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Der alte Türke hatte Hauptkommissar Ernst Bienzle geholfen, wenn es darum gegangen war, gegen eine skrupellose Mafia von Schutzgelderpressern und Drogenhändlern vorzugehen. Bienzle hat den Türken gemocht. Jetzt ist Paskaya tot. Brutal ermordet, regelrecht hingerichtet. Den Kommissar packt die Wut. Er will Paskayas Mörder, und da schert er sich weder um Dienstvorschriften noch um gut gemeinte Ratschläge. Die Gegenseite wird nervös. Und wer nervös wird, macht Fehler … Der größte Fehler ist die Entführung von Bienzles Freundin Hannelore. Zwei Frauenmorde in einem versteckten Dorf hinter den Hügeln des Schwäbischen Walds. Am Rand des Fleckens ein Rehabilitationszentrum für Nichtsesshafte. Für die Dorfbewohner ist klar: Als Mörder kommt nur einer von den "Pennern" dort infrage. Aber Ernst Bienzle, Hauptkommissar aus der Landeshauptstadt, ist anderer Meinung, und natürlich nehmen ihm das die Dorfhonoratioren übel. Nur: Jeder von denen hat auch Dreck am Stecken. Mit seiner ureigenen Art zu ermitteln ("Gucke, denke, wenig schwätza") zerreißt der Kommissar aus Stuttgart das Gespinst aus Lüge, Betrug und Gewalt im Dörfchen Vorderbach.
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Seitenzahl: 368
Felix Huby
Bienzle und der alte Türke / Bienzle stochert im Nebel
Krimi
FISCHER E-Books
›Bienzle und der alte Türke‹ erschien 1982
unter dem Titel ›Schade, daß er tot ist‹
Renate Häberlein Elke Maier
haben einiges erlebt, aber dann nicht überlebt.
Josef Kowalski
war an ihren Erlebnissen brennend interessiert.
Ursula Neuner
entwickelt ungeahnte Talente.
Jürgen Pressler
spielt den Platzhirsch, muss dann aber ganz kleine Brötchen backen.
Gottlieb Pressler
hat Millionen auf dem Konto und lebt als Tippelbruder.
Frau Pressler
hat’s nicht leicht, weiß Gott!
Erich Fortenbacher
heißt in Wirklichkeit ganz anders.
Direktor Gebhardt
sorgt für »Nichtsesshafte« und für sein eigenes Fortkommen.
Franz Kasparczek
hat einmal aus dem Blechnapf gefressen.
Hannelore Schmiedinger
kommt übers Wochenende.
Kommissar Gächter
lehnt, wenn irgend möglich, am Türpfosten.
Hauptkommissar Bienzle
stochert – siehe Titel – im Nebel.
Das Sträßchen war schmal und holprig. Kriminalkommissar Gächter fuhr trotzdem mit hoher Geschwindigkeit. Bienzles Zigarillo war ausgegangen. Es hing in seinem rechten Mundwinkel und wippte bei jeder Bodenwelle, über die der Dienstwagen sprang.
»Wir kommen so oder so zu spät«, brummte Bienzle.
Gächter antwortete nicht. Er schaltete herunter, um die nächste Kurve im dritten Gang anzusteuern.
Bienzle seufzte. »Bei so was kommt mer immer z’ spät!«
Die Waldränder links und rechts der Straße wirkten im Morgendämmerlicht wie Scherenschnitte. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte halb sieben.
»Wenn wir den Fall gleich von Anfang an …« Gächter vollendete seinen Satz nicht.
»Ach was«, sagte Bienzle, »grundsätzlich sollte immer erst mal die örtliche Polizei probieren, wie weit sie kommt. Was meinst du, wie lang das wieder dauert, bis wir uns da reingeschafft haben? Das ist doch ein ganz neues Milieu für uns. Wir müssen dreißig, vierzig Leut vernehmen, die uns völlig fremd sind. Bis man da bloß dahinterkommt, was g’loge ist und was d’ Wahrheit …«
Gächter sah kurz zu seinem Vorgesetzten hinüber. »Du redest ja schon so viel am frühen Morgen.«
Bienzle wollte sich von seinem Thema nicht abbringen lassen. »Der Mann am Ort ist da immer besser dran, so wie wir besser dran sind als jeder Richter.«
»Hä?«
»Aber sicher. Wenn wir zu den Leuten kommen, ist meistens alles noch ziemlich frisch, net wahr. Strategien haben die noch nicht oder doch ziemlich unzulängliche. Sie sind in ihrer persönlichen Umgebung. Man kann allein durchs Hinschauen schon eine Menge erfahren. Und durchs Zuhören. Und der Richter? Wenn die Leute vor dem stehen, ist das nicht nur in einer fremden Umgebung, sie haben dann auch schon so oft ausgesagt, alles nochmal und nochmal wiederholt, die Ecken und Kanten sind abg’schliffe, net wahr. Die gebet Statements ab, blutleere Statements, weiter nix.«
»Aber trotzdem. Wir wären bestimmt viel weiter, wenn wir von Anfang an eingeschaltet worden wären.«
»Dort vorne muss es sein.« Bienzle deutete mit dem Zeigefinger.
Gächter verlangsamte die Fahrt. Der Spezialwagen für die Tatortaufnahme verstellte den Blick. Er stand quer vor einem schmalen, fast zugewucherten Waldweg. Bienzle musste über den Graben springen und sich durchs dichte Unterholz schlagen. Und noch einmal war der Blick verstellt – durch uniformierte Beamte, die Tatortspezialisten in Zivil und ein paar Neugierige, die zwischen den halbhohen Bäumen standen.
Bienzle trug gelbe Gummistiefel, in die er seine Cordhosen hineingestopft hatte, darüber einen Parka. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, sich zu rasieren und zu kämmen. Gächter blieb einen Moment stehen und sah dem Hauptkommissar nach. Offensichtlich hatte der die Zweizentnergrenze wieder einmal überschritten, aber er bewegte sich keineswegs wie ein übergewichtiger Mann.
»Morgen«, sagte Bienzle laut.
Die Gesichter der Beamten wandten sich ihm zu.
»Bienzle, Landeskriminalamt.«
»Ich kenn Sie«, sagte ein kleiner, etwa dreißigjähriger Mann, der jetzt auf Bienzle zukam. »Vom Lehrgang in Murrhardt.«
Bienzle erinnerte sich nicht. Alles, was ihm zu Murrhardt einfiel, war der hervorragende Rehbraten, den er seinerzeit im Hotel Sonne-Post gegessen hatte.
»Sparczek«, stellte sich der Kleine vor.
»Au koi schwäbischer Name«, brummte Bienzle.
»Dort drüben«, sagte Sparczek.
Bienzle hatte sich bereits orientiert. Das Mädchen war in ein Feld mit jungen Tännchen gedrückt worden. Jetzt lag es da wie aufgebahrt, umgeben von frischem Grün. Das bunte Sommerkleid war bis unter die Achseln hinaufgeschoben. Es verdeckte fast das Gesicht. Ein junger Beamter ging neben der Leiche in die Hocke und schob das Kleid ein bisschen herunter, damit Bienzle die Würgemale am Hals sehen konnte.
»Genau wie beim Fall Häberlein«, sagte Sparczek.
Bienzle nickte. Er wollte eigentlich wegschauen, aber sein Blick hatte sich festgesogen. Wie alt mochte die Tote sein? Achtzehn? Zwanzig vielleicht?
»Wir haben auch ihr Fahrrad gefunden«, sagte Sparczek.
»Weiß man schon ungefähr, wann …?«, fragte Bienzle.
»Sie hat gegen vierundzwanzig Uhr das Rössle verlassen – allein.«
»Betrunken?«
»Sagen wir mal – nicht ganz nüchtern. Ich hab ihr noch angeboten, sie zu begleiten.«
»Heißt das, Sie waren …«
»Ja, ich war im Rössle. Seit Renate Häberlein ermordet worden ist, bin ich fast jeden Abend dort gewesen.«
»Warum?«
»Die Renate war auch im Rössle, an dem Abend, als sie …«
»Und trotzdem haben Sie das Mädchen allein fahren lassen?«, fragte Gächter jetzt scharf.
»Ich kann nicht jeder Frau unter dreißig Polizeischutz geben.«
»Da hat er recht«, sagte Bienzle, und dann, wieder zu Sparczek gewandt: »Kann man im Rössle auch wohne?«
»Mhm, Sie könnten aber auch bei mir …«
»Danke, aber ich denk, es ist besser im Rössle. Ich selber hab nicht gern Logiergäste, und – ehrlich g’sagt – ich bin auch net gern Logiergast. Das ist mir zu anstrengend.«
Bienzle stapfte auf den Waldweg zurück. Bei einer Gruppe Neugieriger blieb er stehen. Nacheinander musterte er die Gesichter. Die meisten starrten verschlossen zurück, einigen war die Angst und das Grauen und die Lust an beidem anzusehen. Aber ein paar hatten auch einen zufriedenen, fast triumphierenden Gesichtsausdruck. Bienzle ging auf eine Frau um die fünfzig zu.
»Haben Sie das Mädchen gekannt?«
»Ja, freilich!«
»Und?«
»Was und?«
»Was war’s für eine?«
»Es hat so komme müsse! Des hat mr g’wusst, dass es mit der amal a böses Ende nimmt.«
»Warum?«
»Des werdet Sie no bald g’nug erfahre.«
Bienzle sah die Frau unverwandt an. Sie hatte nur eine Kittelschürze an. Offensichtlich war sie in großer Hast losgerannt, als sie von dem Mord gehört hatte. Nicht einmal einen BH hatte sie druntergezogen. Wahrscheinlich trug sie unter der Schürze nur ihr Nachthemd. Jetzt wurde sie unruhig unter Bienzles starrem Blick. Sie zerrte an ihrer Kittelschürze.
»’s war halt au so a Menschle«, stieß sie hervor.
»Schnell fertig mit der Jugend ist das Wort«, sagte Bienzle. »Wie heißet Sie?«
»Wer, ich?«
»Sie hab ich g’fragt!«
»Eisele, Anna Eisele – ond mir send anständige Leut!«
»Des hättet Se gar net so betone müsse«, knurrte Bienzle und stapfte weiter.
Gächter stand noch bei Sparczek und nahm die bisherigen Ermittlungsergebnisse auf. Bienzle griff nach einem morschen Ast und zerbröselte ihn zwischen den Fingern.
Vorderbach war ein Ort mit nicht mehr als vierzig Häusern. Er lag auf einer kleinen Anhöhe im Schwäbischen Wald zwischen Murrhardt und Mainhardt, umgeben von dichten Tannenbeständen. Im Osten fiel die Hochebene steil ab in ein Tal, durch das sich ein schmales Flüsschen schlängelte.
Eine Gegend, um Urlaub zu machen, dachte Bienzle, wenn man mal ganz ohne Hast und Trubel sein wollte. Hier mit Hannelore lange Wanderungen unternehmen, abends in einer kleinen Dorfwirtschaft sitzen, die müden Beine weit von sich gestreckt, einen Most oder einen Wein aus dem nahen Remstal vor sich …
»Schon offen«, hörte er Gächter sagen, der die Tür zum Gasthof Rössle aufdrückte.
Sie gingen hinein. Eine knarrende, ausgetretene Tannenholztreppe führte hinauf in den ersten Stock zur Gaststube. Es roch nach Kaffee und gebratenem Speck. Der Raum war niedrig, holzgetäfelt und mit handfesten Stühlen, Tischen und Bänken möbliert. An der Wand hingen ein paar Bilder von regional bekannten Schauspielern, Dichtern und Fußballern und mindestens vierzig Gastwimpel von Kegelclubs.
»Wir bedienen morgens nur unsere Pensionsgäste«, sagte eine Frau von der Theke her. Sie trug ihr graues Haar unordentlich hochgesteckt und hatte vor ihr schwarzes Kleid eine blütenweiße Schürze gebunden.
»Jetzt machet Se halt a Ausnahme«, sagte Bienzle, »wir sind heut morge schon um fünf aus de Federn g’holt worden.«
»Also, was soll’s sei?«
Bienzle bestellte Eier mit Speck und eine große Portion Kaffee. Gächter verlangte Tee und ein Butterbrötchen.
Außer ihnen saßen nur noch drei Leute im Gastraum: ein Mann Anfang vierzig mit weißblonden Haaren, einem roten, aufgedunsenen Gesicht und einem kräftigen Bauchansatz, über dem sich das modische Jackett nicht mehr schließen ließ, und ein junges Ehepaar im Partnerlook – rote Kniestrümpfe, grüne Kniebundhosen aus Cord und rot-weiß karierte Hemden.
Die Wirtin brachte das Frühstück.
»Schrecklich, das mit dem Mädchen«, sagte Bienzle.
»’s war mei Nichte«, sagte die Frau.
Jetzt sah Bienzle, dass sie nicht nur ein schwarzes Kleid, sondern auch schwarze Strümpfe und Schuhe trug. Er zog eine Karte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Wir kommen von der Polizei aus Stuttgart.«
»Ja, braucht’s denn das?«
»Das wird sich zeigen«, sagte Bienzle steif.
Die Frau wischte ihre Hände an der weißen Schürze ab. Sie hinterließen Flecken.
»Ihr habt nicht gern Fremde hier?«, fragte Bienzle.
Sie lächelte: »Zahlende schon!«
»Da fällt mir ein – kann ich ein Zimmer haben bei Ihnen?«
»Ich auch«, sagte Gächter.
»Ach, das wird vielleicht net nötig sein.«
Gächter sah Bienzle überrascht an.
»Wenn ich dich brauch, kann ich dich ja anrufen«, sagte Bienzle.
Der Mann mit dem roten Gesicht rief: »Machen Sie mir dann die Rechnung, Frau Maier.«
Die Wirtin nickte in seine Richtung und verschwand in der Küche.
»Das wird ja nicht schwierig für Sie werden«, sagte der Mann zu Bienzle und Gächter.
»Ach ja?« Gächter fixierte den Mann. »Wieso?«
»Ist doch klar – das war einer vom Eichenhof.«
»Vielleicht brauchst du das Zimmer ja gar nicht«, sagte Gächter zu Bienzle.
»Was ist mit dem Eichenhof?« Bienzle schob den Teller von sich.
»Rehabilitationszentrum für Nichtsesshafte.«
»Aha. Und weiter?«
»Nichts weiter. Tippelbrüder, Alkoholiker, Penner – lauter Asoziale. Da finden Sie den ganzen Abschaum!«
»Was sind Sie von Beruf?«, fragte Bienzle.
»Handelsvertreter. Tabakwaren.«
»Und Sie meinen wirklich …?«
»Aber das ist doch klar! Die Typen saufen sich jeden Abend einen an. Meistens holen sie hier das Bier in Flaschen und setzen sich irgendwo an den Waldrand – und dann geht’s gluck-gluck, bis sie duhn sind. Frauen haben sie nicht da draußen auf dem Hof … Na ja, die können’s ja auch nicht durch die Rippen schwitzen, oder?«
»Und Sie?«, fragte Gächter.
»Was soll’n das? Muss ich mich anpflaumen lassen, weil ich Ihnen ein paar Informationen gebe?«
Gächter blieb gelassen. »Ich wollte fragen, wo Sie gestern zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh waren.«
»Heißt das, dass Sie ein Alibi von mir verlangen?«
»Wir fragen jeden.«
»Also gut; ich bin um halb eins ins Bett!«
»Zeugen?«
»Die Wirtin und die letzten Gäste.«
»Die haben Sie weggehen sehen?«
»Ja, klar!«
»Und dann sind Sie ins Bett?«
»Sag ich doch.«
»Hat das jemand gesehen?«
»Na, hören Sie mal!«
»Könnt doch sein«, sagte Gächter grinsend, »oder schlafen Sie immer allein?«
»Ich bin verheiratet – glücklich!«
»Als ob das schon mal ein Hinderungsgrund gewesen wäre.«
»Für mich ist’s einer.«
Die Wirtin kam mit der Rechnung. Zu Gächter sagte sie im Vorübergehen: »’s wär mir lieber, Sie ließet meine gute Gäst in Ruh.«
»Ah, Sie kommet öfters?«, fragte Bienzle den Vertreter.
»Immer wenn ich in der Gegend bin.«
»Vor vier Wochen …?«
»Ja, ich war da, als das mit dem anderen Mädchen passiert ist, wenn Sie das meinen.«
»Das mein ich, ja.«
»Und weiter?«
»Nix. Wir sollten aber für alle Fälle Ihre Personalien notieren.«
Der Vertreter bezahlte und kam dann an den Tisch der beiden Kommissare. Er warf wortlos und wütend seinen Personalausweis auf den Tisch.
Erich Fortenbacher, notierte Gächter, selbständiger Handelsvertreter, wohnhaft in Stuttgart 50, Gemsberger Straße 17. Mit einem unfreundlichen »Danke« reichte er den Ausweis zurück.
Der Handelsvertreter ging zur Tür.
»Bis zum nächsten Mal«, sagte Frau Maier, die Wirtin.
»Das werd ich mir noch zweimal überlegen.« Fortenbacher knallte die Tür zu.
Im gleichen Augenblick stand der junge Mann in Wanderkleidung auf und kam an den Tisch von Bienzle und Gächter.
»Ich weiß ja nicht, ob’s wichtig ist«, sagte er schüchtern, »aber ich hab gestern Abend auch noch hier gesessen. Meine Frau ist schon kurz nach zehn ins Bett.«
»Aha«, machte Gächter wenig interessiert.
»Tja, ich hab noch ’ne Runde Skat mitgespielt und …«, er lächelte, »… hoch gewonnen. Skat, müssen Sie wissen, ist eine Wissenschaft …«
»Für mich ist’s noch nicht einmal ein Vergnügen«, sagte Bienzle brummig.
»Na ja, ist ja auch nicht so wichtig. Nur … Wie soll ich sagen … Der Herr Fortenbacher, also der Herr, der gerade weggegangen ist … Also der und das Fräulein … Die Tote, wissen Sie …«
»Schade, dass Sie Skat als Wissenschaft betreiben und nicht Sprache – dann würde vielleicht mal ein ganzer deutscher Satz herauskommen«, sagte Gächter bissig.
»Ich bin Germanist«, sagte der junge Mann. »Dr. Marcus Reichle.« Er verbeugte sich steif.
Bienzle sagte: »Wenn ich Sie richtig verstehe, vermuten Sie, dass zwischen der Toten und Herrn Fortenbacher ein Verhältnis bestand?«
»Ja.«
»Ein intimes?«
»Könnte durchaus sein.«
Gächter fuhr ihn an: »Und das sagen Sie jetzt erst?«
Bienzle hob beruhigend die Hände. »Das beweist zunächst ja mal gar nichts. Wie kommen Sie denn darauf, Herr Dr. Reichle?«
»Es wurde darüber gesprochen.«
»Na ja, g’schwätzt wird viel.«
»Sie haben sich aber auch so benommen.«
»Aha … Wie denn?«
»Ach, Sie wissen schon!« Reichle warf einen raschen Blick zu seiner Frau hinüber. »Sie sind sehr dicht … Und dann, sie haben die Hände immer unterm Tisch … Und er hat dann auch … Also«, er gab sich einen Ruck: »Gefummelt haben sie auf Teufel komm raus.«
Plötzlich stand die Wirtin am Tisch. Sie starrte Reichle böse an. »Ihre Rechnung ist fertig, Herr Doktor!«
»Wie? Schon? Ach ja, ach so, ja, ich … Also, Sie nehmen doch auch Eurocheques, nicht wahr?«
»Das ist mir egal. Und wenn Sie dann bitte Ihr Zimmer gleich räumen.«
»Aber ja, sicher, natürlich!« Er verbeugte sich und ging an seinen Tisch zurück.
»Jetzt putzet se alle ihre dreckige Mäuler an ihr ab«, sagte die Tante der Toten.
»Wie war sie wirklich?«, fragte Bienzle sanft.
»Lebenslustig, fröhlich und hilfsbereit. Ja, ’s war ihr nix zu viel – so war se!«
»Hört sich gut an«, sagte Bienzle.
Das Ehepaar verließ den Raum. Bienzle überlegte, was es wohl für einen Eindruck machen würde, wenn er jetzt ein Bier bestellte. Er beschloss, keines zu bestellen.
Vorderbach hatte nur zwei Straßen, die rechtwinklig aufeinanderstießen: die Hauptstraße und die Talstraße. Die Häuser standen in ungeordneten, lockeren Reihen.
»Man könnt meinen, um das Nest hätt der Wohlstand einen großen Bogen g’macht«, sagte Bienzle zu Gächter, der neben ihm ging.
»Ich bin mir immer noch nicht klar, was du eigentlich willst«, sagte Gächter.
»Schnuppern, zuhör’n, das Dorf verstehen.«
»Klingt ein bisschen allgemein.«
»Wahrscheinlich schaffen die meisten aus dem Dorf im Sägewerk.«
»Und diese Elke Maier …?«
»Die muss für das Nest hier eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein – so was wie ein Star.«
»Ob sie Geld genommen hat?«
»Kaum – im Übrigen glaub ich sowieso, dass die Männer sich bei ihr nur den Appetit geholt haben …«
»… und zu Hause haben sie gegessen?«
»Du sagst es.«
Sie waren bei ihrem Dienstwagen angelangt, der an der Kreuzung stand.
»Also denn …«, sagte Gächter.
»Du könntest noch am Eichenhof vorbeifahren, dir eine Liste der … Insassen, oder wie sagt man da … halt von denen, die da wohnen, geben lassen und daheim durchchecken, ob ein Verdächtiger dabei ist.«
»Und ich dachte schon, ich könnt ’ne ruhige Kugel schieben.« Gächter stieg ein und fuhr schnell davon. Er warf noch einen Blick in den Rückspiegel. Breitbeinig stand Bienzle auf der Kreuzung, unbeweglich. Die Haare hatte er noch immer nicht gekämmt.
Bienzle löste sich aus seiner Erstarrung und ging die Talstraße hinunter, die sich in zwei großen Kurven zum Flüsschen hinabschwang. Ein großer Leiterwagen mit Mist, gezogen von zwei Ochsen, kam ihm entgegen. Der Bauer hatte ein Brett auf den dampfenden Mist gelegt, um sich so einen Kutschbock zu machen. Er grüßte, indem er den Peitschenstiel zum Mützenrand hob.
Bienzle blieb stehen. Der Bauer machte: »Ööööha!« Die Ochsen standen sofort.
»Sie sind der Kriminaler aus Stuttgart?«
Bienzle nickte.
»Ja, dann«, sagte der Bauer, »bis bald! Hüh!« Die Mistfuhre ruckte an.
Bienzle hätte gerne nachgehakt, aber zugleich wusste er, dass das in diesem Augenblick verfrüht gewesen wäre. Er schritt weiter. Es war nicht schwer auszumachen, wo der Bauer zu Hause war. Denn im ganzen Dorf gab es überhaupt nur zwei landwirtschaftliche Anwesen. Eines davon lag am unteren Ende der Talstraße. Vor dem Stall türmte sich ein großer Misthaufen, auf dem ein Mann stand. Er schichtete die dampfende Masse mit einer Gabel um. Das Erste, was Bienzle dachte, als er ihn dort sah, war: Der passt da nicht hin!
Bienzle sagte freundlich: »Grüß Gott.«
Der Mann antwortete mit »Guten Tag«. Er stieg von dem Misthaufen herunter – ein hochgewachsener, schlanker Kerl, etwa dreißig Jahre alt, mit einer hohen Stirn und lichtem blonden Haar. Die dunklen Augen schauten Bienzle durch eine Brille mit kreisrunden Gläsern ernst an. Er trug eine Latzhose, die früher vielleicht einmal weiß gewesen war.
»Sie sind nicht von hier?«, sagte Bienzle; es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Nein.«
Bienzle wartete, aber der andere schwieg.
»Ich untersuche den Mord an Elke Maier …« Der Satz kam ihm selber gestelzt vor.
»Ja.«
»Nach und nach werde ich mit jedem im Dorf sprechen müssen. Waren Sie gestern Abend im Rössle?«
»Nein, ich geh da nicht hin.« Es klang, als wollte er sagen, ich bin gewohnt, in anderen Kreisen zu verkehren.
Bienzle lächelte: »Mir gefällt’s.«
Der Mann stieß die Gabel mit geübtem Schwung in den Misthaufen, ging zu einem kleinen Anbau und kam mit einer Sense wieder. »Ich geh Grünfutter schneiden«, sagte er und öffnete ein kleines Tor im Zaun hinter der Scheune.
Ein schmaler Weg führte zu einer steil zum Tal abfallenden Wiese. Bienzle folgte ihm zögernd. »Ich hab vorhin den Bauern getroffen.«
»Mhm.«
»Viel hat er nicht gesagt, aber ich hatte den Eindruck, als ob er erwartete, dass ich früher oder später …« Weiter kam er nicht.
»Sicher, sicher«, sagte der Mann, »früher oder später … Ich hab nämlich schon mal so was gemacht.«
Bienzle blieb abrupt stehen.
»Es ist zehn Jahre her und – wie sagt man – verbüßt. Mord im Affekt haben die einen gesagt. Lustmord die anderen.« Er sprach völlig teilnahmslos. »Ich stehe in den Akten, das heißt, ich bin im Computer. Es wäre tatsächlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Sie auf mich gekommen wären.«
Bienzle sagte bedächtig: »Ich hab einmal in einem Verhör einen Verdächtigen geschlagen – einmal, aber dann nie wieder.«
Der Mann begann mit Schwung Gras zu mähen.
»Worauf hat denn der Richter erkannt?«, fragte Bienzle.
»Mord im Affekt – aber für die Leute …«
»Wissen die ’s denn? Ich meine, die Leute hier?«
»Ich war auf dem Eichenhof. Mich rehabilitieren.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und da es der Heimdirektor wusste, haben es auch alle anderen erfahren.«
»Sie sind dort nicht geblieben?«
»Auf dem Eichenhof bleibt man nicht.«
»Aber in Vorderbach?«
»Ja, wenn man Glück hat und auf einen Menschen trifft.«
Wie der Mann hieß, erfuhr Bienzle abends im Rössle, wo er sich einen kleinen Tisch neben der Theke ausgesucht hatte. Die Stammgäste beobachteten den Stuttgarter Kommissar mit unverhüllter Neugierde.
»Der Sparczek«, sagte ein junger Mann viel zu laut und in Bienzles Richtung, »der Sparczek ist ja zu blöd, um eine gebührenpflichtige Verwarnung auszustellen.«
»Scho bei der Häberlein hätt mr da hinlange müsse, wo’s heiß ischt«, trompetete ein anderer.
Und dann war es so weit: »Der Kasparczek Franz – klingt doch genau wie Sparczek – oder? Kei Wunder, dass der den in Schutz nimmt. Der Kasparczek hat doch hinter Hannover scho mal oine vergewaltigt – ond abg’stoche!« Und dann: »Das ist doch sowieso ein Außenseiter.«
»A Luschtmörder ischt ja au was Bsonders«, rief ein anderer, »für den send mir koi Umgang!«
»Der Stuttgarter Kriminaler wird sich den schon greifen – der hat doch ein ganz anderes Gespür für so was!« Das war ein braungebrannter, vielleicht vierzigjähriger Mann, der offenbar das große Wort führte. Er trug eine modische Frisur und ein elegantes Tennishemd, dazu eine helle Leinenhose und leichte Stoffschuhe.
Bienzle winkte der Wirtin. Sie rutschte zu ihm auf die Bank.
»I bin, scheint’s, so was wie a Attraktion in Ihrem Lokal«, sagte er.
»Aber dafür gibt’s keine Prozente!«
»Aber eine Auskunft: Wer ist denn der Platzhirsch da drüben?«
»Der? Der Jürgen? Das ist der Jürgen Pressler, der Juniorchef vom Sägewerk.«
»Ich lass mei Frau nicht mehr nachts auf d’ Straß«, sagte am Stammtisch einer laut.
Ein anderer rief: »Das kommt dir grad recht, was? Jetzt heißt’s: Ich geh aus – du bleibst z’ Haus!«
Gelächter am Stammtisch.
Die Tür wurde zögernd aufgestoßen. Ein kleiner, stämmiger Mann in einem abgetragenen grünen Anzug kam mit allen Anzeichen der Unterwürfigkeit herein. Bienzle empfand auf Anhieb so etwas wie Mitleid mit ihm. Der Mann ging zum Tresen und stellte sich mit gesenktem Kopf hin.
Die Wirtin, die noch immer neben Bienzle saß, sagte: »Eins von meinen Flaschenkindern …« Sie erhob sich ächzend. Wortlos schob sie vier Bierflaschen über die Theke, die der Mann blitzschnell in seinen Jacken- und Hosentaschen versenkte. Münzen klimperten auf dem blanken Nirostastahl der Theke.
»Danke«, sagte der Mann leise.
Im ganzen Lokal wurde es einen Moment lang still.
»Du solltest denen nichts mehr geben, Emma!«, rief der Platzhirsch. »Zuerst saufen sie sich einen an, und dann stechen sie unsere Frauen ab.«
Der Mann im grünen Anzug drehte sich langsam um. Seine rechte Hand umklammerte die Bierflasche in der rechten Jackentasche. Er schwankte bereits ein wenig. »Ich war fünfunddreißig Jahre vor Kohle«, sagte er leise. Seine linke Hand zitterte. Er presste sie gegen den Oberkörper.
Bienzle sah jetzt erst, dass diese Hand verkrüppelt war.
»Fünfunddreißig Jahre war ich vor Kohle.«
»Ja, ja – lass jucken, Kumpel«, rief Pressler und erntete stolz das dankbare Gelächter seines Publikums.
Bienzle ertappte sich dabei, dass er sich wünschte, Pressler hätte das Mädchen umgebracht.
»Ihr habt ja keine Ahnung«, sagte der Mann leise.
»Aber du, was?«, schrie der Platzhirsch.
Auf einmal bekam der Mann im grünen Anzug schmale Augen. Er ruckte in den Schultern und drückte das Kreuz durch. »Vorsicht, Pressler!«, zischte er. »Ich hab dich gesehen!«
Plötzlich war es ganz still. Alle sahen Pressler an, und der war erkennbar bleich geworden.
»Sieh bloß zu, dass du Land gewinnst!«, stieß er endlich hervor.
Der Mann im grünen Anzug breitete die Arme aus, die Handflächen nach oben; dann drehte er sich fast tänzerisch auf dem Absatz und ging in Richtung Tür.
Mit einem Satz sprang Pressler auf, und mit ein paar schnellen Schritten war er bei dem Mann. Einen Augenblick lang hatte es so ausgesehen, als ob der Mann im grünen Anzug die Oberhand gehabt hätte, aber jetzt hatte sich das Verhältnis schlagartig wieder umgekehrt. Pressler packte ihn an der Schulter und wirbelte ihn herum.
Bienzle stand auf.
Pressler brüllte: »Was sollen wir uns von euch Asozialen eigentlich noch alles gefallen lassen?« Er holte aus.
Bienzle sagte scharf: »Schluss damit!« Und dann, zu dem Mann im grünen Anzug: »Wo haben Sie Herrn Pressler gesehen?«
»Ein Irrtum«, sagte der Mann schnell, »war nur so hingesagt … Mein Kopf, wissen Sie. Fünfunddreißig Jahre vor Kohle …«
Bienzle hatte Erfahrung genug. Deshalb sagte er nur: »Irgendwann werden Sie ’s mir erzählen.« Und zu Pressler: »Vergreifen Sie sich doch nicht an einem Mann, der sowieso kein Gegner für Sie ist.«
Pressler starrte Bienzle böse an. »Sie wären einer, was?«
Bienzle lächelte. »Einer, an dem sich oiner wie Sie leicht verlupfe könnt.« Er nickte dem Mann im grünen Anzug zu und setzte sich wieder an seinen Platz.
Pressler knurrte: »In dem Staat musst du schon Penner sein, damit ein Beamter etwas für dich tut.«
Aber diesmal blieb der Beifall seines Publikums aus.
Es war schon seit langem zu seiner Gewohnheit geworden, abends Hannelore anzurufen und alles genau zu berichten, was den Tag über vorgefallen war. Hannelore amüsierte sich ein wenig darüber. »Das sind ja Ehegewohnheiten«, sagte sie manchmal, und nur verstohlen gab sie zu, wie sehr ihr der Anruf fehlte, wenn er einmal nicht kam.
»Eigentlich kann ’s jeder gewesen sein«, sagte Bienzle, »jeder, der im Lokal war, jeder aus dem Eichenhof, der Vertreter genauso, aber auch dieser Kasparczek.«
»Es ist also genau umgekehrt, als es sonst abläuft«, sagte Hannelore.
»Warum?«
»Na ja – wie lang dauert’s manchmal, bis ihr auch nur einen einzigen Verdächtigen findet.«
»Ach so … Ja, da hast du recht.«
Hannelore sagte nichts darauf. Auch ihm fiel im Augenblick nichts ein.
»Na dann«, sagte er schließlich.
Hannelore lachte: »Sag mir was Nettes, Bienzle.«
Wenn sie »Bienzle« sagte und nicht Ernst, klang das für ihn immer wie eine besonders schöne Vertraulichkeit. »Ich kann nicht auf Bestellung und schon gar nicht am Telefon.«
»Wo bist du eigentlich genau?«
»In Vorderbach – zwölf Kilometer hinter Murrhardt.«
»Das sind bis Stuttgart?«
»Fünfzig Kilometer.«
»Dann könntest du ja in ’ner Stunde hier sein.«
»Ich hab aber kein Auto.«
»Aber ich!«, sagte sie und legte auf.
Bienzle schaute auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Er ging in den Gastraum zurück. Die Männer am Stammtisch spielten jetzt Skat. Bienzle bemühte sich um eine seriöse Erklärung dafür, dass jetzt ganz überraschend eine Frau … seine Frau … Also, dass die jetzt vielleicht noch käme.
Frau Maier zwinkerte und quartierte ihn in ein Doppelzimmer ein.
Bienzle sagte: »Und was ist, wenn sie nun nicht kommt?«
»Das müssten Sie aber wissen«, sagte Frau Maier.
»Hm, wer kennt schon die Frauen?«
»Hat sie gesagt, dass sie kommt?«
»Nicht so direkt.«
»Dann kommt sie auch«, sagte die Wirtin.
Kurz nach zehn Uhr war sie da. Sie aß einen aufgewärmten gemischten Braten mit Spätzle und Kartoffelsalat, trank zwei Viertel Grumbacher und studierte die Männer im Lokal. Die waren durch das Erscheinen der Frau sichtlich irritiert.
»Wenn man sich vorstellt, dass vielleicht einer von denen ein Mörder ist …«, sagte Hannelore leise.
»Vorsicht, Vorsicht!«, flüsterte Bienzle. »Außerdem – ich hab jetzt Feierabend.«
»Bienzle?«
»Ja?«
»Sag mal was Nettes!«
Bienzle gab ihr stattdessen einen Kuss.
Sie waren gegen halb zwölf in ihr Zimmer hinaufgegangen. Bienzle saß am offenen Fenster auf einem unbequemen Stuhl. Es war eine laue Sommernacht. Hannelore lag im Bett und las ein Taschenbuch aus Bienzles Gepäck. Jetzt senkte sie das Buch.
»Was erhoffst du dir eigentlich?«
»Ja, wenn ich das selber wüsst … Irgendeinen Hinweis halt.«
»Kann ich dich darauf hinweisen, dass ich allein im Bett liege?«
»’s ist gleich Mitternacht«, sagte Bienzle leise.
Unten wurde die Tür aufgestoßen. Die letzten Gäste traten auf die Straße hinaus und verabschiedeten sich durch Zurufe. Alle außer Pressler gingen die Hauptstraße entlang. Der junge Sägewerksbesitzer stieg auf ein Fahrrad und lenkte es Richtung Talstraße.
Im gleichen Augenblick leuchteten Scheinwerfer auf und erfassten die Figur auf dem Rad. Ein Motor wurde gestartet. Langsam setzten sich die Lichter in Bewegung. Bienzle rannte los, aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und gegen die verschlossene Tür.
»Was ist denn?« Frau Maier kam aus der Gaststube.
»Schnell«, schrie Bienzle, »die Tür ist zu!«
»Der Schlüssel steckt.«
Erst jetzt nahm der Kommissar den wuchtigen Schlüssel wahr. Er drehte ihn, indem er ihn mit der ganzen Hand packte. Dann endlich stand er auf der Straße. Eine eigentümliche Stille umfing ihn. Plötzlich kam ihm alles ganz unwirklich vor, und seine Eile erschien ihm unangebracht. Er ging die Talstraße hinunter.
Nach etwa fünfzig Metern fand er Pressler. Zuerst sah er das Fahrrad – ein Gewirr aus Rahmen, Speichen und verbogenen Rädern. Dann Pressler, der hinter dem Graben auf einer sanft ansteigenden Böschung lag.
»Was ist passiert?«, rief Bienzle.
Pressler antwortete nicht.
Bienzle sprang über den Graben und beugte sich über den reglosen Körper. Der Mann atmete. Bienzle rannte zum Rössle zurück, blieb aber ruckartig stehen, als er ein paar Meter hinter sich gebracht hatte. Ein Fenster war erleuchtet und sah aus wie ein helles Bild auf der dunklen Hauswand – und was für ein Bild. Hannelore stand in der gelbweißen Fläche – nackt. Und das mitten in einem Dorf, das womöglich einen Lustmörder beherbergte.
»Ernst!«, hörte er sie rufen.
»Ja?«
»Es war ein Mercedes mit einer Stuttgarter Nummer. S-HB – weiter hab ich’s nicht lesen können.«
»Wir brauchen einen Krankenwagen – schnell, ruf an!«
Sie verschwand vom Fenster, und Bienzle atmete erleichtert aus. Als er an die Unfallstelle zurückkam, stieß er einen sehr langen und sehr unflätigen Fluch aus.
Pressler war weg.
Zuerst kam Hannelore, die sich rasch wieder angezogen hatte. Zwanzig Minuten später erschien der Krankenwagen. Die ganze Zeit über hatte sich Bienzle gewundert, dass kein Mensch aus den umliegenden Häusern aufgetaucht war. Das Dorf lag in tiefem Schlaf, oder täuschten die Leute den Schlaf nur vor wie Pressler seine Ohnmacht?
»Und wer zahlt das?«, fragte der Sanitäter, als Bienzle den Sachverhalt erklärt hatte.
»Die Rechnung geht ans Landeskriminalamt.«
»Und Sie glauben, die zahlen das?«
»Nur wer nicht schafft, macht keine Fehler«, sagte Bienzle.
»Mit Gemeinplätzen kommen wir da wohl nicht weiter«, gab der Sanitäter zurück.
Bienzle sah ihn an: »Gemeinplätze, junger Mann, sind seit Jahrhunderten gespeicherte Weisheiten.« Er hakte Hannelore unter und ging mit ihr Richtung Rössle davon, während der Sanitäter einstieg und die Beifahrertür mit lautem Knall zuschlug.
»Müsstest du jetzt nicht zu Pressler?«, fragte Hannelore.
»Manchmal muss man das tun, was keiner erwartet … Wir gehen jetzt ins Bett!«
»Bienzle!«
»Ich sag jetzt nix Nettes.«
»Wart doch mal – ich wollte doch nur sagen, dass du deine Arbeit nicht vernachlässigen sollst, bloß weil …«
»Weil was?«
»Weil ich gern mit dir schlafen möchte.«
Bienzle blieb stehen und nahm sie in die Arme.
»Mitten auf der Straße. Wie zwei Sechzehnjährige«, sagte Hannelore.
Bienzle war nicht nach Reden zumute.
Das Polizeirevier in der Kreisstadt war eine Idylle. Sparczek hatte Bienzle abgeholt. Hannelore war schon vor zwei Stunden wieder zurückgefahren. Jetzt saßen die beiden Männer in einem gemütlichen kleinen Zimmer, Tassen mit dampfendem Kaffee vor sich, und Bienzle rauchte eine Zigarre.
»Sparczek – was ist das für ein Name?«, fragte er den jungen Kollegen.
»Tschechisch.«
»Ach?«
»Ja, meine Eltern sind 1968 nach dem Aufstand rüber – ich war damals vierzehn.«
»Ist Kasparczek auch ein tschechischer Name?«
»Möglich. Tschechisch, polnisch … kann einer sein, dessen Familie zu Bismarcks Zeiten ins Ruhrgebiet eingewandert ist – keine Ahnung.«
»Kennen Sie ihn?«
»Sie meinen den Knecht beim Mühlbauern?«
»Na ja … Knecht?«
»So nennt er sich.«
»Das überrascht mich«, sagte Bienzle.
Die Stimmung war freundlich und entspannt. Sparczek schien über das Auftauchen des Kollegen aus der Landeshauptstadt eher erleichtert als verärgert zu sein. Jetzt schob er ein Fernschreiben über den Tisch. »Der Obduktionsbericht.«
»Das ist aber schnell gegangen!«, sagte Bienzle erstaunt.
»Ob Elke Maier vergewaltigt worden ist, kann man nicht mit Sicherheit sagen.«
»Was?« Bienzle starrte Sparczek fassungslos an.
»Geschlechtsverkehr, ja. Aber kein Zeichen von Gewaltanwendung – na ja, abgesehen von den Würgemalen. Also muss der Mann, der mit ihr geschlafen hat, nicht unbedingt auch der Mörder gewesen sein.«
Bienzle lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück und zog heftig an seiner Zigarre. »Unwahrscheinlich.«
»Wahrscheinlich ist, dass sie nicht am Fundort gestorben ist. Erdspuren an ihrem Kleid stimmen nicht mit dem Boden in der Schonung überein.«
»Also … Möglichkeit eins: Der Mörder ist ein Triebtäter, mit dem sie sich freiwillig eingelassen hat. Möglichkeit zwei: Sie hat sich mit dem einen eingelassen, und ein anderer hat sie …«
»… dann umgebracht, ja.« Sparczek nickte. »Sagte ich ja gerade.«
»Mhm«, machte Bienzle. »Ich seh schon, wir müssen wohl nochmal ganz von vorne anfangen. Beim Mord an der Häberlein … Ich mag keine Akten lesen; erzählen Sie’s mir.«
»Da ist nicht viel zu erzählen«, sagte Sparczek. »Die Renate Häberlein war auch im Rössle, und sie hat mit den Männern genauso rumgespielt wie die Elke – vulgärer allerdings, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Bienzle nickte ein paar Mal mit dem schweren, kantigen Schädel.
»Sie ist kurz nach zwölf Uhr gegangen.«
»Wer war sonst noch da?«
»Drei Männer vom Eichenhof, Pressler mit seinen Skatbrüdern Motzer und Berg, dieser Vertreter aus Stuttgart und – was eine Seltenheit ist – der Mühlbauer mit Kasparczek, die haben irgendwas zu feiern gehabt, saßen aber an einem Tisch ganz hinten, also weit weg von den anderen.«
»Mit wem ist die Häberlein weg?«
»Allein – mit dem Fahrrad. Sie wohnte in Heilbrück, das ist vier Kilometer entfernt.«
»Aber Elke Maier hat doch hier gewohnt?«
»Ja, freilich – bei ihrer Tante im Rössle.«
»Waren die beiden befreundet, die Elke und die Renate Häberlein?«
»Sogar ziemlich eng.«
Bienzle fuhr mit dem Daumennagel über seine verstrubbelten Augenbrauen. »Da passt aber au wieder gar nix z’samme.«
»Ich hatte schon gehofft, dass Sie eine Theorie …«
Bienzle schüttelte den Kopf. »Verbrechen werden in aller Regel von ausgefallenen Menschen begangen, hab ich mal gelesen – also von Menschen, die schwerer zu durchschauen sind als andere. Aber für mich ist hier gar keiner zu durchschauen.«
»Ich hätt noch ’ne Frage«, sagte Sparczek.
»Ja?«
»Wenn doch die Mordkommission beauftragt ist, warum … Ich meine, da ist es doch verwunderlich …«
»… dass ich ganz allein da bin?«
»Ja.«
»Der Kollege Gächter ermittelt mit dem Computer rum, und mein Assistent, der Herr Haußmann, ist in Italien – im Urlaub. Die Kollegen Gollhofer und Kistner arbeiten an einem anderen Fall. So sieht’s aus. Aber das muss kein Fehler sein – dass ich allein bin, mein ich. Manchmal fassen die Leute eher Vertrauen, wenn nicht gleich ein ganzes Polizeiaufgebot anrückt.«
Sparczek schien nicht sonderlich überzeugt zu sein.
»Aber die Häberlein ist doch vergewaltigt worden, oder?«, fragte Bienzle.
»Die vom Tübinger Institut waren sich nicht einig. Es könnte auch so gewesen sein, dass zuvor der Geschlechtsverkehr mit ihrem Einverständnis vollzogen worden ist und danach der Mord …«
»Womöglich durch eine zweite Person?«
»Das wird nicht ausgeschlossen.«
»Fingerabdrücke?«
»Keine klar identifizierbaren – alles verwischt. Außerdem hatte es geregnet zwischen der Tatzeit und dem Auffinden der Leiche.«
Bienzle stemmte sich aus seinem Sessel hoch. »Oh, Mann, oh, Mann«, stöhnte er, »wer die Wahl hat …« Er ging zur Tür. »Ich geh mal a bissle spaziere.«
Sparczek sah ihm verständnislos nach.
Das Polizeirevier lag in Großvorderbach, dem Hauptort, der aus sieben ehemals selbständigen Gemeinden zusammengeschlossenen »Verwaltungseinheit«. Nach Vorderbach waren es sieben Kilometer. Der Weg führte immer am Bach entlang.
Bienzle ging langsam. Er zog den Geruch von Heu und Tannen in die Nase. Die schmalen Bachwiesen waren fast alle schon gemäht. Vereinzelt arbeiteten Frauen auf den Wiesen. Sie würden das Heu wohl heute noch trocken einbringen, wenn kein Gewitter kam.
Bienzle nahm sich vor, Sparczek um einen Wagen zu bitten. Am Nachmittag wollte er zum Eichenhof.
Das Sägewerk hörte er, bevor er es sah: das rhythmische Rattern der Gattersägen und das hohe Singen der Bandsägen; dazwischen die hellen Schläge, die entstehen, wenn Holz auf Holz geworfen wird.
Das Tal verbreiterte sich. Der Bach floss hier dicht am Weg und war mit großblättrigem Huflattich fast zugewachsen. Drüben am anderen Ufer begann ein rechtwinkliger Platz, der mit Kies aufgeschüttet war. Wie hohe Mauern türmten sich dort die Bretterstapel. Es roch nach Harz.
Bienzle ging über eine schmale Brücke und blieb bei einem Mann stehen, der die Bretterstapel mit einem Farbpinsel kennzeichnete.
»Morgen«, sagte Bienzle.
»Schon fast Mittag«, sagte der Mann.
»Was geschieht mit den Brettern?«
»Die müssen noch a paar Jahr lagern, bis se ab’gholt ond verarbeitet werde könnet.«
»Ach ja? Und dann erst werdet se verkauft?«
»Ach was! Die g’höret scho einer Möbelfabrik.«
»Wo find ich denn euern Chef?«
»Weiß net – ich hab ihn noch nicht g’sehen heut.«
Bienzle nickte dem Mann zu und ging über den Holzplatz davon. Ein breites Gleis führte in eine Holzhalle hinein. Auf dem Gleis kam Bienzle ein Kran entgegen, der einen mächtigen geschälten Tannenstamm transportierte. Der Stamm schwankte in vier Meter Höhe zwischen zwei Stahlhaken. Bienzle trat zur Seite.
»Aufenthalt auf eigene Gefahr«, brüllte der Kranfahrer, in dem Bienzle einen von Presslers Skatbrüdern erkannte.
»Wo ist der Pressler?«, schrie Bienzle zurück.
Aber der Mann zuckte nur die Achseln.
Hinter dem Sägewerk stieg das Tal wieder an. Dort stand ein Bungalow. »Der passt in die Gegend wie dr Roßbolla auf d’ Autobahn«, brummte Bienzle. Er stieg eine Gartentreppe hinauf und klingelte. Eine Frau um die siebzig öffnete ihm.
»Frau Pressler?«, fragte Bienzle.
»Ja?«
»Ich hätt gern Ihren Sohn gesprochen.«
»Er ist nicht da.«
»Wo kann ich ihn dann finden?«
»Wenn ich das wüsste.«
»Ist er denn nicht heimgekommen letzte Nacht?«
»Das weiß ich auch nicht. Ich wohn unten, in der Einliegerwohnung – da hör ich nicht, wann er kommt oder geht.«
»Aber wenn er gekommen wäre, hätten Sie ihn doch irgendwann heute Morgen g’sehen?«
Die Frau wurde plötzlich misstrauisch. »Was geht Sie das an?«
Bienzle überlegte, ob er sich ausweisen sollte, ließ es aber zunächst. »Ich hätt ihn halt gern gesprochen …«
»Geschäftlich?«
»Eh … Ja, sozusagen.«
»Um was geht’s denn?«
Bienzle war in der Zwickmühle. Wenn er sich jetzt auswies, stand er als Lügner da, und diese Frau sah so aus, als ob sie so etwas übel nehmen könnte. »Ach – eigentlich hat das auch noch Zeit«, sagte er.
Die Frau musterte ihn durchdringend. »Ich dachte, das wär vorbei!«, sagte sie.
Bienzle horchte auf. »Wenn’s so einfach wär«, sagte er aufs Geratewohl.
»Man macht alte Fehler nicht mit neuen gut.«
»Das sagt sich leicht.«
Bienzle merkte, dass er sich auf sehr dünnem Eis befand, aber er musste das Gespräch in der Schwebe halten. Da war etwas, was ihm vielleicht weiterhelfen konnte.
»Der Jürgen weiß jedenfalls, wie ich drüber denk!«, sagte die alte Frau Pressler.
»Aha …« Bienzle fiel nichts Besseres ein.
Die alte Frau deutete auf das Sägewerk hinunter. »Da wäre sein Platz – da und nirgendwo anders.«
»Dagegen ist ja auch gar nichts zu sagen.« Bienzle musste plötzlich daran denken, dass man im Schwäbischen solche Debatten, bei denen keiner sagt, was er denkt, als »geistreiches G’schwätz« bezeichnete.
»Dann lassen Sie ihn in Ruh!«, sagte die Frau streng.
Bienzle versuchte seine Augenbrauen glattzustreichen. »Das geht nicht …«
»Vielleicht sollte ich einfach die Polizei …« Sie brach erschrocken ab.
»Lieber nicht«, sagte Bienzle. »Ich schau dann ein andermal wieder rein.« Er nickte ihr zu und stapfte die Treppe hinunter.
Die Frau sah ihm nach, bis er zwischen zwei Douglasfichten rechts und links vom Gartentor verschwand.
Eine Hupe ertönte. Im Werk wurden die Maschinen abgestellt. Mittagspause. Bienzle nahm wahr, wie die plötzliche Stille von allen Seiten auf ihn eindrang. Ein Vogel sang die Tonleiter hinauf.
»Solche Sommertage sind selte«, sagte ein Mann, der auf einem Stapel Bretter saß und ein belegtes Brot vesperte, als Bienzle vorbeikam.
»Ein richtiges Geschenk«, sagte Bienzle.
»Eigentlich kei Zeit zum Sterbe«, sagte der Mann.
Bienzle musterte ihn. Er war klein und stämmig; die Hände, die das Brot hielten, wirkten viel zu groß. Er mochte an die siebzig sein und ein Leben lang an der frischen Luft gearbeitet haben. Sein Gesicht, von tiefen Falten durchzogen, sah aus wie aus Leder.
Bienzle setzte sich neben ihn. »Sie redet über des Mädle, gell?«
»Mhm.«
»Habet Sie die Elke Maier gekannt?«
»Jeder hat se kannt!«
»Und Sie – gut?«
»Nein, net bsonders.«
»Ich heiß Bienzle. Ond Sie?«
»Mühlbauer.«
»Was?«
»Ja, ja, i bin der Vadder.«
»Aha.«
»I hab meim Sohn den Hof schon lang vermacht. Von Beruf bin ich nämlich Zimmermann, net wahr. I war nie a bsonders guter Bauer.«
»Das g’fällt mir«, sagte Bienzle.
»Was?«
»Dass Sie des so offen zugeben.«
Der Mann hob die Schultern und öffnete eine Bierflasche. Er trank und reichte Bienzle die Flasche hinüber. »Der Kasparczek war’s übrigens net.«
»Wer dann?« Bienzle trank.
Der Alte lachte. »Bin ich die Polizei oder Sie?«
»Warum hat Ihr Sohn den Kasparczek eigentlich bei sich aufgenommen?«
»Auf jeden Fall war’s net bloß Nächstenliebe.«
»Sondern?« Bienzle reichte die Flasche zurück.
»Interesse!«
»Was?«
»Ja. Mein Konrad war scho emmer wissbegierig. Und der Kasparczek weiß halt mehr als andere Leut.«
»Deshalb stellt man doch niemand ein.«
»Warum net? – Aber Sie habet recht. Am meiste weiß der Kasparczek über die Landwirtschaft. Onser Hof ischt jetzt scho zwoimol als vorbildlicher landwirtschaftlicher Betrieb ausgezeichnet worde, seitdem er da ist.«
»Obwohl bei Ihne noch d’ Ochse eigspannt werdet?«
»Grad deshalb. Mr b’sinnt sich heut wieder aufs Alte.«
»In mei’m Beruf ischt des anders«, murrte Bienzle.
»Des glaub ich gern.«
Es trat eine Pause ein. Die Bierflasche wanderte noch zweimal hin und her. Schließlich sagte Bienzle: »Was treibt denn euer Juniorchef so, wenn er sich net ums Holz kümmert?«
Der alte Mühlbauer zuckte die Achseln. »Er ischt halt viel unterwegs … Ka scho sein, dass ’r no was laufe hat, der Junior. Zu mir sagt er nix.«
»Warum saget ihr eigentlich Juniorchef? Der Alte lebt doch wohl nimmer?«
»Der lebt scho no.«
»Ach so? Ich hab ganz selbstverständlich angenommen …«
»Bloß weiß keiner, wo.«
»Oh, du liabs Herrgöttle von Biberach …«, stöhnte Bienzle.
»Den habet se aus’m Haus triebe – entmündige wolltet sie ihn lasse. Manchmal denk ich, i hab scho großes Glück g’habt mit mei’m Konrad.«
»Und Sie habet keine Ahnung, wo der Alte sein könnt?«
Der alte Mühlbauer kicherte. »Z’erscht hat er des ganze Vermöge in Sicherheit bracht, und dann ischt er verschwunde. Sieben Millione, sagt mr …« Er hob seinen schwieligen Zeigefinger: »Siebe Millione – des müsset Se sich amal vorstelle!«
»Und das Sägewerk?«
»Hypotheke bis unters Dach.« Wieder kicherte der alte Mühlbauer. »Der war gscheiter als sei ganze Familie. Der Junge, der Jürgen, der glaubt jo, er sei a heller Kopf – aber des stimmt au bloß, wenn d’ Sonn drauf scheint.«
Bienzle lachte. »Mit Ihne dät i gern amal zwoi, drei Viertele trenka.«
»Ha, des wird sich mache lasse!« Der alte Mann stand schneller und gelenkiger auf als der gut zwanzig Jahre jüngere Bienzle. Im gleichen Augenblick beendete die Hupe die Mittagspause.
Als Bienzle ins Polizeirevier zurückkehrte, war Sparczek gerade weggegangen, um einen Unfall aufzunehmen. Bienzle ließ sich ganz selbstverständlich an Sparczeks Schreibtisch nieder und rief Gächter an.
»Was machste denn so?«, fragte Gächter.
»Schwer zu sagen – Spaziergänge!«
Gächter kannte den Freund gut genug, um zu wissen, dass das Spaziergänge besonderer Art waren.
»Und du?«, fragte Bienzle.
»Ich hab den Kollegen Computer ausgequetscht. Im Eichenhof wohnt derzeit kein einschlägig Vorbestrafter.«
»Das wundert mich nicht.« Bienzle wechselte den Hörer in die linke Hand und wischte die schweißfeuchte rechte an der Hose ab.
»Aber du wirst dich gleich wundern«, sagte Gächter.
»Hä?«
»Einen Handelsvertreter Fortenbacher gibt’s nicht – mindestens nicht unter der angegebenen Adresse, und ich hab mich auch mal in der Tabakbranche umgehört. Fehlanzeige, überall.«
Bienzle empfand den Schweiß, der ihm unter dem Hemd auf dem Rücken stand, plötzlich als eiskalt. »Aber das muss einen anderen Grund haben – ich mein, falls er gefälschte Papiere hat. Man besorgt sich doch nicht vorsorglich falsche Papiere, um dann jemand umzubringen.«
»Warum nicht?«, fragte Gächter. »Wenn das Verbrechen kaltblütig geplant war …«
»Blödsinn! Der Mann verkehrt doch schon länger unter dem Namen Fortenbacher in Vorderbach. Sag mal – diese Namensähnlichkeiten sind ja auch komisch. Vorderbach und Fortenbacher, Sparczek und Kasparczek.«
»Solche Zufälle gibt’s.«
»Ja, freilich, aber bei dem Fortenbacher könnt’s auch einfach Phantasielosigkeit sein!«
»Brauchst du mich da draußen?«, fragte Gächter.
»Noch nicht«, sagte Bienzle, »wahrscheinlich bist du in Stuttgart jetzt wichtiger. Womöglich müssen wir schon bald nach dem jungen Pressler fahnden.«
»Ist der verschwunden?«
»Möglicherweise.« Bienzle berichtete Gächter bis ins letzte Detail, was er erlebt und erfahren hatte.
»Toll, was so ein Spaziergang alles bringt«, meinte Gächter zum Schluss. Als er aufgelegt hatte, wandte er sich zu seinem Kollegen Gollhofer um. »Der Bienzle! Guckt die Leute an, sagt ein paar freundliche schwäbische Sätze, wartet, guckt, hört zu – und jedes Mal findet er dabei was raus.«
»Man könnte auch sagen, der hat mehr Glück als Verstand«, sagte Gollhofer ärgerlich. Er selbst recherchierte verbissen, aber erfolglos in einem Raubmord-Fall.
»Irrtum«, sagte Gächter, »es ist vor allem sein Verstand und natürlich seine Art, mit den Leuten umzugehen – und die hat auch eine Menge mit dem Verstand zu tun. Der Präsident kann froh sein, dass er über seinen Schatten gesprungen ist und dem Bienzle die Mordkommission zurückgegeben hat.«
»Aber du wirst so nie Abteilungsleiter«, sagte Gollhofer giftig, »der Bienzle hat ja so eine verdammt widerstandsfähige Leber.«