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Die Suche der Deutschen nach ihrer Identität ist geradezu sprichwörtlich. Immer wieder kommt es zum Streit über Begriffe wie Nation, Heimat und Leitkultur. Trotz aller historischen Veränderungen ist das Selbstbewusstsein der Deutschen immer noch von Extremen geprägt und schwankt zwischen moralischem Größenwahn und peinlicher Selbstverleugnung. Dazu kommt, dass die mediale Empörungskultur einseitige Sichtweisen fördert. Vor lauter Rassismus, Sexismus, Rechtsextremismus und Nationalismus erkennt manch braver Bürger sein eigenes Land nicht wieder. Für die bundesdeutsche Demokratie sind das bedrohliche Entwicklungen. Ohne eine vernunftgeleitete Wahrnehmung der Wirklichkeit verliert sie ihr Fundament. Reinhard Mohr beschreibt eindrucksvoll, warum es uns immer noch an republikanischem Selbstbewusstsein mangelt. Im Zentrum steht die Frage: Wo ist – zwischen AfD und Antifa – eigentlich die politische Mitte geblieben? Wofür stehen CDU, CSU und SPD? Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl sind diese Fragen dringlicher denn je.
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Seitenzahl: 159
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REINHARD MOHR
Warum es keine Mittemehr gibt
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1. eBook-Ausgabe 2021© 2021 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichRedaktion: Franz LeipoldLayout & Satz: Buchhaus Robert Gigler, MünchenGesetzt aus der Minion Pro und der Bauer BodoniKonvertierung: BookwireeISBN 978-3-95890-400-2
Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com
Vorwort
1. KAPITEL
DAS DEUTSCHE SELBSTBILD – ZERRISSEN WIE EH UND JE
Eine kleine Typologie des »Deutschlandgefühls«
2. KAPITEL
DEUTSCHLAND PEINLICH VATERLAND
Über den ewigen Selbstverdacht
3. KAPITEL
WARUM DER POLITISCHE ZEITGEIST KEINE MITTE MEHR KENNT
Struktureller Moralismus als Ersatzreligion
4. KAPITEL
IST EIN NEUER REALISMUS MÖGLICH?
Ausblick auf die Bundestagswahl
Nachwort
»Sie sind wirklich die nettesten Leute mit einem großartigen Sinn für Humor und versuchen immer zu helfen. Nur zwei Stereotypen sind wahr: Die Deutschen lieben Pünktlichkeit und Regeln.«
Alexej Nawalny, 2021
»Was wird bloß aus unsern TräumenIn diesem zerrissnen LandDie Wunden wollen nicht zugehnUnter dem DreckverbandUnd was wird mit unseren FreundenUnd was noch aus dir, aus mir –Ich möchte am liebsten weg seinUnd bleibe am liebsten hieram liebsten hier.«
Wolf Biermann, 1976
Die Suche der Deutschen nach sich selbst, nach ihrer Identität, nach dem Woher und Wohin ist notorisch, geradezu sprichwörtlich.
In seinem Buch »Lauter letzte Tage« stellte der Autor Friedrich Sieburg, einst selbst vor extremistischen Anfechtungen nicht gefeit, 1961 fest, Deutschland schwanke stets »zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Not und Überfluss, zwischen Übermut und Reue« – »Hochmut und Zerknirschung« –, »oft beiden Extremen zur gleichen Zeit hingegeben«. So lebe »es seit eh und je, niemals zu einer natürlichen Klarheit über sich selbst gelangend …«
Englands legendärer Premierminister Winston Churchill sah die Deutschen entweder »an der Gurgel« ihrer Feinde oder zu ihren Füßen. Unterwürfigkeit und Heldenmut, Kleingeistigkeit und Großmachtstreben, philosophische Grübelei und mörderische Effizienz – es gibt viele Aspekte jener deutschen Zerrissenheit, unter der schon Heinrich Heine und Kurt Tucholsky litten. »Deutschland, aber wo liegt es?«, fragte Friedrich Schiller 1796 in seinen »Xenien«. »Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.« Damals bestand das, was man im weitesten Sinne Deutschland nennen konnte, aus etwa 300 Königreichen, Fürstentümern, Kleinstaaten und Grafschaften, die lose miteinander verbunden waren, aber jeweils eigene Zölle erhoben und teils eigene Währungen hatten. Ein irrer Flickenteppich.
Die faustische Frage, was die Deutschen im Innersten zusammenhält, ist weltberühmt, aber bis heute unbeantwortet. Berüchtigt jene »Innerlichkeit«, für die es keine Übersetzung in andere Sprachen gibt. Begriffe wie Gemüt, wahre Empfindung und innere Natur gehören ebenso zu ihr wie der Luther’sche Protestantismus der einsamen Gewissenserforschung, der deutsche Idealismus, der mit seinem freien Ich eine ganze Welt erschaffen wollte, und das In-sich-gekehrt-Sein des romantischen Wanderers durch den dunklen Wald. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«, dichtete Heine, der doch eigentlich längst zum Pariser Weltbürger geworden war.
Immer noch und immer wieder kommt es zum letztlich ergebnislosen Streit über Begriffe wie Nation, Heimat und Leitkultur. Allenfalls dienen sie zur politischen Denunziation: Wer von Heimatgefühlen und deutscher Kulturgeschichte spricht, landet stracks im rechten Abseits. Und wer den Amtseid im Bundestag – »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde« – auch auf die Beschaffung möglichst vieler Impfdosen bezieht, ist rasch ein »Impf-Nationalist«, wenn nicht gleich ein »Impf-Nazi«.
Es ist ein Phänomen: Trotz aller historischen Veränderungen, nach zwei Weltkriegen, deutscher Teilung, Europäischer Union, Mauerfall und Wiedervereinigung ist das Selbstbewusstsein der Deutschen, unter denen inzwischen ein gutes Viertel nichtdeutscher Herkunft lebt, immer noch von Extremen geprägt: einerseits diffus und unsicher, andererseits radikal und ideologisch. Die Corona-Krise hat diese Ausprägungen noch deutlicher hervortreten lassen. Die Talkshowgestützte Daueraufgeregtheit ist pandemisch geworden. Eine einigermaßen realistische Selbstwahrnehmung im globalen Kontext hat es erst recht umso schwerer in Zeiten, da die Skandalisierungs- und Empörungskultur des Internets und der Sozialen Medien, verstärkt durch »Cancel Culture«, »safe spaces« und politische Korrektheit, einseitige, vermeintlich einzig wahre Sichtweisen bis hin zu Verschwörungstheorien zu bestätigen scheinen. Vor lauter Rassismus, Sexismus, Rechtsextremismus und Nationalismus, inmitten all der »Lügenpresse«-Rufe und »Volkstod«-Prophezeiungen erkennt manch braver Bürger sein eigenes Land nicht wieder, die gute alte Bundesrepublik.
Linksaußen warnt die »Nie-wieder-Deutschland«-Fraktion vor dem ewigen Faschismus, rechtsaußen kämpfen »Reichsbürger« und Neonazis gegen »Volksverräter«, während die grüne Moralisten-Vereinigung überzeugt ist, dass »gerade wir« als geläuterte Deutsche berufen seien, die Welt zu retten. Motto: Nur ein schlechtes Gewissen ist ein gutes Gewissen.
Dazwischen treiben lose versprengte Zeitgenossen, denen entweder alles egal ist oder gar verachtenswert erscheint, Hauptsache, das WLAN funktioniert, und einzelne Individuen, die sich in ihre offenkundig anachronistisch gewordene spätbürgerliche Liberalität zurückziehen wie auf einen alten Fauteuil.
Die klassisch-bürgerliche Mitte, von mitterechts bis mittelinks, wirkt merkwürdig verloren, blass, konturlos und kraftlos, auch ohne Ausstrahlungskraft und Selbstbewusstsein – und das, obwohl sie seit 1945 für das erfolgreiche, weltweit gefeierte »Modell Deutschland« steht, die Mischung aus freiheitlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Selbst Helmut Kohl erscheint im Rückblick wie ein Leuchtturm des liberalen Konservativismus, an dem man sich wenigstens abarbeiten konnte.
Auch die Spitzenkandidaten für die bevorstehende Bundestagswahl verkörpern kaum noch glaubwürdig den politischen Kern jenes bundesdeutschen Erfolgsmodells, dessen zeitgemäße Fortschreibung sie mit Optimismus in Angriff nehmen könnten. Der linksgrün-postnationale Zeitgeist zwischen Weltrettungs-Idealismus, inklusiver »Diversity« und Gender-Mainstreaming, sorgsam eingebettet in einen Live-Ticker-Katastrophismus, sorgt dafür, dass kritisch-pragmatische Vernunft und politischer Realismus immer mehr in eine Minderheitenposition geraten. Selbst die Kunst muss nun »inklusiv« sein, wie die progressive Berliner »Kulturjournalistin« Jenni Zylka jüngst dem ebenso progressiven Radio 1 vom ARD-Sender rbb in gender-gerechter Sprache anvertraute. Alles andere sei elitär.
Welche seltsamen Blüten dieser neue, politisch korrekte Wahn vor allem in der akademisch-kulturellen Sphäre treibt, zeigt ein Beispiel von vielen, hier: ein offener Brief von »Kulturschaffenden« zur Ernennung eines neuen Kölner Schauspiel-Intendanten im Jahre 2023:
»Die Repräsentation von nicht-weiß positionierten Menschen, von mixed-abled Menschen, von Frauen*, trans*, inter* und queeren Akteur*innen of Color ist, sowohl in Auswahlgremien wie diesem als auch in den städtischen Kulturinstitutionen, sehr wichtig. Eine weltoffene und tolerante Stadt, wie Köln es ist, sollte ihrem Stadttheater eine multiperspektivische Findungskommission mit Diversitätskompetenz bieten.«
Um fachliche Qualitäten scheint es in diesem grotesken Kauderwelsch überhaupt nicht mehr zu gehen. Kündigt sich hier ein neuer Jakobinismus an, ein revolutionärer »Wohlfahrtsausschuss«, der am Ende Köpfe rollen lässt, wenn auch nur mit der virtuellen Guillotine eines totalitären Ungeistes? Sind wir auf dem Weg zur Gaga-Republik?
Ob links-grün-queer oder querfront-esoterisch-rechtsradikal – die korrekte Aussprache des Gender-Sternchens bei der geschlechtergerechten Berufsbezeichnung »Schornsteinfeger* Pause*Innen« in der Talkshow von Anne Will oder die Frage, ob die Corona-Impfung eine »Gen-Spritze« sei, mit der Bill Gates die Weltbevölkerung per Bio-Chip steuern wolle, scheint wichtiger als unser Verhältnis zu den totalitären Weltmächten China und Russland, eine wirklich effiziente Klimastrategie oder eine vernünftige und nachhaltige (!) Flüchtlingspolitik, die die Interessen und die Integrationsfähigkeit unseres Landes mitbedenkt.
Für die bundesdeutsche Demokratie sind das alles durchaus bedrohliche Entwicklungen, denn ohne eine vernunftgeleitete Wahrnehmung der Wirklichkeit, ohne den rationalen gesellschaftlichen Diskurs »transsubjektiver Geltungsansprüche«, wie das Jürgen Habermas einst unnachahmlich formulierte, verliert sie ihr Fundament. Das berühmte Wort des Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde aus dem Jahre 1967 – »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« – ist hochaktuell, denn zu den wichtigsten Voraussetzungen einer gefestigten Demokratie gehört das Bewusstsein ihrer Kostbarkeit und die Bereitschaft, sie im Großen wie im Kleinen zu verteidigen. Es muss ja nicht gleich die »Wiedererfindung der Nation« sein, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann vorschlägt. Ein republikanisches Selbstbewusstsein, zu dem auch Stolz gehört, wäre schon sehr erstrebenswert.
Warum es daran offensichtlich immer noch mangelt, und das nach 75 Jahren insgesamt erfolgreicher demokratischer Entwicklung, soll Gegenstand dieses Buches sein. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl ist die Frage nach der Zukunft der politischen Mitte dringlicher denn je.
Im Mai 2021
Reinhard Mohr
Allen Meinungsumfragen, Sozialstudien, repräsentativen Stimmungserkundungen und raffinierten Algorithmen zum Trotz bleibt das Volk ein ewiges Rätsel. Seine wirklichen Gefühle und Ansichten sind schwer zu ergründen. Nicht selten sind sie widersprüchlich, inkonsequent, von den Wechselfällen des Zeitgeists geprägt.
Wie aus dem Nichts entstehen Umschwünge, ja revolutionäre Situationen. Berühmtes Beispiel: Frankreich im März 1968. Ein Leitartikler der führenden linksliberalen Zeitung Le Monde mokierte sich über die »Langeweile« der französischen Gesellschaft im zehnten Jahr der Präsidentschaft von General de Gaulle. Wenige Wochen später brach eine große Studentenrevolte los, die die Republik erschütterte. Der Fall der Berliner Mauer war ebenso wenig vorausgesehen worden wie der Aufstand in der arabischen Welt vor zehn Jahren. Dass ein geistesgestörter Narzisst mit Millionen fanatischer Anhänger US-Präsident werden konnte und bei seinem Abgang die größte Demokratie der Erde beinah an den Rand eines Staatsstreichs manövrierte, stand in keiner Zukunftsprognose der üblichen Experten. Auch der Einzug einer in Teilen rechtsextremistischen Partei in den Deutschen Bundestag, gar noch als stärkste Oppositionsfraktion, war noch vor wenigen Jahren undenkbar.
Doch das Volk, die Bürgerinnen und Bürger aller Geschlechtsidentitäten, Bundesländer und Weinanbaugebiete sind nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen unberechenbar. Wer etwa mit einem Moselwinzer oder einer Edeka-Kassiererin spricht, erhält einen völlig anderen Eindruck vom Alltag in Deutschland als in Edel-Restaurants des Berliner Regierungsviertels, wo die eingeschriebenen Mitglieder des politisch-medialen Komplexes ständig an der Welterklärungsschraube drehen und doch kaum eine Ahnung vom Leben »draußen im Lande« haben.
Die fortgeschrittene Differenzierung und Abschottung der sozialen Sphären, kulturell-religiösen Parallelgesellschaften und ideologischen Blasen, die sich allzu oft selbst genügen – »die Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz) –, ändern aber nichts daran, dass die politische, großenteils medial vermittelte Willensbildung immer noch entlang einigermaßen überschaubarer Linien verläuft. So lässt sich das Spektrum der politischen Überzeugungen wie in einem Cluster-Modell beschreiben, sortiert nach groben ideologischen, womöglich mehrheitsfähigen Orientierungen, wie sie einst die alten Volksparteien charakterisierte. »Weltanschauung« nannte man das früher. Denn der notorische Trend zu Individualisierung, Selbstverwirklichung und Selbstinszenierung mit »Follower«-Potenzial produziert zugleich eine wachsende Sehnsucht nach wärmender Gruppenzugehörigkeit und einer quasireligiösen Gesinnungsgemeinschaft, den Wunsch, wichtig zu sein und ernst genommen, geliebt oder wenigstens gefürchtet zu werden.
Deshalb lässt sich trotz aller Einschränkungen eine kleine, pointierte Typologie des »Deutschlandgefühls« entwerfen, ein aktuelles Panorama deutschen Selbstbewusstseins, das sich ganz offensichtlich von jenem Bild unterscheidet, das sich vor fünfzig Jahren bot, zu Zeiten der Kanzlerschaft Willy Brandts. Seine Parole auf dem SPD-Wahlkampfplakat von 1972 – »Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land« – würde nicht nur Caren Miosga von den Tagesthemen heute umstandslos der rechten AfD zuordnen, nicht ohne die dunkle Mahnung auszusprechen, nun sei der Rechtsradikalismus auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
»Je länger das Dritte Reich zurückliegt, desto mehr nimmt der Widerstand gegen Hitler und die Seinen zu« – dieses Wort des Publizisten Johannes Gross traf vor vielen Jahren schon zu, heute ist es wahrer denn je. Die Zahl der »Nazis« in Deutschland, gegen die sich der »antifaschistische Kampf« richtet, scheint unaufhörlich zu wachsen. Die Mühe, wenigstens das Präfix »Neo« zu verwenden, macht man sich meist nicht. Ob Joseph Goebbels oder Jens-Torben aus Stadtroda – »der Schoß ist fruchtbar noch«, wie Bertolt Brecht prophezeite. Ein wenig ähneln die »Nazi«-Rufe, mit denen inzwischen selbst Flüchtlinge und Migranten bedacht werden, deren Ansichten nicht ins Antifa-Schema passen, jenen Beschimpfungen, die in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die »Gammler«, »Hippies« und »langhaarigen Affen« der Protestgeneration trafen.
Lautstark und vorwiegend in Schwarz präsentiert sich diese »Nie-wieder-Deutschland!«-Fraktion, die schon gleich nach dem Fall der Berliner Mauer ein »Viertes Reich« hervorkriechen sah, einen neuen alten Faschismus mit nationalistischen, preußisch-nazistischen Großmachtambitionen. »Deutschland verrecke!«, »Deutschland, halt’s Maul!« und »Deutschland, Du mieses Stück Scheiße!« – so lauten ausdrucksstarke Zuspitzungen dieses linksradikal-antifaschistischen Gemütszustands, der sich im rot-rot-grün regierten Berlin am wohlsten fühlt. Versteht sich: Der antifaschistische Widerstand braucht ein angenehmes Unterstützer-Umfeld. In diesem Milieu ist die schwarz-rot-goldene Fahne der deutschen Demokratiebewegung zwischen 1830 und 1848 eine Art Nazi-Symbol, weil einfach alles, was nicht explizit links ist, Nazi ist. Und weil Nazi von Nation kommt. Woher sonst? Wer weiß schon, was das Hambacher Fest von 1832 war, die Märzrevolution 1848 und die darauffolgende Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche?
Der Jurastudent Bengt Rüstemeier, Mitglied im Akademischen Senat der Berliner Humboldt-Universität und stellvertretender Vorsitzender der Jusos im Bezirk Pankow, hatte sich bei Twitter für das Motto »Deutschland muss sterben« entschieden, Titel eines Songs der Hamburger Punkrock-Band Slime. Als der junge Mann unlängst durch öffentlich verbreitete Erschießungsfantasien gegenüber Vermietern und Jungliberalen auffiel, musste er immerhin sein Amt bei den Jusos aufgeben.
Allerdings gibt es auch unter den Gebildeteren, unter linken und linksliberalen Intellektuellen, ein Deutschland-Bild, das voller Ressentiments, uneingestandener Zwiespältigkeiten und Verdruckstheiten steckt. In den historischen Jahren 1989/1990 offenbarten auch Geistesgrößen wie Jürgen Habermas, Günter Grass und Walter Jens ein merkwürdiges Verhältnis zur deutschen Geschichte, die gerade im Begriff war, einen selten glücklichen Moment der Freiheit zu erleben. Da war vom Sieg des »D-Mark-Imperialismus« die Rede, von einer »Treibjagd« auf Andersdenkende, einem »postmodernen McCarthyismus« und »Hinrichtungsvorbereitungen« gegenüber Stasi-Offizieren und sogenannten »IMs« – und vom neokolonialistischen »Anschluss« der DDR, ganz so, als sei ein neuer Hitler in die Ostmark einmarschiert.
Auch in den Augen der besseren Kreise schien mit der Wiedervereinigung ein neuer Faschismus anzubrechen. Am hemmungslosesten formulierte das der DDR-Dramatiker Heiner Müller: »Auschwitz ist der Altar des Kapitalismus«, gab er in einem Interview mit der Zeitschrift Transatlantik zum Besten. Nach dem Fall der schützenden Berliner »Zeitmauer« sei »der Mensch der Maschinenwelt schutzlos ausgeliefert«. Man verstand: dem florierenden westdeutschen Ausbeutersystem. Kurios nur, dass Millionen DDR-Bürger genau dorthin wollten.
Bis heute wird dieser negative Nationalismus sorgsam gehütet, der seine ebenso verklemmte wie hasserfüllte Deutschland-Fixierung hinter den Parolen linker Systemkritik notdürftig zu verbergen sucht. Thilo Sarrazins buchdicker Weckruf »Deutschland schafft sich ab« ist vielen eine glückliche Vorstellung und die Warnung rechtsradikaler Gruppen vor dem deutschen »Volkstod« durch Masseneinwanderung eine konkrete Utopie.
Die radikale Parole »No borders, no nations« zielt zwar auf die wunderbare grenzenlose Welt, auf das Recht jedes Erdenbürgers, zu leben, wo er will, also auch auf die Pflicht zur unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen, aber im Kern geht es doch immer wieder um Deutschland. »Liebe Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein!« So lautet der einschlägige Hilferuf verzweifelter Inländer seit Jahrzehnten, den es bis heute als Postkarte, T-Shirt und Button gibt, unter anderem bei linke-t-shirts.de.
Auch wenn Millionen Migranten den Ruf längst gehört haben und ihm gefolgt sind, bleibt im »Fuck-you-Germany!«-Milieu das zeitlose Genre-Bild bestehen, auf dem die letzten Alt-Nazis bei der Sommersonnwendfeier in Friedrichswalde auf Jung-Faschos und paarungsbereite, blondbezopfte deutsche Mädels treffen, während Großkonzerne die Menschen in der »Dritten Welt« ausbeuten und das Klima ruinieren.
Es ist eine verzerrte, reaktionäre, im Wortsinn rückwärtsgewandte Sicht auf Deutschland anno 2021, ein Gruselkabinett verstaubter Wachsfiguren, in dem die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre praktisch nicht vorkommen. Dass in fast allen Großstädten rund die Hälfte aller Einwohner längst einen sogenannten »Migrationshintergrund« haben, wird ebenso wenig wahrgenommen wie drängende Integrationsprobleme und akute Bedrohungen durch eingewanderte islamistische Milieus.
Immer noch hockt man in den ideologischen Schützengräben vergangener Zeiten und spielt noch einmal die Klassenkämpfe der Weimarer Republik nach – diesmal als peinliche Farce. Völlig schräg zur Wirklichkeit, in der die Grünen weithin den Zeitgeist dominieren und nebenbei auch den alten Ruhrpott-Malocher gendergerecht in die Duden-kompatible Spezies der »Arbeitnehmenden« eingereiht haben, ignoriert man die »Bewegungsgesetze der Geschichte«, die sonst stets zur »Umwälzung der Verhältnisse« herbeizitiert werden. Kein Wunder, dass in der Antifa-Fraktion jener offenkundige Selbstwiderspruch gar nicht bemerkt wird: Ausgerechnet in dieses »faschistoide« Deutschland lädt man Millionen »Geflüchtete« ein.
Oder steckt darin doch eine vertrackte dialektische Logik: Genau diejenigen Migranten, die aus Afghanistan, Syrien und afrikanischen Despotien geflohenen sind, sollen uns die lang ersehnte Revolution bringen, die Befreiung aus der globalkapitalistischen Knechtschaft? Sind sie womöglich das neue »revolutionäre Subjekt«, nach dem die deutsche Linke seit je fahndet? Das wäre eine späte, fast hegelianische List der europäischen Kolonialgeschichte: die Nachkommen der einst Unterdrückten, die »Verdammten dieser Erde« (Frantz Fanon), bringen ihren Peinigern die Freiheit zurück, die sie ihren Vorfahren einst geraubt haben. Was hier anklingt, ist das Metathema des deutschen Selbstbewusstseins überhaupt: Schuldbewusstsein, Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung.
Damit hat die »Deutschland-Deutschland-über-alles«-Fraktion, die von Teilen der AfD bis zu neonazistischen Gruppen reicht, allerdings überhaupt nichts zu tun. Ihr ungebrochenes Verhältnis zur jüngeren deutschen Geschichte lässt Schuldgefühle erst gar nicht zu, allenfalls eine gewisse Verlegenheit, wenn es um den Völkermord an den Juden geht. Nicht jeder will den Holocaust rundheraus leugnen. Deshalb umschifft man das Thema, so gut es geht, rückt es an den Rand, relativiert, beschönigt und verweist auf die Schuld der anderen. Alexander Gaulands Bemerkung über den quantitativen »Vogelschiss« der zwölf Nazi-Jahre war symptomatisch. Der Rest, also alles andere, ist Stolz auf Nation und Vaterland und Wut auf all die »Volksverräter«, die an die angeblichen »Novemberverbrecher« und »Novemberlumpen« nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918 erinnern.
Für die Jüngeren: Damals konstruierten kaisertreue und deutschnational-rechtsextreme Kreise eine »Dolchstoßlegende«, der zufolge die Armee des Kaisers »im Felde ungeschlagen« gewesen sei und nur wegen der sogenannten »Novemberrevolution« linker Aufständischer kapitulieren musste. Im gesamten Verlauf der Weimarer Republik stützten sich die antidemokratischen Kräfte von rechts, allen voran Adolf Hitler, auf diese monströse Lüge, die durchaus Parallelen zu den »Fake News« aufweist, die ein ehemaliger US-Präsident unentwegt produziert hat.
Apropos: Dass kaugummikauende Soldaten aus dem fernen Amerika, darunter Schwarze aus den Südstaaten, die damals noch »Neger« genannt wurden, die große Kulturnation Deutschland – Goethe, Schiller, Beethoven – von einer ruchlosen Verbrecherbande befreit haben, wirkt als tiefe Kränkung des Herrenmenschentums bis heute nach. Umso absurder erscheinen die Aufzüge echter Neonazis, die tatsächlich die Ideologie des Nationalsozialismus predigen, als habe er nach all den Verbrechen an der Menschlichkeit nicht auch noch eine derart schmachvolle Niederlage erlitten, dass jeder Versuch einer Wiedererweckung nur unter Missachtung aller Tugenden vonstattengehen kann, über die ein Mensch verfügt, allen voran Verstand und Moral.
Diese kostbaren Güter fehlen auch jenen bewaffneten »Reichsbürgern«, die die Bundesrepublik zu einer illegalen, wahrscheinlich jüdischen Firma mit Sitz in Illinois erklären, ebenso Antisemiten, Querfrontler, radikalisierte Heilpraktikerinnen ohne Geschichtskenntnisse und Pegida-Anhänger, die Angela Merkel für ein geheimdienstliches Instrument deutscher Selbstzerstörung halten. Der Zivilisationsbruch von Auschwitz ist für viele eine Erfindung der Alliierten, und Hitler lebt, jedenfalls in jenen Köpfen, in denen die arische Rasse des Germanentums verzweifelt ums Überleben kämpft. Auch ihre Fahne ist eben nicht das Schwarzrotgold des Hambacher Festes von 1832, sondern die wilhelminische Reichskriegsflagge, deren Nachfolge 1935 für zehn Jahre die Hakenkreuzfahne antrat. Deutschland – das ist für die Rechtsextremisten eine imaginierte Melange aus Kaiser Wilhelm, Führer und Volkssturm unter den Klängen der Band »Stahlgewitter«. Die Gegenwart von 2021 ist da nur eine Schimäre.
Schlimmer noch, wie die Corona-Krise gezeigt hat: Sie ist