Generation Z - Reinhard Mohr - E-Book

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Reinhard Mohr

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Beschreibung

Sie waren zu jung für die Revolte von 1968 und zu alt für die Gründung von Internet-Cafés – die so genannten 78er –, die Generation der »Zaungäste«, kleine Brüder und Schwestern der berühmten 68er. Dafür hatten die 78er etwas, was keine Generation zuvor für sich in Anspruch nahm: die ewige Jugendlichkeit. ›Forever young‹ war ihr Motto. Ob in der Uni oder in der Wohngemeinschaft – es wurde endlos diskutiert, herumexperimentiert und vom glücklichen Leben geträumt. Irgendwann wurden sie dennoch Chefredakteure, Staatsminister und Starjuristen. Und sie wurden älter … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Reinhard Mohr

Generation Z

oder Von der Zumutung, älter zu werden

FISCHER E-Books

Inhalt

Dieser erschütternde Erfahrungsbericht über [...]»Wir sprechen von unsrem [...]Generation Z oder Von der Zumutung, älter zu werden1. Sind das etwa meine Hände? Menetekel des Älterwerdens2. Der Bikini des Begehrens. Vom Geschlechterkampf nach vierzig3. Der Single: Die 1-Mann-Kommune der Generation Z4. Ein ganz neues Zeitgefühl: Zukunft war gestern5. Das Leben frisst alle Theorie. Autobiographie als Philosophie der frühreifen Altersweisheit6. Von der Revolte ins Rentenloch: Die 78er als Augenzeugen der ZeitgeschichteWir, Gott und die Welt: Wer nun, was nun?

Dieser erschütternde Erfahrungsbericht über die Generation Z und die Zumutung, älter zu werden, stammt von einem 48-jährigen weißen, unverheirateten heterosexuellen Wessi-Mann, der seit ein paar Jahren in Berlin-Mitte lebt.

Schon diese harmlosen Tatsachen schränken den repräsentativen Charakter des vorliegenden Werkes ein. Dazu kommen individuelle Eigenarten wie die Liebe zu Frankreich, eine schwere Jugend in Frankfurt am Main und die Abneigung gegen Stollen mit Orangeade. Der Beruf des Journalisten, den der Autor ausübt, bringt weitere Besonderheiten mit sich. Kurz: Es handelt sich um einen durchaus subjektiven Bericht.

Dennoch ist zu hoffen, dass sich einige Leser hier und da wieder erkennen werden.

Reinhard Mohr

Berlin im August 2003

»Wir sprechen von unsrem Herzen, unsern Planen, als wären sie unser, und es ist doch eine fremde Gewalt, die uns herumwirft und ins Grab legt, wie es ihr gefällt, und von der wir nicht wissen, von wannen sie kommt noch wohin sie geht.«

Friedrich Hölderlin

»Parmesan und Partisan, wo sind sie geblieben?

Parmesan und Partisan, alles wird zerrieben.«

Matthias Beltz

»You are still young, that’s your fault

Look at me, I’m old, but I’m happy.«

Cat Stevens

Generation Z oder Von der Zumutung, älter zu werden

Ein Vorwort

Eigentlich hätte alles einfach so weitergehen können. Von den üblichen Weltkatastrophen, Kriegen, Vulkanausbrüchen und Überschwemmungen abgesehen, lief es doch ganz prächtig in den letzten zehn Jahren. Man war nun, gegen alle Erwartung, wirklich und ganz unwiderleglich, erwachsen geworden, hatte, trotz aller Krisen und Anfechtungen, einen guten Job – und wohnte auch noch in Berlin, schön zentral in Mitte. Morgens mit dem Fahrrad an Synagoge und Lustgarten vorbei Richtung Friedrichstraße, Lachsbagel oder Sushi zum Lunch, und schon am frühen Nachmittag konnten einem Guido Westerwelle, Enie van de Meiklokjes oder Alfred Biolek auf der Straße begegnen. Manchmal saß auch Gerhard Schröder oder Frank Castorf am Nebentisch.

Auch für den Rest des Lebens galt: Die Sache läuft. Keine Radikalismen mehr, kein Extremismus (außer in der Beurteilung von Roger Willemsen und schlechtem Wein), dafür jede Menge gediegenes Mittelmaß, dem der Verrat an den alten Idealen kaum noch anzumerken war. Nur die staatlich geprüften Opportunismus-Sachverständigen der »taz« rochen immer noch zuverlässig den alten Schweinebraten, aus dem dies kroch.

So war ich, Teil der Generation Z wie »Zaungäste« – die 78er, man erinnert sich –, in meinen Vierzigern auf einem recht angenehmen Plafonds angekommen. Gemessen an der fiebrigen Krankheit der Jugend und den schier endlosen Wirrnissen, ihr zu entkommen, war dies nahezu ein buddhistischer Zustand.

Die Zahl der Frankreichreisen und Skiurlaube nahm weiter zu – oder verharrte auf hohem Niveau –, ebenso wie die Kosten für Logis, Speis und Trank, allerdings auch der Stress zwischendurch; kein richtiger Arbeitsstress, denn der inhaltliche Kern der Arbeit waren immer noch Selbstverwirklichung und sensible Hingabe an die Weltläufe, sondern jener subtile Alltagsstress, die eigene Lebensleistung im Wettbewerb der anderen Ich-Systeme immer wieder angemessen cool positionieren zu müssen. Das kann auf die Gesundheit gehen.

Doch auch diese Operation gelang einigermaßen, weil die Generation Z das ganze Leben lang kaum etwas anderes gemacht hat, als sich selbst zu kommunizieren und zu reflektieren.

Alles hätte also einfach so weiterlaufen können mit dem Programm der individualreformistischen Lebensoptimierung, wären da nicht immer wieder jene irritierenden Momente gewesen, die alles in ein anderes, erschreckendes Licht tauchten, die das kleine autobiographische Nirwana in Unruhe, ja Panik versetzen konnten.

»Jetzt kommen sie schon zum Sterben her!«, ätzte irgendein rotzfrech verschnupftes Techno-Wesen am Eingang eines jener Clubs, die am liebsten schon die dreißigjährigen Mitglieder der »Generation Golf« in den Party-Vorruhestand schicken würden. Man wollte es irgendwie gar nicht richtig gehört haben, wollte sich umdrehen, um zu schauen, wer da gemeint war. Doch da war niemand. Nur die jüngere Begleitung hielt in dieser schweren Sekunde die Sache einigermaßen im Lot. Aber das war noch nicht alles.

Beim Tanzen folgt der nächste Augenblick der Wahrheit: Plötzlich fällt – tausendmal ist nichts passiert – der routiniert unwillkürliche Blick auf die hübschesten Frauen im Umkreis von zehn Metern reflexhaft in sich zusammen und meldet sich vorschriftsgemäß bei der Abteilung »Kritische Selbstbeobachtung« im Großhirn. Kurz darauf verschafft sich aus dem tiefsten Inneren – Großhirn an Gewissen über Sprachzentrum – eine Stimme Gehör, die aus den gestanzten Dialogen schlechter Vorabendserien zu stammen scheint, und sagt volltönend im Klischee: »Die, die du da eben so intensiv angesehen hast, die könnte deine eigene Tochter sein.«

Das war’s: ertappt. Der leise Einwand, da hätte man aber sehr früh anfangen müssen mit der Nachwuchsproduktion, verfängt nicht. Trotzdem ertappt. Schlimmer noch: selbst ertappt. Am allerschlimmsten: Man hätte es ja kommen sehen können. Doch offensichtlich hat das Frühwarnsystem versagt. Ohne ausreichende Vorwarnung bin ich alt geworden.

Natürlich nicht wirklich alt. Kein Siebziger, kein Sechziger, nicht mal ein virtueller Riester-Rentner im abwartenden Dauer-Vorruhestand oder eine jener alterslos ausgebrannten Karteileichen jenseits von gut und böse. Nein, einfach nur Mitte bis Ende vierzig, definitiv in der zweiten Lebenshälfte, in der sich andere immerhin noch darauf vorbereiten, Bundeskanzler oder Talkshow-Moderator zu werden.

Gewiss, Millionen und Abermillionen Leidensgenossen weltweit überschreiten tagtäglich die magische Marke von vierzig plus x, doch ich hatte es nicht richtig bemerkt. Es kam nicht einmal ein blauer Brief von der EU-Kommission, Abteilung Verschlechterung der Alterspyramide.

Natürlich, Anzeichen hatte es genug gegeben. Immer häufiger schien ich unter den Ältesten in der Kneipe zu sein, und bei Festen mit alten Freunden, die man lange nicht gesehen hatte, blickte ich nicht selten in einen eher unangenehmen Spiegel vergleichender Anthropologie.

In manchen Veranstaltungshinweisen fürs hippe Szenepublikum entdeckte ich keine Silbe mehr, die mir bekannt vorkam, und an Samstagabenden sank der sichtbare Altersdurchschnitt auf dem Bürgersteig tatsächlich auf bedrohliche Werte knapp über zwanzig. Gleichwohl, Sehen und Begreifen sind zweierlei Dinge. Erst der Schock bringt beides zusammen.

Die Schockverarbeitungskapazität der Generation Z ist allerdings beträchtlich. Sie offenbart sich in einer über Jahrzehnte empirisch gewonnenen Lebensphilosophie, deren harter Kern aus einem Satz besteht: Das ganze Leben ist eine einzige Krise. Krise ist immer.

Was Wunder: Keine andere Generation hat ihre Jugend derart exzessiv ausgedehnt – bis in die späten Dreißiger hinein –, keine hat das Alter – und den Tod – derart hinter den Horizont jeder Vorstellungskraft verbannt. Deshalb konnte es auch niemals eine klassische Midlife-Crisis geben.

Zwischen analer Phase, Pubertät und Prostata-Vorsorge, zwischen Revolte und Rentenloch lag eine einzige Prärie überwältigender Unübersichtlichkeit, eine unendliche Abfolge von Krisengewittern, Depressionen und kurzen Schönwetterperioden, die gar keine Gelegenheit gab für die traditionelle Ordnung der Dinge. Die Existenz war ein einziges Experiment.

Nun ist die Situation da. Die restliche Lebenszeit scheint wie zusammengepresst – und ziemlich übersichtlich. Von hinten drückt der notorische Imperativ ewiger Jugend, von vorne droht die Perspektive aus Pflegeversicherung und »Essen auf Rädern«: Walter Benjamins »Engel der Geschichte«, eine Lieblingsfigur der Generation Z, stößt an die Grenze zur absoluten Gegenwart, die einfach nur noch Gegenwart ist und kein diffuses Versprechen irgendeiner Zukunft – weder Apokalypse noch Erlösung.

Pfeilschnell bewegen sich die Berufsjugendlichen von einst, ewige Adoleszenten irrlichternder Lebensgestaltung, auf ihre härteste Herausforderung zu: das tragische Herausfallen aus der entscheidenden Zielgruppe der Werbewirtschaft zwischen 14 und 49 Jahren. Dahinter wartet die Steppe der sozialen Randexistenz.

Oder ein neues, jedenfalls anderes Leben. Darum soll es hier gehen: um das Leben mit dem neuen Zeitgefühl. Und die Zeit drängt.

Jenseits der vierzig ist der Scheitelpunkt erreicht: Der Blick richtet sich nicht mehr voll wütender Hoffnung ins geliebt ungewisse Morgen, sondern auf die überraschende, uneinholbare Gegenwärtigkeit des Lebens. Carpe diem!, lautet die Devise, und der Zapp- und Zeitraffereffekt der Mediengesellschaft potenziert die antike Weisheit noch. Die Zeit rast davon, und doch spielt sich vieles immer auch gleichzeitig ab. Generationsabstände, Lebensphasen und die Intervalle modischer Trends verkürzen sich immer weiter.

Die veränderte Wahrnehmung rückt vieles in ein neues Licht: Man schaut genauer auch auf die schier unabänderlichen Rätselhaftigkeiten des Daseins: eine Art Mikrosoziologie des Alltags mit existenzialistischem Zoom-Effekt, der eine wachsende, doch schwer errungene Gelassenheit fördert.

Aufgeklärte Gegenwärtigkeit wird nun zur hohen Tugend: reine Lebenskunst. Keine unnötigen Umwege mehr, keine sinnlos verschwendete, verwahrloste Zeit.

Selbst ausgesprochen schlechte Morgenlaune wird zeitlich befristet. Langweilige Partys werden umgehend verlassen, schlechter Wein beim Stehempfang schon mal hinter die Büsche gekippt. Intensität steht im Vordergrund. Keine Zeit für schlechte Bücher. Dafür wird die Freude auf den nächsten Frühling umso mehr zelebriert. Natur wird immer wichtiger.

Die andere Seite: Plötzlich gibt es so etwas wie Autobiographie, gelebtes Leben, eine vorläufige Lebensbilanz. Denn die einstigen Dauerstudenten haben sich weithin selbst in Dozenten verwandelt. Mehr noch: Das eigene Leben ist nolens volens Teil der Zeitgeschichte geworden. Was vor einem Vierteljahrhundert passierte, steht im »Roten Kalender gegen den grauen Alltag« von 1977, dem abgegriffenen Ding mit den alten Seyfried-Comics. Es fehlt nur wenig, und man landet im TV-Zeugenstand von Fernsehdoktor Guido Knopp. Thema: »Der lange Treck zur Wirklichkeit. Das Tabu der Vertreibung aus der Utopie«.

Wie also steht es um die Sicht der Generation Z auf jene Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die ihre transzendente Vorläufigkeit für immer verloren hat? Wie steht es um die eigenartigen Metamorphosen des Körpers, um das Verhältnis zu Politik, Zeitgeist und Lebensphilosophie? Wächst aus der Desillusionierung der geübten Zyniker womöglich neue Souveränität, neue Hoffnung, gar neues Glück? Was machen Beruf und Karriere in Zeiten der Ich-AG – und was jener Endlosroman der »Zweierbeziehung« mit eingebauter Entfernungspauschale, kurz: Wie sieht die schöne neue Welt der Generation Z aus?

Wir werden sehen.

1. Sind das etwa meine Hände? Menetekel des Älterwerdens

»Das wird nun auch nicht mehr besser.« Über körperlichen Verfall und die plötzliche Wichtigkeit von Routineuntersuchungen – Selbstkontrolle statt Chaos: Weniger ist mehr, und Disziplin ist alles – Gute Fette, schlechte Fette: Smalltalk ab vierzig – »Ich glaube, in die Disco können wir jetzt nicht mehr gehen …«: Die schmerzhafte Erkenntnis, zu den alten Säcken zu gehören – Zurück zur Natur, dem Ort der Vergangenheit – Plötzliche Lärmempfindlichkeit: Die ehemaligen Krawallbrüder beschweren sich – Wenn man selbst vielleicht der Nächste ist: Der Tod rückt näher – Sportlicher Ehrgeiz: Über den Willen, doch noch mitzuhalten – Weh dem, der den Rubikon zur Würdelosigkeit überschreitet!

 

 

 

Wann genau ich zum ersten Mal auf meinen Körper schaute und halblaut murmelte: »Das wird nun auch nicht mehr besser«, ist im Nachhinein nicht festzustellen. Es muss irgendwann in den Neunzigern gewesen sein. Gewiss, schon mit Anfang dreißig hatte eine Freundin im Freibad bemerkt, dass sich die einst sehr schlanke Figur durchaus mainstreammäßig weiterentwickelt hatte, und natürlich hatte es in der gesamten Zeit der Adoleszenz immer wieder Anlass zu scharfer Selbstkritik am äußeren Erscheinungsbild gegeben. Wer mag sich schon, wenn er einundzwanzig ist?

Doch stets war da die berechtigte Hoffnung auf Besserung: Pickel verschwanden, das Gesicht formte sich, die Bewegungen wurden souveräner und kompakter. Der Körper nahm Gestalt an. Es ging, Krise um Krise, aufwärts, und irgendwann war man mit dem eigenen Spiegelbild halbwegs ausgesöhnt.

Jahrzehnte später, inmitten der neunziger Jahre mit ihrem Jugend- und Schönheitswahn, ging es um etwas ganz anderes. Nun war kein Raum mehr für das Prinzip Hoffnung, erst recht nicht für den Gedanken, mit der Zeit würde das schon besser, etwa so, wie eine Wunde heilt oder ein Ekzem verschwindet. Nein, es würde nur noch schlechter werden.

Die Sanduhr läuft. Der Verfall hat längst begonnen. Und er wird immer sichtbarer. Unaufhaltsam.

Plötzlich spielt das Alter, lange Zeit nur eine abstrakte oder symbolische Zahl, wirklich eine Rolle. Ganz praktisch. Die physische Attraktivität, soweit vorhanden, war immer auch ein Schutz vor Zumutungen aller Art. Sie lieferte eine gewisse Grundsicherheit auch in turbulenten Augenblicken, natürliche Spannkraft gegen akute Spannungszustände. Ein Hüftschwung, der immun machte gegen die ganze Welt, ein Sprung übers Geländer, der Dynamik bezeugte. Ein Panzer gegen die Bedrängnisse des Alltags.

Nun wird der Panzer allmählich porös. Der kritischen Selbstbeobachtung entgeht nichts – von den Augenringen über Hüftfalten bis zu den Händen, bei denen man zuschauen kann, wie die Jahre vergehen.

Die entscheidende Zäsur aber: Die Perspektive hat gewechselt. Plötzlich, so scheint es, hat die Biologie die Macht übernommen, besser: biochemische Prozesse, die mit noch so viel Olivenöl, Magerquark und eingelegtem Ingwer nicht aufzuhalten sind – auch nicht mit Power-Walking, Ferien auf dem Bauernhof, Anti-Aging-Therapie mit Testosteronsalbe oder Entschlackungskuren in Südportugal (dort, wo man vor 27 Jahren auf der revolutionären Kooperative bei der Olivenernte geholfen hatte).

Der Weg ist vorgezeichnet: von der Revolte ins Hormonloch. Männer, die früher mit ihrer Lederjacke geradezu verwachsen schienen und einen ziemlich coolen Gang hatten, klagen über Rückenprobleme und unmotivierte Schweißausbrüche, wiederkehrende Anfälle grundloser Müdigkeit, anhaltende Schlaflosigkeit und depressive Attacken.

Die unbegrenzte Verfügbarkeit der (körper-)eigenen Ressourcen ist nachhaltig angekratzt, Abwehrkräfte schwinden, und auch die geistige Präsenz leidet hier und da.

Der Sieg der Naturwissenschaften scheint überwältigend, die banale Empirie triumphiert über jede theoretische Spekulation. Von Kultur keine Spur mehr. Und: Diskutiert wird nicht, erst recht nicht abgestimmt.

Es ist diese stumme, zutiefst undemokratische Absolutheit, die so empörend ist für jene Generation Z, die doch gelernt hatte, über alles zu reden, um alles verändern zu können.

Hier wirkt eine Macht, die unhinterfragbar ist, die nicht einmal eine ladungsfähige Adresse hat. Kommunikation, Dialog, Diskurs, Verständigung, wenn es sein muss, ein runder Tisch, an dem alles zur Sprache kommt – nichts dergleichen.

Stattdessen häufen sich fast unmerklich die Arztbesuche, die Check-ups und die vergleichenden Beobachtungen im Wartezimmer wie beim Stehempfang, ein Reigen ganz eigener Art: Kontrolle statt Chaos.

Die Anarchie der unkontrollierten Nahrungsaufnahme und der exzessiven Kraftverschwendung bis tief in die Nacht weicht dem Regime der Selbstkontrolle. Jetzt erst begreife ich die Losung der Väter und Vorväter, die immer so schrecklich spießig klang: Das Wichtigste sei die Gesundheit.

Was sollte das schon sein – ein Leben in Gesundheit?

Doch schon als ich 35 war, hatte die Allgemeinärztin in Frankfurt-Sachsenhausen mich im Kreise jener jungen Alten begrüßt, um die sich ab sofort die Vorsorgepolitik der AOK kümmern werde. Zehn Jahre später ist die Vorsorgepolitik längst internalisiert und habituell geworden. Vorhandene hypochondrische Neigungen verstärken sich dabei, doch auch normal schmerzempfindliche Altersgenossen führen neben den bisherigen Termineintragungen – Donnerstag, 20 Uhr Simonetta im Pan Asia – eine zweite Liste, in der regelmäßig Urologen, Augenärzte, Internisten, HNO-Fachärzte, Physiotherapeuten und Chiropraktiker auftauchen. Immer häufiger werden Telefonnummern ausgetauscht, hinter denen sich kein süßes Geheimnis verbirgt, sondern die klinisch weiße Praxis eines Orthopäden, der angeblich noch jedes lahme Knie zum Laufen gebracht hat, und in manch gemütlichem Bargespräch geht es um die zurückliegende Parodontose-Behandlung, die Handhabung des Massagebürzels und erschreckend niedrigen Zahnersatzleistungen der Krankenkasse.

Längst schon sind die ausgefalteten Beipackzettel der eingenommenen Medikamente deutlich länger als die antiimperialistischen Nicaragua-Flugblätter von einst, und die Liste der aufgeführten Nebenwirkungen schlägt quantitativ jeden politischen Forderungskatalog von 1977. Als ich jüngst zum ersten Mal für endlos lange zwanzig Minuten in die bedrohlich enge Röhre eines Kernspintomographen geschoben wurde – spätere Diagnose des Neurochirurgen: typischer Verschleiß an der Halswirbelsäule –, half nur noch der rettende Gedanke an Woody Allen: Der hatte die Prozedur, die einem Probeliegen im Eichenholzsarg schon sehr nahe kommt, in »Hannah und ihre Schwestern« ja auch glücklich überstanden. Leben im Lazarett.

Unvergessen jener Routinetermin beim Urologen zu Beginn des Berliner Frühlings, also irgendwann Ende April. Auf dem Weg zur jährlichen Untersuchung, die stets mit einer gewissen Anspannung erwartet wird, passierte ich eine Ansammlung bildschöner junger Frauen – offenkundig Models, die auf dem Bürgersteig auf ihren Einsatz warteten. Ein Memento der besonderen Art: Ohne Gesundheit ist alles nichts. So hängt noch die Prostata-Vorsorge mit der Aussicht zusammen, auch weiterhin des Wunders weiblicher Schönheit teilhaftig zu werden.

Weh dem, für den es dafür schon zu spät ist!

Dass das Leben Spuren hinterlasse, hat man früher schon gehört und stets zu den schlimmsten Allgemeinplätzen gerechnet. Jetzt aber sieht man sie und ist schwer betroffen. Dabei ist Falte nicht gleich Falte. Ungezählt sind die Orte zwischen Stirn und Kinn, in denen sich die Jahresringe ablagern und eingraben – Menetekel des Älterwerdens.

Auch hier erzeugen Schicksal, Arbeitsbiographie und Genetik jede Menge Ungerechtigkeit. Hängen bei dem einen die Backen schon recht bedrohlich, strafft sich beim andern noch ganz stattlich das Gewebe unter der freilich etwas großporigeren Haut. Strahlt der eine noch mit fünfzig eine gewisse Jugendlichkeit aus, so sieht der andere schon mit Ende dreißig aus, als warte er nur noch auf die Riester-Rente.

Jenseits des Jürgen-Drews-Schemas (Modell Sonnenbank) oder des Iris-Berben-Phänomens (will einfach nicht altern) blicke auch ich zuweilen selbstkritisch in den Spiegel, um mich der eigenen Silhouette zu versichern, an die ich mich bei allen Schwierigkeiten letztlich doch gewöhnt habe. Meist erkenne ich mich noch, auch wenn die Qualität der Beleuchtung dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.

Doch wie lange geht das noch gut? Nachdem die schier endlosen Wirren der metaphysischen Identitätsbildung überwunden scheinen, tritt nun das physische Selbstbewusstsein stärker in den Vordergrund. Nach der Frage »Wer bin ich?« heißt es nun immer öfter »Wie sehe ich überhaupt aus?«.

Befreundete Frauen berichten sarkastisch von einem fatalen »Wahrnehmungsloch«, in das sie immer häufiger fielen, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs seien: Gleichaltrige Männer, jüngere erst recht, zielen mit ihren allzeit fixierbereiten Blicken haarscharf vorbei an den weiblichen Mittvierzigern, die sich plötzlich im Niemandsland zu bewegen scheinen, jenseits von gut und böse. No woman, no eye.

Wer diese Tendenz aufhalten will, muss sich und seinen Körper einer gnadenlosen Disziplin unterwerfen. Denn nicht nur der reine Verfall, auch der ab spätestens dreißig stetig anwachsende Umfang des eigenen Körpers erfordert ein allgemeines Umdenken.

Auch mir ging eines Tages die bittere Wahrheit auf: Schier alles, was den Gaumen erfreut und das Herz erwärmt, die ganze schöne, teils schwer errungene Kunst der Lebensverfeinerung, wird am Ende zu purem, körpereigenem Fett. Weil die natürliche Verbrennungskapazität altersbedingt abnimmt, landen edle Pralinen und rubinroter Bordeaux, Picodon de l’Ardèche und Roquefort ebenso wie ein Blueberry Muffin und das Zimt-Apfel-Müsli von Doktor Oetker, dem übrigens ein erstaunlich hoher (natürlicher?) Zuckergehalt innewohnt, unterschiedslos in den Hüften und in der Blutbahn, in Gelenken und Knochen und verstopfen zu guter Letzt noch die lebenswichtigen Herzkranzgefäße.

Gefahren lauern überall. Auf einer Party im Frankfurter Westend unterhielt ich mich jüngst angeregt mit einem bekannten Zukunftsforscher, ebenfalls Jahrgang 1955 – doch weder gemeinsame Erlebnisse der Frankfurter Sponti-Vergangenheit noch die Zukunft Europas oder die Megatrends der globalen Lebensentwürfe standen im Mittelpunkt des Gesprächs, sondern französischer Rohmilchkäse. Der nämlich, wiewohl ein Wunderwerk im Zusammenspiel von Mensch und Natur, sei wahres Gift für den Cholesterinspiegel, versicherte der weltläufige Trendforscher aus eigener leidvoller Erfahrung, da helfe auch kein noch so mühseliger Lauf zu mir, ihr oder dir selbst.

Gute Fette, schlechte Fette – so ändern sich die Zeiten.

Noch in den achtziger Jahren hatte die Generation Z, deren kollektive Küchenkultur zwischen Spaghetti Bolognese, Rinderhacksteak und Schweinegeschnetzeltem variierte, gelernt, dass eine ganze Welt existierte jenseits von Biskin, Scheiblettenkäse und Billig-Gouda.

Nun muss sie schon wieder umdenken. Was eben noch die Entdeckung des Luxus und der Moden war – lukullisch in der aufsteigenden Linie griechisch, spanisch, italienisch, asiatisch –, verwandelt sich nun ins Kalkül einer neuen, strengen Rationalität, einer Kultur der selbst auferlegten Einschränkung.

Wenn es bei all dem nur um die Ästhetik ginge, wäre es der persönlichen Entscheidung überlassen, bis zu welchem Körperumfang man es noch wagen kann, in Konkurrenz zu den nachfolgenden Generationen zu treten und jungen, schlanken Frauen schöne Augen zu machen. Doch hier geht es um die Gesundheit, und schon ein Blick nach Amerika, wo nach jüngsten Erhebungen zwei Drittel aller Menschen übergewichtig sind, bietet eine wahre Lehre der Abschreckung: So nicht, sage ich mir. Nicht mit uns.

Wir sind diszipliniert, aber auch flexibel. Wir können auch anders. Und wir machen aus der trivialen Erkenntnis, dass wir nicht mehr wie einst Unmengen von Souvlaki und Keftedes mit Pommes frites und Krautsalat in uns reinstopfen können, ohne ein Gramm zuzunehmen, gleich eine philosophische Weisheit: Weniger ist mehr. Der neueste Imperativ lautet also: Intensiver essen, bewusster schmecken und immer an die Leber denken.

So werden noch größere, noch raffiniertere und noch teurere Kücheneinrichtungen angeschafft, um sublim vom eigentlichen Problem – der ordinären Fresslust – abzulenken. Manch einer aus der Generation Z, der früher nicht mal ein vernünftiges Spiegelei hinbekam, verfügt nun als »bourgeoiser Bohemien« (David Brooks) über einen mehrstöckigen, computergesteuerten Designer-Kühlschrank, der wie ein atombombensicheres Raumschiff in der knoblauchgeschwängerten Edelküchenatmosphäre zu schweben scheint und Salat wie Gemüse aller Herkunftsländer viel länger frisch hält als von der Natur jemals vorgesehen.

Allein Planung, Organisation, Einkauf und Zubereitung der selbstverständlich mediterran orientierten Speisenfolge verbrauchen zuweilen mehr Kalorien, als mit Löffel und Gabel von den riesigen weißen Tellern mit Gemüsetortilla an Safransauce überhaupt aufgenommen werden können. Wenn Essen nach landläufiger Auffassung der Sex des Alters ist, dann ist das ambitionierte Kochen der Breitensport der mittleren Jahre: individuelle Lebensoptimierung im Kampf gegen den biologischen Niedergang.

Doch spätestens bei Tisch geht es wieder ans Eingemachte, denn die Natur in ihrem Lauf hält weder Dessert noch Riesling auf. Bei Flusskrebsschwänzen auf Rucola-Salat und Fischterrine an Sellerieparfait kommt die Rede auf allerlei Beschwernisse des fortgeschrittenen Alltags. Während über die jüngsten Gelenkbeschwerden berichtet wird, die den Ski-Urlaub in Sils Maria gefährden könnten – fahrlässigerweise hat man das Ikea-Regal in verkrampfter Hockposition auf dem zugigen Balkon zusammengeschraubt –, bleibt Zeit genug, Ausmaß und Tiefe der Augenringe des etwa gleichaltrigen Gegenübers zu studieren.

Es sind immer wieder solche Banalitäten, die die Betroffenen zutiefst irritieren, obwohl sie eigentlich viel zu klug sind, sich von irgendetwas überraschen zu lassen, seit Adorno und Horkheimer die »Dialektik der Aufklärung« analysiert haben – den ewigen Rückschritt im Fortschritt, das Unwahre im Großenganzen.

Etwas Fremdes scheint sich da auf unheimliche Weise ins Vertraute zu mischen – Oberarme, die plötzlich weicher werden als ein Cashmere-Pulli, Halspartien, die nicht mehr den Anforderungen eines perfekten Dekolletés genügen, Hinterteile, an die sich keine Levis-Jeans mehr hauteng schmiegen kann wie einst die wurstpellenartige »Tigerhose« bei »Rock gegen rechts«.

Besonders beim sommerlichen T-Shirt-Contest oder dem alljährlichen Experiment Badesee & Freibad kommt es auf Details an, und da ist es eben nicht damit getan, keinen Bierbauch zu haben, keine Glatze und keinen nässenden Hautausschlag. Knie, Oberschenkel, Brust und aufrechter, aber wiegender Gang: Darum geht es.