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Es ist nun ein Jahr her, dass ein kleines Mädchen in Stuttgart entführt, vergewaltigt und getötet wurde. Ein Verdächtiger konnte nicht überführt werden. Ein Ermittler musste den Dienst quittieren, weil er gegen den vermeintlichen Täter gewalttätig geworden war. Jetzt will er den Kerl endlich ans Messer liefern. Aber er kommt dabei Kommissar Bienzle ins Gehege, der nicht an die Schuld des Verdächtigen glaubt. Doch diesmal scheint Bienzle sein sicherer Instinkt verlassen zu haben. Die Ereignisse bekommen eine eigene unaufhaltsame Dynamik. Alles scheint sich gegen den Kommissar verschworen zu haben. Er selbst traut seiner Urteilskraft nicht mehr. Da wird plötzlich ein weiteres Kind entführt.
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Seitenzahl: 183
Felix Huby
Bienzles schwerster Fall
Krimi
FISCHER E-Books
Die Sonne hing wie ein blasser Schemen hinter der Dunstglocke, die sich über dem Kessel der Stuttgarter Innenstadt wölbte. Die Temperatur war mit 27 Grad im Schatten gar nicht mal so hoch. Aber die Luft war schwül und ließ sich nur schwer atmen. Bienzle trat auf den Balkon seiner Wohnung in der Schützenstraße. Von hier konnte er auf das Zentrum der Stadt hinabblicken. Im Sommerdunst reckte sich das Tagblatthochhaus über die Gebäude in der Nachbarschaft. Man konnte den Verlauf der Königstraße erkennen. Dort, wo sie endete, befand sich der Hauptbahnhof. Die acht Bahnsteige und die sechzehn Gleise, die sich nach Norden hin verzweigten, sahen von hier oben aus, als gehörten sie zu einer Spielzeugeisenbahn.
Ernst Bienzle nippte an seinem Instantkaffee. Das Getränk war lauwarm und schmeckte widerlich. Seitdem er wieder alleine wohnte, hatte er die Kaffeemaschine nicht mehr benutzt. Im Büro dagegen hatte sein Kollege Gächter erst kürzlich eine teure Espressomaschine installiert, die vorzüglichen Kaffee produzierte.
Seitdem Hannelore ausgezogen war, begannen die Tage für Bienzle wie in einem Niemandsland. Wenn er morgens aufwachte, kam er sich verloren vor. Ein Gefühl großer Einsamkeit überfiel ihn. Es kostete den siebenundfünfzigjährigen Mann Überwindung, die Beine über den Bettrand zu heben und auf den Boden zu stellen, sich aufzurichten und am Ende vollends zur ganzen Länge zu erheben. Dabei hätte ihm das eigentlich leichter fallen müssen als noch vor einem halben Jahr. Seitdem Hannelore ausgezogen war, hatte er gut zehn Kilo abgenommen.
Seine langjährige Partnerin hatte ihm erklärt, sie habe ein sehr schönes Atelier gefunden, zu dem auch eine Wohnung gehöre. Dort war sie jetzt die meiste Zeit. Sie sahen sich immer seltener. Doch seine triste Stimmung hatte in diesen Tagen auch andere Gründe.
Bienzle kehrte in die Wohnung zurück, stellte die Tasse, die noch halb voll Kaffee war, ins Spülbecken und drehte den Wasserhahn auf; dann ging er ins Badezimmer, schaute in den Spiegel, befühlte seine Wangen und beschloss, dass er sich erst am nächsten Tag wieder rasieren musste. Der Radiowecker sprang an. Es war acht Uhr. Bienzle wachte stets von selber auf und in letzter Zeit sogar immer früher. Mit halbem Ohr hörte er dem Nachrichtensprecher zu. Der Ölpreis war schon wieder gestiegen. Die Bundeskanzlerin reiste nach Moskau. Die Ärzte demonstrierten und drohten mit Streik. Er ging in die Küche zurück und drehte das Wasser ab. Er schälte eine Banane, und als er zum ersten Mal hineinbeißen wollte, sagte der Sprecher im Radio: »Die Suche nach der vermissten kleinen Elena Hagen verläuft weiter ergebnislos. Das Mädchen ist am Freitag nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Inzwischen sind zwei Tage vergangen, und die Polizei steht noch immer vor einem Rätsel.« Bienzle schaltete das Radio aus.
Genau in diesem Augenblick entdeckte Polizeimeister und Hundeführer Jochen Brennenstuhl das Kind. Es war nicht tief vergraben. 30 Zentimeter vielleicht. Brennenstuhl musste seinen Hund wegreißen, damit er beim Scharren die kleine Leiche nicht zerkratzte.
Als Bienzle das Haus verließ, kam sein Vermieter die Schützenstaffel herauf, die am Ende des Straßenabschnitts, in dem er wohnte, zur Werastraße hinabführte. Der alte Mann trug ein Gesangbuch in der Hand, das in schwarzen Samt eingeschlagen war. Rominger ging am Sonntag immer in den Gottesdienst, kaufte anschließend im Café Kipp zwei Brezeln und kehrte schnurstracks nach Hause zurück, um in Ruhe zu frühstücken und eine seiner Volksmusik-CDs zu hören.
»Morgen, Herr Rominger«, grüßte Bienzle.
Der Hausbesitzer nickte nur und sagte: »Ischt des net furchtbar. Jetzt sind’s scho zwei Tag, dass des Kind verschwunde ischt. Wir haben grad in der Kirch gemeinsam für des Mädle gebetet.«
»Vielleicht hilft’s ja was«, entgegnete Bienzle.
»Ja, geschieht denn bei Ihne au was?«, fragte Rominger.
»Wir tun, was wir können!« Bienzle ging die Staffel hinunter, Rominger stieg sie weiter hinauf, blieb aber noch mal stehen und rief seinem Mieter hinterher: »Dann ist das aber, scheint’s, net viel!«
Bienzle antwortete nicht. Es war immer das Gleiche: Stellten sich bei Ermittlungen nicht schnelle Erfolge ein, wurde sofort die Arbeit der Polizei kritisiert. Zum Glück war er nicht zuständig. Noch nicht! Sollte das Kind allerdings irgendwo tot gefunden werden, wurde es doch noch sein Fall.
Tag und Nacht waren zwanzig Polizeistaffeln unterwegs. Die Bereitschaftspolizei war mit drei Hundertschaften hinzugezogen worden. Die Polizeiführung ließ wirklich nichts unversucht, um das vermisste Mädchen zu finden.
Am Neckartor stieg Bienzle in die Straßenbahn. Sie war gut besetzt. Wieder einmal wunderte er sich darüber, wie viele Fahrgäste in Büchern lasen. Er selbst hatte in letzter Zeit immer weniger gelesen. »Mir fehlt die Ruhe dazu«, hatte er geantwortet, als Hannelore ihn einmal danach gefragt hatte.
Die Bahn fuhr am Mineralbad Berg und kurz danach am Leuze-Bad vorbei. Die Liegewiesen waren Sonntag wie Werktag dicht besetzt. Kein Wunder bei diesen Hitzegraden. Bienzle beneidete die Menschen, die um diese Zeit ins Freibad gehen konnten, und rief sich doch gleich zur Ordnung. Vielleicht waren viele darunter, die lieber zur Arbeit gegangen wären, wenn sie eine gehabt hätten. Er seufzte laut. Eine junge Frau, die ihm gegenübersaß, hob den Kopf und sah ihn an. »Machen Sie sich nichts draus!«, sagte Bienzle und versuchte zu lächeln.
Die Straßenbahn überquerte den Neckar.
Am Uff-Friedhof stieg er aus und ging zum Landeskriminalamt in der Taubenheimstraße. Hier war die Luft ein klein wenig leichter als in der Innenstadt. Der Schnürsenkel an seinem rechten Schuh hatte sich gelöst. Bienzle stellte den Fuß auf ein Mäuerchen und band eine Schleife.
Als der leitende Hauptkommissar Ernst Bienzle das Polizeigebäude betrat, rief ihm schon der Pförtner entgegen: »Mir habet des Mädle g’funde«, als ob er dabei gewesen wäre. Bienzle beschleunigte seine Schritte. Er stürmte an seinem Büro vorbei und betrat den Konferenzraum 3, der als Büro der Sonderkommission diente, und blieb direkt neben der Tür stehen.
Kriminalrat Theuerkauf, Leiter der Hauptabteilung »Delikte am Menschen«, referierte gerade. Den Anfang hatte Bienzle verpasst. Aber er konnte die Zusammenhänge leicht herstellen. Theuerkauf verwies vor allem auf die Parallelen zum Fall Christine Meinhold. Der lag ein gutes Jahr zurück. Bienzle hatte seinerzeit mit den Ermittlungen nichts zu tun gehabt, weil er einen sechsmonatigen Lehrauftrag an der Polizeischule Göppingen zu absolvieren hatte. Das elfjährige Mädchen war damals zuletzt auf einem Kinderspielplatz gesehen worden. Dort hatte es sich auf einem Klettergerüst den Fuß eingeklemmt. Ein junger Mann hatte es heruntergehoben, was von einem älteren Passanten beobachtet worden war. Der junge Mann war der einzige Verdächtige. Man hatte freilich auch nicht lange nach anderen gesucht. Und als immer klarer wurde, dass man Kai Anschütz – so hieß der Verdächtige – nichts nachweisen konnte, war schon viel Wasser den Neckar hinuntergeflossen. Manche Versäumnisse konnten nicht mehr wiedergutgemacht werden.
Die Ermittlungen im vergangenen Jahr hatte der Kriminalkommissar Hartmut Grossmann geleitet. In einem der langen Verhöre hatte er die Geduld verloren und Anschütz gepackt, an die Wand geworfen und dann auch noch mit Fäusten und Füßen traktiert. Der junge Mann war von Dr. Schlageter vertreten worden, einem Anwalt, der sich jeden Fall unter den Nagel riss, der einen spektakulären Prozess und eine entsprechende Publicity versprach. Und der hatte dann auch dafür gesorgt, dass Kommissar Grossmann entlassen wurde.
Einen Täter hatten sie nie gefunden. Anschütz konnte nicht einmal angeklagt werden. Zwar hatte er kein einwandfreies Alibi, aber einen hinreichenden Tatverdacht gab es auch nicht.
Polizeipräsident Karl Hauser betrat den Raum. Sofort unterbrach Theuerkauf seinen Vortrag. Hauser, sonst ein eher gemütlicher weißhaariger Mann, der gerne einem guten Wein zusprach, was ihn übrigens mit seinem ehemaligen Schulfreund Ernst Bienzle verband, ergriff sofort das Wort. »Wir haben jetzt also einen Mord. Herr Bienzle bildet eine neue Sonderkommission, in die Sie, meine Damen und Herren, natürlich eingebunden werden. Und jetzt, Ernst«, wandte er sich direkt an Bienzle, »denke ich, solltest du so schnell wie möglich zum Fundort der Leiche fahren.«
Bienzle nickte und verließ den Raum mit den Worten: »Alles Weitere später.«
Günter Gächter steuerte den Dienstwagen. Mit Blaulicht und Martinshorn rasten sie über die Schwarenberg- und die Pischekstraße zur Geroksruhe hinauf und bogen in das Sträßchen ein, das auf dem Rücken der Wangener Höhe zunächst durch einen üppigen Buchenwald führte und danach durch Schrebergärten, die man hier »Gütle« nannte.
Rot-weiße Bänder mit der Aufschrift »Polizei« versperrten die Fahrbahn. Gächter hielt an. Er und Bienzle stiegen aus.
»Dort vorne.« Ein Schutzpolizist, in dessen leichenblassem Gesicht Schweißperlen standen, deutete den Berg hinunter.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Bienzle.
»Ich hab selber drei Kinder. Zwei Bube und a Mädle. Sieben, fünf und drei Jahr’ alt«, antwortete der uniformierte Beamte, nahm die Mütze ab und fuhr mit seinem schweißnassen Taschentuch über seine hohe Stirn.
»Verstehe«, sagte Bienzle und stapfte den Hang hinab.
Die Beamten der Spurensicherung und der Gerichtsmediziner Dr. Kocher waren schon da. Kocher kniete neben der Grube, in der das Mädchen gefunden worden war. Er nickte Bienzle und Gächter zu, als sie neben ihn traten. »Nach der Leichenstarre zu urteilen, ist das Kind wahrscheinlich länger als zwölf Stunden tot.«
»Wahrscheinlich?«
Kocher zeigte auf das Erdloch. »Wir haben die Temperatur der Erde da drin noch nicht gemessen.«
Gächter sagte: »Verschwunden ist Elena Hagen am Freitag nach der Schule. Zuletzt wurde sie gegen 15 Uhr gesehen.«
Kocher nickte. »Und heut ist Sonntag!«
Bienzle beugte sich zu dem Gerichtsmediziner hinab. »Wir müssen genau wissen, wie viel Zeit zwischen dem Verschwinden des Kindes und seinem Tod vergangen ist.«
Kocher hob mit einer Pinzette eine Fliegenlarve hoch. »Vielleicht erzählen die uns was.« Er schob die Spitze der Pinzette in ein Glas mit Alkohollösung und ließ den kleinen weißen Körper los.
Aus den Augenwinkeln sah Bienzle, wie die Leiche des Mädchens weggeschafft wurde. Er wollte noch etwas zu Kocher sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Gächter war zu ihm getreten. »Man muss die Eltern informieren.«
Was steckte nicht alles hinter diesem sachlichen Satz? Während sie den Weg zum Fahrsträßchen hinaufgingen, dachte Bienzle darüber nach, wie oft er in seinem Berufsleben schon den Angehörigen die Nachricht vom Tod eines nahen Menschen hatte überbringen müssen. Niemand sollte sagen, dass man sich im Lauf der Zeit dagegen wappnen oder gar daran gewöhnen könne. Jeder Fall war anders. Am schlimmsten aber waren die Fälle, in denen Kinder ihr Leben hatten lassen müssen.
Gächter sah zu seinem Freund hinüber. »Soll ich das übernehmen?«
Bienzle sah seinen Kollegen überrascht an. »Das würdest du tun?«
Gächter nickte. Es war ihm anzusehen, dass es ihm schwer fallen würde.
Bienzle schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wir gehen zusammen.«
Die Familie Hagen hatte die rechte Erdgeschosswohnung in einem Sechsfamilienhaus im Stuttgarter Westen. Sie durfte den Garten nutzen. An einer Teppichstange hing eine Schaukel und bewegte sich leise, als ob grade ein Kind heruntergesprungen wäre. Aber es war der aufkommende Wind, der sie in Bewegung gesetzt hatte. Ein Gewitter kündigte sich an. Erste schwarze Wolken drangen von Westen her über den Killesberg in den Kessel der Innenstadt herein. Heftige Böen wirbelten Staub und trockene Blätter auf.
Gächter hatte geklingelt. Die Eheleute kamen gemeinsam an die Tür, als ob sie sich gegenseitig beschützen wollten. »Ja, bitte?«, sagte Herr Hagen.
Bienzle schluckte trocken. »Mein Name ist Bienzle«, stieß er hervor, »ich bin Kriminalbeamter.«
Die junge Frau, sie hatte ein rundes, helles Gesicht mit lichtblauen Augen, die jetzt plötzlich dunkel wurden, starrte ihn an.
»Es tut mir leid …« Bienzle unterbrach sich.
»Nein!«, schrie sie plötzlich. »Nein, das ist nicht wahr. Sagen Sie, dass es nicht wahr ist!« Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper.
Ihr Mann schlang von hinten die Arme um sie. »Carmen«, sagte er in einem seltsamen Singsang. »Carmen, ruhig!«
Plötzlich schrie sie: »Bitte!« Und dann immer wieder: »Bitte! Bitte! Bitte!«
»Dürfen wir reinkommen?« Der Satz kam Bienzle plötzlich sinnlos und deplatziert vor. Schließlich sagte er: »Kommen Sie!«, und schob das Paar ins Haus. Ringsum waren Fenster aufgegangen. Jeder in der Nachbarschaft wusste ja, dass das Kind verschwunden war, und es fiel niemandem schwer zu begreifen, welche Nachricht die beiden fremden Männer dem Ehepaar Hagen überbrachten.
Als sie in das Wohnzimmer traten, wurde Carmen Hagen plötzlich ruhiger. »Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!«, sagte sie. Und dann noch mal: »Es ist nicht wahr. Es ist eine Verwechslung. Meine Elena kommt wieder. Sie kommt bestimmt wieder.«
Bienzle setzte erneut an: »Ich weiß, wie furchtbar das für Sie … Ach was! Alles, was man in so einem Fall sagt, kann nur falsch sein.«
Zum ersten Mal meldete sich Herr Hagen. »Bitte, gehen Sie«, sagte er.
»Meine Elena. Meine kleine Elena!«, rief Frau Hagen ein ums andere Mal.
Bienzle sagte: »Wir versprechen Ihnen …!«
»Bitte, lassen Sie uns allein!«, unterbrach ihn Herr Hagen.
Bienzle machte eine resignierende Geste und ging zur Tür.
Gächter sagte: »Herr Hagen, könnte es sein …«
»Jetzt net!«, fuhr Bienzle seinem Kollegen in die Parade. »Jetzt net, Gächter.« Er zog ihn mit sich hinaus und drückte die Tür leise zu.
Im Präsidium hatte nur wenig verändert werden müssen. Der Raum, in dem die Sonderkommission schon wegen der Entführung Elena Hagens eingerichtet worden war, hatte ein paar Tische mehr bekommen. Zusätzliche Telefone wurden installiert. Die Mannschaft hatte man um zwölf Beamte aufgestockt. Als Bienzle und Gächter zurückkamen, waren die Techniker noch damit beschäftigt, Leitungen zu legen, Computer zu installieren und zu vernetzen. Bienzle überließ Gächter das Kommando und ging in sein Büro.
Als er die Tür öffnete, stand ein kleiner, gedrungener Mann mit dem Rücken zum Raum am Fenster und wippte in gleichmäßigen Bewegungen auf seinen Fußballen. Bienzle kniff die Augen zusammen. »Herr Grossmann?«
Grossmann wandte sich um. Sein Gesicht wirkte starr. Die Haut spannte sich straff über Jochbein und Kinn. Sie war fast unnatürlich gebräunt. Bienzle wusste, dass Grossmann den Großteil seiner Zeit in seinem Garten verbrachte.
»Sie haben es also schon gehört?« Bienzle reichte dem Exkollegen die Hand.
»Jawoll, und ich biete Ihnen meine Mitarbeit an, Kollege Bienzle.«
Der Hauptkommissar wiegte seinen schweren Kopf hin und her. »Ich glaube, das ist keine gute Idee.«
»Ich kenn den Kerl«, sagte Grossmann, »ich habe ihn damals drei Tage lang verhört.«
»Und krankenhausreif geschlagen!«, gab Bienzle zurück.
»Er ist unglücklich gestürzt. Okay, ich hab ihn ein bisschen hart angefasst, ja. Aber wenn man sich so sicher ist …«
»Sie haben Kai Anschütz nichts beweisen können.«
»Aber ich hab gewusst, dass er es war, und ich hab auch gewusst, da kommt man nur mit einem Geständnis weiter.«
»Trotzdem …« Bienzle schüttelte entschieden den Kopf.
»Wenn er ausgesagt hätte, und wir hätten das Kind gefunden, wäre ich ein Held gewesen … Aber darum geht’s gar nicht. Es geht darum, dass der Kerl immer noch frei herumläuft. Und dass wir ihn diesmal überführen müssen!«
»Wir? Herr Grossmann, bitte …«
Grossmann unterbrach ihn: »Kollege Bienzle, verstehen Sie mich doch! Mich treibt das immer noch so wahnsinnig um, dass ich keine Nacht mehr richtig schlafen kann.«
»Das verstehe ich ja«, entgegnete Bienzle, »aber ich kann Sie doch unmöglich hier mitarbeiten lassen. Sie sind kein Polizeibeamter mehr!«
Grossmann zählte an den Fingern ab: »Er hat ein Kondom benutzt, stimmt’s?«
»Das wissen wir noch nicht.«
»Das Kind ist zuerst gewürgt und dann mit einem Kissen erstickt worden.«
»Mit dem Gerichtsmediziner habe ich darüber noch nicht gesprochen.«
Bienzle verlor langsam die Geduld, aber sein früherer Kollege fuhr unbeirrt fort: »Der Täter hat Handschuhe getragen, und alle eventuellen Spuren an der Haut und an den Kleidern hat er mit Klebeband beseitigt, stimmt’s? Ihr habt nichts gefunden außer den Erdspuren.«
Bienzle zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich sage Ihnen doch: Die Auswertung läuft noch.«
»Aber sie wird genau das ergeben. Nehmen Sie Kai Anschütz fest, so schnell wie möglich. Sie müssen das machen. Wenn Sie es nicht tun, werden Sie eines Tages genau so schlaflose Nächte haben wie ich.«
»Sie wissen doch so gut wie ich: Wir haben keine Handhabe …«
Wieder unterbrach ihn Grossmann: »Er war es schon letztes Jahr bei der kleinen Meinhold! Er ist damals als Letzter mit der Christine gesehen worden. Man hat ihn beobachtet. Und an seinen Schuhen war Erde aus dem Waldstück, wo die Leiche gefunden wurde.«
Bienzle schlug unvermittelt mit der Faust auf den Tisch. »Ja, ich weiß das alles, und ich weiß auch, dass er vorbestraft ist. Niemand kann ausschließen, dass er’s war. Aber im Fall Elena Hagen haben wir noch nicht den geringsten Anhaltspunkt, der auf ihn hinweist.«
Grossmanns Stimme bekam einen fast flehentlichen Klang: »Bienzle, ich biete Ihnen noch einmal meine Hilfe an!«
»Sie wissen genau, dass ich die nicht annehmen kann.« Bienzle ging zur Tür und öffnete sie weit – ein deutliches Zeichen dafür, dass für ihn das Gespräch beendet war.
Grossmann machte ein paar zögernde kurze Schritte zum Ausgang hin. »Wenn Sie ihn jetzt nicht auf Nummer Sicher bringen, und er tut es wieder, sind Sie für den nächsten Kindermord verantwortlich«, sagte er. »Können Sie diese Verantwortung tragen?«
»Ich werde sie wohl tragen müssen«, sagte Bienzle und spürte zugleich, wie die Kälte über sein Rückgrat zum Nacken und bis unter das Schädeldach kroch. Er drückte die Tür hinter Grossmann ins Schloss, ging zu seinem Platz und setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl. Er streckte die Beine weit von sich, hakte die Daumen in den Hosenbund, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
So traf ihn Gächter an. »Schläfst du?«, fragte er von der Tür her.
»Ich denk nach.«
»Tanja Hohmann trägt alles zusammen, was man über die Tat im letzten Jahr und alle vergleichbaren Taten weiß.«
»Gut!«, sagte Bienzle. Frau Hohmann war eine siebenundzwanzigjährige Kollegin, die er wegen ihrer ruhigen Art und ihres scharfen Verstandes schätzte. Die junge Frau war eine zielstrebige Person. Wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, konnte sie extrem hartnäckig sein.
»Zielke hat es übernommen, die Flugblätter herzustellen. Er sorgt auch dafür, dass die in alle Briefkästen in der Umgebung der Wohnung von Hagens verteilt werden.«
Bienzle nickte. Zielke, ein langer, knochiger Typ mit der Visage eines Halunken, war nicht weniger hartnäckig als Frau Hohmann. Bei ihm musste man nur ständig auf der Hut sein, dass er das Gesetz nicht viel zu weit auslegte.
»Die Staatsanwaltschaft hat für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, eine Belohnung von 5000 Euro ausgesetzt.«
»Des wird nichts bringa«, sagte Bienzle, »aber mache mueß mr’s.«
»Und das ist das Plakat dazu.« Gächter schob ein DIN-A0-Blatt auf den Schreibtisch. Im Zentrum war ein postkartengroßes Foto von Elena Hagen zu sehen. Es war vor dem Sechsfamilienhaus aufgenommen worden, in dem die Familie wohnte. Elena stand mit einem Fuß auf ihrem Kinderroller und stützte sich mit dem anderen an der Bordsteinkante ab. Den Lenker schien sie fest umklammert zu haben. Sie lachte offen in die Kamera.
Bienzle schluckte. »Was für ein fröhliches Kind«, sagte er mit belegter Stimme.
Gächter hob den Kopf. Tränen schimmerten in den Augen seines Chefs. »Ich habe den psychologischen Dienst zu den Hagens geschickt«, fuhr Gächter rasch fort.
Bienzle nickte. »Die Leut brauchen Trost. Und sie brauchen Schutz vor allzu penetranten Journalisten, die wahrscheinlich schon jetzt das Haus belagern. Sind genug Beamte vor Ort?«
Gächter nickte und fragte: »Gehen wir gleich an die Medien?«
»So schnell wie möglich. Und bitte instruier auch den Pressesprecher. Aber die Hagens halten wir selber auf dem Laufenden, ja? Die sollen nicht aus der Zeitung erfahren müssen, wie sich der Fall entwickelt.«
Bienzle stand auf. »So, und jetzt teilen wir die Ermittlungstrupps ein, die Verwandte, Freunde, Bekannte und Nachbarn der Hagens befragen werden.« Mit einem Mal war die Lethargie von ihm abgefallen. Ab jetzt würde er die Ermittlungen vorantreiben, als stünde er ständig unter Strom. Wenn es sein musste, brauchte er in solchen Situationen keinen Schlaf. Im Gegenteil: Er wurde von Stunde zu Stunde wacher. Er konnte im wahrsten Sinn des Wortes unermüdlich sein. Vielleicht würde es ihm sogar gelingen, die Gedanken an Hannelore auszublenden, aber da war er sich nicht sicher.
»Bisher 487 Hinweise aus der Bevölkerung«, sagte Zielke, als Bienzle den Raum der Sonderkommission betrat. »Knapp über 300 sind überprüft. Kein einziger brauchbarer dabei.«
»Wir lassen nicht locker«, sagte Bienzle. »Jedem einzelnen wird nachgegangen, und wenn’s sein muss, dreimal!«
»Well«, sagte Zielke.
»Schwätz Deutsch«, knurrte Bienzle. Er ärgerte sich schon lange über Zielkes Art, ständig englische Brocken in seine Sätze einzuflechten. Seitdem der junge Kommissar einmal einen Lehrgang beim FBI in New York absolviert hatte, pflegte er diese ärgerliche Angewohnheit. Dass sich Zielke sofort verbesserte, machte die Sache nicht erträglicher; denn er sagte nun: »Okay, Chef!«
Ein Mitarbeiter rief herüber: »Da kommt grad ein Anruf aus der Gerichtsmedizin. Der Herr Dr. Kocher wär jetzt so weit.«
Bienzle verließ die Soko und machte sich auf den Weg zum Sezierraum.
Dr. Bernhard Kocher war ein anerkannter Fachmann. Bienzles Verhältnis zu dem Pathologen war früher einmal sehr gut, um nicht zu sagen: freundschaftlich gewesen. Sie waren oft gemeinsam über die Schwäbische Alb oder durch den Schwarzwald gewandert. Bienzle hatte die langen Gespräche mit dem Mediziner genossen. Kocher war ein belesener, gebildeter, gescheiter Mann. Das hatte auch Hannelore imponiert. Es war zu einer kurzen, aber heftigen Affäre zwischen den beiden gekommen, als Bienzle ein paar Monate an der Polizeischule Hiltrup unterrichten musste. Schon nach zwei Wochen hatte Hannelore eingesehen, dass es sich lediglich um ein Strohfeuer handelte, das schnell aufgeflammt und genau so schnell wieder in sich zusammengesunken war. Klüger wäre es sicher gewesen, Bienzle die kurze Liaison zu verschweigen, aber Hannelore fühlte sich von Kind auf zur Ehrlichkeit verpflichtet. Also beichtete sie eines Abends den Seitensprung bei einem Glas Côte du Rhône und trieb Bienzle damit in eine tiefe Depression. Er wurde nicht zornig, er wütete nicht, er saß nur ganz still da und war unendlich traurig. Wortlos trank er sein Glas aus und verschwand im Schlafzimmer. Als Hannelore ihm folgen wollte, war die Tür verriegelt. Und es war ihr, als hörte sie ihn von drinnen weinen.
Inzwischen waren sieben Jahre vergangen, und Bienzle meinte, es seien sieben gute Jahre gewesen. Aber für Hannelore mochte sich das anders darstellen. Er zwang sich, die Gedanken daran zu verscheuchen.
Dr. Kocher begann ohne Gruß und Vorrede, als Bienzle durch die Glastür in den Sezierraum trat: »Bis jetzt keine fremden DNS