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Spitzenköchin Katharina Schweitzer fährt zum Fasten ins beschauliche Murgtal. Zwölf Tage Ruhe und Entspannung warten auf sie, leider auch drei Leichen. Die erste kann Katharina noch ignorieren, die beiden anderen nicht mehr. Von Sauerkrautsaft und Fencheltee eher geschwächt als gestärkt, hängt sie wieder mittendrin in einem Kriminalfall und muss sich mit radikalen Veganern und undurchsichtigen Schweizern herumschlagen. Doch Katharina wäre nicht Katharina, wenn ihre Spürnase nicht auch diesen kniffligen Fall lösen könnte ...
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Seitenzahl: 460
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Brigitte Glaser lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin in Köln. 1996 erschien mit »Kölsch für eine Leiche« der erste Krimi, 2001–2008 mit »Tatort Veedel – Orlando & List ermitteln« eine Kurzkrimi-Serie im Kölner Stadt-Anzeiger, 2003 mit »Leichenschmaus« der erste Katharina-Schweitzer-Krimi, 2010 mit »Schreckschüsse« das erste Jugendbuch, 2016 mit »Bühlerhöhe« der erste Roman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shinelight/photocase.de
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-219-9
Der Badische Krimi
Originalausgabe
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Im Kühlschrank lauert dein schlimmster Feind.
Manuel Vázquez Montalbán
Damit Sie sich behutsam auf die Fastentage vorbereiten, sollten Sie viel trinken: mindestens zwei Liter stilles Wasser, Saftschorle oder Kräutertee. Stellen Sie Ihr Essen auf leichte Kost um, greifen Sie zu frischem Obst und Gemüse, bei Bedarf essen Sie ein wenig Vollkornreis anstelle von Fleisch und Fettigem. Essen Sie nur so viel, bis Sie sich gesättigt fühlen. Alkohol und Kaffee sind tabu.
Es war nicht die Stimme des Teufels, die uns den Weg ins Himmelreich wies, sondern die von Adelas Navi. In Schönmünzach befahl sie uns, ins Langenbachtal zu fahren und dann in Zwickgabel links abzubiegen. Ab dort schwieg die Stimme, und wir folgten einem kurvenreichen Weg bergan. Linker Hand schlängelte sich ein wild schäumender Bach ins Tal, und rechter Hand drückte ein mit dunklen Tannen bewaldeter Berg auf die Straße. Die war so schmal, dass man fünf Kreuze schlug, wenn einem keiner entgegenkam. Selbst Adela, die ja einen sehr forschen Fahrstil pflegte, drosselte hier das Tempo und hupte vor jeder Kurve. Weiter und weiter führte der Weg bergan, immer noch schwieg die Stimme. Adela schimpfte wie ein Rohrspatz über die dummen Navis und befahl mir, nach einem echten Wegweiser Ausschau zu halten, nur es gab keinen. Umkehren war eine rein theoretische Option, eine Möglichkeit dazu fehlte. Als die Straße sich in zwei noch schmalere Wege verzweigte und links ein prächtiges Herrenhaus im Schwarzwaldstil auftauchte, meldete sich die Stimme dann doch noch einmal. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündete sie und klang gleichzeitig so souverän und bescheiden, dass Adela wegen ihres Misstrauens ein bisschen nach schlechtem Gewissen aussah.
»Kurhaus Himmelreich«, stand in elegantem Schriftzug zwischen roten Fensterläden und üppiger Geranienpracht, rechts und links des Eingangs rauschten zwei prächtige Rosskastanien. Adela lenkte ihr Cabrio über die schmale Brücke auf die andere Seite des Baches, gab ordentlich Gas, als sie der weit geschwungenen Kurve hoch zum Parkplatz hinter dem Haus folgte, und brachte den Wagen dort in knirschendem Kies zum Stehen.
Wir stiegen aus, reckten uns nach der langen Fahrt und sogen die würzige Schwarzwaldluft ein. Sofort tauchte vor meinem geistigen Auge ein ordentliches Vesper mit geräuchertem Speck, Dosenleberwurst, Essiggurken und einem deftigen Holzofenbrot auf, aber so etwas würde es im Kurhaus Himmelreich nicht geben, uns erwartete kein Leben in Saus und Braus. Adela beendete das Luftschnappen, öffnete den Kofferraum, hievte zuerst meinen und dann ihren Rollkoffer heraus, bevor sie das Schiebedach hochschob, einmal zärtlich über den schwarzen Lack strich und den Wagen abschloss. Nach einem besorgten Blick auf meinen bandagierten Arm zog sie die Schlinge, in der er steckte, etwas enger und ermahnte mich zum x-ten Mal, den Arm so wenig wie möglich, am besten gar nicht zu bewegen. Dann drehte sie sich zu ihrem Koffer um, fuhr mit einem energischen Hauruck den Griff aus und zerrte ihn über den Kies in Richtung Eingang. Ich folgte ihr.
Korbmöbel unter den Kastanien luden zum Sitzen ein, aber dieser Einladung war bei unserer Ankunft kein Mensch gefolgt. Polster und Stoffe waren im Rotton der Fensterläden gehalten und mit kleinen geometrischen Mustern in zartem Grau durchzogen. An den Nähten der Tischdecken hingen kleine Bleikirschen und verhinderten durch ihr Gewicht, dass die Decken wegflogen. Links von uns glitzerte in einer gläsernen Kuppel ein türkisfarbener Pool, und unter die Schwarzwaldluft mischte sich plötzlich ein Hauch von Chlor.
Die geflügelte Eingangstür stand weit offen, und das Gewicht unserer Koffer war wie weggeblasen, als wir sie über das glatte Parkett zur Rezeption rollten. Adela drückte die Klingel, da niemand auf uns wartete. Es war überhaupt niemand da: Der Aufzug schräg hinter der Rezeption stand still, aus dem Treppenhaus rechts des Empfangs drang kein Laut, und die Sitzgruppe neben der Eingangstür war sehr schick, aber verwaist. Die Sitzpolster, auch in Rot und Grau gehalten, hoben durch das zarte Grau den Holzton des Parketts hervor. Überhaupt hatte ein Innenarchitekt, nein, korrigierte ich mich, weil alles für eine weibliche Handschrift sprach, eine Innenarchitektin hier ganze Arbeit geleistet. Alt und Neu, kräftige und zarte Farben, Holz und Glas, alles harmonierte aufs Vortrefflichste und strahlte umfassende Wohlfühlatmosphäre aus.
Jetzt leuchtete ein Lämpchen über dem Aufzug, und mit einem zarten »Pling« öffnete sich die Tür. Die Frau, die aus dem Aufzug trat, signalisierte mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie die Herrin des Hauses war.
»Herzlich willkommen im Himmelreich.« Die Stimme klar wie der Bergbach hinter dem Haus, die Lautstärke exakt dosiert. »Ich bin Peggy Heinemann.« Sie reichte jeder von uns die Hand. »Hatten Sie eine angenehme Anreise?«
»Nun ja, es ist eine höllisch gefährliche Straße ins Himmelreich. Ein paar Kurven weniger hätten es schon sein können«, meinte Adela und begann, ihre Handtasche zu durchwühlen. Nach einiger Zeit förderte sie einen Umschlag mit dem Emblem einer Wellness-Zeitschrift zutage. »Adela Mohnlein«, stellte sie sich vor. »Ich habe beim Preisausschreiben zwölf Tage Heilfasten für zwei Personen in Ihrem Haus gewonnen. Katharina Schweitzer« – sie deutete auf mich – »ist meine Begleitung.«
»Das Preisausschreiben.« Frau Heinemann lächelte – nicht falsch, aber keineswegs warm – und nahm den Umschlag entgegen. »Heilfasten ist etwas Wunderbares und dient der Prophylaxe. Die ist doch heute das A und O einer gesunden Lebensweise.«
Sie selbst war der lebende Beweis für eine solche Prophylaxe: feingliedrig und schlank wie eine Turnerin, das blondierte Haar zu einem modischen Bob geschnitten, ein energischer Mund, das schmale Gesicht faltenfrei. Ihr Alter war schwer zu schätzen: Mitte vierzig, falls es die Jahre gut mit ihr gemeint hatten, Ende dreißig, falls nicht.
Dass Adela und ich unsere Körper nicht mit der gleichen Ausdauer gepflegt hatten, zeigte der Blick, mit dem sie uns musterte. Unter Adelas himbeerfarbenem Nickianzug, den sie der Bequemlichkeit halber für die Fahrt ausgewählt hatte, zeichnete sich jedes ihrer Speckröllchen ab. Die Leinenhose und das weite Hemd, die ich trug, kaschierten die meinen nur mäßig. Groß und kräftig war ich mein Leben lang gewesen, und die Wechseljahre hatten mir noch ein paar zusätzliche Kilos beschert.
»Wenn Sie dann bitte die Anmeldebögen ausfüllen würden«, bat die Hausherrin, die in der Zwischenzeit hinter die Rezeption getreten war, und legte uns Formulare und Zimmerschlüssel auf den Tresen.
»Soll ich das für dich übernehmen, Schätzelchen?«, fragte Adela und deutete auf meinen bandagierten rechten Arm.
Ich nickte. Unterschreiben konnte ich zur Not mit links.
»Gebrochen?«, erkundigte sich Frau Heinemann.
»Sehnenscheidenentzündung.«
»Sie Ärmste!«, meinte sie bedauernd. »Tennis?«
»Rinderknochen.«
Zum ersten Mal wirkte ihr Blick leicht irritiert.
»Sie ist Köchin«, beeilte sich Adela zu sagen.
»Köchin?«, echote Frau Heinemann. »Und Sie sind ebenfalls …«
»Nein, nein«, lachte Adela. »Ich bin Hebamme. – Im Ruhestand«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
Sie kniff mich unauffällig in die Seite und schüttelte kaum merklich den Kopf. Auf unserer ersten gemeinsamen Reise hatte Adela behauptet, dass sie als alte Hebamme jeder Frau ansehen könne, ob sie Mutter war oder nicht, und seither spielten wir dieses Spiel. Ich wettete nur noch selten mit ihr, Adela hatte eine Trefferquote von über neunzig Prozent, und bei Peggy Heinemann hätte auch ich getippt, dass sie keine Kinder hatte.
»Wenn man Stress ignoriert, sucht er sich im Körper eine Stelle, um sich bemerkbar zu machen.« Routiniert heftete die Herrin des Hauses die Anmeldebögen ab und musterte mich dann von unten bis oben. »Köchin! Kein Wunder, dass der Stress bei Ihnen in Gestalt einer Sehnenscheidenentzündung daherkommt. Köche müssen ja unentwegt aus dem Handgelenk heraus arbeiten, können ihre Finger nicht still halten. Erst so etwas wie eine Sehnenscheidenentzündung zwingt sie, ihre Arbeit ruhen zu lassen. Ich verspreche Ihnen, dass die Kur nicht nur Ihrer Figur, sondern auch Ihrem kranken Arm guttun wird. – Darf ich Ihnen nun das Haus zeigen?«
Sie deutete mit dem Arm zum Aufzug und federte mit leichtem Schritt darauf zu. Wir folgten mit unseren Rollkoffern. Stumm fuhren wir in die erste Etage, ich rollte meinen Koffer nach links, am Treppenhaus vorbei in einen Seitentrakt, während die Hausherrin erläuterte, dass man diesen Teil des Hauses genau wie den Teil für den Wellness-Bereich vor fünf Jahren angebaut und dafür Hölzer und Steine aus der Gegend verwendet hatte, um die Harmonie zwischen Alt und Neu zu gewährleisten. Zum ersten Mal meinte ich einen leicht sächsischen Tonfall aus ihrer Stimme herauszuhören.
Vor der Tür Nummer 114 hielt sie an, schloss auf und bat uns, einzutreten.
Das Zimmer war licht und hell, Schwarzwälder Holz für Bett, Schrank und Schreibtisch, in Bettwäsche und Sesselpolster wiederholten sich die Stoffe aus dem Eingangsbereich. Ein Strauß Wiesenblumen auf dem Couchtisch, Geranien am Geländer des kleinen Balkons.
»Ihr Zimmer liegt genau darunter«, erklärte Frau Heinemann Adela. »Anstelle des Balkons hat es eine kleine Terrasse.«
»Kein Doppelzimmer?«, fragte ich erstaunt. Nicht dass ich unbedingt eines mit Adela teilen wollte, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass bei einem Preisausschreiben zwei Einzelzimmer herausspringen würden.
»Wir haben im Himmelreich ausschließlich Einzelzimmer«, erklärte sie. »Nur so kann sich jeder Gast auf sich selbst und den Heilungsprozess konzentrieren.«
Nachdem wir auch Adelas Koffer abgestellt hatten, zeigte sie uns den Wellness-Bereich: Dampfbad und verschiedene Saunen, Massage- und Fitnessräume, einen Ruheraum mit einer Glasfront zum Bach und natürlich den runden Pool, der auch von Nahem eine Augenweide war. Sie versäumte es nicht, uns immer wieder auf die Wasserkaraffen und Teekannen hinzuweisen, die überall herumstanden.
»Das Wasser kommt aus einer Quelle im Murgschifferwald und schmeckt himmlisch«, erklärte sie. »Trinken Sie davon, so viel Sie wollen. Sie werden merken, wie viele Geschmacksnuancen Sie im Laufe der Kur in diesem Wasser entdecken werden.«
In der Not frisst der Teufel Fliegen, dachte ich und vertrieb das Schwarzwälder Vesper, das wieder vor meinem geistigen Auge auftauchte. Geschmacksnuancen von Wasser!
Die Hausherrin führte uns zurück zum Empfang und empfahl sich.
In meinem Zimmer packte ich danach den Koffer aus, schnupperte im Bad an den hauseigenen kleinen Kosmetikfläschchen, testete die Matratze und traf mich dann mit Adela zu einem Kräutertee unter den Rosskastanien wieder. »Ein kleiner Sommergruß«, stand auf dem Kärtchen neben der Kanne. »Hibiskus, Süßholz, Minze, Heidelbeerblätter«.
Adela goss ein, und ich rief Arîn an, der ich in meiner Abwesenheit die Weiße Lilie anvertraut hatte. Dabei betrachtete ich meinen bandagierten Arm. Die dritte Sehnenscheidenentzündung in diesem Jahr, immer im rechten Unterarm. Die Ansage des Arztes: absolute Ruhigstellung, eine Schiene Tag und Nacht, keinerlei Belastung, nicht mal Zähne putzen sollte ich damit. Meine Jammerei darüber, wie ich das als Köchin mit eigenem Restaurant machen sollte, konterte er mit drohender Berufsunfähigkeit. Nicht mehr arbeiten zu können war aber für eine leidenschaftliche Köchin wie mich der reinste Horror. Doch auch die Vorstellung, in unserer Wohnung hocken zu müssen, während drei Kilometer weiter meine Leute in der Weißen Lilie schufteten, machte mich wahnsinnig. So wie es sie wahnsinnig machte, wenn ich mit dem Arm in der Schlinge alles kontrollieren wollte. Was erstens gar nicht meine Art und zweitens überhaupt nicht nötig war. Eva versah seit elf Jahren den Service, Arîn kochte seit neun Jahren bei mir. Aber konnte ich der kleinen Kurdin wirklich die Weiße Lilie anvertrauen? Schaffte sie das? Ich schrieb mit ihr Speisepläne und Einkaufslisten, besprach mit ihr Budgetierungen und Eigenheiten von Lieferanten, hatte aber immer noch ein verdammt schlechtes Gefühl, sie in der Küche allein zu lassen. Doch als dann unser Ex-Koch Holger, frisch aus Frankreich zurück, bereit war, ein paar Wochen in der Weißen Lilie auszuhelfen, hatte Adela leichtes Spiel, mich zu dieser Schwarzwaldreise zu überreden. Nicht des Fastens wegen, aber wegen des Abstandes zur Weißen Lilie.
»Arîn?«, fragte ich, als sie endlich ans Telefon ging. »Alles in Ordnung? Ist euch die Tomaten-Consommé gelungen?« Sie war gelungen, Arîn und Holger hatten alles im Griff, dreißig Voranmeldungen für den Abend. »Die Marillenknödel, du weißt schon …«
»Katharina …«, unterbrach mich Arîn, und ich murmelte: »Schon gut, schon gut«, bevor ich auflegte.
»Und?«, fragte Adela und rührte in ihrer Teetasse.
»Sie machen Marillenknödel, und bei Marillenknödeln muss der Quark oder, wie die Österreicher sagen, der Topfen …«
»Loslassen und Luft holen, Schätzelchen.« Adela tätschelte wie schon so oft meine Hand. »Probier mal den Tee, er ist gar nicht schlecht.«
Ich probierte, und es stimmte.
»Entspannung und Erholung«, fuhr Adela fort. »Wir lassen es uns gut gehen mit Spaziergängen und Massagen. Saunen, wann immer wir mögen. Innere und äußere Reinigung. Fasten ist nicht irgendein modischer Humbug, das hat eine lange Tradition. Es gibt Leute, die behaupten, dass man davon einen sehr klaren Kopf bekommt, andere, dass es zu spiritueller Erleuchtung führt. Auf alle Fälle schafft es Abstand zum Alltag, es hilft, Probleme …«
»Ist ja gut«, unterbrach ich sie und dachte an vorausgegangene Ausflüge und Urlaube mit ihr. »Hauptsache, keine Leichen.«
»Natürlich keine Leichen«, stimmte sie mir zu und sah mich mit ihren großen dunklen Augen an, als könnte sie kein Wässerchen trüben. »Es muss ja irgendwann Schluss damit sein, dass du immer über Leichen stolperst.«
Wie geschickt sie mir da den Schwarzen Peter zuschob! Wie elegant sie davon ablenkte, dass es ihre Neugierde gewesen war, die uns auf mehr als eine Leiche hatte stoßen lassen.
»Wir sind im Himmelreich«, fuhr Adela fort und deutete mit einer ausladenden Geste auf Wiesen und Wälder. »Idylle pur! Hier sind wir von Verbrechen aller Art verschont.«
Es irritierte mich, dass sie auf einmal begann, wie wild mit beiden Armen zu wedeln. »Guck mal, wer da kommt«, rief sie und schüttelte lachend den Kopf.
Ich drehte mich um und traute meinen Augen nicht. Das war nun wirklich eine Überraschung. »Luc!«, rief ich aufgeregt. »Luc!« Dann sprang ich auf und flog auf ihn zu, so wie man mit fünfzig plus und einem Arm in der Schlinge halt fliegen kann. »Luc!«
Er breitete die Arme aus und fing mich auf, packte mich mit seinen kräftigen Winzerhänden an der Hüfte und wirbelte mich einmal im Kreis herum, bevor er mein Gesicht in seine Hände nahm und mit Küssen bedeckte. Wir sahen uns nicht sehr oft. Luc betrieb ein Weingut im Elsass, ich ein Restaurant in Köln, das hieß viel Fahrerei und seltene Treffen. Drei Wochen hatte ich meinen Liebsten nicht gesehen, und mein Herz klopfte mal wieder bis zum Halse – einer der wenigen Vorteile von Fernbeziehungen.
»Wa… was machst du denn hier? Musst du nicht Unkraut spritzen oder Reben schneiden?«, stammelte ich freudestrahlend.
»Nur weil ich mal über zu breite Hüften oder einen dicken Bauch gelästert habe, musst du doch nicht zum Abnehmen fahren«, flüsterte er mir schuldbewusst zu. »Im Gegenteil, ich liebe jede deiner Rundungen.«
Zur Bekräftigung streichelte er sanft über meinen kräftigen Hintern, und ich war froh, dass er nicht mehr schmollte, weil ich diese erzwungene Auszeit nicht auf seinem Weingut in Scherwiller verbrachte, wie er es sich gewünscht hatte. Ich schmiegte mich an ihn, als wir zu Adela zurückgingen, die am Tisch sitzen geblieben war.
»Chère Adèle.« Luc beugte sich zu ihr hinunter, um sie auf die Wangen zu küssen. – Mit »chère Adèle«, den trois bises und seinem Elsässer Charme nahm er sie langsam für sich ein. Was nicht einfach war, denn meine Mitbewohnerin hatte einen Narren an Ecki, meinem Ex, gefressen. – »Erlaubst du, dass ich Catherine für ein, zwei Stunden entführe?«
»Geht schon, ihr Turteltäubchen«, kicherte sie und winkte uns weg.
Luc lenkte mich auf einen Weg, der hinter dem Parkplatz in einen Wald hineinführte. Nach vielleicht hundert Metern gab der Wald den Blick auf eine Sommerwiese frei, durch die sich der Bach schlängelte. Nah am Wasser zwischen Margeriten und Glockenblumen entdeckte ich ein wie aus einem Märchen herbeigeschafftes Tischlein-deck-dich. Was da auf dem weißen Tischtuch im Schatten eines Haselstrauches wartete, ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Eine kleine Henkersmahlzeit.« Luc grinste.
»Ist der Gugelhupf etwa aus der Patisserie Schickele?«, fragte ich, als wir durch die Wiese zum Picknickplatz liefen. »Und der Crémant? Ein 11/8/13? Etwa schon ein 15er?«
»Mais oui«, bestätigte Luc lachend, als er wenig später den Korken knallen ließ.
Der 11/8/13 war Lucs bester Crémant d’Alsace. Eine exquisite kleine Edition, davon machte er höchstens fünfzig Flaschen pro Jahr. Es gab ihn seit 2014, er war nach dem Datum unseres Kennenlernens benannt. Eigentlich habe ich es nicht so mit dem Romantischen, aber als Luc mir die erste Flasche zeigte, das hatte mich umgehauen. Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Den 15er kostete ich zum ersten Mal. Er schmeckte himmlisch. Alles hier war himmlisch.
Wir ließen die Gläser klirren, fütterten uns gegenseitig mit Erdbeeren, kitzelten uns mit Glockenblumen, turtelten und schnäbelten, wie nur Verliebte es tun.
»Schön hier«, meinte Luc, als wir grade mal voneinander lassen konnten. »Fast so schön wie unsere Vogesen. Kennst du die Ecke?«
Ich schüttelte den Kopf. »Als Erwachsene war ich überall in der Welt, nur nicht im Schwarzwald, und als Wirtsleute-Kind … Du weißt schon, Wirtsleute arbeiten eigentlich immer und besonders am Wochenende. Du kannst dir also vorstellen, wie selten wir einen Ausflug in den Schwarzwald gemacht haben. Und wenn, dann immer zu Orten auf der Rheinseite. Allerheiligen-Wasserfälle, Karlsruher Grat, Brigittenschloss, Mummelsee. Die Hornisgrinde war das Höchste der Gefühle. Nie die andere Bergseite, nie das Murgtal. Ich glaube sogar, die Gegend ist nicht mehr badisch, sondern schwäbisch. Irgendwo hier verläuft die Grenze.«
»Und badisch und schwäbisch, das ist wie …«
»Ach vergiss es«, unterbrach ich seinen Satz, um ihn wieder zu küssen.
Die Sonne war bereits untergegangen, als wir uns eng umschlungen auf den Rückweg machten. Die Korbstühle unter den Rosskastanien lehnten an den Tischen, die Rezeption war wieder verwaist, die zwei Frauen in den Sesseln neben dem Eingang sahen bei unserer Ankunft kurz auf, vertieften sich aber schnell wieder in ihre Zeitschriften.
»Hast du hier nur die schmale Pritsche einer Klosterklause, oder ist dein Bett breit genug für zwei?«, flüsterte Luc mir ins Ohr. »Und dein Arm? Meinst du, wir können …?«
»Das Bett ist zwar schmal, aber einen Versuch ist es wert«, flüsterte ich zurück.
Und ob es das war!
Nur das Einschlafen hinterher gestaltete sich schwierig, da wusste ich nicht so recht, wohin mit dem kranken Arm. Deshalb hörte ich das leise Klopfen an der Tür sofort. Ein Blick auf die Uhr zeigte an, dass es weit nach Mitternacht war.
»Mach auf, ich bin’s«, hörte ich Adela flüstern.
Ich wand mich aus Lucs Umarmung und stand auf. Im Dunkeln dauerte es, bis ich den kranken Arm in den Bademantel gesteckt bekam. Adela klopfte erneut, deutlich ungeduldiger. Ich stolperte zur Tür. Als ich sie öffnete, schlug mir eine Schnapsfahne entgegen, die mir für einen Moment den Atem nahm.
»Komm mit!«
Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern drehte sich sofort um und lief den Flur hinunter. Geradegehen fiel ihr schwer, mehrfach knickte sie um, mehrfach schrubbte sie kurz an der Wand entlang. Beim Abstieg hielt sie sich mit beiden Händen am Treppengeländer fest, schlug unten angekommen schlingernd den Weg zu ihrem Zimmer ein. Nicht nur ich, auch sie hatte sich nicht an das Alkoholverbot gehalten. Aber im Gegensatz zu mir war sie voll wie eine Haubitze. Ihre Tür stand weit offen, ich folgte ihr ins Zimmer hinein. Das Bett war unberührt, auf dem Nachttisch stand der kleine Silberrahmen mit Kunos Porträt, auf einem Hocker Adelas geöffneter Koffer, ordentlich gefaltet hing ihr himbeerfarbener Nickianzug über einer Sessellehne. Erst jetzt bemerkte ich, dass Adela sich schick gemacht hatte. Sie trug das weinrote Paillettenkleid, das sie zuletzt bei Bauses Firmenjubiläum getragen hatte.
»Wo bist du gewesen?«, fragte ich.
Aber Adela hörte meine Frage nicht, sie starrte auf das Bett und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann klopfte sie das Plumeau ab, wirbelte das Kopfkissen auf, ging auf die Knie, steckte den Kopf unters Bett, taumelte zurück in die Senkrechte, stürzte ins Bad, schob die Duschwand zur Seite, stolperte zurück ins Zimmer, riss die Schranktüren auf, umrundete das Sofa, zog den Vorhang vor der Terrassentür auf.
»Kannst du mir endlich sagen, was los ist?«
Adela plumpste in den Sessel, schob sich die Pumps von den Füßen und griff nach einer Wasserkaraffe, die ja überall im Haus herumstanden. Aber ihre Hand zitterte so sehr, dass es ihr nicht gelang, das Wasser einzugießen. Ich nahm ihr die Karaffe ab, füllte das Glas und reichte es ihr. Sie trank es in einem Zug aus.
»Er hat auf meinem Bett gelegen … Ich weiß doch, wie einer aussieht, wenn er tot ist«, nuschelte Adela und hielt mir das Glas hin. Ich füllte es erneut.
»Tot? Wer?«, fragte ich alarmiert.
»Roger.«
»Roger?«
»Roger Hürlimann.« Sie hickste und beschrieb mit dem Glas in der Hand einen weiten Bogen. »Ich sag dir, sein Facel Vega …«
»Hä?«
»Bei mir dreht sich alles, ich glaube, mir wird …« Sie stellte das Glas ab, sprang vom Sessel hoch, hielt sich die Hand vor den Mund und hechtete ins Bad.
Bald hörte ich Würgegeräusche und die Wasserspülung der Toilette, gefolgt von Gurgeln und Zähneputzen. Blass und zittrig lehnte Adela danach im Türrahmen und rieb sich die Stirn.
»Schlimmer als ein aufgescheuchter Wespenschwarm«, stöhnte sie. »Ich muss mich hinlegen.«
Vergebens versuchte sie, den Zipper ihres Reißverschlusses zu greifen. Ich erledigte das für sie und schälte sie anschließend aus dem Paillettenkleid. Dann suchte ich in ihrem Koffer ein Nachthemd, zog es ihr über den Kopf, schlug die Bettdecke zur Seite, wartete, bis sie lag, deckte sie wieder zu und fragte mich, was für ein Teufelszeug sie gesoffen hatte. Wie Adela vorhin suchte ich das Zimmer noch einmal nach Hinweisen auf die Anwesenheit eines Fremden ab. Die Terrassentür stand offen. Hatte Adela sie geöffnet, oder hatte sie bei ihrer Rückkehr bereits aufgestanden? Ich würde die Freundin morgen danach fragen.
Als ich gehen wollte, schlug Adela noch einmal die Augen auf. »Das mit Roger stimmt trotzdem«, nuschelte sie und schloss die Augen wieder.
Ich nickte, löschte das Licht und ging.
Luc saß aufrecht und mit fragendem Blick im Bett, als ich ins Zimmer zurückkam.
»Adela sieht Gespenster«, sagte ich, zog meinen Bademantel aus und hoffte inständig, dass das der Fall war. Himmelreich! Der Name hatte mich sofort für den Gasthof eingenommen. Rauschende Tannen, klappernde Mühlen, Entspannung bis zum Abwinken. Ein toter Saufkumpan von Adela passte da einfach nicht hin.
Verzichten Sie auf Fleisch, Fisch und Eier. Beginnen Sie Ihren Tag am besten mit einer kleinen Portion Quark und frischen Früchten, essen Sie mittags gekochtes Gemüse, das Sie abends mit Reis und Brühe ergänzen. Nachmittags trinken Sie einen Gemüsesaft und bleiben ansonsten den Trinkvorgaben des ersten Entlastungstages treu.
Luc war schon zwei Stunden zuvor aufgebrochen, nicht ohne mich zum Essen in Baiersbronn einzuladen, selbstverständlich erst nach der Fastenkur. Traube Tonbach oder Bareiss, das überließ er mir. Harald Wohlfahrt oder Peter Lumpp, beide mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet, beide seit Jahren im Olymp der Haute Cuisine zu Hause, wie sollte ich mich da entscheiden? Aber was für eine herrliche Qual der Wahl, wo der Speiseplan ab morgen nur noch Kräutertee und Sauerkrautsaft vorsah, dachte ich, als ich die Treppe hinunterstieg, und sah vor meinem geistigen Auge Wohlfahrts legendäres Carpaccio vom Wolfsbarsch oder Lumpps gratinierte Rosette von der Jakobsmuschel. Allerdings verschwanden diese Bilder schnell, als ich Adelas Stimme hörte und sie wenig später an der Rezeption stehen sah.
»Und Sie sind sicher, dass Roger Hürlimann abgereist ist?«, fragte sie die Hausherrin.
Ich stöhnte leise, hatte ich doch gehofft, dass dieser Mann mit dem Alkohol aus Adelas Kopf verschwinden würde und wirklich nichts weiter als ein Hirngespinst gewesen war.
»Ganz bestimmt«, versicherte Frau Heinemann. »Er hat gestern Abend bereits seine Rechnung beglichen, weil er wie immer in aller Herrgottsfrühe aufbrechen wollte.«
»Er war schon öfter hier zu Gast?«
Peggy Heinemann rieb sich die Hände und lächelte vielsagend.
»Können Sie mir seine Zimmernummer nennen?«
Die Hausherrin furchte die Augenbrauen, beugte sich vor und flüsterte: »Entschuldigen Sie, aber Diskretion ist das A und O unseres Hauses. Unsere Gäste sollen selbstverständlich sicher sein, dass wir nichts, aber auch gar nichts über sie …«
»Es geht um den Facel Vega«, unterbrach Adela sie und erhöhte die Lautstärke ihrer Stimme. »Roger hat mir Unterlagen darüber versprochen. Wenn er an der Rezeption nichts hinterlegt hat, hat er sie vielleicht in seinem Zimmer liegen lassen. Es wäre eine Katastrophe, wenn das Zimmermädchen sie in den Müll wirft.«
Für mich war es offensichtlich, dass die laute Stimme Absicht war und Adela diese »Unterlagen« gerade aus dem Hut zauberte. Ich war gespannt, ob die Hausherrin auf diesen Trick hereinfiel. Sie tat es.
»Ich weise das Zimmermädchen an, dass sie Ihnen die Tür aufmacht«, beschied Frau Heinemann Adela gnädig.
Der Restalkohol, der noch in ihrem Blut sein musste, hinderte Adela nicht daran, eilig davonzurauschen. Obwohl sie inzwischen weit über sechzig war, hatte sie immer noch den energischen Gang einer Dreißigjährigen. Im Treppenhaus hielt ich sie auf.
»Sollen wir nicht erst mal frühstücken?«, schlug ich vor.
»Schätzelchen, ich krieg nicht mal das Schälchen Quark runter, bevor ich nicht weiß, was gestern Nacht passiert ist.« Adela tätschelte in alter Gewohnheit meinen kranken Arm, ließ ihn aber sofort los, als sie den Wäschewagen im Parterreflur erspähte.
»Junge Frau«, rief sie, als das Zimmermädchen aus einem der Zimmer trat, und eilte auf sie zu. »Können Sie mir kurz das Zimmer von Herrn Hürlimann aufschließen?«
Die junge Frau nickte und öffnete die Tür neben Adelas Zimmer. Das Bett war frisch bezogen, im Bad hingen neue Handtücher. Das Zimmer wartete auf einen neuen Gast.
»War das Bett heute Nacht benutzt?«, fragte Adela im Feldwebelton.
Das Zimmermädchen nickte wieder und strich sich die pechschwarzen Haare hinters Ohr. Sie war groß und kräftig und noch sehr jung, höchstens Anfang zwanzig. Bisher hatte sie keinen Ton gesagt. Ihre Augen waren so dunkel und undurchdringlich wie die von Arîn. Überhaupt erinnerte sie mich an die kleine Kurdin in ihrer Anfangszeit. Damals musste man ihr auch jedes Wort aus der Nase ziehen.
»Müll?«, fragte Adela weiter.
Die junge Frau deutete auf den Plastiksack, der an einer Seite des Wäschewagens hing und noch fast leer war. Adela durchwühlte ihn und fand nichts außer gebrauchter Zahnseide und zusammengeknüllten Papiertaschentüchern.
»Sein Auto!«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir und stapfte davon.
»Ich geh jetzt frühstücken«, rief ich ihr hinterher, wandte mich dann noch einmal zu dem Mädchen um und steckte ihr einen Fünfer zu. »Wie heißen Sie?«, fragte ich, weil es mich jedes Mal ärgerte, wenn Zimmermädchen wie Luft behandelt wurden, und es mich noch mehr ärgerte, wenn meine Freundin und Mitbewohnerin dies tat.
»Ebru, Ebru Delbaz.«
»Ebru, ein kurdischer Name«, wusste ich, weil Arîn eine Cousine hatte, die so hieß.
Zum ersten Mal lächelte sie ein wenig.
Das Speisezimmer lag hinter dem Empfang. Als ich eintrat, räumte ein Serviermädchen bereits das Geschirr ab, nur noch ein einsamer Gast, hinter der aufgeschlagenen »Süddeutschen« verborgen, saß an einem der Tische, ansonsten schien der Hunger die Gäste des Himmelreichs wohl sehr früh zum Frühstück zu treiben. Ich steuerte den Tisch neben dem Zeitungsleser an, der der einzige war, auf dem noch zwei Schälchen Quark standen. Zudem auf einem Teller daneben, fein säuberlich aufgereiht, acht Erdbeeren, sechs Kirschen und zwei Kiwihälften, in der Brotschale links davon vier Scheiben Knäckebrot. »Morgentee«, las ich auf dem Kärtchen neben der Thermoskanne. »Brombeer-, Himbeer- und Walnussblätter, Fenchel, Ysop, Ringelblume und belebende Minze«. Auf dem Kräuterquark lag eine einzige als Smiley ausgestanzte Gurkenscheibe. Die aß ich als Erstes, strich dann den Quark auf die Knäckebrote, löffelte die Kiwi aus, schlotzte die Kirschen und hob die Erdbeeren bis zum Schluss auf. Ich wollte mir gerade die vierte in den Mund stecken, als Adela auftauchte.
»Das Auto ist weg«, schnaubte sie und ließ sich erschöpft auf den Stuhl neben mir fallen. »Verschwunden, genau wie dieser Roger Hürlimann. Ich schwöre dir, er hat …«
Am Nebentisch raschelte die Zeitung, dahinter tauchte ein Gesicht mit einer Nickelbrille und umrahmt von einer wilden Einstein’schen Haarpracht auf. Garantiert fünfundsechzig plus, schätzte ich den Mann, er erinnerte an ein winterhartes Dauergewächs.
»Gleich geht’s los. Vorstellungsrunde im Gym-Raum, beginnt pünktlich um neun Uhr, hab ich mir sagen lassen. Meine Damen!« Er tippte grüßend an die Stirn, stopfte die Zeitung in sein Leinenjackett und erhob sich.
»Das ist in sechs Minuten«, wusste ich nach einem Blick auf die Uhr und griff nach der fünften Erdbeere. »Wenn du immer noch keinen Bissen herunterkriegst, übernehme ich deine Portion.«
Wieselflink pickte sich Adela die Erdbeere aus meinen Fingern und steckte sie in den Mund. Die wichtigste Fastenregel »Iss langsam!« ignorierte sie an diesem Morgen völlig. In Windeseile verputzte sie ihre Portion und spülte mit Tee nach.
»Gehen wir«, sagte sie, als sie die Tasse absetzte. »Schauen wir uns die Gäste des Himmelreichs doch mal an.«
Der Gym-Raum lag im Wellness-Bereich, an der Wand türmten sich rote und graue Yogamatten, in der Mitte bildeten große Sitzbälle in Rot und Grau einen Kreis. Man nickte uns bei unserem Eintritt zu. Die meisten Gäste waren weiblich, das winterharte Dauergewächs bildete eine von zwei Ausnahmen. Für ein genaueres Studium der Anwesenden blieb keine Zeit, denn unmittelbar nach uns betrat Frau Heinemann den Raum, in ihrer Begleitung ein Mann um die vierzig, nicht viel größer als und ebenso schlank wie sie. Ihr Blick wie gestern quellklar, seiner dagegen umwölkt, von langen Wimpern verschattet. Er trug einen unauffälligen grauen Anzug aus leichtem Stoff, sie ein blau-weiß gestreiftes Shirt unter einem blauen Jackett und eine helle Sieben-Achtel-Hose. Die zwei setzten sich mit ausgestreckten Beinen auf je einen der Sitzbälle, und Frau Heinemann bat alle, es ihnen gleichzutun. Fünfzehn Personen zählte ich, und nicht allen gelang es, sich so elegant und lässig auf dem Ball zu platzieren wie die beiden. Adela zum Beispiel hatte dafür schlicht zu kurze Beine, und die dicke Frau in dem weiten Kaftan rechts neben ihr thronte darauf so breitbeinig wie die kassubische Großmutter, unter deren Röcken sich der Großvater des kleinen Oskar in Grass’ »Blechtrommel« versteckt hatte.
»Liebe Gäste«, begann Frau Heinemann und ließ ihren Blick einmal kreisen. »Ich bin die Peggy. Wie immer in unseren Kuren biete ich Ihnen, nein euch, das vertrauliche Du an und möchte euch ermuntern, dies untereinander ebenfalls zu tun. Gemeinsam werden wir die nächsten Tage mit Fasten verbringen. Ja, auch ich, obwohl ich natürlich nicht in jeder Kur mitmachen kann, doch diesmal bin ich dabei.«
Sosehr sie sich um eine hochdeutsche Aussprache bemühte, je länger sie sprach, desto weniger konnte sie das weiche, nuschelige Sächsisch verbergen, und ich fragte mich, was sie hier in dieses einsame Schwarzwaldtal verschlagen hatte.
»Zunächst möchte ich euch Dr. Orlow, unseren Hausarzt, vorstellen, der heute den ganzen Tag hier sein wird«, fuhr sie fort. »Alle, die mir bei ihrer Ankunft noch kein ärztliches Attest vorgelegt haben, bitte ich um einen Besuch bei ihm, denn ein Gesundheitscheck empfiehlt sich vor jedem Fasten. In eurem eigenen Interesse muss ich sogar darauf bestehen. Schließlich gibt es eine Reihe von Krankheitsbildern, bei denen dringend vom Heilfasten abgeraten wird.«
»Die Sehnenscheiden des rechten Arms sind Ihre Schwachstelle, abgesehen davon haben Sie die Konstitution eines Schlachtrosses«, hatte mir mein Arzt versichert, als ich mit ihm über das Fasten sprach. »Ob das Fasten der Gesundheit wirklich dient, nun ja, aber Ihnen schadet es ganz bestimmt nicht, und für Ihren Arm kann ich mir nichts Besseres als Ruhe vorstellen.«
Fasten tat ja fast jeder einmal, oder besser fast jede, denn es war bei Frauen wesentlich beliebter als bei Männern. Seit mehr als vierzig Jahren, kombiniert mit immer weiter verfeinerten Wellness-Angeboten, hatte sich das Fasten in Kurkliniken und entsprechenden Hotels zum unverwüstlichen Dauerbrenner entwickelt. Nichts bediente den Traum von Schönheit und ewiger Jugend besser als Fasten. Nichts unterstrich mehr die gesellschaftliche Devise »Fit, schlank und leistungsfähig bis zum Grab«.
Übers Fasten sprach auch Dr. Orlow. Mit seiner Geschichte holte er weit aus, schlug einen Bogen über Jahrhunderte und Kontinente, vergaß nicht die philosophischen und religiösen Aspekte. Er hatte eine samtene Stimme, die zu seinem umwölkten Blick passte, und ließ den Vortrag mit seinem persönlichen Fasten-Guru enden. »Otto Buchinger bezeichnet das Fasten gar als den Königsweg der Heilkunst. Wir reinigen, wir entschlacken unseren Körper, indem wir ihn eine Zeit lang nur mit Flüssigkeit versorgen. Das führt natürlich zur Gewichtsabnahme, für die meisten von Ihnen sicher der Hauptgrund für das Fasten. Was aber viel wesentlicher ist, meine Damen und Herren, Fasten weitet den Geist und schärft die Sinne. Zudem investieren Sie durch das Fasten in Ihre Gesundheit und erhalten dadurch ein besseres Körpergefühl.«
Er rollte das R so weich, wie es nur die Slawen tun. Überhaupt sprach er in einem meditativ langsamen Ton. Seine Stimme hatte etwas angenehm Einschläferndes.
»Natürlich ist der Weg zur Erleuchtung nicht ohne Tücken«, weckte Peggy Heinemann die Gruppe mit ihrer Quellwasserstimme auf. »Schwindel, Hungergefühle, allgemeine Schlaffheit, Darmkoliken können, ich betone können, müssen aber nicht beim Fasten auftreten. Aber wenn, dann ist natürlich Dr. Orlow für euch da. Und noch viel wichtiger ist es, dass ihr euch gegenseitig unterstützt. Ihr seid nicht allein, anderen geht es genauso. Gespräche helfen, das Fasten zu ertragen. Und …«, sie schickte ein kurzes schelmisches Lächeln in die Runde, »Gespräche schaffen einen Anreiz, eine Wettbewerbssituation, damit nicht geschummelt wird. Wer ist schon vor Versuchungen gefeit? Damit ihr denen nicht erliegt, deshalb sitzen wir hier. Lernt euch kennen, unterstützt euch gegenseitig! Silv und Dorette, vielleicht macht ihr als alte Hasen den Anfang«, forderte sie die zwei Frauen auf, die ich gestern Abend im Foyer bemerkt hatte.
Erwartungsvoll ruckelte Adela auf ihrem Ball hin und her, im Gegensatz zu mir liebte sie solche Vorstellungsrunden. Silv und Dorette kamen aus Zürich. Sie sprachen ähnlich langsam wie Dr. Orlow, aber im Gegensatz zu seinem weichen slawischen R beherrschte nun das harte schweizerische CH den Raum. Die beiden waren in meinem Alter, hatten aber wie Peggy Heinemann – ich konnte mich innerlich einfach noch nicht dazu überwinden, sie nur Peggy zu nennen – sehr in Prophylaxe investiert: Allerhöchstens ein, zwei Kilo zu viel, im Kampf gegen Falten war am Hals und um den Mund Botox zum Einsatz gekommen, das Haar, einmal blond, einmal braun, noch ohne eine Spur von Grau oder perfekt gefärbt. Die blonde Dorette kleidete sich sportlich dezent, peppte ihr Outfit aber mit Gold an Gürtel und Schuhen auf. Die braunhaarige Silv trug edle Stoffe in Grau und erinnerte mit ihrem exakten Pagenschnitt an eine Fotografie von Man Ray. Die beiden waren Freundinnen, kurten zum vierten Mal im Himmelreich und behaupteten unisono, jedes Mal wie einem Jungbrunnen entstiegen nach Zürich zurückzukehren.
Aufmunternd nickte Peggy nun der dicken Frau neben Silv zu. Sie stellte sich als Raisa Bolschakowa vor, rollte das R wie Orlow und fasste sich kurz. Sie wolle sich erholen und ein wenig abnehmen. Der Zeitungsleser, der neben Raisa saß, hieß Rüdiger. Während er sich über seinen kugeligen Bauch strich, schwärmte er von gutem Wein und gutem Essen und der kleinen Auszeit, die er sich hier davon gönnen würde. Nicht ganz freiwillig, wie er mit einem Augenzwinkern hinzufügte, er hatte die Kur von seinem Kollegium zur Pensionierung geschenkt bekommen.
»Wir durch das Preisausschreiben einer Wellness-Zeitschrift«, krähte Adela in die Runde, und alle wirkten irgendwie peinlich berührt. Britt, Mitte vierzig, raspelkurze Haare, auffällige Nase, dürr wie ein Bleistift, hob auf die körperreinigende Funktion der Kur ab und versprach sich davon neue Energie. Bei Mareike und Betje, dem schwergewichtigen Mutter-Tochter-Gespann aus Holland, redete nur die Mutter. Die Tochter signalisierte mehr als deutlich, dass sie nicht freiwillig mitgekommen war. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, ihr T-Shirt hatte einen weiten Ausschnitt und halblange Arme. Ich betrachtete interessiert ihre Tattoos. Auf dem Dekolleté hatte sie in aufwendig gestalteten, verschnörkelten Buchstaben »Love & Hate« stehen, in Handrücken und Unterarme waren feinste Vogelfedern gestochen, die sich wohl unter dem Shirt fortsetzten. Bei Claudia, die als Nächste an der Reihe war, löste ich mich von Betjes Haut-Stickereien und schweifte gedanklich wieder zu Lucs Einladung nach Baiersbronn ab. Lumpp oder Wohlfahrt? Wohlfahrt oder Lumpp?
Allerdings hatte die Frau, die nach Claudia, Inge und Gudrun an die Reihe kam, wieder meine volle Aufmerksamkeit. Idealmaße bei Busen und Taille, lange Beine, goldene Locken, zudem gesegnet mit einem Augenaufschlag, bei dem jeder Mann Herzrasen bekommen musste und jede Frau das Lasso warf, um den ihrigen an sich zu fesseln. Alle, wirklich alle starrten sie unverhohlen an. Oliwia hieß die Schöne, sie rollte das R ebenfalls, aber härter als Orlow und Raisa Bolschakowa. Als sie sich vorstellte, fuhr sie mit der Hand durch das prächtige Haar und präsentierte allen den auffälligen, in Silber gefassten tannengrünen Jadestein, der ihren Mittelfinger zierte. Als Grund für ihr Hiersein nannte sie innere Einkehr. Mehr als einer aus der Runde stand bei dieser Auskunft die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
Nach dem langweiligen Ehepaar Hallstett und mir war dann als Letzte Adela an der Reihe. »Wo wir schon mal alle so schön hier zusammensitzen«, schloss sie ihre Vorstellung, »hat heute Morgen einer von euch Roger Hürlimann weggehen sehen? Ja, genau, diesen kleinen, dünnen Mann mit Augenbrauen so dick wie die von Leonid Breschnew.«
Beim Mittagessen – zwei Pellkartoffeln, fünf Brokkoliröschen, eine Möhre, ein Viertel Stängel Lauch, alles in Brühe gegart – bot Peggy an, unsere Handys in Gewahrsam zu nehmen, damit wir uns ohne äußere Störungen aufs Fasten und Hiersein konzentrieren konnten. Für mich kam das natürlich nicht in Frage, schließlich musste ich bezüglich der Weißen Lilie auf dem Laufenden bleiben. Nach dem Essen erstattete mir Arîn auch heute brav Bericht. Alles super, versicherte sie wieder, Holger und sie ein Dreamteam, die Marillenknödel gestern ein Gedicht, bisher nur Lob, keine Klagen. – Konnte das wirklich so sein, oder wollte sie mich nur beruhigen?
Adela schüttelte derweil missbilligend den Kopf, formte tonlos das Wort »loslassen«, wartete ungeduldig darauf, dass ich das Gespräch beendete, und deutete dann auf mein Handy. »Lass es in deinem Zimmer, es reicht doch, wenn du einmal am Tag draufschaust. Du musst doch nicht immer und überall erreichbar sein.«
»Doch. Muss ich«, konterte ich in der düsteren Vorahnung von all dem, was in der Weißen Lilie schieflaufen konnte.
Aber als es kaum eingesteckt wieder klingelte und Martha am Telefon war, wünschte ich mir, ich hätte Peggys Angebot oder Adelas Vorschlag angenommen.
»Du bist im Haselbachtal, von da ist es einen Katzensprung nach Fautenbach, aber du gibst uns nicht mal Bescheid, dass du in der Nähe bist.«
Meine Mutter besaß den schwarzen Gürtel im Wecken von Schuldgefühlen.
»Kur, Mama, Entspannung und Erholung«, rechtfertigte ich mich, nicht ohne mich sofort zu fragen, warum ich das tat.
»Und wir sind das Gegenteil von Erholung, oder was? Ein halbes Jahr warst du schon nimmer da, dabei fährst jedes Mal bei uns vorbei, wenn du den Luc im Elsass besuchst. Und der Papa tät sich so freuen! Wir werden auch nimmer jünger, wer weiß, wie lang wir überhaupt noch …«
Ich fragte mich plötzlich, wer ihr gesagt hatte, wo ich war, denn hellsehen konnte sie zum Glück nicht. In der Weißen Lilie wussten sie nur, dass ich im Schwarzwald, aber keinesfalls, dass ich im Haselbachtal kurte. Und Kuno, unser Mitbewohner und Adelas Lebensgefährte, war zeitgleich mit uns zu einer Radtour entlang der Mosel aufgebrochen.
»Wenn die Hiltrud nicht im Himmelreich kochen tät – wenn man die Suppenküch überhaupt kochen nennen kann«, setzte Martha ihren Sermon fort, als könne sie doch Gedanken lesen, »wenn die deinen Namen nicht auf der Gästeliste entdeckt hätt, dann wüsst ich mal wieder von nichts. Von dir hätt ich ja nicht mal erfahren …«
»Welche Hiltrud?«, unterbrach ich sie.
»Hiltrud Schindler, die ist doch bei mir in die Kochlehre gegangen, war mein erstes Lehrmädchen, muss jetzt selbst schon gut in den Sechzigern sein. Kommt aus dem Murgschifferwald, so eine richtige Wälderin. Der Bruder von der, der hat früher einen Speck g’macht, schwarz geräuchert mit Tannenholz, ebbes so Feines, da kann sogar der Speck vom Jörger-Metzger nicht mithalten. Eigentlich müsstest du die Hiltrud doch kennen. Sie ist ja immer mal wieder vorbeigekommen. Dankbar ist sie gewesen für die schöne Lehrzeit bei mir, dankbar, Katharina …«
»Mama, wir können auf dem Rückweg auf einen Kaffee bei euch Station machen.« Es war das Beste, früh die Waffen zu strecken und klein beizugeben. Zumindest diese Erkenntnis hatte ich aus dem jahrelangen Mutter-Tochter-Krieg gezogen. Es würde mich schließlich nicht umbringen, Guten Tag zu sagen. Immer schon war es schwierig zwischen Martha und mir gewesen, und es machte unser Verhältnis nicht einfacher, dass ich ihr mit den Jahren immer ähnlicher wurde. Nicht nur im Aussehen …
»Kneippen?«, schlug Adela vor, als ich das Handy ausgestellt hatte, und ich nickte.
Und so stiegen wir zum Bach hinunter, krempelten die Hosenbeine hoch, und zumindest ich trat so lange Wasser, bis meine Mutter aus meinem Kopf verschwunden war. Danach ließen wir die Beine in der Sonne trocknen und brachen wenig später zu einem Spaziergang auf.
Von der Stelle aus, an der sich die Straße zum Himmelreich hin verzweigte, führte ein schmaler Wanderweg weiter das Haselbachtal hinauf, den schlugen wir ein. Der Pfad kletterte steil bergan, und der Bach rauschte ohrenbetäubend, das Blätterdach war so dicht wie in einem Dschungel. Wir liefen im Gänsemarsch, was eine Unterhaltung unmöglich machte. Das änderte sich erst, als wir auf der Höhe anlangten. Dort versickerte der Bach in kleinen Quellrinnsalen, und der nun viel breitere Weg führte fast eben durch einen dunklen Tannenwald weiter.
»Jetzt erzähl schon«, forderte ich Adela auf, weil ich wusste, dass sie darauf brannte, mir endlich von diesem Hürlimann zu berichten. »Und was, verdammt noch mal, ist ein Facel Vega?«
»Es ist mal wieder typisch, dass du davon noch nie etwas gehört hast. Da kennst du zwanzig Zucchinisorten, aber keinen Facel Vega. Kein Wunder, wo du nicht mal als Kind Autoquartett gespielt hast. Der Facel Vega«, Adela breitete die Arme aus, und ihre Augen glänzten vor Begeisterung, »ist eines der schönsten Autos, die je gebaut wurden. Ein exklusives kleines Sportwagencoupé, filigran und leicht, mit einer Panoramawindschutzscheibe vom Feinsten und ohne eine Unterbrechung der Seitenfenster durch die B-Säule. Nicht zu vergessen mit einer für damalige Verhältnisse sagenhaften Höchstgeschwindigkeit von …«
»Adela«, unterbrach ich sie schnell. »Wie oft muss ich es noch sagen? Autos interessieren mich nicht die Bohne.«
»Der Schah von Persien hat so einen gefahren«, machte sie unbeirrt weiter. »Genau wie Ava Gardner und Pablo Picasso. Albert Camus ist in einem Facel Vega umgekommen. Also nicht nur ein schönes, sondern auch ein legendäres Auto. Insgesamt nur zehn Jahre gebaut, 1964 war Schluss. Du kannst dir also vorstellen, wie wenige Facel Vegas es heute noch gibt und wie sehr ich aus dem Häuschen war, als ich auf unserem Parkplatz einen stehen sah. So einen habe ich noch nie in echt gesehen, den kenne ich nur von Fotos. Ich staune und gucke also, streiche über den Lack, umrunde das Heck, und da fragt plötzlich einer, ob mir das Auto gefällt. Roger Hürlimann, genau. Stellt sich als stolzer Besitzer des Schmuckstücks vor. Wir also sofort ins Fachsimpeln geraten …«
»Keine weiteren Details. Du weißt, ich versteh’s sowieso nicht«, bremste ich sie aus.
»Nun ja, irgendwann fragt er mich, ob ich nach dem Abendessen mit ihm ausgehen würde. In eine Bar in der Nähe, wo es einen ausgezeichneten Whisky gibt, und natürlich habe ich sofort zugesagt.«
»Wo gibt es denn hier in der Nähe eine Bar?«, fragte ich erstaunt.
»Na, im Rittersprung auf der gegenüberliegenden Talseite. Ist dir noch nicht aufgefallen, weil du viel zu sehr mit deinem Luc beschäftigt warst, aber wie sagte Hürlimann so schön: ›Wer im Himmelreich ist, kommt um den Rittersprung nicht herum.‹«
»Und dort habt ihr also Whisky gepichelt?«
»Ich muss zugeben, dass ich etwas overdressed war. Ich habe an unsere Kölner Bars gedacht und nicht damit gerechnet, in so einem rustikalen Ambiente zu landen, aber irgendwann war’s egal. Guter Whisky, das muss ich zugeben. Ich hab fast keinen Brummschädel.«
»Was aber nicht heißt, dass du gestern Nacht nicht veilchenblau warst«, warf ich ein.
»Auf dem Rückweg hat Roger mir versprochen, dass ich am nächsten Tag eine Runde mit dem Facel Vega drehen darf.« Begeistert griff sie versehentlich nach meinem kranken Arm, ließ ihn aber nach einem lautstarken »Aua« von mir schnell wieder los. »Ich, am Steuer dieses Autos, am liebsten hätte ich dem Mann die Füße geküsst. Am Eingang vom Himmelreich dann tatsächlich Küsschen. Rechts und links, sehr kultiviert, nicht dass du denkst, da ist irgendwas gelaufen. Er wollte danach noch seinen Kräutertee trinken – witzig nach dem ganzen Whisky, nicht? –, ich bin in die Bibliothek, nachdem ich von draußen gesehen hab, dass in deinem Zimmer noch Licht brennt. Ich meine, du weißt in einem fremden Haus nie, wie hellhörig es ist oder wie dünn die Decken sind, und ich konnte mir ja vorstellen, was ihr treibt. Da habe ich mir gedacht: Adela, sei diskret und warte noch ein bisschen. Bin auf dem Sofa der Bibliothek eingenickt, frag mich nicht, was mich wieder geweckt hat! Auf alle Fälle ich noch mal raus, gesehen, dass euer Licht aus ist, dann endlich in mein Zimmer, und da lag er auf meinem Bett! Mund offen, Augen offen, steif wie ein Brett.«
Der tote Mann in ihrem Bett! Seit gestern Nacht hatte ich mir darüber immer mal wieder Gedanken gemacht. »Du hast nicht mehr als einen Blick auf ihn geworfen«, erklärte ich. »Was, wenn er zu einem Tête-à-Tête in dein Zimmer gekommen ist und sich schlafend gestellt hat? Was, wenn er nach deinem erschreckten Blick und panischen Verschwinden schnell den Rückzug angetreten hat?«
»Quatsch«, widersprach Adela.
»Ich könnte gut verstehen, wenn er bei dir Feuer gefangen hätte«, machte ich weiter. »Das würde auch seine klammheimliche Abreise am nächsten Morgen erklären. Es wäre ihm zu peinlich gewesen, dir bei Tageslicht unter die Augen zu treten«, insistierte ich.
»Vergiss es«, befahl Adela kategorisch. »Der Mann war tot. Ich weiß doch, wie ein Toter ausschaut.«
»Selbst wenn du sturzbetrunken bist? Was hast du als Erstes getan, als du in dein Zimmer gekommen bist?«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»War irgendwas anders als sonst?«, präzisierte ich meine Frage.
»Wie soll an unserem ersten Abend was anders gewesen sein können? Wahrscheinlich habe ich Licht gemacht und dann die Terrassentür geöffnet, weil ich das eigentlich immer tue. Aber beschwören will ich es nicht …«
»Hast du schon mit Kuno darüber geredet?« Kuno Eberle war nicht nur ihr Lebensgefährte, Kuno war auch Polizist gewesen.
Adela nickte. »Als alter Bulle hat er schon Pferde kotzen sehen und will nichts ausschließen. Gefragt und gefragt hat er, aber ich konnte ja nicht mal sagen, wie viele Whiskys ich getrunken habe. Daraufhin hat Kuno – wie hat er sich noch ausgedrückt? – die Möglichkeit, dass ich einer Halluzination aufgesessen bin, als recht hoch eingeschätzt. Und das Schlimme ist, ich zweifle ja selbst an meiner Wahrnehmung. Ich fühle mich wie Iris Henderson.«
»Wie wer? Muss ich die kennen?«
»Iris Henderson in ›Eine Dame verschwindet‹. – Ein früher Hitchcock, noch in England gedreht. Schon dieser Film ein großes Meisterwerk. Keiner kann so gut Leute verwirren wie Hitch.« Adela schüttelte ungnädig den Kopf über mein begrenztes Filmwissen und kam auf Kuno zurück. »Kuno hat mit dem Üblichen weitergemacht. Wenigstens einen konkreten Hinweis sollte ich schon haben, bevor ich die Polizei informiere. Aber da ist nichts. Sieht man davon ab, dass Hürlimanns Zimmer neben meinem lag und man ihn möglicherweise irrtümlich in mein Zimmer, dann, als ich dich holen ging, aber zurück in sein Zimmer geschafft hat. Er war ja wirklich ein Leichtgewicht. Ich gebe zu, das ist sehr weit hergeholt. Aber wenn doch, wer? Und warum ist sein Auto weg?«
»Jetzt hör doch mit dem blöden Auto auf!«, warf ich ein.
»Kostet übrigens ein kleines Vermögen, Minimum hundertfünfzigtausend Euro«, sprudelte sie unbeirrt weiter. »Es gibt durchaus eine Oldtimer-Mafia, die vor nichts zurückschreckt, wenn es um seltene Wagen geht. Aber keinem ist gestern Nacht etwas aufgefallen, keiner hat Roger weggehen oder wegfahren sehen, und obwohl er mir, wenn auch schon schwer angeschickert, etwas anderes erzählt hat, wusste nicht nur Peggy, dass er heute in aller Frühe aufbrechen wollte. Das war allgemein bekannt bei den Gästen.« Adela machte eine kleine Pause, bevor sie zerknirscht hinzufügte: »Kuno sagt, die wenigsten Leichen verschwinden einfach, und ich soll die Finger von der Geschichte lassen.«
»Dieser Hürlimann hat schlicht vergessen, was er dir versprochen hat, und ist heute Morgen gefahren«, unterstützte ich Kunos Einschätzung. »Alles andere schreiben wir dem Teufel Alkohol zu.«
»Nur so lang, bis ein Beutelchen Harriman’s Kräutertee auftaucht. Eine Million Mexikaner trinken den«, murmelte Adela trotzig.
»Hä?«
»Wieder Hitchcock. Vergiss es«, winkte sie ab.
Ich fragte nicht nach, brachte stattdessen noch einmal Entspannung und Erholung ins Spiel.
»Mhmm«, brummte sie, nicht überzeugt.
»Sag mal, wie findest du eigentlich diese Oliwia?«, wechselte ich das Thema und hakte mich bei ihr unter. »Innere Einkehr! Die Frau ist höchstens Mitte zwanzig und benutzt so altmodische Worte. Woher sie die hat? Und was sagst du? Mutter – ja oder nein?«
Mit immer größerem Vergnügen hechelten wir die komplette Fastengruppe durch, ohne dass dabei noch einmal der Name Roger Hürlimann fiel. Als wir eine halbe Stunde später aus dem Wald heraustraten, genossen wir die Aussicht über die Hügelketten des Murgschifferwaldes, die sich in allen Blau- und Grünschattierungen bis zum Horizont dehnten, und atmeten tief durch.
»Hier kann man sich richtig auslüften«, schwärmte ich, und Adela stimmte mir, zwar nicht aus vollem Herzen, aber immerhin mit einem Kopfnicken, zu.
Entspannung und Erholung. Wann hatte ich das zuletzt gehabt?
Zurück im Himmelreich hatten sich meine Sommersprossen verdoppelt, und meine Haut fühlte sich an wie in den Ferien meiner Kindheit, wo die Sommer endlos sonnig waren und nach Heu und reifem Weizen dufteten – zumindest in meiner Erinnerung. Gut gelaunt goss ich uns auf der Terrasse zwei Gläser Wasser ein. Adela stieß kurz und sehnsüchtig »Kaffee und Kuchen« aus, nahm das Wasser dann aber ohne weiteres Murren. Sie schlürfte es wie einen guten Wein und schmeckte Kieselstein, Moos und Gänseblümchen heraus. Ich war noch nicht bereit für die Geschmacksnuancen von Wasser und trank es einfach.
Auf der Wiese, die sich bis zum Bach hinunter erstreckte, warteten Liegestühle auf Kundschaft. Zwei davon belegten Silv und Dorette und hielten darauf Siesta. Die eine las in einem Magazin, die andere griff ab und an unauffällig nach einem Fernglas und richtete es kurz auf den Berg auf der anderen Seite des Baches. Ich erblickte dort ein mächtiges Blockhaus amerikanischer Art, das an einen Fels von gigantischen Ausmaßen gebaut war.
»Der Fels heißt Rittersprung«, erklärte mir Adela, »daher heißt auch das Hotel so.«
»Wilder Westen mitten im Schwarzwald«, stellte ich verwundert fest.
»Ungewöhnlich ist am Rittersprung mehr als das Gebäude.« Adela lächelte wissend. »Komm, wir setzen uns neben die Schweizerinnen«, schlug sie vor. »Bestimmt leihen sie uns das Fernglas mal aus.«
Natürlich wusste auch Adela, dass sich Schweizer nicht nur in Bankgeschäften durch Diskretion auszeichneten. Protestantische Zurückhaltung war fast so etwas wie ein Wesenszug von ihnen. Nach meinem ersten Eindruck entsprachen auch Silv und Dorette diesem Klischee. Schon beim Mittagessen hatte besonders Silv Wert auf eine gewisse Distanz gelegt. Aber Adela hielt nicht viel von langsamer Annäherung. Das sei vergeudete Zeit, sagte sie immer und fiel gern mit der Tür ins Haus. Mir war das oft peinlich, und so zögerte ich auch jetzt, ihr zu folgen.
»Komm schon, die beißen nicht.« Adela drehte sich zu mir um und wartete, bis ich aufgeholt hatte.
Zielsicher steuerte sie die beiden Liegestühle in unmittelbarer Nähe der Schweizerinnen an, rückte sie sogar noch etwas näher an die von Dorette und Silv heran. Die beiden blickten überrascht auf, nickten uns höflich zu und beachteten uns dann nicht weiter. Dorette griff wieder nach ihrem Fernglas und Silv nach ihrem Magazin. Sie las die Vogue, die französische Ausgabe, registrierte ich.
»Attention, Silv, ’s goht los«, gab Dorette der Freundin Bescheid, die nun ebenfalls zum Fernglas griff.
Beide hoben die Gläser in Richtung Rittersprung. Ohne Fernglas sahen wir nur winzige Männlein, die eine Art Veitstanz aufführten.
»Kei Jeans, ä Läderhose.« Dorette setzte das Fernglas ab, sah kurz zu Silv hinüber und klemmte es dann wieder vor die Augen. »Gseht us wienä Tracht. Was saisch dezue?«
»Tout le monde findet Trachten wieder ausgesprochen kleidsam«, antwortete Silv gelangweilt, ohne ihr Fernglas zu senken. Sie redete Hochdeutsch mit einem kleinen Schweizer Akzent und war für uns deutlich besser zu verstehen als Dorette. »Denk nur an den Hype beim Oktoberfest.«
»Ich ha au zwei Läderhose im Sortiment. Weichs Wildläder in Nude reschpektive Champagner. Sind vonäre junge Designeri us Solothurn. Modell Bärner Oberland und Modell Rütlischwur, ich han scho etlichi devo verkauft.«
»Mode!« Silv seufzte. »Wenn eine lang genug vergessen ist, kann sie wieder zum letzten Schrei wachgeküsst werden, selbst wenn sie noch so furchtbar war. So wie jetzt die Trachten.« Sie setzte das Fernglas ab und rollte mit den Augen.
»Lueg ämal, de Kevin hät nume d’ Läderhose aa und susch nume blutti Huut!«, rief Dorette begeistert und ohne das Fernglas zu senken aus. »Lueg dir ämal sini Oberärm a, wänn er d’ Axt uflupft! Und die knackige Oberschänkel und Wädli. Än ächte Maa …«
»Ich schreib’s deinem Ueli-Drama zu, dass du dich für archaische Mode und einen archaischen Männertyp begeisterst.« Silv folgte der Aufforderung der Freundin nicht, zwirbelte stattdessen das Bändel des Fernglases ein paarmal um den Zeigefinger und löste ihn dann wieder. »Nietzsche, wenn ich das mal erwähnen darf, hat die Tracht als den Inbegriff pfäffischer Hinterwäldlerei und das Gegenteil des modernen, gut angezogenen Geistesmenschen angesehen, und so sehe ich das heute noch.«
»Wow, und gsehsch, wie prächtig verziert sin Hoselade isch!«, rief Dorette mit ungebrochener Begeisterung und ohne auf die Bemerkungen der Freundin einzugehen.
Nun hob Silv das Fernglas wieder und sah hindurch. »Die Tracht verweist auf die Vormoderne«, dozierte sie. »Und damit auf eine Zeit, in der Männermode durch prächtiges Ausschmücken die Zeugungswerkzeuge betonte. Nach der Französischen Revolution und mit dem Beginn der Moderne war diese Mode passé. Aber in Zeiten extremer Individualisierung einerseits und großer Rollenverunsicherung andererseits …«
»Silv, du schtasch nöd vor dine Schtudänte«, unterbrach Dorette sie tadelnd und wandte den Kopf, immer noch durchs Fernglas sehend, erst nach links und dann nach rechts. »Ich frag mi, warum de Ueli hüt nöd bim Holzhacke isch.«
»Bestimmt hat er sich gestern Blasen dabei geholt.« Silv setzte das Fernglas wieder ab und machte mit einem Griff nach der dazugehörigen Hülle deutlich, dass das »Sightseeing« für sie beendet war.
»Wahrschinli hät er sich bim Survivaltraining en Wolf iigfange!« Dorette löste nun ebenfalls das Fernglas von den Augen, und die Häme in ihrem Blick verriet, dass sie diesem Ueli noch mehr Qualen wünschte.
»Dürfen wir auch mal?«, fragte Adela freundlich und deutete auf die Ferngläser.
Für einen winzigen Moment wirkte Dorette ertappt, lächelte uns dann aber komplizenhaft an und gab das Fernglas an Adela weiter. »Was ist denn mit deinem Arm passiert?«, fragte sie mich auf Hochdeutsch.
»Berufsunfall«, erwiderte ich knapp, und keine wollte mehr darüber wissen.
»Man merkt, dass ihr zum ersten Mal hier seid, sonst hättet ihr selbst schon welche.« Langsam öffnete Silv die gerade verschlossene Hülle ihres Fernglases wieder. »Es ist irgendwie tröstlich, Männer dabei zu beobachten, wie sie sich lächerlich machen, während man selbst fastet.«
»Besonders, wenn der eigene Mann, bald Ex-Mann, dabei ist«, gluckste Dorette.
»Wir haben unsere damals in einem Geschäft für Jagdbedarf in Baiersbronn gekauft. Die haben bestimmt noch welche vorrätig.« Erst nach diesem Wink mit dem Zaunpfahl zog Silv das Fernglas gnädig aus der Hülle und reichte es mir.