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Im Klavier des Barpianisten Cony Conradt hat die Polizei 30 Gramm Kokain gefunden. Er wird als Dealer verurteilt und wandert ins Gefängnis. Für Kommissar Bienzle ist schnell klar: Das Rauschgift ist dem Musiker untergejubelt worden. Aber warum? Bienzle holt Conradt aus dem Knast und überredet ihn, verdeckt und unter dem Schutz der Polizei im Milieu zu ermitteln. Der Kommissar glaubt, so einer Bande skrupelloser Mädchenhändler auf die Spur kommen zu können. Doch Conny Conradt geht eigene Wege, nachdem seine Geliebte verschwunden und vermutlich in den Händen der Gangster ist. In den Schlossparkanlagen in Stuttgart sind in den letzten vier Wochen vier Nichtsesshafte mit einer Eisenstange erschlagen, mit Benzin übergossen und angezündet worden. Unter den Obdachlosen breitet sich Panik aus, und die Polizei tappt im Dunkeln. Ist der Mörder ein Verrückter, der seine Aggressionen an den Ausgestoßenen der Gesellschaft auslebt, oder steckt dahinter eine Bande von Rechtsradikalen, die Deutschland von dem "Gesindel" befreien will? Bienzle taucht ein in die Welt der Vergessenen und kommt zu erstaunlichen Erkenntnissen.
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Seitenzahl: 350
Felix Huby
Bienzles Mann im Untergrund / Bienzle und der Tote im Park
Krimi
FISCHER E-Books
›Bienzle und der Tote im Park‹ erschien 1992 unter dem Titel ›Gute Nacht, Bienzle‹
Andreas Kerbel
liebt Videos und Computer.
Peter Kerbel
hasst alles, was nicht deutsch ist.
Oswald Schönlein
hat keine Gelegenheit mehr, zu lieben.
Anna
musste erfahren, dass es keine Liebe unter den Menschen gibt.
Alfons Schiele
liebt sein Leben trotz allem und verliert es um ein Haar.
Charlotte Fink
spielt mit der Liebe und auch sonst.
Horst Kögel
trauert seiner großen Liebe nach.
Arthur Horlacher
hat falsche Vorstellungen von der Liebe.
Doris Horlacher
leidet, weil die Liebe verloren ging.
Hanna Mader
macht lieber Karriere.
Hauptkommissar Günter Gächter
ist das alles zu gefühlsbetont.
Kriminalobermeister Haußmann
liebt unkompliziert.
Hannelore Schmiedinger
liebt Bienzle.
Hauptkommissar Ernst Bienzle
liebt Hannelore Schmiedinger und die Menschen – trotz allem – immer noch.
Am Abend hatte es ein wenig abgekühlt. Ein Gewitter war das Neckartal hinabgezogen, ohne Stuttgart mit seinen Regengüssen zu bedenken. Aber die Luft roch nun besser, man konnte plötzlich wieder Atem holen, ohne das Gefühl zu haben, die Lungenwände mit einer grauen Staubschicht zu überziehen. Bienzle spazierte durch die unteren Schlossparkanlagen. Er ertappte sich dabei, dass er ging wie sein Vater früher – die Hände auf dem Rücken, die Finger ineinander verschränkt, den Kopf leicht vorgeschoben. Plötzlich kam ihm schwanzwedelnd ein schwarzer Hund entgegen. Schwer zu entscheiden, was für eine Rasse es war – das Gesicht glich dem eines Neufundländers, war allerdings schmaler, das Fell langhaarig und vielfach gelockt, der Körper gedrungen, die Ohren schlappten herunter, die Augen hatten einen braunroten Schimmer. Der Hund setzte sich vor Bienzle hin und legte den Kopf schief. Er war fast so groß wie ein Schäferhund.
»Na du?«, sagte Bienzle freundlich
Der Hund hob die Pfote und legte sie behutsam auf Bienzles Knie, dann drehte er plötzlich ab, lief über den Rasen auf eine Hecke zu, blieb auf halbem Weg stehen, sah sich auffordernd um, lief noch ein paar Schritte und schaute erneut nach Bienzle.
»Willst du mir was zeigen?«, fragte Bienzle.
Der Hund machte leise »Wuff« und lief wieder ein paar Schritte. Man musste kein Hundekenner sein, um ihn zu verstehen.
Hinter einer Hecke, eingeklemmt zwischen einem rostigen Drahtzaun und den dornenbewehrten Zweigen eines Schlehenbusches, lag ein Mann. Der Hund schniefte und ließ sich flach neben dem leblosen Körper nieder. Bienzle ging in die Hocke. Der Mann war erschlagen worden.
»Passt nicht ganz ins Bild«, sagte eine Stimme hinter Bienzle. Der Kommissar brauchte sich nicht umzudrehen, um zu erkennen, wem sie gehörte.
»Nein, Gächter«, sagte er zu seinem Freund und Kollegen, »diesmal haben sie ihn wenigstens nicht angezündet.«
Im Park waren außer Bienzle und Gächter noch mindestens zwei Dutzend Polizisten, teils in Uniform, teils in Zivil, ein paar von ihnen lagen auch, als Nichtsesshafte getarnt, im Gebüsch oder auf Parkbänken. Keiner hatte etwas bemerkt, und das passte nun allerdings sehr wohl ins Bild. Vier Penner waren in den letzten vier Wochen überfallen und brutal umgebracht worden. Der Täter hatte alle vier mit einer Eisenstange im Schlaf erschlagen, mit Benzin übergossen und angezündet. Bis jetzt fehlte noch jede Spur von ihm.
Ein Grüppchen der Parkbewohner hatte sich in sicherem Abstand versammelt. Bienzle schlenderte zu ihnen hinüber. Der Hund ließ keinen Blick von ihm und blieb ihm auf den Fersen. Einer der Nichtsesshaften sagte: »Da steckt nicht bloß einer dahinter, das muss eine ganze Organisation sein.«
»Ich schlafe jedenfalls nicht mehr in den Anlagen«, sagte ein anderer.
Eine Frau mit einer hässlich kratzigen Stimme rief hämisch: »Ja, wo denn sonst? Drüben im Interconti, hä? In der Fürstensuite?«
Der Penner, der zuerst gesprochen hatte, fixierte Bienzle und den schwarzen Hund.
»Der Hund hat dem Oswald gehört«, sagte der Nichtsesshafte, der wohl so etwas wie der Wortführer der kleinen Gruppe war.
»Ja, genau, du hast recht, Alfons, das ist dem Oswald sein Balu«, ließ sich ein anderer hören.
»Der Hund ist sozusagen der einzige Zeuge«, meinte jener, der mit Alfons angesprochen worden war.
Die Frau spuckte aus: »Ein feiges Vieh!«
Alfons musterte Bienzle aus schmalen Augen. »Der Balu würde den Täter vielleicht erkennen – am Geruch!«
Bienzle musste unwillkürlich lächeln. Er beugte sich zu dem Hund hinunter und kraulte ihm das Fell.
Alfons hatte wieder das Wort. »Die finden uns überall, Anna«, sagte er zu der Frau mit der krächzenden Stimme. »Die kennen sich aus.«
Bienzle war nun vollends zu den Pennern getreten. Er öffnete seine Zigarilloschachtel und bot Alfons und dem anderen Mann eines an. Aber nur Anna griff zu.
»Haben Sie den Mann gekannt?«, fragte der Kommissar freundlich.
»Ja sicher, das war der Oswald.«
»Oswald, wie weiter?«, wollte Bienzle wissen.
»Keine Ahnung.«
»Und die anderen – haben Sie die gekannt?«
»Was denn für andere?«
»Die anderen, die umgebracht worden sind.«
»Hier kennen sich alle.«
»Gibt’s da irgendwelche Gemeinsamkeiten bei den Opfern?«
»Gemeinsamkeiten haben wir alle.«
»Darüber hinaus, meine ich.«
Alfons schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Doch, doch«, krächzte Anna, »die haben alle alleine geschlafen. Wir schlafen immer zusammen.«
»Aha«, sagte Bienzle.
Annas zerstörtes Gesicht bekam einen koketten Ausdruck. »Nicht, was Sie denken …« Sie lachte, dass es einen frieren konnte.
»Warum fragen Sie überhaupt?«, wollte Alfons wissen.
Anna konnte nur den Kopf schütteln. »Riechste denn das nicht, dass das ein Kriminaler ist?«
Über den Killesberg schob sich eine schwarze Wolkenwand. Ein fahles Wetterleuchten und das dumpfe Grollen des Donners kündigten das nächste Gewitter an. Der Hund drängte sich gegen Bienzles Beine. Drüben bei dem Schlehengebüsch wurde die Leiche in einen Blechsarg gelegt.
»Gehen wir in die Unterführung«, sagte Alfons mit einem Blick zum Himmel. Die drei Nichtsesshaften bückten sich, um ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen. Alfons richtete sich nochmal auf. »Warum tun die das?«, fragte er, ohne Bienzle anzusehen. »Warum nehmen die uns unseren allerletzten Besitz?«
Bienzle sah Alfons an. Er mochte fünfzig, vielleicht auch fünfundfünfzig Jahre alt sein, trug ein Jackett, das sicher einmal teuer gewesen war. Jetzt wirkte der Stoff dünn und fadenscheinig. Alfons’ Gesicht war vom Alkohol gezeichnet, aber es war noch zu erkennen, dass dieser Mann einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Freilich, auf wen unter den Nichtsesshaften traf das nicht zu?
»Was meinen Sie?«, fragte Bienzle.
»Ja, sie nehmen uns unseren allerletzten Besitz: unser Leben. Aber warum?«
»Wenn wir das wüssten«, sagte Bienzle und kramte seinen Geldbeutel hervor, »wenn wir das wüssten, wären wir mit der Aufklärung dieser hinterhältigen Mordserie schon ein ganzes Stück weiter, glauben Sie mir!« Er zog einen Geldschein aus dem Portemonnaie und streckte ihn Alfons hin.
»Als ob Sie sich damit loskaufen könnten«, sagte der.
»Ich weiß, dass das nicht geht.« Bienzle wendete sich ab und ging davon. Über die Schulter sagte er: »Und passet a bissle auf euch auf!« Tief in Gedanken stapfte er den Kiesweg hinunter. Ein böiger Wind kam auf und trieb dürre Blätter vor sich her. Die ersten Herbsttage kündigten sich an. ›Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr‹, ging’s Bienzle durch den Kopf. ›Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.‹
Es war nicht das erste Mal, dass er es mit Nichtsesshaften zu tun hatte. Und wieder musste er, wie damals in Erlenbach, daran denken, was wohl mit ihm hätte geschehen müssen, um zu denen zu gehören, die jetzt im Park, unter den Brücken und in den Unterführungen hausten – ohne Aussicht auf eine Rückkehr in das bürgerliche Leben, aus dem doch viele von ihnen kamen –, wie wenig wohl fehlte, um von der einen Seite des schmalen Grates auf die andere zu geraten.
Auf dem Weg lag eine zerrissene, von der Nässe ausgelaugte Zeitungsseite. Bienzle konnte einen Teil der Schlagzeile lesen, und es war nicht schwer für ihn, sie zu vervollständigen. »Jede Woche stirbt ein Penner – Die Polizei tappt im Dunkeln.«
Eine Frau kam Bienzle entgegen. Sie trug schwer an vier Plastiktaschen. Über ihrem Kopf kreisten gut zwei Dutzend Rabenkrähen, zu denen ständig neue kamen. Die Frau stellte ihre Taschen ab und griff mit beiden Händen in eine davon. Die Vögel begannen zu schreien. Mit Schwung warf die Frau Brotbrocken in die Luft und sah zu, wie sich die Krähen darum balgten. Dann streute sie das Futter aus ihren Taschen unter Büsche und Bäume – sie tat das mit ruhigen, genau abgezirkelten Bewegungen. Dabei redete sie leise vor sich hin.
Bienzle trat zu ihr. »Was machen Sie denn da?«
Die Frau sah ihn an. »Niemand kann wissen, wer die sieben sind.«
In Bienzle stieg eine Ahnung auf. »Sie meinen die sieben Raben?«
»Sieben Raben, sieben Brüder.«
Der Kommissar erinnerte sich. »Haben Sie denn auch schon angefangen, jedem von ihnen ein Hemd zu nähen?«
Die Frau nickte ernsthaft. »Vielleicht sind alle unsere Brüder«, sagte sie.
Bienzle lächelte. »Der heilige Franziskus wäre dieser Meinung gewesen.«
Die Krähen schrien aus vollem Hals. Das Futter war verbraucht. Die Frau bückte sich nach einer ihrer Taschen. Schreiend stießen die Vögel herab und flatterten gierig dicht über ihrem Kopf.
Die Frau trug einen teuren Mantel und eine Baskenmütze aus feinem Pelz. »Ich muss mich um sie kümmern«, sagte sie ernst zu Bienzle.
Der Kommissar nickte. »Man muss sich aber auch um die Menschen kümmern«, sagte er und sah zu der Gruppe der Penner zurück, die in der Unterführung verschwand.
Präsident Hauser hatte ihn zum Chef der Sonderkommission »Pennermorde« gemacht. Bienzle war das wie Spitzgras. Er hasste es, eine größere Zahl von Menschen zu kommandieren. Er trat nach dem Zeitungsblatt und traf den Hund, der aufjaulte und den Schwanz zwischen die Hinterbeine zog.
»Pass halt auf, du blöder Köter«, schimpfte Bienzle, entschuldigte sich aber sofort: »Tut mir ja leid, ich hab dich nicht g’sehen!« Und danach erst wunderte er sich: »Was tust du überhaupt noch da? Geh doch zu den anderen. Ich mein, zu dem Alfons und der Anna!«
Bienzle drehte sich um, aber die Penner waren verschwunden. Der Park war wie leergefegt. Auch die Beamten waren abgezogen. Die Wolkenwand stand nun direkt über der Stadt und hatte eine gelbe Abrisskante, die in Zacken über den grauschwarzen Himmel lief. Ein Blitz jagte eine lange Bahn hinab, krachend folgte der Donner nach wenigen Sekunden. Der Hund schmiegte sich an Bienzles Knie. Erste Tropfen fielen. Am Anfang machte noch jeder sein eigenes Geräusch. Doch dann prasselte ein dichter Regen los. Bienzle begann zu rennen. Er hielt auf einen Kiosk zu, dessen Dach weit vorgezogen war. Die wenigen Meter durch den Regenguss reichten, um Bienzle bis auf die Haut zu durchnässen. Auch das Fell des Hundes triefte. Jetzt erst sah man, wie dünn das Tier war. Zitternd hockte es neben Bienzle und wimmerte leise. Vielleicht wurde ihm erst jetzt der Verlust seines Herrn bewusst. Durch die Regenschleier sah Bienzle einen alten Mann auf zwei Krücken über den äußeren Parkweg humpeln. Man sah ihn nur als Schatten. Zwischen Bienzle und dem humpelnden Alten lagen gut dreihundert Meter Wiese mit Büschen und Bäumen. Auch der kräftige, untersetzte Mann, der dem Alten folgte, war durch den dichten Wasservorhang nur schemenhaft zu erkennen. Er beschleunigte plötzlich seine Schritte und schloss zu dem Mann mit den Krücken auf. Bienzle hielt den Atem an. Ein Blitz zuckte über den Himmel und erhellte einen Augenblick lang die Szene grell. Der zweite Mann holte mit dem Fuß aus und trat eine der Krücken weg. Der Alte stürzte. Der andere ging weiter, als ob nichts gewesen wäre, drehte sich nach ein paar Schritten um und bewegte sich rasch auf den Gestürzten zu, um ihm – scheinbar freundlich – aufzuhelfen. Der Hund zu Bienzles Füßen knurrte und entblößte sein kräftiges Gebiss.
»Saukerle, elender«, sagte Bienzle.
Er blieb unbeweglich stehen, bis der Regen nachließ. Dann stieß er sich von der Wand des Kiosks ab und ging mit schnellen Schritten davon. Der Hund blieb bei ihm. »Hau doch ab, such dir einen andern Herrn«, fuhr Bienzle ihn an, aber der Hund schien fest entschlossen, bei ihm zu bleiben. Bienzle war froh, als er eine Autostreife traf, der er das Tier übergeben konnte. Balu ließ sich nur höchst widerwillig in den Polizeiwagen zerren.
Haußmann, Bienzles jüngster Mitarbeiter, der schon seit ein paar Jahren als großes Talent galt, dozierte gerade, als Bienzle am Montagmorgen das Konferenzzimmer betrat, das der Sonderkommission als Kommandozentrale und Großraumbüro diente: »Der Täter hat sich also in allen vier Fällen offensichtlich durch lange, geduldige Beobachtung vergewissert, dass außer seinem jeweiligen tief schlafenden Opfer weit und breit niemand in der Nähe war. Er pirschte sich von hinten an das Opfer heran, tötete es mit einem gezielten Schlag, übergoss es mit Benzin und zündete es an. Wir haben eine exakte Übereinstimmung bei den ersten vier Attentaten. Das fünfte, gestern Abend, fällt freilich aus der Reihe, woraus wir schließen können, dass es nicht derselbe Täter gewesen sein muss. Vielmehr müssen wir bereits jetzt schon mit Nachahmungstätern rechnen, mit so genannten Trittbrettfahrern also …«
Bienzle nickte. Er war mit seinem Musterschüler zufrieden.
Während Haußmann weiterredete, fiel Bienzles Blick auf Hanna Mader. Sie war ihm von Hauser neuerdings zugeteilt worden. »Eine Frau mit ganz außerordentlichen Qualitäten«, hatte der Präsident gesagt. Einige dieser Qualitäten waren auf den ersten Blick zu erkennen. Frau Mader war erstaunlich gut gewachsen, konnte ohne weiteres auf einen Büstenhalter verzichten, was sie auch tat, hatte langes, seidenweiches Haar und sehr blaue, leicht schräg stehende Augen. Sie war nur um wenige Zentimeter kleiner als der 1,90 Meter große Bienzle, dessen freundliches Interesse an der schönen Polizistin just in diesem Augenblick in vorübergehende Ablehnung umschlug, als sie nämlich sagte: »Ich weiß nicht, warum wir uns so ungeheuer engagieren – eigentlich müssten wir doch froh sein für jeden dieser Penner, den wir los sind!«
»Saudumm’s G’schwätz!«, entfuhr es Bienzle. Alle schauten sich nach ihm um. »Wahrscheinlich sind Sie auch für Arbeitslager oder sonstige Kasernierungslösungen.«
»Ich wollte damit nur sagen, dass die Motivation, den Mörder zu finden, in diesem Fall nicht so ausgeprägt …«
Bienzle unterbrach sie. »Gestern Abend hat mich einer von denen gefragt, warum der Mörder ihnen das Einzige nehmen wolle, was sie noch besitzen – ihr Leben. Vielleicht denken Sie mal darüber nach, Frau Kollegin, es könnt’ ja sein, dass das als Motivation genügt!« Wütend wendete sich Bienzle ab und ging hinaus.
»Ja, und jetzt?«, fragte der Polizeiobermeister Horlacher, der zu jenen gehörte, die meinten, ohne Chef gehe nichts.
»Wenn Sie erlauben, fahre ich fort«, sagte Haußmann, während sich Frau Mader an Gächter wandte: »Das ist nun also der berühmte Kommissar Bienzle?«
Gächter lächelte sie an, holte sein Tabakpäckchen und Zigarettenpapierchen heraus und begann in aller Gemütsruhe eine Zigarette zu drehen. »Mhm«, machte er, »immer für die eine oder andere Überraschung gut!«
»Ja, finden Sie das denn gut, wie er sich gerade benommen hat?«, fragte die Neue.
»Finden Sie gut, wie Sie sich benommen haben?«, fragte Gächter dagegen und stieß sich, um den Platz zu wechseln, von dem Türbalken ab, an dem er lehnte.
Bienzle ging in sein Büro. Die Verwaltung hatte ihm schon dreimal angeboten, den Raum neu auszustatten. Doch der Kommissar hatte auf seinen alten Möbeln bestanden. Er war nur damit einverstanden gewesen, dass die Wände neu gestrichen wurden. Jetzt ärgerte er sich, denn die Verwaltung hatte sich – nur um ihm eins auszuwischen, wie Bienzle hartnäckig behauptete – für ein Gelb entschieden, das den Kommissar an Hühnerscheiße erinnerte. Ob er denn überhaupt wisse, wie Hühnerkot aussehe, hatte ihn der Verwaltungschef gefragt. Bienzle schenkte sich die Antwort, schließlich war er auf dem Dorf aufgewachsen. Jetzt ließ er sich in seinem hölzernen Schreibtischsessel nieder, der ein knarrendes Geräusch von sich gab, als ob er sich über das Gewicht des Kommissars beschwerte.
Die Kommission arbeitete rund um die Uhr. Ergebnis gleich null. Tausenden von Hinweisen aus der Bevölkerung waren die Beamten nachgegangen – doch kein einziger hatte die Ermittler weitergebracht.
Bienzle hakte die Daumen in den Hosenbund und streckte die Füße von sich. Er stieß gegen etwas Weiches. Der Hund Balu hatte es sich unter dem Schreibtisch bequem gemacht. Offenbar hatten die Beamten ihn einfach hier abgeladen.
Bienzle streifte die Schuhe ab und schob seine Füße ins Fell des Tieres. Die angenehme animalische Wärme, die von dem Hund ausging, empfand er als wohltuend.
Horlacher kam herein. Der Hund schlug kurz an.
»Hat er dich jetzt adoptiert?«, fragte Horlacher.
»Sieht ganz so aus.«
»Der Haußmann hat einen Dienstplan fürs nächste Wochenende g’macht.«
Bienzle sah auf. »Ja, und?«
»Das ist jetzt das zweite Mal in dem Monat, dass er mich für Samstag und Sonntag einteilt.«
»Na ja«, Bienzle hob die Schultern, »mich trifft’s ja auch.«
»Trotzdem!« Horlacher ließ sich in den Stuhl fallen, der vor Bienzles Tisch stand und in dem in aller Regel die Verdächtigen saßen, die Bienzle zu verhören hatte. Der Hund knurrte.
»Der mag dich nicht«, stellte Bienzle fest.
»Ich mag auch keine Hunde«, gab Horlacher zurück. Er zog einen Flachmann aus der Tasche, schraubte ihn auf, sagte, als ob dies alles erklären würde: »Es ischt scho saukalt drauße«, und nahm einen kräftigen Schluck.
Bienzle sah es mit hochgezogenen Augenbrauen, sagte aber nichts.
»Dieser Neuen hast du’s ganz schön gegeben«, sagte Horlacher.
»Ja, ich geh dann mal.« Bienzle hatte keine Lust darauf, sich weiter mit Horlacher zu unterhalten.
Der Hund sprang auf und schüttelte sein Fell. Er sah Bienzle fragend an. »Also gut, dann komm halt«, brummte der Kommissar.
Es hatte wieder zu regnen begonnen. Bienzle nahm die Straßenbahn am Uff-Friedhof und fuhr bis zum Neckartor. Zufrieden registrierte er, dass der Hund offensichtlich gelernt hatte, Straßenbahn zu fahren. Nur er selbst hatte noch etwas hinzuzulernen: Balu kostete den halben Fahrpreis, und weil der nicht entrichtet war, verlangte eine junge Kontrolleurin 40 Mark Strafe von Bienzle.
»Erstens«, sagte Bienzle, »kenn ich den Hund erst seit heut. Zweitens gehört er mir gar net, und wenn er mir, drittens, doch g’höre würde, wär’s ein Polizeihund im Einsatz.«
Er zog seinen Ausweis und hielt ihn der jungen Frau unter die Nase. Balu sah an seinem neuen Herrn hinauf und schien ihm anerkennend zuzublinzeln.
Bienzle setzte sich. Der Hund drängte sich zwischen seine Knie. »Jetzt wär’s bloß recht und billig«, sagte Bienzle zu dem Tier, »wenn du den Mörder finden würdest. Du musst ihn doch kennen.«
Man konnte sich bei einem solchen Tier ja täuschen. Aber der Hund schien eine deutlich ablehnende Miene aufgesetzt zu haben.
»Als ob’s nicht auch so schon kompliziert genug wäre«, sagte Bienzle zu sich selber, als er aus der Bahn stieg. Er ging den schneckenförmigen Aufgang hinauf. Es stank nach Urin. An der Wand stand in ungelenk hingesprühten Buchstaben: »Wetten, dass bei denen da oben dort unten nichts mehr läuft.« Und drunter: »Haut die Glatzen, bis sie platzen.«
Bienzle dachte an das Gespräch mit dem Präsidenten. »Wenn wir nicht bald einen Erfolg vorweisen können«, hatte der gesagt, »wird’s finster, ganz finster!«
Bienzle war ganz ruhig geblieben. »Was wir brauchen, Präsident, ist Geduld, viel Geduld!«
»Aber rasch!«, war der ihm in die Parade gefahren. »Sehr rasch, möglichst sofort.« – Erst als er langsam begriff, was er da gesagt hatte, hatte er angefangen zu lachen. Bienzle hatte sich ein Schmunzeln gegönnt.
Die Dämmerung war der Nacht gewichen. Der Park war wie ausgestorben. Eine Polizeistreife kam ihm entgegen. Die Beamten erkannten ihn und grüßten lässig. Bienzle nickte nur. Der Hund lief nun voraus. Der Kommissar, der ohnehin kein Ziel hatte, folgte ihm. Sie kamen an zwei Kiosken vorbei, die durch ein Flachdach miteinander verbunden waren. Unter dem Dach lagen dicht aneinander gedrängt vier oder fünf Penner. Die Zahl war nicht genau auszumachen.
Ein Wind kam auf. Er schüttelte die Bäume und warf welkes Laub herab. Der Hund blieb stehen und reckte seine Schnauze in die Luft. Die Ohren hatte er jetzt ein wenig angehoben. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er zog die Lefzen über den Zähnen zurück. Tief aus seiner Kehle kam ein bedrohliches Knurren. Bienzle war mit ein paar schnellen Schritten neben ihm. »Ich werd eine Leine kaufen müssen«, ging es ihm durch den Kopf. Er griff nach dem Halsband.
»Ruhig, ganz ruhig.« Bienzle kraulte dem Tier den Kopf. Für einen Augenblick verstummte das Knurren. Schritte waren zu hören und ein leises Klatschen, wie wenn nasse Zweige gegeneinander schlagen.
Bienzle ging dem Geräusch nach. Mitten auf der Wiese, die vor ihm lag, bildeten eng beieinander stehende Rhododendronbüsche, die mit niedrigen Kiefern und Tannen durchsetzt waren, ein dichtes Gestrüpp, das wie ein Hügel in der Dunkelheit lag. Dort brannte ein kleines Feuer, das seine flackernde Helligkeit gegen eine Zeltplane warf. Ein paar der Stadtstreicher hatten sie auf Stöcke gespannt, um sich vor dem Regen zu schützen.
Keine fünfzig Meter davon entfernt stand eine Bank, auf der ein Bündel lag – vermutlich einer der Nichtsesshaften, der es vorzog, für sich alleine zu schlafen. Rechts von Bienzle säumte eine Ligusterhecke den Weg. Dorthin zog es den Hund. Von dem Feuer her klang gleichförmiges Gemurmel. Ein Korken wurde mit lautem Plopp aus einem Flaschenhals gezogen.
Der Wind nahm zu. Der Sprühregen ging in Bindfadenregen über. Bienzles Schuhe patschten in Pfützen. Das nasse Fell des Hundes verströmte einen unangenehmen Geruch.
Aus der Ligusterhecke trat ein Mann. Er sah sich sichernd um. In der rechten Hand hielt er einen Stab oder etwas Ähnliches. Oswald ist mit einer Eisenstange erschlagen worden, fuhr es Bienzle durch den Kopf. Der Mann ging langsam auf die Bank zu, auf der unbeweglich das Bündel Mensch lag. Bienzle ließ den Hund los. Wie an der Schnur gezogen, schoss das Tier über die Wiese und auf die einsame Gestalt zu, die jetzt nur noch wenige Schritte von der Parkbank entfernt war.
Der Mann verhielt den Schritt und wendete sich dem Hund zu, der ihn in diesem Moment erreichte und wild zu bellen begann. Der Mann holte mit der Stange aus. Der Hund zog den Schwanz zwischen die Hinterbeine und begann zu wimmern. Der Mann holte weiter aus. Bienzle zog seine Walter PK.
Der Hund lag nun flach auf dem Boden und schob seinen Körper vorsichtig rückwärts. Bienzle entsicherte die Waffe. Der Mann schlug zu. Balu sprang zur Seite. Bienzle schoss in die Luft. Der Mann, der erneut ausholen wollte, hielt mitten in seiner Bewegung inne.
»Keinen Schritt weiter«, rief Bienzle und rannte durch das nasse Gras auf ihn zu. Von ferne hörte man das Martinshorn eines Polizeiwagens, dazwischen laute Stimmen. Der Mann löste sich aus der Erstarrung, fuhr herum und wollte losrennen, aber da erfasste ihn das helle Licht einer starken Taschenlampe.
»Hände hoch!« Bienzle erkannte Horlachers Stimme.
Als der Kommissar die beiden erreichte, klickten schon die Handschellen. »Was machst denn du hier?«, fragte Bienzle seinen Kollegen.
»Das Gleiche wie du!«, antwortete der.
In der Tat hatten beide an diesem Abend keinen Dienst.
Sekunden später war der Park voller Leben. Im zuckenden Blaulicht von drei Polizeiautos versammelten sich gut ein Dutzend Beamte und mindestens genauso viele Nichtsesshafte um Bienzle, Horlacher und den festgenommenen Mann. Der war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, schlank und groß gewachsen. Seine glatten schwarzen Haare hatte er straff nach hinten gekämmt. Im Nacken kräuselten sie sich zu kleinen Löckchen. Das Gesicht war unnatürlich hell. Die schmalen Lippen verliefen in den Mundwinkeln nach unten, was dem Gesicht einen Ausdruck von Überheblichkeit gab. Bienzle fielen die wässrigen grauen Augen und die schönen schmalen Hände auf.
Der junge Mann hieß – wie seine Papiere auswiesen – Andreas Kerbel, war am 15. April 1967 geboren und wohnte in der Bergstraße 161 in Stuttgart. Er lachte nervös. »Wird man neuerdings schon verhaftet, wenn man sich nachts gegen einen streunenden Hund wehrt?«
Bienzle hob die Eisenstange auf. Sie war braun vom Rost und mit einem Geflecht dünner Eisenlinien überzogen. Ein Armierungseisen offenbar.
»Und für den Fall, dass ein streunender Hund kommt, tragen Sie immer so eine Eisenstange mit sich herum?«
Bienzle sah zu der Bank hinüber. In das Bündel war Bewegung gekommen. Aus Decken, Mänteln und Lumpen schälte sich eine Gestalt, raffte alles zusammen und ging davon – zweifellos eine junge Frau, in deren Gang zudem etwas Herausforderndes lag. Diese Pennerin ging nicht mit nach vorne fallenden Schultern und eingezogenem Kopf wie die meisten ihrer Leidensgenossen. Sie schritt davon – als ob es Wind und Regen und den ganzen Aufruhr ringsum nicht gäbe. Hatte es der Verhaftete auf diese Frau abgesehen gehabt?
Horlacher leuchtete den Stab ab. »Anfänger«, entfuhr es ihm.
»Mit genauso einem Stab ist in der letzten Nacht ein Mann erschlagen worden – keine hundert Meter von hier entfernt«, sagte Bienzle.
»Sie meinen, mit der Eisenstange da?« Andreas Kerbel lachte schon wieder dieses nervöse Lachen.
»Na ja, die von gestern liegt ja vermutlich im Neckar oder im Nesenbach«, meinte der Kommissar. »Gehen wir.«
»Wohin?«, wollte der junge Mann wissen.
»Zu Ihnen nach Hause.«
Die anderen Polizeibeamten sahen Bienzle überrascht an. »Ja aber«, sagte einer von ihnen, »der Staatsanwalt Maile ist schon benachrichtigt und auf dem Weg ins Präsidium.«
»Soll er halt a bissle warte«, antwortete der Kommissar gemütlich, fasste Kerbel unter wie einen guten alten Bekannten und ging zum nächsten Polizeiauto.
»Und das Viech da?«, fragte Horlacher.
»Der Hund heißt Balu, Polizeiobermeister Horlacher«, wies Bienzle den Kollegen zurecht und komplimentierte den Hund in das Polizeiauto, wo er die nächsten zwei Stunden friedlich schlief.
Andreas Kerbel bewohnte ein Zweizimmerappartement in einem langgezogenen achtstöckigen Betonklotz. Die Jalousien waren heruntergelassen. Er ziehe sie nie hoch, auch am Tage nicht, antwortete Kerbel auf Bienzles Frage. »Wozu auch?« Den Tag über sei er im Büro, und am Abend beschäftige er sich mit seinem Computer oder mit Videos.
Bienzle spreizte mit Daumen und Zeigefinger zwei Lamellen der Jalousie auseinander. Der Blick ging auf die Innenstadt hinab – mittendrin der Schlossgarten, wo die schrecklichen Morde geschehen waren.
Der Wohnraum war mit einem riesigen Fenster, zwei Videoanlagen, einer teuren Stereoanlage und einer Ansammlung lila bezogener Kissen eingerichtet, aus denen Kerbel blitzschnell einen Sessel für Bienzle zusammenschichtete, als sie den Raum betreten hatten.
Das zweite Zimmer beherbergte nicht mehr als ein riesiges Bett und einen quadratischen schwarzen Kasten aus Kunststoff und Glas, der als Kommode und Nachttisch diente. Ein Kleiderschrank stand im Korridor.
Bienzle hatte dem jungen Mann schon im Auto die Handschellen abgenommen.
»Aber das machen Sie doch nicht jeden Tag?«, fragte er.
»Was denn?«
»Computer und Videos.«
»Warum denn nicht?«
»Auch sonntags?«
»Schaffe ich manchmal acht, neun Filme!«
»Keine Freunde?«
»Ich brauch niemand.«
»Das stimmt nicht«, sagte Bienzle lakonisch. Ihm fiel ein, dass er erst kürzlich das Ergebnis einer Umfrage gelesen hatte, der zufolge siebenunddreißig Prozent aller Menschen zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren angegeben hatten, keinen Freund oder nahestehenden Menschen außer den nächsten Verwandten zu haben.
»Jeder Mensch braucht andere Menschen!«
Kerbel zuckte nur die Achseln.
»Was arbeiten Sie denn?«, fragte der Kommissar.
»Ich bin bei einer Bank.«
»Aah«, entfuhr es Bienzle. »Das heißt also: Sie gehen morgens um halb neun …«
»Um acht«, verbesserte ihn Kerbel.
»Also um acht gehen Sie aus dem Haus, arbeiten bis …?«
»16 Uhr 30.«
»Dann gehen Sie am Videoladen vorbei, versorgen sich für den Abend, fahren nach Hause und ziehen sich die Videos rein – so sagt man ja wohl heute.«
Der junge Mann nickte. »So ungefähr. Aber ich beschäftige mich mehr mit meinen Computerprogrammen.«
»Computer und Video, das reicht Ihnen also?«
»Und was interessiert Sie daran?«
»Wie Sie leben. Es muss ja Gründe dafür geben, dass Sie mitten in der Nacht losziehen, von irgendeiner Baustelle ein Stück Armierungseisen mitgehen lassen und unschuldige Menschen erschlagen.«
»Sie verdächtigen mich tatsächlich …?«
Bienzle sah den jungen Mann unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. »Das dauert keine zwei Stunden, und Sie haben den Mord gestanden, falls Sie ihn begangen haben.«
»Mord!« Kerbel spuckte das Wort förmlich aus.
»Ja, Mord!«, sagte Bienzle mit großem Nachdruck.
»An einem Penner, einem Niemand, einem Unbekannten!« Kerbel sprach voller Verachtung.
»Für den Hund war dieser Oswald sein Ein und Alles.«
»Ein Hund!« Kerbel machte eine wegwerfende Handbewegung.
»… ist auch eine Kreatur!« Bienzle stand auf und ging in dem Raum auf und ab. Kerbel lag mehr, als er saß, auf einer Ansammlung von Kissen. Schließlich blieb Bienzle breitbeinig vor ihm stehen. »Warum wehren Sie sich nicht?«
»Mir kann eh nichts passieren.«
»Wo waren Sie gestern Abend zwischen 23 Uhr 30 und 24 Uhr?«
»Hier!«
»Und dafür gibt’s natürlich keine Zeugen.«
»Man lebt sehr anonym hier – Gott sei Dank!«
Bienzle nickte nur. »Wie ist der Kontakt zu Ihren Eltern?«
»Absolut normal!«
»Und was versteht man darunter?«
Kerbel lachte ein bisschen. »Ich besuche sie manchmal. Sie wohnen ja nur zwei Straßen weiter. Meine Mutter hat mir diese Wohnung hier beschafft.«
Es klingelte an der Tür. Kerbel reagierte überrascht. Bienzle registrierte es. »Ach ja«, sagte er, »Sie kriegen ja nie Besuch.« Der Kommissar öffnete. Draußen stand Horlacher. Er hielt eine große durchsichtige Plastiktüte in der Hand, in der ein Stück Armierungseisen steckte, das genauso aussah wie jenes, mit dem Kerbel nach dem Hund geschlagen hatte.
»Was i g’sagt hab«, schnaufte Horlacher, »ein Anfänger. Des da haben wir in seinem Kofferraum g’funde.«
»Spuren?«, fragte Bienzle.
»Jede Menge: Blut, Hautfetzen, Haare. Seine Fingerabdrücke sind garantiert auch mit drauf.«
Bienzle wendete sich wieder dem jungen Mann zu. »Sie haben’s g’hört!«
Kerbel nickte. Er war bleich geworden, aber er saß noch immer ganz ruhig da.
»Fragt sich bloß, warum er ihn diesmal nicht angezündet hat«, sagte Horlacher.
Bienzle ging zu Fuß nach Hause. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Hund, der im Polizeiwagen brav auf ihn gewartet hatte, trottete hinter ihm her und schlenkerte mit seinen wuscheligen Pfoten die Nässe und den Straßendreck in sein langhaariges Fell. Wie sie da so miteinander gingen, sahen sie aus, als ob sie schon seit Jahren zusammengehörten.
Es war schon nach zehn Uhr, als Bienzle die Tür aufschloss. Hannelore kam aus ihrem Atelier. Der Hund stand im Flur. Gleichmäßig tropfte das schmutzige Nass auf den Dielenboden.
»Was ist denn das?«, rief Bienzles Freundin entsetzt.
»Ein Hund, sieht man doch. Darf ich bekannt machen: Balu, und das ist Hannelore Schmiedinger, mei Frau – sozusage.«
Der Hund hob die dreckige Pfote. Hannelore konnte nicht widerstehen. Sie ging vor dem Tier in die Hocke. »Na, du«, sagte sie, »der Ernst wird dir doch hoffentlich nicht versprochen haben, dass du hierbleiben kannst.«
Der Hund tapste mit seiner Pfote auf Hannelores Knie und legte den Kopf schief. Bienzle hatte einen Putzlappen geholt und versuchte, das Fell trockenzureiben. »Er wird Hunger haben«, sagte er.
Im Kühlschrank fand er zwei Paar Rote Würste, die er dem Hund fütterte, anschließend gab er ihm einen Teller mit Wasser. »Er hat immerhin einen Mörder g’fange«, sagte Bienzle.
Am anderen Morgen sah Bienzle schon auf dem Weg ins Büro die Schlagzeilen in den Boulevardblättern. »Pennermörder gefasst.« Er las auch ein paar Mal seinen Namen in großen Lettern. Er hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, das sei ihm unangenehm.
Im Präsidium empfingen ihn die Kollegen in aufgeräumter Stimmung. Endlich ein Fahndungserfolg. Was spielte es da für eine Rolle, dass es der schiere Zufall gewesen war.
»Gratuliere!«, sagte Gächter mit einem schiefen Grinsen. »Da arbeitet eine riesige Sonderkommission wochenlang rund um die Uhr, und du nimmst den auf einem Spaziergang fest.«
»Er ist es ja nicht«, knurrte Bienzle. »Für die ersten vier Morde kommt er nicht in Frage.«
»Die Zeitungen schreiben aber …«
»Seit wann glaubst du, was in den Zeitungen steht?« Bienzle ließ sich schwer in seinen Sessel fallen, dann wählte er drei Nummern und sagte: »Den Kerbel vorführen … nein, bei mir im Büro.«
Horlacher kam herein. »Was hast denn mit dem Hund g’macht?«
»Hannelore bringt ihn heute ins Tierasyl. Ich kann doch so ein Vieh nicht halten.« Er sah todunglücklich aus, als er das sagte.
Eine Viertelstunde später führten zwei uniformierte Beamte Kerbel herein. »Nehmen Sie ihm bitte die Handschellen ab«, wies Bienzle sie an. Und zu Kerbel: »Setzen Sie sich.«
Er gab den Beamten einen Wink, sie sollten draußen warten, goss aus einer Thermoskanne Kaffee für sich und Kerbel ein und schob die Tasse über den Tisch. Kerbel setzte sich auf die vordere Kante des Stuhls Bienzle gegenüber. Der Kommissar fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar, nahm ein Zigarillo aus der Schachtel und zündete es umständlich an. Er sagte lange nichts. Draußen regnete es schon wieder.
Schließlich brummte Bienzle: »Ein Sauwetter ist das!« Er nippte an seinem Kaffee und sah dabei Kerbel über den Tassenrand hinweg an. »Sinnlos!«, sagte er. »Ein absolut sinnloser Mord.« Er zog den Bericht der Spurensicherung zu sich heran. »Sie sind überführt, Herr Kerbel. Ob Sie jetzt noch gestehen oder nicht, ist ziemlich egal!«
Kerbel nickte.
»Nicht schön, so eine Gefängniszelle«, fuhr Bienzle fort, »man muss versuchen, sich drauf einzurichten. Sinnlos auch das – das Leben hinter Gittern, mein ich.«
Kerbel starrte den Kommissar an. Die wässrig grauen Augen blieben ausdruckslos.
»Warum?«, fragte Bienzle. »Warum haben Sie’s denn bloß gemacht?«
»Warum nicht?«
Bienzle sah den jungen Mann sprachlos an.
»Einer weniger von denen, was bedeutet das?«
Der Kommissar öffnete den Mund, aber er brachte fürs Erste keinen Ton heraus.
»Ich wollte es machen«, sagte Kerbel, »ich hab mir das schon lange vorgenommen.«
»Einen Menschen zu töten?«
»Ja, sicher!«
»Irgendeinen?«
»Ja – wobei … also, es sollte schon einer sein, bei dem der Gesellschaft als Ganzer kein Schaden entsteht.«
Bienzle brauchte Zeit, um diesen Satz zu begreifen. Dieser junge Mann hatte getötet um des Tötens willen. Nur so. Und als ob er Bienzles Gedanken bestätigen wollte, sagte Kerbel: »Es bedeutet nichts – überhaupt nichts.«
Bienzle stand auf, ging zu seinem Regal, nahm einen alten Schuhkarton heraus, in den er wahllos Zeitungsausschnitte zu werfen pflegte, von denen er glaubte, sie könnten ihn irgendwann einmal weiterbringen. Er kramte in der Kiste herum und zerrte schließlich eine ganze Zeitungsseite heraus. Langsam, bereits lesend, ließ er sich wieder in seinem Sessel nieder. Dann zitierte er laut: »Um anonym zu bleiben, soll der ehemalige Mörder Meier heißen. Jetzt lebt er hinter Gittern, erzählt, wie er da hinkam. Erzählt von einem suchtartigen Verlangen, jemanden zusammenzuschlagen. Um Aufträge dafür habe er bei Zuhältern und Wucherern immer wieder nachgesucht. Er beherrschte Taekwondo – oder dieses ihn. Schließlich brachte er binnen kurzem zwei Menschen mit Handkantenschlägen um. Ein dritter Mordfall sei ihm zu Unrecht angelastet worden. Das Strafurteil war dreimal lebenslänglich.«
Bienzle sah auf. Kerbel sagte: »Diese Vergleiche bringen doch nichts. Jeder Mensch ist anders.«
Bienzle nickte. »Irgendwer hat einmal gesagt – vielleicht isches mir au selber eing’falle: ›Vielleicht tötet manch einer nur, um den Triumph des Überlebens zu spüren.‹« Er sah Kerbel nachdenklich an. »Die Lust zu töten steckt, glaub ich, in jedem von uns.« Er hob die Zeitungsseite hoch. »Der Artikel stand übrigens in der Süddeutschen.« Wieder sah er Kerbel an. »Hätten Sie weiter getötet?«
»Vielleicht – ich weiß nicht.«
»Aber Sie waren auf dem besten Wege dazu.«
»Ich bin oft im Park gewesen. Außerdem kann ich ihn von meiner Wohnung aus beobachten. Ich bin dort inzwischen genauso zu Hause wie die Penner oder Ihre Polizisten. Ich habe sie alle beobachtet!«
»Ja, und?« Bienzle ließ Kerbel nicht mehr aus den Augen.
»Ich habe sie alle in meinem Computer.«
»Mit Namen?«
»Natürlich nicht. Der Tote zum Beispiel ist da unter dem Kürzel MmH drin – Mann mit Hund.« Er lächelte zufrieden. »Sie können auf einer Graphik genau sehen, wo wer wann geschlafen oder – wenn es ein Polizeibeamter war – Wache geschoben hat.«
»Und warum machen Sie das?«
»Ein Spiel. Ich habe gut vierhundert Videospiele. Nach einer gewissen Zeit langweilen sie dich alle.«
»Aha – Sie haben sich Ihr eigenes gemacht.«
»Genau.«
»Das Mörderspiel!«
»Es hat noch keinen Namen. Übrigens, darf man im Knast einen Computer haben?«
»Ich denke schon. – Sie haben Ihr Opfer also in einem Computerspiel ausgesucht.«
Kerbel nickte.
Bienzle hatte auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch schon viele »Kunden«, wie er sie nannte, sitzen gehabt – solche, die hartleibig logen; andere, die froh waren, wenn er sie endlich überführt hatte, weil sie dann anfangen konnten, ihre Schuld zu sühnen; wieder andere, die ihre Verbrechen aus Lust begangen hatten und jederzeit wiederholen würden.
Noch nie war ihm ein Mensch gegenübergesessen, der so viel Gleichgültigkeit ausstrahlte.
»Sie wirken nicht besonders bedrückt«, sagte Bienzle.
»Es ist eine neue Situation«, gab Andreas Kerbel zurück. »Ganz interessant. Ich werde sehen«, fügte er hinzu, »was sich daraus machen lässt.«
Nach dem Verhör war Bienzle wie gerädert. Er ging in die Kantine, um etwas zu essen. Man sah ihn dort nur selten. Er zog es vor, in einem guten Restaurant zu speisen.
Frau Mader saß alleine an einem Tisch. Bienzle schob sein Tablett neben ihres und ließ sich nieder. »Mahlzeit!«
»Hallo, Herr Bienzle.« Sie strahlte ihn an. Ebenmäßig, alles war ebenmäßig an ihr: die glatte Stirn, die schöne gerade Nase, der volle, sanft geschwungene Mund. In den Augenwinkeln schien ein verstecktes Lächeln zu hocken. Die Augen waren sehr blau. Frau Mader sah Bienzle fragend an. »Ja?«
»Bitte?«
»Es sah gerade so aus, als ob Sie mich was ganz Wichtiges fragen wollten.«
»Ich – wie komm ich dazu?« Bienzle begann zu essen und schob nach wenigen Bissen den Teller von sich.
»Wenn einer so schlecht kochen kann, könnt er doch vielleicht auch a bissle besser koche«, maulte er.
»Der Hunger zwingt’s rein«, antwortete die neue Kollegin. »Glückwunsch übrigens.«
»Ach, hören Sie doch auf, war doch der reine Zufall. Im Übrigen ist der Kerbel nicht unser Serientäter.«
»Ist das schon so sicher?«
»Ich bin mir sicher.«
»Warum soll er es nicht sein? Vielleicht ist ihm nur das Benzin ausgegangen.«
»In seinem Kofferraum lag ein voller Ersatzkanister.«
Bienzle holte sich ein Bier, und als er Horlacher kommen sah, griff er sich gleich noch ein zweites. Horlacher holte sich sein Essen. Bienzle stellte die beiden Bierflaschen auf den Tisch und winkte ihm zu.
Frau Mader zog die Augenbrauen hoch. »Man soll Alkoholiker nicht auch noch unterstützen.«
»Ach, das haben Sie also auch schon gemerkt?«
»Na hören Sie mal, bei Horlacher ist das doch ganz offensichtlich.«
Bienzle seufzte. »Man wird ihm eine Entziehungskur aufs Auge drücken müssen.«
»Je eher – desto besser«, sagte Frau Mader streng. Bienzle sah sie befremdet an, aber da stand Horlacher auch schon am Tisch.
»Ist es gestattet?« Die beiden nickten. Horlacher nahm eine der Bierflaschen, goss sich ein Glas voll und leerte es in einem Zug. »Verdammt trockene Luft hier drin«, sagte er.
Bienzle musste lächeln. Wann immer Horlacher trank, lieferte er sofort eine Begründung dafür.
»Der Kerbel hat seit Wochen die Penner und unsere Leute beobachtet«, sagte Bienzle, »und alles peinlich genau in seinem Computer gespeichert. Ich hab das schmeichelhafte Kürzel ›duD‹ – der unermüdliche Dicke.«
»Also«, sagte Frau Mader triumphierend, »erfüllt er immerhin eine Voraussetzung: die genaue Kenntnis des Ortes, der Personen und ihrer Bewegungen.«
»Ja, genau«, pflichtete ihr Horlacher bei.
»Das trifft auf uns alle drei auch zu«, sagte Bienzle.
Am Nachmittag ging er in den Park. Endlich hatten sich die Gewitterwolken verzogen. Die Luft war kühl und klar. Bienzle ging langsam. Die Nichtsesshaften standen in Grüppchen beisammen. Einige von ihnen grüßten ihn. Auf einer Bank saß eine junge Frau alleine. Sie hatte eine Zweiliterflasche Rotwein neben sich stehen und lüftete ihre wenigen Habseligkeiten, indem sie sie über Lehne und Sitzfläche der Bank verteilte. Ein T-Shirt und ein Paar Jeans hingen über einem Ligusterstrauch.
Bienzle blieb bei ihr stehen und fragte: »Haben Sie am Sonntagabend auch hier geschlafen?«
»Wen interessiert das?«
Bienzle schob einen Parka und ein Paar Strümpfe zur Seite und setzte sich auf die Bank. »Mich interessiert das«, sagte er.
»Mir egal.« Die junge Frau schüttelte die Jacke eines Jogginganzugs aus. Bienzle sah sie an. Vielleicht war sie dreißig, vielleicht auch erst fünfundzwanzig. Lange lebte sie wohl noch nicht so – ohne festen Wohnsitz, wie’s offiziell hieß. Ihr Gesicht trug noch nicht die resignativen Züge von Pennerinnen, die schon länger auf Trebe waren. Ihre kurzen, struppigen rotblonden Haare schienen sauber. Die Kleider, die sie trug, hatten einen gewissen Schick. Ihre Augen wirkten aufmerksam und flink.
»Hauen Sie ab«, fuhr sie Bienzle an.
»Ich bin Polizeibeamter.«
»Ja, das weiß ich. Trotzdem!«
»Soll ich Sie lieber vorladen lassen?«
»Und wo soll die Vorladung hingehen, Charlotte Fink im Park, sechste Bank hinterm Seepavillon?«
»Ich hab solche Formulare in der Tasche. Ich könnt’s Ihnen persönlich überreichen, Frau Fink.«
»Was wollen Sie wissen?«
Charlotte Fink setzte sich und nahm einen Schluck aus ihrer Flasche. Bienzle fiel auf, dass sie den Flaschenhals ganz in den Mund nahm.
»Sie müssen den Mund so ansetzen, dass ein bisschen Luft rein-kann«, sagte er, »sonst gluckert’s net, und wenn’s net gluckert, lauft’s au net richtig!« Er streckte bittend seine Hand zu ihr hinüber.
»Ist aber billiger Pennerwein«, sagte sie.
»Einen Chablis oder einen Stettener Pulvermächer hab ich auch gar net erwartet.« Bienzle nahm einen Schluck, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und brummte: »Guet ischt was anders.«
»Ich hab nichts gesehen«, sagte Charlotte Fink unaufgefordert.
»Gestern hätt’ Sie’s um ein Haar erwischt.«
»Wer weiß, wofür’s gut gewesen wär.«
»Ha komm«, Bienzle wurde ärgerlich, »wenn man noch so jung ist wie Sie …«
»Und schon so verkommen.« Sie setzte erneut die Flasche an, die Oberlippe etwas zurückgezogen, sodass durch einen schmalen Spalt Luft in den Flaschenhals gelangen konnte.
Bienzle beobachtete es und nickte anerkennend. »So ist es richtig!«
Charlotte Fink nahm einen langen Schluck. Danach steckte sie sich eine Zigarette an, die sie brennend im linken Mundwinkel hängen ließ. Bienzle wurde den Verdacht nicht los, dass ihm die junge Frau etwas vorspielte.
»Leben Sie schon lang so?«, fragte er.
»Auf persönliche Fragen geb ich keine Antwort.«
Bienzle seufzte. »Vielleicht kann’s mir ja der Kerbel sagen«, meinte der Kommissar. Er glaubte, ein kurzes Flackern in ihrem Blick wahrzunehmen.
»Und wer, bitte, ist Kerbel?«
»Der Mann, der Sie letzte Nacht um ein Haar erschlagen hätte. Er hat alles über euch im Computer.«
»Über uns?«
»Ja – ein Verrückter, glaub ich. Nein, eigentlich bin ich sicher. Nur ein Verrückter beschäftigt sich in seiner Freizeit mit den Lebensgewohnheiten von Pennern und Polizisten. Der kann Ihnen aufs Haar genau sagen, wo Sie wann genächtigt haben. Wahrscheinlich hat er sogar Ihre Herkunft und Ihren … Werdegang erforscht und in seinen Rechner eingegeben.«
Während Bienzle sprach, war Charlotte Fink immer aufmerksamer geworden. Mit geschickten Handgriffen hatte sie nebenbei ihr bisschen Wäsche sortiert und zusammengelegt, aber ihr Blick ließ Bienzle keine Sekunde los. Jetzt zog sie ungeniert den Pulli und das T-Shirt aus und schlüpfte in ein frisch gewaschenes Männerhemd. Sie sah Bienzle dabei aus den Augenwinkeln an. »Schauen Sie doch weg«, rief sie.