Platz erkämpfen. Noch in der Ebene gelegen, mit Weinbergen, die sich weit ins Rheintal schoben, gehörte das Dorf lange Zeit nicht zum Muss für Weinstraßentouristen. Aber der hervorragende Riesling, der mittlerweile hier angebaut wurde, der hübsche Dorfkern und die üppige Blumenpracht lockten heute immer mehr Besucher an.
Käshammer fuhr seinen Bus durch ein kleines Industriegebiet nach Scherwiller hinein und brachte ihn auf dem Marktplatz, der hier Place de la Libération hieß, zum Stehen. Die Fußballer hüpften als Erste nach draußen, gefolgt von Musikern und Ortschaftsrat, den Schluss bildeten wir Köche. Alle strömten zu einem Tisch, der vor dem Rathaus stand. Dort warteten der Bürgermeister und einige Mitglieder der Confrérie des Rieslinger und hießen die Gäste mit einem Vin d’honneur und einem Stück Gugelhupf willkommen.
Kein Wölkchen trübte den blauen Himmel, in den Blumenkübeln summten die Bienen, unter der Mairie plätscherte der Aubach, auf dem Platz davor schnatterten und tratschten Badener und Elsässer in breitem Alemannisch, das auf beiden Seiten des Rheins gesprochen wird. Man trank auf die deutsch-französische Freundschaft, auf Gesundheit und Wohlstand und auf die nächsten fünfundvierzig Jahre.
Nachdem wir alle für ein Gruppenfoto posiert hatten, fragte ich einen der Elsässer nach einem Taxi und versprach Martha, in spätestens einer Stunde zurück zu sein.
Kientzville, wo Antoinette wohnte, lag ungefähr drei Kilometer von Scherwiller entfernt. Als die ersten Bullerbü-Holzhäuschen auftauchten, überkam mich plötzlich die Angst, zu spät zu kommen. So wie ich vor vier Jahren bei Rosa zu spät gekommen war. Antoinette hatte die achtzig längst überschritten, ob sie überhaupt noch lebte? Und wenn ja, ob sie noch in ihrem Häuschen wohnte?
Doch als das Taxi vor ihrem Haus anhielt, trat sie vor die Tür, als hätte sie mich erwartet. Immer noch groß und kräftig, immer noch mit rot bemalten Lippen, immer noch mit wachen Augen, dazwischen die mächtige Habichtnase. Ein Fels in der Brandung des Lebens, das es oft nicht gut mit ihr gemeint hatte. Der Großvater war 1915 am Hartmannsweiler Kopf gefallen, der Vater 1943 in Stalingrad, der Mann war 1956 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, der Sohn 1969 im Atlantik ertrunken. Ein Leben mit vier toten Männern im Gepäck. »Dodron gehscht kabutt, oder ’s schtählt dich für din reschtliches Läwe«, hatte sie mal gesagt und damit klargemacht, welchen Weg sie gewählt hatte. Ich bezahlte eilig das Taxi und lief auf sie zu.
»Catherine! Quelle surprise!« Sie umarmte mich und hüllte mich mit dem Duft ihres Parfüms ein, das sie nie gewechselt hatte. Die drei bisous, dann sagte sie: »Ich wollt grod zu minere petite promenade aufbreche, da kommschd du. Jetzt gehsch mit. Mais alors, warum bisch do?«
Ich bemerkte, dass sie einen Stock benutzte und recht wackelig auf den Beinen war. Sehr langsam spazierten wir durch die kleinen Straßen, vorbei an den Holzhäuschen, die der Textilfabrikant Kientz nach dem Krieg von deutschen Kriegsgefangenen für seine Arbeiter hatte aus dem Boden stampfen lassen. Kientzville war damals als Frankreichs jüngstes Dorf bekannt geworden. Manche Häuser sahen noch so aus wie früher, andere hatten An- und Umbauten verändert, ein Neubaugebiet war hinzugekommen. Aber für mich verlor der Ort trotzdem nichts von seinem Bullerbü-Charme. Seit meinem ersten Besuch war ich davon überzeugt, dass in diesem Dorf nur fröhliche Kinder in glücklichen Familien aufwuchsen.
Natürlich wusste Antoinette von dem Fest und dem Wettkochen, und sie würde kommen, denn der Maire hatte alle, die beim ersten Mal dabei waren und noch lebten, besonders herzlich eingeladen. Ein Ehrentisch, schließlich hatten sie damals die Jumelage auf den Weg gebracht und mit Leben gefüllt. Wenn Rosa doch noch leben würde …
Rosa und Antoinette hatten sich bei diesem ersten Treffen kennengelernt und mir die Geschichte dazu mehr als einmal erzählt. Rosa hatte sich sofort beim Bürgermeister gemeldet, um mit von der Partie zu sein, als die Fautenbacher zum ersten Mal ihr französisches Partnerdorf besuchten. Antoinette dagegen hatte lange gezögert, bevor sie auf der Mairie anmeldete, einen deutschen Gast beherbergen zu wollen. Etliche im Dorf, erzählte Antoinette immer wieder, waren dagegen gewesen, als Maire Haag für Scherwiller als Partnerdorf das deutsche Fautenbach vorschlug. Mit den Deutschen wollte man nach dem Krieg nichts mehr zu tun haben. Für Antoinette war letztendlich de Gaulle, den sie sehr bewunderte, ausschlaggebend. Das Bild, wie de Gaulle Adenauer nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages umarmte. Wenn der General mit den Deutschen Frieden schließen konnte, dann wollte sie das auch. Außerdem war sie sehr neugierig auf die Besucher aus Deutschland gewesen.
Und so hatte sie Rosa kennengelernt. Beide waren verwitwet und alleinstehend, beide ungewöhnlich selbstbewusst und selbstständig. Zwei, die sich nicht gesucht, aber dennoch gefunden hatten. In der Zeit, als ich bei Rosa lebte, hatte ich die beiden manchmal begleitet, wenn sie sich gegenseitig ihre Heimat zeigten: Straßburg und Freiburg, Grand Ballon und Hornisgrinde, Haut Koenigsbourg und Brigittenschloss, Westwall und Hartmannsweilerkopf, die Acherner Illenau und das KZ Struthof. Alemannische Fasnacht und Bal des veuves, Weinfeste in Waldulm und Ribauvillé, Schwarzwälder Kirschtorte in Baden-Baden, Glace-meringue in Sélestat. »Bei uns«, sagten beide gerne, »hat die deutsch-französische Freundschaft funktioniert.«
Obwohl der Spaziergang sie erschöpft hatte, ließ es sich Antoinette bei unserer Rückkehr nicht nehmen, mich nach Scherwiller zurückzubringen. Sie fuhr tatsächlich noch Auto, einen alten 2CV, erstaunlich forsch. Zum Abschied drei schnelle Küsse und ein Hauch Parfüm. Heute Abend würden wir uns wiedersehen.
Sie setzte mich vor der Winstub Mueller ab, weil unsere Kochgruppe hier untergebracht war. Durch die breite Toreinfahrt blickte ich auf weinbewachsene Mauern und einen Biergarten. Vor der Treppe zum Eingang der Winstub verteilte Martha Schälchen mit Cremes und Knabbereien auf drei mit Sektgläsern bestückte Stehtische. Als sie mich sah, nestelte sie schnell einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche und schnalzte ungnädig mit der Zunge.
»Du hast Zimmer sieben, den Koffer hab ich dir aufs Bett gelegt. Los, mach schnell, in fünf Minuten kommen die Franzosen. Gemeinsamer Aperitif, bevor wir mit dem Kochen loslegen.«
Wie üblich vorwurfsvoll. Kein Wort zu Antoinette. Rosas Freunde hatte Martha nie gemocht. Ich schnappte mir wortlos den Schlüssel, trat ins Haus und folgte dem Schild »Chambres«. Mein Zimmer lag zur Straße hin im zweiten Stock. Von draußen war das Plätschern des Aubachs und Stimmengemurmel zu hören. Ich beugte mich aus dem Fenster und sah Felix und Pascal auf einem der alten Waschsteine direkt am Aubach stehen.
»Das letzte Grundstück an der Scherwiller Straße«, hörte ich Pascal sagen. »Du weißt genau, dass Bauland in Fautenbach immer teurer wird. Wenn ich das Grundstück jetzt nicht kaufe, kann ich es mir nicht mehr leisten. Ich habe wirklich lange gewartet, Felix, aber jetzt brauch ich mein Geld zurück.«
»Keiner hat doch damit gerechnet, dass die Glashütte dichtmacht. Achtzig Prozent weniger Aufträge, das musst du erst mal wegstecken. Ich hätte doch sonst niemals die zwei neuen Lkws gekauft.«
Felix, wieder rauchend, lief unruhig auf den schmalen Waschsteinen auf und ab, Pascal dagegen hatte die Hände über der Brust verschränkt und stand wie festgemauert auf der Stelle. Er trug ein verwaschenes T-Shirt, eine Hose mit allerlei Taschen und gelbe Turnschuhe. Wie vielen klassischen Junggesellen schien ihm sein Aussehen egal zu sein.
»Was ist mit der Erbschaft?«
»Das dauert und dauert. Weißt doch, wie viel Zeit es braucht, bis so was geregelt ist.«
»Dann verkauf die Lkws«, brummte Pascal.
»Das ist doch ein Verlustgeschäft«, jammerte Felix. »Du bist doch mein bester Freund. Warum kannst du nicht noch warten?«
»Du weißt genau, warum ich ausgerechnet das Grundstück will. Weil es direkt an der Straße liegt. Und die Straße brauch ich, sie ist mein Revier.«
»Wie, dein Revier?« Felix warf die Zigarette weg, nur um sich sofort eine neue anzuzünden.
»Roadkill-Fleisch«, antwortete Pascal nur, und ich lehnte mich weit aus dem Fenster, weil ich von Straßentod-Fleisch noch nie etwas gehört hatte.
»Roadkill«, wiederholte Felix entgeistert. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Ich verfluch den Tag, wo du das angefangen hast! Hätte ich dir doch bloß nie das Kochbuch von diesem McGowen geschenkt! Bevor du auf den Roadkill-Trip gekommen bist, hast du es mit dem Bauen nie eilig gehabt. Und unsere Freundschaft? Ist dir die gar nichts wert? Wegen dem blöden Roadkill-Fleisch willst du, dass ich Bankrott mache?«
»Das ist nicht blöd! Das ist eine Philosophie, hinter der ich voll und ganz stehe. Du weißt, dass das meiste Fleisch, das wir kaufen, mit Chemie vollgepumpt ist. Roadkill-Fleisch ist Natur pur, da hat keiner der Verbrecher aus der Fleischindustrie jemals seine Drecksfinger reingesteckt! Einen größeren Respekt vor der Schöpfung, als nur Tiere zu essen, die sowieso schon tot sind, gibt es für einen Fleischesser nicht. Was glaubst du, was auf der Straße alles überfahren wird! Katzen, Füchse, Dachse, Ratten, Karnickel, manchmal Rehe. Ich kann mir jeden Tag einen Braten von der Straße ins Haus holen.«
»Und wegen deinem Fleisch muss ich meinen Laden dichtmachen. Weil du auf Braten aus Viechern stehst, die von Autos überfahren wurden!«
»Nicht überfahren, nur von Autos getötet«, widersprach Pascal ernsthaft. »Du weißt, dass ich keine platt gefahrenen Viecher verwende. Hat dir das Eulenragout nicht geschmeckt oder die Bolognesesoße mit Fuchsfleisch?«
»Aber da muss man doch keine Lebensphilosophie draus machen!« Felix sog verzweifelt an seiner Zigarette. »Und deswegen schon gar keinen Bauplatz kaufen. Ich mein, was sind ein paar Ratten und Füchse im Vergleich zu zwei Lkws?«
Mein Handy klingelte, Martha blies mir den Marsch, weil ich noch nicht nach unten gekommen war. »Hey«, rief ich den beiden zu. »Es gibt einen Aperitif im Innenhof.«
Als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt, sahen sie zu mir hoch und nickten eilfertig. Ich schloss das Fenster, nahm meine Messertasche und die Kochklamotten aus der Tasche. Auf dem Weg nach unten stieß ich auf Hedwig, die ihren kleinen, runden Körper in ein rosa Kleid mit weißem Kragen gesteckt hatte. Sehr kuchenaffin, wie ich fand. Sie schloss sich mir an und fragte nach meinem Patissier-Kurs.
»Deville! Ich habe sein Buch über Dekorationen in der Patisserie gelesen. Kannst du dich erkundigen, ob er auch Kurse für Laien anbietet?«
Das versprach ich und stieg mit ihr in den Innenhof hinunter, wo wir auf Pascal und Felix stießen. Hedwig lächelte Pascal an und lief mit ihm weiter, Felix blieb stehen, nestelte schon wieder eine Zigarette aus seiner Packung. Er rauchte Roth-Händle, die bereits in unserer Jugend Tot-Händle genannt wurden, und schenkte mir einen seiner melancholischen Hundeblicke.
»Hab gar nicht gemerkt, dass du am Fenster stehst«, sagte er beim Anzünden der Zigarette.
»Dabei bin ich eigentlich unübersehbar.«
»Stimmt. Rote Locken und Sommersprossen hat nicht jeder.«
»Und so groß und schwer sind auch nicht so viele.«
»Weißt du noch, wie ich versucht habe, deine Sommersprossen in der dritten Klasse zu zählen? Ich bin auf dreihundertfünf gekommen.«
»So weit hast du damals schon zählen können?«
Die Antwort ein leichtes Lächeln, dann folgten wir Pascal und Hedwig zu den Stehtischen, wo ich neben Martha und Erna ein paar neue Gesichter entdeckte. Mitglieder der elsässischen Küchencrew, die uns der Hausherr Pierre Mueller vorstellte, der ein bisschen wie der Franzose aus der Camembert-Werbung aussah: klein und drahtig, dunkler Schnäuzer, Baskenmütze. Hände wurden geschüttelt, Küsschen getauscht, mit Cremant d’Alsace aus Scherwiller angestoßen, Blätterteigstangen in Kräuterquark getaucht.
»Bibbeleskäs heißt der bei uns«, sagte Erna. »Und bei euch? Fromage de bibbelebib?«
»Bibbeleskäs wie bei euch!«, antwortete Pierre Mueller.
Allgemeines Gelächter, wieder wurde miteinander angestoßen.
»Die wolle uns b’soffe mache, bevor mir mit dem Kochen anfange«, kicherte Hedwig schon leicht angeschickert und lehnte sich wie zufällig gegen Pascal, der neben ihr stand.
Ich stellte mir kurz eine Mahlzeit im zukünftigen Haushalt der beiden vor: Fleisch, frisch von der Straße, und als Nachtisch eine Torte aus dem Dr.-Oetker-Backlabor. Ob das gut gehen konnte?
»Einer von uns fehlt noch, d’r Luc«, sagte Pierre. »Do isch er jo!«
»Mannomann«, entfuhr es Hedwig. Sie richtete sich auf, zupfte ihr Bonbonkleid zurecht und suchte Abstand zu Pascal.
Ich sah auf. Dieser Luc kam direkt auf mich zu. Unsere Blicke trafen sich, und zum ersten Mal an diesem Tag spürte ich meinen Bauch. Der geriet von einer Sekunde in die nächste in hellen Aufruhr.
Es war Martha, die zum Aufbruch drängte. Wir seien nicht nur zum Vergnügen hier, Feiern könne man später noch, erst gelte es, zu kochen. Also, auf in die Küche! Frisch ans Werk!
Wenig später zeigte uns Pierre Mueller die Salle polyvalente, und es galt, sich in einer fremden Küche zu orientieren. Der Jörger-Metzger hatte unsere Zutaten ordentlich im Kühlraum abgestellt. Von dort schafften wir sie in die Küche. Während die Franzosen noch auspalaverten, wer wo arbeiten sollte, herrschte auf deutscher Seite wilder Arbeitseifer. Pascal stemmte den schweren Topf mit der Rinderbrühe auf den Herd, Hedwig schlüpfte in ihre rüschenumrankte Schürze. Martha sortierte Zutaten hin und her, während Erna schon die Spüle mit Beschlag belegte, um ihre Kartoffeln zu waschen. Felix breitete seine Messer genau da aus, wo ich mir das Mise en place für die Suppeneinlagen aufbauen wollte. Hedwig rief nach einem Mixer, Erna nach einem Topf, Felix nach einer Aufgabe, Pascal, zwischenzeitlich mit einem großen Beil bewaffnet, suchte nach den Markknochen.
Einmal mehr leuchtete mir ein, warum eine professionelle Kochmannschaft streng hierarchisch aufgebaut ist. An der Spitze der Küchenchef, darunter die einzelnen Posten: Saucier, Garde-manger, Entremétier, Patissier und so weiter. Klar verteilte Aufgaben also, jeder wusste genau, was er zu tun hatte, jeder achtete auf den anderen. Mise en place hieß der erste Schritt, sprich alles bereitstellen, was man für seine Gerichte brauchte. Nur durch gute Vorbereitung konnte man zeitgleich mit den Kollegen fertig werden. Denn es war katastrophal, wenn das Fleisch vor dem Gemüse fertig war oder der Fisch bereits vertrocknete, während die Soße erst aufgeschlagen wurde. Exaktes Timing, ein gemeinsamer Rhythmus, nur so funktionierte es. Und das Tempo gab immer der Küchenchef vor. Er war der Kapitän, der die Crew Abend für Abend durch die stürmische See von dreißig, vierzig, fünfzig verschiedenen Essen steuern musste.
Ich wartete darauf, dass Martha endlich das Kommando übernahm, aber sie sortierte und zählte weiter, während die anderen wild und ziellos vor sich hin werkelten. Es kostete mich wahnsinnige Überwindung, nicht selbst ans Ruder dieses schlingernden Kahns zu springen, um ihn für den Abend ins richtige Fahrwasser zu setzen, denn das war Marthas Job. Mach dir nichts draus, bleib ganz ruhig, du weißt doch, dass die Sache schiefgehen muss, redete ich mir ein, während ich an meinem Arbeitsplatz Däumchen drehte.
Die Franzosen auf der anderen Seite der Küche gerieten jetzt in Bewegung, ich schnappte ein paar knappe Befehle von Pierre Mueller auf, und kurze Zeit später stand jeder ohne viel Federlesen an seinem Platz und schien genau zu wissen, was er zu tun hatte. Luc, groß, breites Kreuz, das halblange blonde Haar jetzt zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, schickte mir einen amüsierten Blick, als er einen schweren gusseisernen Topf auf den Gasherd wuchtete. Seine Augen gefielen mir. Kastanienbraun, ganz warm.
»Coq au Riesling, das ist mein Job. Und deiner?«, fragte er.
»Dies und das«, gab ich zurück und bekam mit einem Schlag bessere Laune.
»Une tournante«, kam retour.
Oho. Einer, der sich mit Kochposten auskannte! Der Tournant ist der Springer in einer Kochbrigade, ein Alleskönner.
»Ich bin die Patissière«, krähte Hedwig.
»Das ist unübersehbar!«
Er deutete mit einem Kochlöffel auf ihre Schürze. Sie zupfte ein wenig daran herum und kicherte. Charmant, charmant, der Herr am Fleischtopf!
»Au travail!«, rief ihn Pierre Mueller zur Ordnung, der wie ein richtiger Küchenchef alles im Blick hatte, und deutete auf Zwiebeln, Speck und Champignons, die Luc für seinen Coq zu schneiden hatte.
Auf unserer Seite betrachtete Pascal das als Aufforderung, die Markknochen mit solcher Wucht zu zerhacken, dass sie wie Wurfgeschosse durch die Gegend flogen. Ich brachte ihm die zurück, die auf meinem Arbeitsplatz gelandet waren. Immerhin spülte er sie ab.
»Falls dich das Roadkill-Fleisch interessiert, kannst du gern mal bei mir vorbeikommen. Fuchs schmeckt sehr gut, ich hab da ein Ragout probiert, das man noch ein bisschen feiner hinkriegen könnt. Du als Profi …«
»Klar doch«, meinte ich und sah zu, dass ich Land gewann. Ich stellte mir vor, wie Pascal am frühen Morgen die Straßen nach totgefahrenen Tieren absuchte, diese in dem Rucksack sammelte, aus dem er vorhin sein Beil geholt hatte, sie in seiner Küche enthäutete, ihnen Köpfe und Schwänze abhackte, das Fleisch von den Knochen kratzte und daraus tatsächlich etwas kochte …
Erna verzweifelte derweil am Gasherd, den sie nicht entflammen konnte, Felix schliff seine Messer zum zweiten Mal, und Hedwig suchte mit lautem Getöse nach einem Topf für die Sauerkirschen.
Sprich endlich ein Machtwort, Mama, flehte ich in Gedanken und sprang Erna am Gasherd zu Hilfe. Mach dem Tohuwabohu ein Ende!
Schon kräuselte sich der sanfte Duft des Coq au Riesling in der Küchenluft, schon wurden auf der Franzosenseite die Böden für die Tartes ausgerollt, die Küchenmaschine zum Reiben der Crudités angeworfen, die Heidelbeeren nach Blätterresten durchsucht, schon sah es also so aus, als würden sie uns locker schlagen, da wieselte Pierre Mueller plötzlich auf unsere Küchenseite, flüsterte Martha etwas ins Ohr und kehrte dann ohne ein weiteres Wort wieder in sein Reich zurück.
Was immer der kleine Franzose ihr eingeflüstert hatte, es wirkte Wunder. Martha straffte den Rücken, klatschte in die Hände, sammelte unsere desperate Kochschar um sich und machte endlich klare Ansagen. Höchste Eisenbahn, wir hatten nur noch zwei Stunden Zeit. Was ich nicht für möglich gehalten hatte, geschah: Wir fanden einen gemeinsamen Rhythmus. Felix präparierte die Schäufele, Pascal kratzte das Mark aus den Knochen – erstaunlich behutsam –, Erna schnippelte Zwiebeln für den Kartoffelsalat, Martha schnitt Pfannekuchen für die Flädle klein, ich rieb unter Tränen Meerrettich, Hedwig dickte ihre Sauerkirschen ein, nicht ohne vorher alle – Deutsche und Franzosen – ihr Schwarzwälder Kirschwasser riechen und kosten zu lassen, das sie am Ende großzügig über die Sauerkirschen goss.
Plötzlich herrschte in der Küche eine bombige deutsch-französische Stimmung mit emsigem Treiben und viel Gelächter, es gelang mir sogar, Ernas Fondor verschwinden zu lassen, bevor sie damit den Kartoffelsalat »nachwürzen« konnte. Und dann, als die Bestellungen Schlag auf Schlag eintrudelten, legten wir gemeinsam ein hoch konzentriertes Hand-in-Hand-Arbeiten beim Rausschicken der Teller hin.
Da stand ich ganz zufällig oder schicksalhaft neben Luc und verliebte mich nach seinen Augen in seine Hände, die einerseits kräftig und an Arbeit gewohnt waren, andererseits mit einer derart sanften Bewegung einen Hauch Petersilie auf den Coq au Riesling streuten, dass ich nichts anderes wollte, als von ihnen berührt zu werden.
DREI
Ich war im siebten Himmel, als jemand aus weiter Ferne meinen Namen rief. Aber ich wollte mich auf keinen Fall aus dem Paradies vertreiben lassen, also ignorierte ich das Rufen, drehte mich zur Seite, tauchte mein Gesicht in das Kissen neben meinem, atmete den fremden Duft ein, der daran haftete.
»Luc«, murmelte ich und tastete mit der Hand nach seinem Körper. »Luc!«
Ich richtete mich auf, öffnete jetzt doch die Augen, suchte im Zimmer nach dem Mann, fand ihn nicht. Stattdessen erblickte ich meine Mutter, die sich im Türrahmen festhielt. Nachthemd, zerzauste Haare, nervöser Blick. Martha, natürlich. Wer sonst würde mich mitten in der Nacht wecken? Trotzig warf ich mich wieder aufs Kissen, zog das Plumeau über den Kopf und schloss die Augen. Aber der Weg zurück ins Paradies war versperrt.
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