13,99 €
Bekenntnisse eines Altlinken: Wenn Revolution und Weltgeist auf der Almwiese landen
Kennen Sie das? Riesige Graffitis, freilaufende Pitbulls, vorbeizischende Kampfradler, schreiende Kinder, irre Straßenmusikanten – jede Störung der Ordnung regt Sie plötzlich auf! Früher hätten Sie dem Ordnungsfanatiker »Gartenzwerg, hau ab!« zugerufen. Jetzt sind Sie der reaktionäre Spießer! Oder doch nicht? Was ist bloß aus den revolutionären Ideen der siebziger Jahre geworden? Ist die böse »Anpassung ans System« schuld – oder gibt es tatsächlich neue Einsichten, neue Realitäten?
Reinhard Mohr geht der Frage nach, wie es kommt, dass man seinem Vater immer ähnlicher wird, Globuli für Hokuspokus hält und die Griechen nicht nur für Opfer einer bösen ungerechten Welt. Selbstironisch, polemisch und anekdotenreich: ein Plädoyer, sich immer wieder vom wahren Leben irritieren zu lassen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 219
REINHARD MOHR
Bin ich jetztreaktionär?
Bekenntnisseeines Altlinken
Gütersloher Verlagshaus
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2013 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Coverfoto: Creativ Studio Heinemann / Westend 61 / Corbis
ISBN 978-3-641-09833-9
www.gtvh.de
Vorwort
1. KapitelMein progressiver Alltag
2. KapitelSüße Vergangenheit
3. KapitelAbgründe der Politik
4. KapitelVerrückte Welt
5. KapitelLockruf der Natur
Nachwort
»Unser Kopf ist rund, damit das Denkendie Richtung wechseln kann.«
Francis Picabia
Ein sommerlicher Samstagnachmittag in der Berliner Friedrichstraße. Die Sonne glüht, während ein Bataillon orangefarbener Fahrzeuge der Stadtreinigung BSR – Slogan: »We kehr for you« – den müllübersäten Asphalt mit schwerem Gerät räumt. Dichte Staubwolken, umherwirbelnde Dreckhaufen, ein Meer aus zerborstenen Bierflaschen – ein übelriechendes, klirrendes Inferno. Eigentlich müssten Gesichtsschutz und Atemmasken ausgegeben werden. Die Passanten kämpfen sich irgendwie durch, und aus reiner Neugier stellt man sich die Frage: Was war hier eigentlich los? Ein Straßenfest der Hells Angels? Eine Restmüll-Performance von Foodwatch? Ein aus dem Ruder gelaufener Cuba-si! – Aufmarsch der Linken?
Die Antwort kommt von einem uniformierten Vertreter der Sicherheitskräfte. Vorwurfsvoll, beinahe verächtlich angesichts meiner peinlichen Unbildung stößt der Mann hervor: »Det war die Fuckparade! Det kennse nich??!!«
Ich schämte mich. Und dann kam sie doch wieder, die Erinnerung an die jährlichen Umzüge von Punkern, Anarchos und anderen Freizeit-Revolutionären unter dem bierseligen Motto »Fuck off Deutschland! Fuck you all!«.
Auf dem Weg nach Hause kroch dann der Gedanke in mir hoch: Wer zahlt eigentlich die Reinigungskosten für diese ausufernde Privatparty? Der Fuck-off-Staat? Die Steuerzahler? Der Euro-Rettungsschirm ESM?
Und da, ganz plötzlich, schoss mir ein zweiter böser Gedanke durch den Kopf:
Hilfe, ich werde reaktionär!
Wie kann ich auch nur eine Sekunde auf die Idee kommen, dass die fortschrittlichen jungen Menschen nach der erfolgreichen Ausübung ihres Grundrechts auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit einen Beitrag zur Beseitigung ihres eigenen Drecks leisten sollten?! Geht’s noch?!
Ausgerechnet ich, der vor Jahren noch selbst auf unzähligen Demonstrationen war! Und ganz ehrlich: Auch wir hatten damals keine Besen dabei. Liegt der Unterschied also nur darin, dass wir die Bierflasche erst nach der Straßenschlacht aufmachten und nicht, wie heute üblich, schon davor?
Kurz: Bin ich einfach nur ein alter Sack, der der Jugend ihren Spaß nicht gönnt?
Aber es kommt noch dicker. »Wem gehören die Hunde hier?«, schrie ich jüngst am Lietzensee, und blitzschnell wurde mir gewahr: Ich klang wie mein Vater vor vierzig Jahren – Bewunderer von Franz Josef Strauß. Gewiss, die Kampfköter waren nicht angeleint, während in der Nähe Kinder herumliefen. Aber ich hätte trotzdem toleranter sein können im Sinne des Berliner Landrechts: Mir doch egal, sind ja nicht meine Kinder! Lass sie machen.
Das Erschreckendste dabei: Meine autoritären Tendenzen weiten sich ständig aus.
Ich empfinde Graffiti an Hauswänden und S-Bahn-Wagen nicht mehr durchgängig als Kunst, verteidige die Schulmedizin gegen Globuli und anderen Esoterik-Nippes, schätze freundliche Umgangsformen und bitte schon mal den Nachbarn, das Radio leiser zu stellen. Als überzeugter Europäer bin ich ein Euro-Skeptiker geworden, der Griechenland und Portugal, Spanien und Italien nicht nur für Opfer exzessiver Finanzmärkte hält, und finde die konsequente Verfolgung von Neonazis durch die Polizei wichtiger als Lichterketten und Mahnwachen.
Immer öfter ertappe ich mich dabei, dass ich über grammatikalische oder orthografische Fehler auch in seriösen Medien den weißgrauen Kopf schüttele. Von Anfang an hat mich die allgemeine Begeisterung über die Piraten-Partei und den »frischen Wind« verwundert, den die putzigen Kerlchen mit angewachsenem Laptop angeblich in die Politik gebracht haben sollen. Ich rieche eher den Muff spätpubertierender Jungmänner, die es noch schwer haben werden, ihre postinfantile Internet-Fixierung abzulegen.
Am unheimlichsten aber ist die Wahrheit: Ich bin gar nicht reaktionär. Es ist die irre Wirklichkeit, die mich auf all die merkwürdigen Gedanken bringt.
Was aber bedeutet das? Bin ich vielleicht doch nach rechts abgedriftet? Oder die Gesellschaft nach links? Liegt es am Alter? Andererseits: Keine der Errungenschaften unserer liberalen Gesellschaft möchte ich missen. Freiheit ist mir immer noch das Wichtigste. Gerade meine Generation der 78er, jener Post-Achtundsechziger, die in den wilden siebziger Jahren groß wurden, hat gegen verkrustete autoritäre Verhältnisse revoltiert. Bin ich also Opfer meiner eigenen Vergangenheit geworden?
Aber wie kommt es, dass es auch vielen anderen aus meiner Generation so geht? Gewiss, der Linksradikalismus der 70er Jahre ist schon lange erledigt. Doch jetzt geht es darum, auch die Wärmestube der grün-alternativen Heimat zu verlassen, an der so viele Jahre lang das Herz hing. Das zeigt sich nicht nur an der Wahlurne, sondern im alltäglichen Leben. Immer häufiger findet man sich in der Nähe von Positionen, die man einst erbittert bekämpft, ja, verachtet hat.
Und noch einmal: Ist hier feige Anpassung ans böse System am Werk oder gibt es tatsächlich neue Einsichten und Argumente? Denn natürlich hat sich die Gesellschaft – wie die Welt – weitergedreht, nicht zuletzt durch die Generation der Revolte, auch wenn die Generation Facebook das gar nicht weiß.
Kurzum, es geht um den immer wieder neuen Blick auf das, was wir »Wirklichkeit« nennen. Ein sehr persönliches Plädoyer für das – manchmal schmerzhafte – Selberdenken. Für ein Leben, das sich von der Realität immer wieder irritieren lässt.
Berlin, im März 2013
oderOrdnung muss sein
Die ersten Symptome entwickelten sich schleichend. Am Anfang waren es nur Kleinigkeiten. Immer öfter störten mich Leute am Nachbartisch, ob im Café, im Restaurant oder auf der Bank vor der Berghütte. Entweder redeten sie zu laut, hatten eine unangenehme Stimme oder sahen so grandios unsympathisch aus, dass ich wie gebannt immer wieder hinschauen musste. Ein Paradebeispiel war jener ergraute Zopfhansel beim Italiener, der in größerer Runde ausschweifend und gut hörbar dozierte. Es ging um Gott und die Welt, und er erklärte alles, wirklich alles. Er war schon über fünfzig und hatte seinen kleinen gesellschaftskritischen Haar-Rest aus den frühen achtziger Jahren mit einem dünnen Gummibändchen festgezurrt.
Zwischen zwei Gabeln Spaghetti Vongole fragte ich mich, ob er nachts den haarigen Mini-Strunk löst und morgens wenigstens das Gummibändchen wechselt. Das kleine Gesamtkunstwerk aus Zopfzausel und fortschrittlichem Weltethos brachte mich jedenfalls eigentümlich in Rage, und schon nach dem nächsten Schluck Weißwein schoss mir der böse Gedanke durch den Kopf, eine Schere zu besorgen, um dem kleinen Wichtigtuer das revolutionäre Schwänzchen abzuschneiden. Einfach so, ganz spontan, in einer Art spätanarchistischer Aufwallung. Meine Freundin, eine Anwältin, machte mich vorsorglich auf die juristischen Folgen dieser illegalen und nicht einmal religiös begründbaren Beschneidung aufmerksam, und so ließ ich ab. Aber was war los mit mir, was ging in mir vor? Diese völlig überzogene emotionale Reaktion, diese Aggressivität gegenüber einem Zeitgenossen, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, außer mir auf die Nerven zu gehen?
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!