Bioenergetik - Alexander Lowen - E-Book
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Bioenergetik E-Book

Alexander Löwen

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Beschreibung

Alexander Lowen geht davon aus, dass alle körperlichen und seelischen Vorgänge nur verschiedene Ausdrucksformen eines einzigen, einheitlichen Lebensprozesses sind. Sobald sich der Mensch seines Körpers wirklich bewusst wird, mit ihm «arbeitet», ihn «erlebt», gewinnt er ein völlig neues Verhältnis zu sich selbst und wird auch Angstzustände und Stresssituationen überwinden. Dieses Buch ist das Basiswerk des «Vaters der Bioenergetik». Es hat vielen Menschen Mut gemacht, sich mit ihrem eigenen Körpergefühl auseinanderzusetzen und die Abhängigkeit des seelischen Gleichgewichts vom körperlichen Wohlbefinden zu akzeptieren.

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Seitenzahl: 512

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Ähnliche


Alexander Lowen

Bioenergetik

Therapie der Seele durch Arbeit mit dem Körper

Deutsch von Jürgen Bavendamm

Navigation

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Hinweise des Verlages

Wichtiger Hinweis

Widmung

Vorwort zur deutschen Neuausgabe

1 Der Weg zur Bioenergetik

2 Das Energiekonzept

Ladung, Entladung – Fluss und Bewegung

Du bist dein Körper

Geist, Lebensgeist und Seele

Das Leben des Körpers ist Fühlen

3 Die Sprache des Körpers

Das Herz ist das Herz aller Dinge

Das Wechselspiel zwischen Körper und Umwelt

Zeichen und Botschaften des Körpers

4 Die bioenergetische Therapie

Eine Expedition zum eigenen Ich

Der Kern der Therapie

Angst

5 Lust – eine Primärorientierung

Das Lustprinzip

Das Ich und der Körper

Eine Charakterkunde

6 Die Realität – eine Sekundärorientierung

Realität und Einbildung

Hemmungen, Verklemmungen

«Erden»

7 Die Angst vor dem Fallen

Höhenangst

Eine Fallübung

Die Ursachen der Fallangst

In Schlaf fallen

8 Stress und Sexualität

Probleme mit der Schwerkraft

Schmerzen im unteren Rückenbereich

Die sexuelle Entspannung

9 Selbst-Ausdruck

Die Bedeutung der Spontaneität

Stimme und Persönlichkeit

Die Augen als Spiegel der Seele

Augen und Persönlichkeit

Augenbeschwerden und Bioenergetik

Kopfschmerzen

10 Bewusstsein: Einheit und Dualität

Bewusstseinserweiterung

Worte und Bewusstseinsschärfung

Prinzipien und Lebensbalance

Personen- und Sachregister

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge in diesem Buch sind zwar nach bestem Wissen und Gewissen sorgfältig erwogen und geprüft worden, die Informationen und Ratschläge stellen jedoch keinen Ersatz für medizinische Betreuung dar. Eine Haftung für den Eintritt des Erfolges oder eine Haftung für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden, die sich aus dem Gebrauch oder Missbrauch der in diesem Buch dargestellten Nahrungsmittel, der Methoden oder sonstigen Hinweise ergibt, ist für Verlag, Autor und/​oder deren Beauftragte ausgeschlossen.

Für meine Eltern,

deren Liebe es mir möglich machte,

gegen meine Persönlichkeitskonflikte anzugehen

und sie auszutragen.

Vorwort zur deutschen Neuausgabe

Da der Ausdruck «Bioenergetik» heute in vielen Ländern gebräuchlich ist, werde ich bei Interviews oft gebeten, kurz zu erläutern, was Bioenergetik ist. Ebenso gut könnte man mich natürlich auffordern, den Inhalt dieses Buchs in wenigen Worten zusammenzufassen. Das lässt sich durchaus machen, weil die zugrundeliegende Thematik einfach ist.

Die Bioenergetik versucht, die menschliche Persönlichkeit aufgrund der energetischen Prozesse des Körpers zu verstehen. Das folgende Schaubild dieser Funktionen zeigt die nahe und unmittelbare Beziehung zwischen den verschiedenen Persönlichkeitsfunktionen und energetischen Vorgängen:

Wir können die Funktionen aber auch als Kausalkette betrachten: Energie →Bewegung →Gefühl →Denken. Energie produziert Bewegungen, die Gefühle wecken und zu Gedanken führen.

Diese Beziehungslinie lässt erkennen, dass wir alle Persönlichkeitsfunktionen durch eine Änderung der energetischen Prozesse des Körpers beeinflussen können. Es ist allerdings nicht unbedingt so, dass wir nur umgekehrt verfahren müssen, um die tieferen und grundlegenden Körperprozesse zu ändern. Das geht schon aus einer einfachen Analogie hervor: Wenn man das Fundament eines Hauses ändert, hat das Folgen für den gesamten Bau, während sich entsprechende Arbeiten am Dach nur begrenzt auf das Ganze auswirken. Wenn man die Energie eines Menschen steigert, wirkt sich das unverzüglich auf seine Persönlichkeit aus: Es fördert seine Spontaneität, erhöht seine Sensibilität und schärft sein Denken. Ein reduzierter Energiepegel verlangsamt alle Persönlichkeitsfunktionen.

Bei der therapeutischen Arbeit kommt es darauf an, den Energiepegel eines Menschen richtig einzuschätzen. Die Energiemenge, die er hat, spiegelt sich in seinen Augen, seiner Haut, seiner Stimme und seinen Bewegungen. Ein hoher Energiepegel äußert sich z.B. in strahlenden Augen, während glanzlose Augen auf einen niedrigen Energiepegel hinweisen. Wenn jemand erregt, also emotional «aufgeladen» ist, sieht man, dass seine Augen glänzen. Die Haut zeigt die Energieladung in ihrem Tonus, ihrer Färbung und ihrem Feuchtigkeitsgehalt. Ein hoher Energiepegel ist mit gutem Tonus, rosa Farbe und viel Feuchtigkeit verbunden. Wenn ein Mensch wenig Energie hat, tritt das Gegenteil ein. Bei hoher Energieladung klingt die Stimme voll und sonor, und die Bewegungen und Gesten wirken lebhaft – eben energisch.

Vor allem bewegt sich ein Mensch mit hohem Energiepegel geschmeidig und leicht, harmonisch und gelassen. Er funktioniert wie ein Auto mit vielen Pferdestärken, mühelos und ohne Anspannung, weil er große Kraftreserven hat. Menschen mit niedrigem Energiepegel müssen sich ständig einen Ruck geben, sodass ihre Bewegungen abgehackt, angespannt oder sogar hektisch wirken. Sie sind oft hyperaktiv oder zappelig, immer auf dem Sprung und scheinen eine Menge zu schaffen. Aber sie gleichen dem überaktiven Kind, das erst ruhig werden oder «aufhören» kann, wenn es eine zornige Reaktion seiner Eltern provoziert hat und dann buchstäblich zusammenbricht und weint. Erst jetzt schläft es leicht ein. Bei Erwachsenen ist diese Hyperaktivität in vielen Fällen ein Abwehrmechanismus gegen eine ursächliche Depression. Ich habe viele dieser überaus aktiven Leute sagen hören, dass sie nicht langsamer werden oder aufhören können, weil sie Angst haben, dann gar nicht wieder in Gang zu kommen. In unserer Zivilisation gibt es zu viele Menschen, die auf einem niedrigen Energiepegel funktionieren und gegen chronische Müdigkeit und Frustration ankämpfen.

Eigentlich ist Energie für die meisten von uns leicht verfügbar, weil es in unseren Breiten genügend Nahrung gibt. Warum aber leiden trotzdem so viele Leute unter mangelnder Energie? Die Antwort lautet, dass sie aufgrund unzureichender Atmung einen schlechten Stoffwechsel haben. Menschen mit geringer Energie sind schlechte Atmer; ihre Atmung ist flach und eingeschränkt. Die unzureichende Atmung ist kein bewusstes Phänomen, sondern das Ergebnis chronischer Muskelverspannungen, die die Atmungsbewegungen des Körpers behindern. Solche Verspannungen treten in den Kiefermuskeln, den Hals- und Schultermuskeln, den Muskeln des Brustkorbs und der oberen Rückenpartie sowie in den Bauch- und Beckenmuskeln auf, und sie sind das Resultat emotionaler Konflikte, die bis in die Kindheit zurückreichen können und Impulse blockieren oder kontrollieren sollen, die man nicht akzeptieren, mit denen man sich nicht auseinandersetzen will. So sollen z.B. verspannte Kinnbackenmuskeln den Impuls, zu beißen und zu saugen, «bändigen», während verspannte Halsmuskeln den Impuls abwehren, zu schlagen, d.h. sich an einem anderen Menschen zu vergreifen. Solche und andere Impulse werden nicht nur unterdrückt, sondern sogar aus dem Bewusstsein verdrängt, indem man die Intensität seiner Gefühle reduziert: Man hat nicht das Bedürfnis zu schlagen, weil man nicht zornig ist; nicht das Bedürfnis zu weinen, weil man nicht traurig ist; kein Verlangen, einen anderen Menschen zu berühren, weil man keine Liebe fühlt. Gefühle werden reduziert, indem man den Energiepegel niedrig hält. Kinder lernen schon früh, dass man schmerzliche Gefühle einfach ausschalten oder abschwächen kann, indem man den Atem anhält.

Ein Körper muss im energetischen Gleichgewicht sein. Die energetische Ladung muss der energetischen Entladung entsprechen. Aus diesem Grund kann die Energiemenge, die ein Mensch durch Atmung und Stoffwechsel entwickelt, nicht größer sein als die Menge von Gefühlen, die er tolerieren oder ausdrücken kann. Übermäßige Energie führt zu Angst.

Die Steigerung des Energiepegels ist eine therapeutische Aufgabe, und Bioenergetik ist eine Therapie, die man auch bioenergetische Analyse nennen kann. Sie hat das Ziel, einen Menschen von seiner Fixierung auf die traumatischen Erfahrungen seiner Vergangenheit zu befreien, die sich in den Verkrampfungen und chronischen Spannungen seines Körpers manifestiert haben. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Mensch sich der Spannungen bewusst werden und verstehen lernen, wie und warum sie entstanden sind. Er muss seinen gegenwärtigen Zustand fühlen und seinen früheren Zustand kennen. Ersteres lässt sich am besten durch unmittelbare Arbeit mit dem Körper erreichen: Man mobilisiert Energie durch Atmen, Bewegen und durch das Ausdrücken von Gefühlen. Dazu haben wir besondere Übungen entwickelt.

Die zweite Aufgabe– Kontakt zur eigenen Vergangenheit herzustellen – ist ein analytischer Prozess, vergleichbar der psychoanalytischen Behandlung. Er beinhaltet eine Analyse der Abwehr und der Übertragung und die Traum- und Verhaltensdeutung.

Beide Ansätze, der psychologische und der körperliche, müssen eine Einheit bilden, wenn man echte Fortschritte erzielen will. Ein einfacher Vergleich: Wir haben zwei Beine und kommen auf einem allein nicht weit. Ohne die Analyse wird sich das Ergebnis der therapeutischen Körperarbeit nicht im täglichen Leben umsetzen lassen, und ohne die Arbeit mit dem Körper bleibt die Analyse oberflächlich und wirkt sich ungenügend auf die energetischen Prozesse aus.

Wie das letzte Kapitel dieses Buches zeigen wird, sind Bewusstsein und Denken selbst energetische Prozesse. Der lebende Körper ist ein einziges energetisches System.

New York, Mai 1986

A.L.

1Der Weg zur Bioenergetik

Die Bioenergetik basiert auf der Arbeit des großen, aus Österreich stammenden Psychoanalytikers Wilhelm Reich. Er war von 1940 bis 1952 mein Lehrer und von 1942 bis 1945 auch mein Analytiker. Ich lernte ihn 1940 an der New School for Social Research in New York kennen, wo er ein Seminar über Charakteranalyse hielt. Im Vorlesungsverzeichnis stand, es werde sich um die funktionelle Übereinstimmung zwischen dem Charakter eines Menschen und seiner Körperhaltung und Muskelpanzerung drehen, und diese Ankündigung hatte mich gereizt. Unter Muskelpanzerung versteht man das Gesamtbild der chronischen Muskelspannungen im Körper. Diese Spannungen werden als Panzer bezeichnet, weil sie dazu dienen, den Menschen vor schmerzlichen und bedrohlichen emotionalen Erlebnissen zu schützen. Sie schirmen ihn nicht nur vor gefährlichen Impulsen der eigenen Persönlichkeit, sondern auch vor Angriffen von außen ab.

Schon bevor ich Reich begegnete, hatte ich einige Jahre lang die Beziehung zwischen Körper und Geist studiert. Zu diesen Untersuchungen wurde ich durch eigene Erfahrungen bei körperlichen Betätigungen wie Sport und Gymnastik angeregt. In den dreißiger Jahren war ich Sportleiter in mehreren Ferienlagern gewesen und hatte festgestellt, dass regelmäßige körperliche Übungen nicht nur meinen Gesundheitszustand verbesserten, sondern auch positive Wirkungen auf meine geistige Verfassung hatten. Im Laufe meiner damaligen Arbeit beschäftigte ich mich mit der Rhythmiklehre des Schweizer Musikpädagogen Emile Jaques-Dalcroze und mit Edmund Jacobsons Konzept der «progressiven Entspannung». Diese Studien bestätigten meine Annahme, dass man geistige Haltung durch Körpertraining beeinflussen kann. Der Forschungsansatz der beiden Gelehrten befriedigte mich allerdings nicht hundertprozentig.

Wilhelm Reich dagegen fesselte mich bereits mit seinen ersten Worten. Er begann das Seminar mit einer Diskussion des Hysterieproblems. Der Psychoanalyse, erklärte er, sei es gelungen, den historischen Faktor des «hysterischen Konversionssymptoms», also der Verlegung psychischer Spannungen in körperliche Symptome, zu erhellen. Es handle sich um ein sexuelles Trauma, das die betreffende Person in ihrer frühen Kindheit durchgemacht und in späteren Jahren völlig verdrängt und vergessen habe. Die Verdrängung und die anschließende Verlegung der verdrängten Vorstellungen und Empfindungen in das eine oder andere Symptom bildeten den dynamischen Faktor der Krankheit. Obgleich Verdrängung und Konversion bzw. Verlegung damals bereits zu den anerkannten Grundbegriffen der psychoanalytischen Lehre gehörten, war der Prozess, der eine verdrängte Vorstellung in ein körperliches Symptom umwandelt, nach wie vor ungeklärt.

Was der psychoanalytischen Theorie noch fehle, meinte Reich, sei das Verständnis des Zeitfaktors. «Warum», fragte er, «entwickelte sich das Symptom ausgerechnet zu dem und dem Zeitpunkt und nicht früher oder später?» Um diese Frage beantworten zu können, musste man wissen, was der Patient in den dazwischenliegenden Jahren erlebt hatte. Wie kam er in dieser Periode mit seinen sexuellen Empfindungen zurecht? Reich glaubte, die Verdrängung des ursprünglichen Traumas werde durch die Unterdrückung der sexuellen Regungen ermöglicht. Diese Unterdrückung bilde die Wurzel des hysterischen Symptoms, das als Folge eines späteren sexuellen Erlebnisses manifest geworden sei. Reich sah in der Unterdrückung der sexuellen Empfindungen und der damit einhergehenden charakterlichen Einstellung die eigentliche Neurose; das Symptom war nur ihre sichtbare Äußerung. Die Berücksichtigung dieses Elements– Verhalten und Einstellung des Patienten gegenüber der Sexualität – führte dazu, dass man beim Neuroseproblem nun auch mit einem «ökonomischen» Faktor arbeiten musste. Die Bezeichnung «ökonomisch» bezieht sich auf die Kräfte, die einen Menschen zur Entwicklung neurotischer Symptome prädisponieren.

Reichs Scharfblick beeindruckte mich sehr. Ich hatte viele Werke von Freud gelesen und war mit dem psychoanalytischen Denken ziemlich vertraut, aber diesen «ökonomischen» Faktor hatte man meines Wissens noch nie einbezogen. Ich spürte, dass Reich mir neue Denkkategorien für menschliche Probleme zeigte, und war sofort fasziniert. Die ganze Bedeutung des neuen Ansatzes dämmerte mir indessen erst allmählich, als er seine Idee im Laufe des Seminars weiterentwickelte. Ich begriff, dass dieser Faktor ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Persönlichkeit war, denn er gab Aufschluss darüber, wie ein Mensch mit seiner sexuellen Energie und mit seiner Energie im Allgemeinen umgeht. Wie viel Energie hat ein Mensch, und wie viel entlädt er bei sexuellen Betätigungen? Der Energiehaushalt wie der Sexualhaushalt eines Menschen wird durch das Verhältnis zwischen Energieladung und -entladung oder zwischen sexueller Erregung und sexueller Entspannung bestimmt. Das hysterische Konversionssymptom entsteht nur, wenn dieser Haushalt, also diese «Ökonomie», aus dem Gleichgewicht kommt. Muskelpanzerung oder chronische Muskelspannungen sollen für eine ausgeglichene «Energiebilanz» sorgen, indem sie die Energie binden, die man, aus welchen Gründen auch immer, nicht entladen kann.

Mein Interesse an Reich wuchs, als er seine Gedanken und Beobachtungen ausführlicher erläuterte. Der Unterschied zwischen einem gesunden und einem neurotischen Sexualhaushalt war keine Frage der mehr oder weniger ausgeglichenen Bilanz. (Damals sprach Reich nicht von Energiehaushalt, sondern von Sexualhaushalt; die beiden Bezeichnungen hatten für ihn jedoch die gleiche Bedeutung.) Ein neurotischer Mensch wahrt das Gleichgewicht, indem er seine Energie durch Muskelspannungen bindet und seine sexuelle Erregung abwürgt. Ein gesunder Mensch würgt seine sexuellen Empfindungen nicht ab und blockiert seine Energie nicht durch Muskelpanzerung. Deshalb kann er seine gesamte Energie für sexuelle Betätigung oder irgendeine andere kreative Selbstverwirklichung einsetzen. Sein Energiehaushalt funktioniert gut. Bei den meisten Menschen funktioniert der Energiehaushalt jedoch schlecht, und das ist einer der Gründe für die Neigung zu Depressionen, die man überall in unserem Kulturkreis beobachten kann.

Obwohl Reich seine Ideen klar und logisch darlegte, blieb ich während der ersten Zeit ein bisschen skeptisch. Inzwischen habe ich erkannt, dass diese Haltung bezeichnend für mich ist. Ihr verdanke ich nicht zuletzt meine Fähigkeit, die zur Diskussion stehenden Fragen selbst zu durchdenken. Meine Skepsis wurde dadurch geweckt, dass Reich die Rolle der Sexualität beim Entstehen emotionaler Probleme für meine Begriffe überbewertete. Sexualität ist nicht die ganze Antwort, dachte ich. Dann verschwand meine Skepsis plötzlich, ohne dass ich mir dessen bewusst war. Das Seminar überzeugte mich davon, dass Reich auf dem richtigen Weg war.

Der Grund dieses Meinungsumschwungs wurde mir erst zwei Jahre später klar, nach einigen therapeutischen Sitzungen mit Reich. Mir fiel ein, dass ich eines der Bücher, die er häufiger genannt hatte, nicht zu Ende gelesen hatte; es handelte sich um Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Mitten im zweiten Aufsatz – Die infantile Sexualität – hatte ich aufgehört. Jetzt begriff ich, dass die Lektüre dieses Textes meine unbewusste Angst vor der eigenen infantilen Sexualität, ich meine, der Sexualität meiner Kindheit, wachgerufen hatte, und diese Erkenntnis beseitigte meine Zweifel an der eminenten Bedeutung der Sexualität. Das Seminar über Charakteranalyse endete im Januar 1941.Auch bis ich dann mit der Analyse bei Reich begann, war ich ständig mit ihm in Verbindung. Ich nahm an einer Reihe von Meetings in seinem Haus in Forest Hill teil, wo wir die soziale Bedeutung seiner sexual-ökonomischen Begriffe diskutierten. Außerdem entwickelten wir ein Projekt, bei dem wir im Rahmen eines öffentlichen Hilfsprogramms für psychisch Gestörte mit diesen Begriffen arbeiten wollten. In Europa hatte Reich auf jenem Gebiet bahnbrechend gewirkt.

Meine persönliche Therapie bei Reich fing im Frühling 1942 an. Im Jahr davor hatte ich sein Labor ziemlich häufig besucht. Eines Tages sagte er: «Lowen, wenn Sie sich wirklich für meine Arbeit interessieren, gibt es nur einen Weg, um richtig hineinzukommen – die Therapie.» Ich war überrascht, denn diesen Schritt hatte ich noch nie erwogen. Halb im Scherz antwortete ich ihm: «Ich interessiere mich sehr dafür, aber ich möchte vor allem berühmt werden.» Reich nahm die Bemerkung ernst, denn er erwiderte: «Ich werde Sie berühmt machen.» Und seine Worte erwiesen sich als prophetisch. Sie waren der Anstoß, den ich brauchte, um meinen inneren Widerstand zu überwinden und meine Lebensaufgabe in Angriff zu nehmen.

Meine erste Sitzung mit Reich war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Ich ging in der naiven Annahme hin, bei mir wäre alles in Ordnung. Es würde sich lediglich um eine Analyse zu Ausbildungszwecken handeln. Ich legte mich mit einer Badehose bekleidet auf das Bett. Reich benutzte keine Couch, da seine Therapie körperorientiert war. Er befahl mir, die Knie anzuziehen, mich zu entspannen und mit offenem Mund und entkrampften Kinnbacken durchzuatmen. Ich befolgte die Anweisungen und wartete ab, was passieren würde. Nach einer ganzen Weile sagte Reich: «Lowen, Sie atmen ja gar nicht.» Ich behauptete: «Selbstverständlich atme ich, sonst wäre ich doch schon tot.» Darauf er: «Ihre Brust bewegt sich aber nicht. Fühlen Sie dagegen meine Brust!» Ich legte eine Hand auf seinen Brustkorb und stellte fest, dass er sich bei jedem Atemzug merklich hob und senkte. Meiner tat es eindeutig nicht.

Ich legte mich wieder zurück und atmete erneut tief ein und aus; diesmal bewegte sich mein Brustkorb auf und ab. Nach einiger Zeit befahl Reich: «Lowen, lassen Sie den Kopf nach hinten fallen, und machen Sie die Augen weit auf!» Ich tat es, und… musste plötzlich laut aufschreien.

Es war ein wunderschöner Frühlingstag, und die Fenster des Zimmers gingen zur Straße. Um keine Scherereien mit seinen Nachbarn zu bekommen, forderte Reich mich auf, den Kopf wieder zu heben – und sogleich erstarb der Schrei. Ich fuhr fort, tief durchzuatmen. Seltsamerweise hatte mich der Schrei nicht beunruhigt. Ich hatte keine emotionale Beziehung zu ihm. Ich fühlte keine Furcht. Nachdem ich abermals eine Weile geatmet hatte, bat mich Reich, den Vorgang zu wiederholen. Ich ließ den Kopf nach hinten fallen und machte die Augen weit auf. Der Schrei «kam» abermals. Ich möchte nicht sagen, dass ich schrie, denn ich hatte nicht den Eindruck, dass ich es tat. Der Schrei «passierte» mir einfach. Ich hatte auch diesmal eigentlich gar nichts mit ihm zu tun. Als die Sitzung beendet war und ich Reich verließ, hatte ich das Gefühl, dass mit mir doch nicht alles so in Ordnung war, wie ich gedacht hatte. Es gab «Dinge» – Bilder, Emotionen – in meiner Persönlichkeit, die meinem Bewusstsein verborgen waren, und damals begriff ich, dass sie herauskommen mussten.

Zu jener Zeit bezeichnete Reich seine Behandlung als «charakteranalytische Vegetotherapie». Sein großer Beitrag zur psychoanalytischen Theorie war die Charakteranalyse gewesen, und ihr verdankte er sein enormes Ansehen unter Psychoanalytikern. Mit Vegetotherapie bezeichnete er die Mobilisierung von Empfindungen durch Atmen und andere Körperfunktionen, die die vegetativen Zentren – die Ganglien des autonomen Nervensystems – aktivierten und «vegetative Energien» freisetzten.

Die Vegetotherapie stellte einen Durchbruch von der rein verbalen Analyse zur unmittelbaren Arbeit mit dem Körper dar. Ihre Fundamente hatte Reich ungefähr neun Jahre vorher gelegt. Seither bestand deshalb der erste Schritt der Behandlung für ihn darin, den Patienten leicht und tief durchatmen zu lassen. Anschließend mobilisierte er den emotionalen Ausdruck, der sich im Gesicht oder Verhalten des Patienten am deutlichsten abzeichnete. In meinem Fall war es Furcht. Wir haben gesehen, was für eine durchschlagende Wirkung seine Methode bei mir hatte.

Die nächsten Sitzungen verliefen nach demselben allgemeinen Schema. Ich lag auf dem Bett und atmete so frei, wie ich konnte, wobei ich versuchte, möglichst tief auszuatmen. Ich sollte meinem Körper nachgeben und keinen spontan auftauchenden Impuls oder Ausdruck unterdrücken oder steuern. Es geschahen Dinge, die frühe Erinnerungen und Erlebnisse in mir wachriefen. Zunächst führte das tiefere Atmen, an das ich nicht gewöhnt war, zu starkem Kribbeln oder Jucken in den Händen– Empfindungen, die sich zweimal zu regelrechten karpopedalen Spasmen, also schweren Krämpfen, steigerten. Diese Reaktion trat nicht mehr auf, nachdem mein Körper sich auf die vermehrte Energie eingestellt hatte, die das tiefere Atmen produzierte. Wenn ich meine Knie langsam aneinanderlegte und wieder voneinander entfernte, zitterten meine Beine, und meine Lippen zuckten, sobald ich, einem Impuls nachgebend, die Beine ausstreckte.

Es folgten Gefühlsausbrüche und damit assoziierte Erinnerungen. Einmal, als ich auf dem Bett lag und durchatmete, begann ich plötzlich am ganzen Körper zu beben. Das Beben wurde stärker, bis ich mich aufsetzte. Dann erhob ich mich wie ein Automat, betrachtete das Bett und fing plötzlich an, es mit den Fäusten zu bearbeiten. Während ich das tat, erschien das Gesicht meines Vaters auf dem Bettlaken, und da wusste ich, dass ich ihn schlug, weil er mir als kleiner Junge einmal eine Tracht Prügel verabreicht hatte. Einige Jahre später fragte ich meinen Vater nach diesem Vorfall. Er sagte, es seien die einzigen Prügel gewesen, die ich je von ihm bekommen hätte, und erklärte mir, ich sei damals zu spät nach Hause gekommen, und meine Mutter sei außer sich vor Sorge gewesen. Er habe mich verprügelt, damit ich es nicht wieder täte. Interessant war, dass dieses Erlebnis – wie der Schrei – völlig spontan und instinktiv kam. Irgendetwas veranlasste mich, zu schreien und das Bett zu schlagen – kein bewusster Gedanke, sondern eine Kraft, die mich in Besitz genommen hatte und mich beherrschte.

Bei einer anderen Gelegenheit bekam ich eine Erektion, während ich auf dem Bett lag und durchatmete. Ich hatte den Drang, meinen Penis zu berühren, unterdrückte ihn jedoch. Dann erinnerte ich mich wieder an ein Ereignis aus meiner Kindheit. Ich war fünf Jahre alt und urinierte auf den Fußboden unserer Wohnung. Meine Eltern waren ausgegangen. Ich wusste plötzlich, dass ich es tat, um mich an meinem Vater zu rächen, der mich einen Tag vorher ausgeschimpft hatte, weil ich meinen Penis angefasst hatte.

Erst nach neunmonatiger Therapie fand ich heraus, was den Schrei bei der ersten Sitzung ausgelöst hatte. Seitdem hatte ich nicht mehr geschrien. Ich hatte jedoch immer mehr den Eindruck, es müsse ein bestimmtes Bild geben, vor dem ich mich fürchtete. Wenn ich auf dem Bett lag und zur Zimmerdecke sah, spürte ich, dass es eines Tages erscheinen würde… Und dann erschien es tatsächlich: das Gesicht meiner Mutter, die zornig auf mich herunterblickte. Ich wusste sofort, dass ich mich vor diesem Gesicht gefürchtet hatte. Ich hatte das entsprechende Erlebnis noch einmal, erlebte es wie in der Gegenwart. Ich war ein Baby von etwa neun Monaten und lag vor unserem Haus im Kinderwagen. Ich hatte laut nach meiner Mutter geschrien. Sie hatte offensichtlich im Haus zu tun gehabt, und mein hartnäckiges Geschrei hatte sie enerviert. Sie kam heraus und war wütend auf mich. Und nun lag ich dort, ein zweiunddreißigjähriger Mann, auf Reichs Bett, betrachtete ihr Bild und sagte mit Worten, die ich als Baby nicht gekannt haben konnte: «Warum bist du so böse auf mich? Ich schreie doch nur, weil ich dich bei mir haben möchte.»

Damals benutzte Reich auch noch eine andere therapeutische Methode. Er forderte seine Patienten zu Beginn jeder Sitzung auf, ihm alle negativen Gedanken zu sagen, die sie im Zusammenhang mit seiner Person hatten. Er glaubte, dass die Patienten nicht nur eine positive, sondern auch eine negative Übertragung (Transferenz) zu ihm hatten, und verließ sich erst dann auf die positive Übertragung, wenn sie ihm vorher alle negativen Gedanken und Vorstellungen mitgeteilt hatten. Mir fiel das außerordentlich schwer. Als ich Reich und die Therapie akzeptiert hatte, glaubte ich alle negativen Gedanken aus meinem Geist verbannt zu haben. Ich war der Ansicht, ich hätte keinerlei Einwände mehr. Reich war sehr großzügig zu mir gewesen, und ich zweifelte nicht an seiner Offenheit, seiner Integrität oder an der Stichhaltigkeit seiner Theorie. Also war ich entschlossen, die Therapie zu einem Erfolg zu machen, und öffnete mich Reich erst in dem Augenblick ganz, als sie fehlzuschlagen drohte.

Auf das Angsterlebnis, bei dem ich das Gesicht meiner Mutter gesehen hatte, folgten lange Monate, in denen ich keine Fortschritte machte. Damals suchte ich Reich dreimal wöchentlich auf, war aber blockiert, weil ich ihm nicht sagen konnte, was ich ihm gegenüber empfand. Ich wünschte mir insgeheim, dass er sich nicht nur als Therapeut, sondern auch wie ein Vater für mich interessierte, wusste jedoch, dass dieses Verlangen unangemessen war, und mochte es deshalb nicht zum Ausdruck bringen. Ich kämpfte innerlich mit dem Problem und geriet in eine Sackgasse. Reich schien meinen Konflikt nicht zu bemerken. Ich gab mir alle Mühe, tiefer und intensiver durchzuatmen, aber es wollte einfach nicht mehr funktionieren.

Ich war, nach einem Jahr Therapie, in eine Sackgasse geraten. Da wir keinen Ausweg sahen, schlug Reich vor, die Behandlung abzubrechen. «Lowen», sagte er, «Sie sind einfach nicht imstande, Ihren Empfindungen nachzugeben. Wollen Sie nicht lieber aufhören?» Seine Worte waren ein Verdammungsurteil. Aufhören hätte das Ende meiner Träume bedeutet. Ich brach zusammen und heulte. Es war seit meiner Kindheit das erste Mal, dass ich schluchzte. Ich konnte meine Gefühle nicht länger verbergen. Ich sagte Reich, was ich mir von ihm wünschte, und er hörte aufmerksam zu.

Ich weiß heute noch nicht, ob Reich die Therapie tatsächlich beenden wollte oder ob sein Vorschlag nur ein Manöver war, um meine innere Sperre zu durchbrechen, aber ich hatte damals jedenfalls den Eindruck, dass er es wirklich ernst meinte. Und das Ergebnis war, dass die Therapie wieder anschlug.

Reich wollte mit seiner Behandlung die Kapazität des Patienten wecken, den spontanen und instinktiven Körpererregungen, die zum Atmungsprozess gehörten, freien Lauf zu lassen. Er legte also in erster Linie Wert darauf, dass man voll und tief durchatmete. Wenn das der Fall war, verursachten die Atmungswellen eine wellenförmige Bewegung des Körpers, die Reich als Orgasmusreflex bezeichnete.

Nach dem Weinkrampf und der Äußerung meiner Empfindungen Reich gegenüber wurde mein Atmen leichter und freier, meine sexuelle Reaktionsfähigkeit tiefer und vollkommener. Mein Leben änderte sich bald in verschiedener Hinsicht. Ich heiratete das Mädchen, das ich liebte. Die eheliche Bindung war für mich ein bedeutsamer Schritt. Außerdem bereitete ich mich darauf vor, als Therapeut nach den Reich’schen Methoden zu arbeiten. Im gleichen Jahr nahm ich an einem klinischen Seminar über Charakteranalyse teil, das von Dr.Theodore P.Wolfe, Reichs engstem Mitarbeiter in den Vereinigten Staaten und dem Übersetzer seiner ersten Veröffentlichungen in englischer Sprache, geleitet wurde. Meine Therapie machte regelmäßige, aber langsame Fortschritte. Obgleich es bei den Sitzungen nicht mehr zum Durchbruch wesentlicher Empfindungen oder Erinnerungen kam, spürte ich, dass ich mich allmählich der Fähigkeit näherte, meine sexuellen Empfindungen auszuleben. Ich fühlte auch, dass ich Reich näherkam.

Reich machte einen langen Sommerurlaub. Bei einer der letzten Sitzungen schlug er vor, die Therapie für ein Jahr zu unterbrechen. Die Idee, eine längere Pause einzulegen, schien mir gut, und ich nahm den Vorschlag an. Bei meiner Entscheidung spielten auch persönliche Gründe mit. Da ich mich damals nirgendwo für die klinischen Semester immatrikulieren konnte, hatte ich ab Herbst 1944 an der New York University einen Anatomiekurs belegt.

Im Herbst 1945 nahm ich die Therapie bei Reich wieder auf – eine Sitzung pro Woche. In dem behandlungsfreien Jahr hatte ich mich nicht mehr vorrangig darum bemüht, Reich zu gefallen und sexuell gesund zu werden, und deshalb mehr Gelegenheit gehabt, meine bisherige Arbeit mit Reich innerlich zu bewältigen. In jener Zeit behandelte ich auch meinen ersten Patienten nach den Reich’schen Methoden, was meinem Selbstvertrauen gewaltigen Auftrieb gab. Ich konnte endlich das machen, was ich seit langer Zeit vorgehabt hatte, und wurde mir bewusst, dass ich sehr zuversichtlich in die Zukunft blickte. Die Hingabe an meinen Körper – zugleich also die Hingabe an Reich – fiel mir dadurch leicht. Schon nach wenigen Monaten wurde uns beiden klar, dass die Therapie nach seinen Kriterien erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Jahre später begriff ich allerdings, dass viele meiner entscheidenden persönlichen Probleme ungelöst geblieben waren. Meine Furcht, Unbilliges zu verlangen, also um Dinge zu bitten, die mir eigentlich nicht zustanden, war nicht diskutiert worden. Meine Angst zu versagen und mein Erfolgsbedürfnis waren nicht durchgearbeitet worden. Wir hatten nicht das Phänomen untersucht, dass ich nur dann weinen konnte, wenn man mich mit den stärksten Geschützen dazu zwang. Diese Probleme löste ich erst viele Jahre später mit der Bioenergetik.

Ich praktizierte zwei Jahre, ehe ich 1947 mit meiner Frau in die Schweiz ging, um mich an der Universität Genf einzuschreiben, wo ich 1951 in Medizin promovierte. In der Schweiz behandelte ich ebenfalls einige Patienten, die von Reich gehört hatten und sich etwas von der neuen therapeutischen Methode versprachen. Wie viele andere junge Therapeuten begann ich in der naiven Annahme, ich verstünde etwas von den emotionalen Problemen meiner Mitmenschen; meine Sicherheit beruhte indessen mehr auf Begeisterung als Erfahrung. Im Rückblick auf jene Jahre sehe ich klar die Grenzen meines damaligen Wissens und Könnens. Trotzdem glaube ich, dass ich einigen Leuten geholfen habe. Meine Begeisterung war eine positive Kraft, und die Betonung des Durchatmens und «Hingebens» war eine gute Richtung.

Vor meiner Abreise in die Schweiz wurde die Reich’sche Therapie durch eine wichtige Neuerung ergänzt – durch den direkten Kontakt mit dem Körper des Patienten, um die Muskelverspannungen zu lockern, die ihn daran hinderten, sich seinen Empfindungen hinzugeben. Bei den Sitzungen mit mir hatte Reich gelegentlich mit den Händen auf einige gespannte Muskeln meines Körpers gedrückt, um das Entkrampfen zu erleichtern. Gewöhnlich drückte Reich – nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen Patienten – auf die Unterkieferpartie. Diese Partie ist bei den meisten Menschen besonders gespannt: Man beißt die Zähne entschlossen, beinahe grimmig, zusammen, schiebt das Kinn trotzig vor oder zieht es extrem weit zurück. Die Unterkieferpartie ist in allen diesen Fällen nicht voll beweglich, und ihre starre Position zeigt eine strukturierte – im Körper eingebaute oder «festgefahrene» – Einstellung an. Unter Druck werden die Kiefer müde und lockern sich. Infolgedessen atmet man freier und tiefer, und in Rumpf und Beinen kommt es häufig zu unkontrollierten Zuckungen. Andere Bereiche von Muskelspannungen waren der Nacken, die untere Rückenpartie und die Beugemuskeln an den Schenkeln. Der Therapeut drückte allerdings nur die Stellen, an denen er chronische Verkrampfungen ertasten konnte.

Die Arbeit mit den Händen stellte eine grundlegende Abweichung von der traditionellen analytischen Praxis dar. Bei der Freud’schen Analyse waren alle körperlichen Kontakte zwischen Analytikern und Patienten streng verpönt. Der Analytiker saß so hinter dem Patienten, dass dieser ihn nicht sehen konnte, hatte also gewissermaßen die Funktion einer Leinwand, auf die der Patient seine Gedanken projizierte. Er war allerdings nicht völlig passiv, da er die Äußerungen des Behandelten mit kurzen, aufmunternden Bemerkungen («So…», «Und dann…») begleitete und kurz interpretierte, was erhebliche Auswirkungen auf das Denken des Patienten hatte. Reich ließ den Analytiker unmittelbarer in den Behandlungsprozess eingreifen. Er saß so, dass der Patient ihn sehen konnte, und schloss körperlichen Kontakt, wenn es ihm notwendig oder ratsam schien. Reich war ein hochgewachsener Mann mit sanften, braunen Augen und starken, warmen Händen, an die ich mich noch lebhaft erinnere.

Heute kann man kaum noch ermessen, wie revolutionär diese Therapie damals wirkte; die neue Behandlungsmethode stieß in weiten Kreisen auf Misstrauen und Ablehnung. Wegen ihrer Betonung der Sexualität und der körperlichen Kontakte zwischen dem Therapeuten und dem Patienten wurden die Reich’schen Analytiker beschuldigt, sie arbeiteten mit sexueller Stimulierung. Zum Glück hat sich, was die Sexualität und Berührungen betrifft, das Klima in den letzten dreißig Jahren erheblich geändert. Berührungen werden heute als Primärform des Kontakts anerkannt, 1 und man zweifelt nicht mehr an ihrem Wert für den therapeutischen Einsatz. Wenn ein Therapeut seinen Patienten berührt, nimmt er damit natürlich eine große Verantwortung auf sich – er muss immer die therapeutische Beziehung respektieren und ein sexuelles Engagement des Patienten verhindern.

Der körperliche Kontakt erleichterte den Durchbruch von Empfindungen und damit verbundenen Erinnerungen. Er diente außerdem dazu, den therapeutischen Prozess zu beschleunigen, was hauptsächlich in den Fällen wünschenswert war, in denen die Therapie auf eine Sitzung in der Woche beschränkt wurde. Reich hatte mit der Zeit großes Geschick darin entwickelt, den Körper zu «lesen» und bestehende Muskelverspannungen durch Druck zu lösen. Damit wollte er den Fluss von Empfindungen durch den Körper fördern, den er «Strömung» nannte. 1947 konnte Reich den Orgasmusreflex bei einigen Patienten schon nach sechsmonatiger Behandlung herbeiführen.

Ich möchte noch einmal betonen, dass der sogenannte Orgasmusreflex kein Orgasmus ist. Die Genitalien sind nicht daran beteiligt; es kommt nicht zu sexueller Erregung, und deshalb kann sich auch keine sexuelle Spannung entladen. Andererseits wirkt sich der Orgasmusreflex auf die ganze Persönlichkeit positiv aus. Auch wenn er nur in der günstigen Behandlungsatmosphäre auftritt, empfindet der Patient ihn als anregend und befreiend. Gleichzeitig fühlt er sich mit seinem Körper – und durch seinen Körper mit seiner Umwelt – verbunden, ja, in seinen Körper integriert. Er hat ein Gefühl des inneren Friedens und totalen Wohlbefindens. Er erfährt, dass das Leben des Körpers in dessen unwillkürlichen Regungen besteht. Ich kenne diese Reaktion aus persönlicher Erfahrung, und viele Patienten haben sie mir im Laufe der Jahre ähnlich geschildert.

Leider verflüchtigt sich jenes erhebende Gefühl unter dem Stress des täglichen Lebens in unserer Zivilisation schon nach mehr oder weniger kurzer Zeit. Das Tempo, der Stress und die Lebensphilosophie unserer Epoche sind dem Leben feindlich gesinnt. Oft geht der Reflex verloren, weil der Patient nicht gelernt hat, die täglichen Belastungen zu ertragen, ohne wieder seine alten neurotischen Verhaltensmuster anzunehmen. Das passierte zwei Patienten, die damals von Reich behandelt wurden. Einige Monate nach der anscheinend erfolgreichen Beendigung ihrer Therapie baten sie mich um eine ergänzende Behandlung, weil sie nicht imstande waren, den bei Reich erzielten Erfolg durchzuhalten. Damals begriff ich, dass es kein Schnellverfahren für emotionale Gesundheit gibt und dass der Mensch nur dann optimal funktionieren kann, wenn er alle seine Probleme konsequent durcharbeitet. Ich war allerdings immer noch überzeugt, die Sexualität sei der Schlüssel zur Lösung der neurotischen Probleme des Menschen.

Es ist leicht, Reich wegen seiner Betonung der zentralen Rolle der Sexualität zu kritisieren, aber ich möchte es nicht tun. Die Sexualität war und ist der entscheidende Aspekt aller emotionalen Probleme, doch sei darüber nicht vergessen, dass die Störungen des Sexuallebens nur im Rahmen der gesamten Persönlichkeit einerseits und der sozialen Umwelt andererseits zu verstehen sind. Ich musste im Laufe der Jahre wohl oder übel erkennen, dass es keinen Einzelschlüssel gibt, der uns das Geheimnis der conditio humana erschließt. Ich erkannte es nicht gern, weil ich mir eine derartige Patentlösung immer gewünscht hatte. Heute denke ich in Polaritäten mit all ihren unvermeidlichen Konflikten und provisorischen Lösungen. Eine Persönlichkeitsbetrachtung, die in der Sexualität den einzigen Weg zur Persönlichkeit sieht, ist zu einseitig. Es hieße aber eine der wichtigsten Kräfte in der Natur ignorieren, wenn man die Rolle der sexuellen Triebe bei der Formung der Persönlichkeit des Einzelnen unberücksichtigt ließe.

In einer seiner früheren Theorien, die er schon vor dem Begriff des Todesinstinkts entwickelte, postuliert Freud einen Gegensatz zwischen den Ich-Instinkten und dem Sexualinstinkt. Der Ich-Instinkt bemüht sich um die Erhaltung des Individuums; der Sexualinstinkt strebt nach der Erhaltung der Spezies. Das impliziert einen Konflikt zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, den es, wie wir wissen, in unserer Kultur tatsächlich gibt. Außerdem folgt aus dieser Polarität der Konflikt zwischen dem Streben nach Macht (einem Ich-Trieb) und dem Streben nach Lust (dem Sexualtrieb). Die übermäßige Machtbetonung in unserem Kulturkreis hetzt das Ich gegen den Körper und seine Sexualität auf und schafft damit einen Antagonismus zwischen Trieben, die sich eigentlich gegenseitig stützen und ergänzen sollten. Dennoch darf man sich nicht dem anderen Extrem zuwenden, indem man sich allein auf die Sexualität konzentriert. Das wurde mir klar, nachdem ich mich – wie Reich – vor allem darum bemüht hatte, meinen Patienten sexuelle Erfüllung zu verschaffen. Dieser Versuch misslang. Denn das Ich ist eine mächtige Kraft im westlichen Menschen, die man nicht beiseiteschieben oder leugnen kann. Das therapeutische Ziel besteht somit darin, das Ich in den Körper und dessen Streben nach Lust und sexueller Erfüllung zu integrieren.

Diese Wahrheit begriff ich erst nach vielen Jahren harter Arbeit – und nicht ohne ein gehöriges Pensum an Irrtümern und Fehlern. Niemand ist von der Regel ausgenommen, dass der Mensch aus seinen Fehlern lernt. Wenn ich allerdings nicht auf das Ziel der sexuellen Befriedigung und orgastischen Potenz hingearbeitet hätte, wäre es mir bestimmt nicht gelungen, die energetischen Triebkräfte der Persönlichkeit zu verstehen. Und ohne das Kriterium des Orgasmusreflexes kann man die unwillkürlichen Regungen und Reaktionen des menschlichen Organismus nicht begreifen.

Es gibt noch viele geheimnisvolle Elemente des menschlichen Verhaltens und Funktionierens, die unser Verstand nicht fassen kann. Ein Jahr bevor ich New York verließ, behandelte ich einen jungen Mann, der mit einer ganzen Reihe schwerwiegender Probleme belastet war. Jedes Mal, wenn er sich einem Mädchen näherte, litt er unter schlimmen Angstzuständen. Er fühlte sich minderwertig, unzulänglich und hatte masochistische Neigungen. Manchmal hatte er die Halluzination, in der Zimmerecke stehe der Teufel und belauere ihn. Im Laufe der Therapie machte er einige Fortschritte, was die Symptome betraf, aber die Ursachen wurden keineswegs beseitigt. Er hatte zwar eine feste Beziehung zu einem Mädchen aufgebaut, empfand aber wenig Lust beim sexuellen Höhepunkt.

Fünf Jahre später, nach meiner Rückkehr in die USA, sah ich ihn wieder. Er erzählte mir eine merkwürdige Geschichte. Nachdem ich abgereist war, hatte er keinen anderen Therapeuten gefunden und deshalb beschlossen, die Behandlung selbst fortzusetzen. Dabei musste er auch Atemübungen machen, mit denen wir bei der Therapie gearbeitet hatten. Er ging jeden Tag nach der Arbeit nach Hause, legte sich auf sein Bett und atmete tief und leicht durch, wie er es bei mir gelernt hatte. Dann geschah eines Tages das Wunder. All seine Angst verschwand. Er fühlte sich selbstsicher und den anderen gewachsen. Am wichtigsten war jedoch, dass er beim Geschlechtsverkehr ein bisher ungeahntes Maß an orgastischer Potenz entfaltete. Seine Orgasmen waren intensiv und voll befriedigend. Er war offenbar ein neuer Mensch geworden.

Traurig erklärte er mir nun: «Es dauerte leider nur einen Monat.» Die Hochform endete so plötzlich, wie sie gekommen war, und er saß wieder in der alten Misere. Er suchte einen anderen Reich’schen Therapeuten auf, mit dem er anschließend mehrere Jahre arbeitete, doch er machte nur kleine Fortschritte. Als ich meine neue Praxis eröffnete, kam er zu mir zurück. Ich arbeitete drei Jahre mit ihm und half ihm, viele seiner Handikaps zu überwinden. Aber das Wunder ereignete sich nie wieder. Er erreichte nie mehr den Höhepunkt – ich spreche nicht nur vom sexuellen Höhepunkt–, den er in dem kurzen Zeitraum nach meiner Abreise erreicht hatte.

Wie können wir den unerwarteten Durchbruch der Gesundheit, der anscheinend von selbst kam, und ihren späteren Verlust erklären? Das Erlebnis meines Patienten erinnerte mich an James Hiltons Roman Lost Horizon 2, der damals sehr viel gelesen wurde. Der Held der Handlung, der britische Konsul Conway, wird zusammen mit einigen anderen Passagieren, darunter seinem Mitarbeiter Mallison, in einem Flugzeug entführt und in ein entlegenes Lamakloster in einem Himalayatal gebracht. Das Kloster heißt Shangri-La und scheint buchstäblich «nicht von dieser Welt» zu sein. Die Mönche leben viel länger als normale Menschen – mehrere hundert Jahre. Das oberste Lebensprinzip ist «das rechte Maß», das ebenfalls «nicht von dieser Welt» ist. Conway kommt in Versuchung, in Shangri-La zu bleiben; er findet das sorglose und rationale Leben, das man dort führt, sehr angenehm. Man bietet ihm die Nachfolge des sterbenden Hohen Lamas an, aber Mallison überzeugt ihn davon, dass alles nur «Einbildung» sei. Er und die junge Chinesin Lo-Tsen verleiten ihn dazu, mit ihnen in die «Wirklichkeit» zu fliehen. Sie verlassen das Tal, und Conway muss zu seinem Entsetzen mitanschauen, wie sich das junge Mädchen unvermittelt in eine alte Frau verwandelt und stirbt. Welche Wirklichkeit ist nun die bessere? Conway entschließt sich zur Umkehr. Er macht sich auf, Shangri-La wiederzufinden, und am Ende des Romans irrt er, auf der Suche nach seinem «lost horizon», dem «verlorenen Horizont», noch immer in den Bergen umher.

Man könnte die plötzliche Verwandlung damit erklären, dass sich vorübergehend sein Wirklichkeitssinn änderte. Für einen Monat trat er aus seiner Welt heraus und ließ alle Ängste, Schuldgefühle und Hemmungen zurück, die mit dem Leben in seiner bisherigen Welt verbunden waren. Zweifellos trugen viele Faktoren zu jenem Effekt bei. Unter den Menschen, die sich damals – ob als Studenten oder Patienten – mit Reichs Arbeit befassten, herrschte eine euphorische und erregte Stimmung. Sie meinten, Reich habe eine Grundwahrheit über den Menschen und seine Sexualität verkündet. Seine Ideen hatten den Reiz des Revolutionären. Ich bin sicher, dass mein Patient diese Atmosphäre förmlich einsog, wenn er tief durchatmete, und möglicherweise ging die erstaunliche Wirkung darauf zurück.

Wenn man seine Welt oder sein gewohntes Ich verlässt, macht man eine transzendentale Erfahrung. Viele Leute haben, ob für kürzere oder längere Zeit, Ähnliches erlebt. Sie spürten ein Gefühl der Erlösung und Befreiung; sie entdeckten, dass ihr Ich plötzlich «lebte» und spontan reagierte. Solche Verwandlungen finden jedoch völlig unerwartet statt und lassen sich nicht planen oder vorprogrammieren. Leider tritt aber oft ebenso plötzlich eine Rückverwandlung ein, und aus dem strahlenden Helden wird über Nacht wieder der ursprüngliche Durchschnittsbürger. Wer so etwas erlebt hat, fragt sich natürlich, welches die wahre Realität des Seins ist. Warum konnte der Zustand der Befreiung nicht andauern?

Die meisten meiner Patienten haben im Verlauf der Therapie irgendwelche transzendentalen Erfahrungen gemacht. Sie erblickten dabei einen Horizont, den bisher dichter Nebel verhüllt hatte und der nun auf einmal klar und deutlich zu sehen war. Der Nebelvorhang schließt sich zwar wieder, aber die Erinnerung an das klare Schauen bleibt und dient als Motivation für ständiges Streben nach Wachstum und Wandel.

Auf der Suche nach dem Transzendentalen können wir viele Visionen haben, doch wir landen jedes Mal wieder dort, wo wir angefangen haben. Wenn wir uns für inneres Wachstum entscheiden, können wir ebenfalls transzendentale Augenblicke erleben, aber sie sind vorübergehende Höhepunkte auf dem langen Weg zu einem reicheren, gefestigteren Ich.

Das Leben selbst ist ein Wachstumsprozess, der mit dem Heranwachsen des Körpers und seiner Organe beginnt, mit der Entwicklung der motorischen Fähigkeiten, dem Erwerb von Wissen und der Erweiterung von Beziehungen fortgesetzt wird und mit jener Summe von Erfahrungen endet, die wir Weisheit nennen. Diese Aspekte des Wachstums überschneiden sich, da Leben und Wachsen in einer natürlichen, kulturellen und sozialen Umwelt stattfinden. Der Wachstumsprozess ist zwar kontinuierlich, aber nie gleichmäßig. Es gibt Perioden des Pausierens, in denen man Erfahrungen verarbeitet und den Organismus für den neuen Aufstieg vorbereitet. Jeder Aufstieg führt zu einem neuen Gipfel oder Höhepunkt und gewährt das, was wir Höhepunktserfahrung nennen. Jede Höhepunktserfahrung muss wiederum in die Persönlichkeit integriert werden, damit sie weiter wachsen kann, damit der Betreffende den Zustand der Weisheit erreicht. Ich erklärte Reich einmal, ich hätte eine Definition für «Glück» gefunden. Er zog die Augenbrauen hoch, sah mich etwas spöttisch an und fragte, wie sie laute. Ich antwortete: «Glück ist das Bewusstsein des Wachsens.» Seine Brauen senkten sich wieder, und er meinte: «Gar nicht so schlecht.»

Wenn meine Definition richtig ist, kommen die meisten Menschen zur Therapie, weil sie spüren, dass ihr Wachstum stagniert. Zweifellos erwarten viele Patienten, dass die Behandlung den Wachstumsprozess wieder in Gang bringt. Eine Therapie kann das tatsächlich bewirken, sofern sie neue Erfahrungen liefert und die Blockaden und Sperren, die die Verarbeitung von Erfahrungen verhindern, beseitigt oder verkleinert. Diese Sperren sind strukturierte – in den Körper eingebaute – Verhaltensmuster, die einen Kompromiss, eine unbefriedigende Lösung von Kindheitskonflikten, darstellen. Sie schaffen das neurotische und begrenzte Ich, dem man entkommen oder von dem man befreit werden will. Wenn ein Patient sich bei der Therapie in seine Vergangenheit zurückarbeitet, deckt er die ursprünglichen Konflikte auf und findet neue Wege zur Bewältigung der lebensleugnenden und lebensbedrohenden Situationen, die ihn zwangen, sich zu «panzern», um überleben zu können. Man kann nur dann in der Gegenwart wachsen, wenn man die Vergangenheit wieder lebendig macht. Wenn die Vergangenheit abgetrennt wird, kann es auch keine Zukunft geben.

Wachsen ist ein natürlicher Prozess; wir können ihn nicht erzwingen. Er unterliegt den gleichen Gesetzen wie alles Leben. Ein Baum, zum Beispiel, wächst nur dann in die Höhe, wenn seine Wurzeln tiefer in die Erde wachsen. Der Mensch lernt, indem er die Vergangenheit studiert. Er kann aber nur wachsen, wenn er seine Wurzeln stärkt, die ihn mit seiner Vergangenheit verbinden. Und die Vergangenheit eines Menschen ist sein Körper.

Wenn ich auf jene Jahre des begeisterten Überschwangs zurückblicke, sehe ich ein, dass es naiv war, sich von einer einzelnen therapeutischen Methode die Lösung all der tiefreichenden Probleme des modernen Menschen zu erhoffen. Ich will damit nicht sagen, dass Reich sich Illusionen über die gewaltige Aufgabe machte, die vor ihm lag. Er war sich der Situation durchaus bewusst. Dieses Bewusstsein war auch der Grund, dass er wirksamere Mittel suchte, um mit den Problemen fertig zu werden.

Seine Suche führte ihn zu der Frage, was für eine Energie im lebenden Organismus arbeitet. Wie man weiß, behauptete er, eine neue Energie entdeckt zu haben, die er Orgon nannte – abgeleitet von den Worten «organisch» und «Organismus». Er erfand ein Gerät, das diese Energie angeblich akkumulierte und jeden, der in diesem Apparat wie in einem Behälter saß, energisch auflud. Ich habe solche «Akkumulatoren» selbst gebaut und auch persönlich benutzt. Bei einigen krankhaften Störungen halfen sie, aber sie hatten keinerlei Auswirkungen auf Persönlichkeitsprobleme. Um diese Probleme auf der individuellen Stufe zu lösen, bedarf es immer noch einer Kombination aus sorgfältiger analytischer Arbeit und einer körperlichen Methode, die dem jeweiligen Patienten hilft, die chronischen Muskelverspannungen zu lösen, die seine Freiheit hemmen und sein Leben einengen. Auf der sozialen Stufe muss ein evolutionärer Wandel im Verhalten der Menschen gegenüber sich selbst, gegenüber ihrer Umwelt und der menschlichen Gemeinschaft stattfinden.

Reich half uns auf beiden Ebenen ein großes Stück weiter. Die Erhellung der Charakterstruktur und die Demonstration ihrer funktionalen Übereinstimmung mit der Körperhaltung waren wichtige Fortschritte auf dem Weg zum Verständnis des menschlichen Verhaltens. Er führte das Konzept der orgastischen Potenz als Kriterium für emotionale Gesundheit ein, was es zweifellos ist, und zeigte, dass seine physische Grundlage im Orgasmusreflex des Körpers besteht. Er vergrößerte unser Wissen von den körperlichen Prozessen, indem er die Bedeutung der unwillkürlichen Reaktionen des Körpers herausarbeitete. Und er entwickelte eine relativ wirksame Methode zur Behandlung von Störungen im emotionalen (unwillkürlichen) Lebensbereich des Einzelnen.

Reich erläuterte, inwiefern sich die Struktur der Gesellschaft in der Charakterstruktur ihrer einzelnen Mitglieder widerspiegelt, eine Einsicht, die verschiedene irrationale Aspekte der Politik erhellte. Er sah die künftige Möglichkeit einer menschlichen Existenz frei von den Hemmungen und Repressionen, die den lebendigen Impuls abwürgen. Wenn diese Vision jemals Wirklichkeit werden soll, müssen wir, glaube ich, die Richtung einschlagen, die uns Reich als Erster gezeigt hat.

Im Hinblick auf unser Thema bestand Reichs größter Beitrag darin, dass er die zentrale Rolle umriss, die der Körper in jeder Persönlichkeitstheorie spielen muss. Seine Arbeit lieferte das Fundament, auf dem das Gebäude der Bioenergetik errichtet wurde.

Man fragt mich oft: «Inwiefern unterscheidet sich die Bioenergetik überhaupt von der Reich’schen Therapie?» Diese Frage lässt sich am besten beantworten, wenn wir unseren historischen Bericht über die Entwicklung der Bioenergetik fortsetzen.

Als ich 1952, ein Jahr nach der Rückkehr aus Europa, meine Ausbildung beendete, erfuhr ich, dass sich die Anschauung Reichs und seiner Anhänger in grundlegender Hinsicht geändert hatte. Die Begeisterung und Erregung der Jahre 1945 bis 1947 waren tiefer Niedergeschlagenheit und Verfolgungsgefühlen gewichen. Reich praktizierte nicht mehr und war nach Rangeley im US-Bundesstaat Maine gezogen, wo er sich ganz der Orgon-Physik widmete. Die Bezeichnung «charakteranalytische Vegetotherapie» wurde zugunsten des Namens «Orgon-Therapie» aufgegeben. Das führte zu einer Vernachlässigung der Kunst der Charakteranalyse und zur umfassenderen Anwendung der Orgon-Energie durch den Akkumulator.

Das Verfolgungsgefühl beruhte teils auf der kritischen Haltung medizinischer und wissenschaftlicher Kreise zu Reichs Ideen, teils auf der unverhüllten Feindseligkeit vieler Psychoanalytiker, von denen einige kein Geheimnis daraus machten, dass sie Reich erledigen wollten. Das Gefühl der Niedergeschlagenheit ging auf ein misslungenes Experiment zurück, bei dem Reich in seinem Laboratorium in Maine Wechselbeziehungen zwischen der Orgon-Energie und der Radioaktivität untersuchen wollte. Das Experiment hatte schlimme Folgen; Reich und seine Assistenten erkrankten und waren gezwungen, das Labor eine Zeit lang aufzugeben. Außerdem mussten sie jede Hoffnung auf eine relativ schnelle und wirksame Neurosentherapie fahrenlassen, was ihre Entmutigung noch verstärkte.

Ich teilte diese Gefühle nicht. Da ich fünf Jahre lang fern von Reich und seinen Kämpfen gewesen war, hatte ich mir die Begeisterung jener frühen Jahre bewahren können. Meine medizinische Ausbildung und meine Erfahrungen als Assistenzarzt hatten mich von der allgemeinen Gültigkeit der Reich’schen Ideen restlos überzeugt. Ich schreckte indessen davor zurück, mich hundertprozentig mit den Orgon-Therapeuten zu identifizieren – ein Widerwille, der sich noch verstärkte, als ich merkte, dass Reichs Anhänger eine an Fanatismus grenzende Hingabe an den Meister und seine Arbeit entwickelt hatten. Es galt als anmaßend, als ketzerisch, eine Feststellung von ihm in Frage zu stellen oder seine Begriffe im Licht eigener Erfahrungen zu modifizieren. Mir wurde klar, dass eine solche Haltung jede eigenständige oder kreative Arbeit ersticken würde. Diese Erwägungen veranlassten mich, eine unabhängige Position zu wahren.

In diesem Stadium öffnete mir ein längeres Gespräch mit einem anderen Reich’schen Therapeuten, und zwar mit Dr.Louis G.Pelletier, der außerhalb des eigentlichen Anhängerkreises stand, die Augen für die Möglichkeit, Reichs Verfahrensweise abzuwandeln oder auszubauen. Während meiner gesamten Arbeit mit Reich hatte dieser immer wieder erklärt, der Unterkiefer müsse ein wenig herunterhängen – eine Haltung, die ausdrücke, dass man sich dem Körper hingebe oder sich ihm unterwerfe. In meinen Jahren als Reich’scher Therapeut hatte ich ebenfalls viel Wert auf diese Kieferentspannung gelegt. Bei unserer Diskussion erklärte Dr.Pelletier nun, er habe festgestellt, dass es sehr nützlich sei, wenn die Patienten den Kiefer trotzig und herausfordernd vorschöben. Bei diesem aggressiven Ausdruck werde die Spannung in den verkrampften Backenmuskeln teilweise abgebaut. Ich begriff, dass beide Ansichten richtig sein konnten, und gewann plötzlich die Freiheit, alles, was Reich tat, in Frage zu stellen oder zu ändern. Es stellte sich heraus, dass die beiden Positionen am meisten nützten, wenn man sie abwechselnd gebrauchte. Wenn man die Aggression eines Patienten mobilisiert oder fördert, macht man es ihm leichter, sich seinen zärtlichen sexuellen Regungen hinzugeben oder zu überlassen. Wenn man dagegen mit einer Position der Hingabe anfängt, den Behandelten also auffordert, den Unterkiefer etwas hängen zu lassen, kann es passieren, dass er wegen des Schmerzes und der Frustration, die sein Körper empfindet, zuletzt niedergeschlagen und zornig ist und diese Gefühle auch ausdrückt.

1953 begann meine Zusammenarbeit mit Dr.John C.Pierrakos, der soeben im Kings County Hospital seine Prüfung als Facharzt in Psychiatrie bestanden hatte. Dr.Pierrakos hatte selbst Therapien nach Reich durchgeführt und gehörte zu dessen Anhängern. Wir betrachteten uns beide immer noch als Reich’sche Therapeuten, obgleich wir den eigentlichen Kreis der «Reichianer» schon verlassen hatten. Innerhalb eines Jahres schloss sich uns Dr.William B.Walling an, der eine ganz ähnliche Ausbildung hinter sich hatte wie Dr.Pierrakos. Sie hatten ihre klinischen Semester gemeinsam absolviert. Das erste Ergebnis dieser Zusammenarbeit war ein Programm klinischer Kurse, bei denen wir unsere Patienten präsentieren wollten; das Ziel bestand darin, ihre Probleme besser zu verstehen und gleichzeitig anderen Therapeuten die grundlegenden Begriffe der körperlichen – bioenergetischen – Methode zu vermitteln. 1956 gründeten wir zu diesem Zweck das «Institute for Bioenergetic Analysis», eine gemeinnützige Stiftung.

Reich hatte inzwischen Schwierigkeiten mit den amerikanischen Justizbehörden bekommen. Die Food and Drug Administration (FDA), die amerikanische Aufsichtsbehörde für Pharmaka und Lebensmittel, hatte vor einem Bundesgericht beantragt, ihm den bundesweiten Verkauf und Vertrieb von Orgon-Akkumulatoren zu verbieten, weil es keine Orgon-Energie gebe und der Verkauf deshalb unter das Kurpfuschergesetz falle. Reich weigerte sich, zu dem Prozess zu erscheinen, da ein Gerichtshof nicht das Recht habe und nicht imstande sei, über seine wissenschaftlichen Theorien zu befinden. Er wurde daraufhin in Abwesenheit verurteilt, den Verkauf der Akkumulatoren einzustellen. Seine Anhänger rieten ihm, das Urteil zu ignorieren, was er auch tat. Das blieb den FDA-Beamten jedoch nicht lange verborgen. Reich wurde wegen Missachtung des Gerichts angeklagt, für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Er starb im November 1957 im Bundesgefängnis von Lewisburg, Pennsylvania.

Die Tragödie seines Todes bewies mir, dass man niemanden gegen seinen Willen retten kann. Wie verhielt es sich aber mit dem Menschen, der sich ernstlich um seine Selbst-Erlösung bemüht? Wenn die «Erlösung» in der Befreiung von den Hemmungen und Tabus bestand, die einem durch die Erziehung aufgezwungen worden waren, konnte ich nicht behaupten, diesen Zustand der Gnade erreicht zu haben. Ich hatte die Reich’sche Therapie zwar erfolgreich abgeschlossen, war mir aber darüber klar, dass ich immer noch viele chronische Muskelspannungen hatte, die mich daran hinderten, die Lebensfreude und Lust auszukosten, nach denen ich mich sehnte. Ich konnte den restriktiven Einfluss dieser Spannungen auf meine Persönlichkeit fühlen. Und ich wünschte mir ein erfüllteres und umfassenderes Sexualleben – eine Erfahrung, die im Bereich des Möglichen lag, wie ich wusste.

Meine Lösung lautete, noch einmal mit der Therapie zu beginnen. Ich konnte jedoch nicht wieder zu Reich gehen und hatte kein Vertrauen zu den anderen Reich’schen Therapeuten. Ich war überzeugt, dass ich abermals die körperliche Methode anwenden musste, und entschloss mich zu einer Gemeinschaftstherapie mit meinem Kollegen John Pierrakos, bei der ich der leitende Therapeut sein würde, da ich älter war und mehr Erfahrung hatte als er. Es wurde eine Gemeinschaftsarbeit mit meinem eigenen Körper, und aus ihr entwickelte sich die Bioenergetik. Die Grundübungen, mit denen wir fortan arbeiteten, wurden zunächst bei mir ausprobiert und getestet, sodass ich aus persönlicher Erfahrung wusste, wie sie wirkten und was man mit ihnen erreichen konnte. Ich habe es mir seitdem zum obersten Prinzip gemacht, alles, was ich von meinen Patienten verlange, zuerst selbst zu erproben, weil man meiner Ansicht nach nicht das Recht hat, von anderen Menschen Dinge zu fordern, vor denen man selbst zurückschrecken würde. Andererseits glaube ich auch nicht, dass man für andere etwas erreichen kann, was man bei sich selbst nicht schafft.

Meine Therapie mit Pierrakos dauerte beinahe drei Jahre. Sie war völlig anders als die Arbeit mit Reich. Es gab nicht so viele spontane Bewegungserlebnisse von der Art, wie ich sie zuvor beschrieben habe. Der Hauptgrund war, dass ich die Körperarbeit selbst leitete; es spielte aber auch eine Rolle, dass ich mich mehr auf das Lockern oder Abbauen der Muskelspannungen als auf die Hingabe an sexuelle Regungen konzentrierte. Ich war mir voll und ganz bewusst, dass ich im Grunde gar keine Lust hatte, es noch einmal zu versuchen. Ich wollte, dass ein anderer die Initiative übernahm und es für mich tat. Mein neurotischer Charakter neigte dazu, alles zu steuern und zu kontrollieren, und es fiel mir nicht leicht, mich den Regungen meines Körpers hinzugeben. Bei Reich hatte ich es wegen meines Respekts vor seinem Wissen und seiner Autorität geschafft, aber meine Kapitulation vor meinem Körper beschränkte sich auf die damalige therapeutische Situation. Nun lösten wir den Konflikt mit einem Kompromiss. In der ersten Hälfte der Sitzung arbeitete ich mit mir selbst und beschrieb Pierrakos meine körperlichen Regungen. In der zweiten Hälfte drückte er meine gespannten Muskeln mit seinen starken, warmen Händen, knetete und lockerte sie so, dass die Strömungen durchkommen konnten.

Bei der Arbeit an mir selbst entwickelte ich die grundlegenden Positionen und Übungen, die heute nicht mehr aus der Bioenergetik wegzudenken sind. Ich hatte das Bedürfnis, mehr in meine Beine «hineinzukommen», ganz ihrer bewusst zu werden, und begann deshalb im Stehen, nicht mehr im Liegen wie bei Reich. Ich spreizte die Beine, stellte die Zehen einwärts, beugte die Knie und bog meinen Rücken nach hinten, um die untere Hälfte meines Körpers zu mobilisieren. Diese Stellung pflegte ich mehrere Minuten einzunehmen, und sie ermöglichte mir, mich dem Boden näher zu fühlen. Außerdem konnte ich dabei bis in den Unterleib durchatmen. Da die Übung für den unteren Teil des Rückens ziemlich anstrengend war, neigte ich mich zeitweilig nach vorn und berührte den Fußboden mit den Fingerspitzen; die Knie blieben dabei leicht gebeugt. Jetzt verstärkte sich das Gefühl in den Beinen, und sie fingen an zu vibrieren.

Aus diesen beiden einfachen Positionen wurde später die Übung, die wir «Erden» nannten – eine Übung, die nur die Bioenergetik kennt. Sie kristallisierte sich im Laufe der Jahre heraus, da wir feststellten, dass unsere Patienten oft äußerten, sie hätten den Boden unter den Füßen verloren: Sie standen nicht mehr mit beiden Beinen fest auf der Erde, hatten also den Kontakt zur Wirklichkeit eingebüßt und schienen irgendwo zu «schweben». Das Erden sollte den Patienten wieder mit dem Boden der Realität verbinden. Es wurde einer der Eckpfeiler der Bioenergetik. (In Kapitel 6 wird das «Bodenkonzept» unter dem Blickwinkel von Wirklichkeit und Einbildung ausführlich erläutert; dort werde ich auch viele der dazugehörigen Übungen beschreiben.)

Eine der anderen Neuerungen, die wir bei dieser Arbeit entwickelten, war der «Atemschemel». Die Atmung ist für die Bioenergetik ebenso entscheidend wie für die Reich’sche Therapie. Es ist jedoch immer schwierig, den Patienten dahin zu bringen, dass er tief und frei durchatmet. Noch problematischer ist es, diesen Atmungsprozess spontan ablaufen zu lassen. Die Idee eines Atemschemels ergab sich aus der weitverbreiteten Neigung, mit dem Stuhl nach hinten zu kippen bzw. sich über die Stuhllehne zurückzulehnen, wenn man längere Zeit am Schreibtisch gesessen hat – man hat dann den Drang, sich zu strecken und tief durchzuatmen. Ich hatte mir diese Gewohnheit selbst zugelegt, während ich mit Patienten arbeitete. Wenn ich auf einem Stuhl oder Sessel mit Armlehnen saß, konnte ich nach einiger Zeit nicht mehr frei atmen; in diesen Fällen lehnte ich mich weit zurück und reckte mich, um wieder tiefer Luft holen zu können. Der erste Schemel, den wir benutzten, war eine 60Zentimeter hohe Trittleiter aus Holz, wie man sie bei der Küchenarbeit gebraucht. Wir hatten eine fest zusammengerollte Wolldecke daraufgebunden. Wenn sich ein Patient auf diesem «Schemel» zurücklehnte, wurde seine Atmung stimuliert, ohne dass er irgendwelche gezielte Atemübungen machen musste. Ich probierte den Schemel bei meiner Therapie mit Pierrakos persönlich aus und habe ihn seitdem regelmäßig benutzt.

Meine zweite Behandlungsphase hatte ganz andere Resultate als die erste. Ich kam stärker mit der Trauer und dem Zorn in mir in Kontakt als damals; dabei ging es vor allem um die Beziehung zu meiner Mutter. Die Entladung dieser Gefühle wirkte anregend und belebend. Bei manchen Gelegenheiten öffnete sich gewissermaßen mein Herz, und ich hatte das Gefühl, innerlich zu glühen und zu strahlen. Noch bezeichnender war allerdings das Wohlbefinden, das mich häufig durchdrang. Mein Körper wurde allmählich gelockerter und kräftiger. Ich erinnere mich noch, dass ich mich immer seltener und schließlich überhaupt nicht mehr zerschlagen fühlte. Zwar spürte ich, dass ich immer noch leicht verletzbar war – aber ich würde nicht daran zerbrechen. Ich verlor auch meine irrationale Angst vor Schmerzen. Schmerz, lernte ich, war Spannung, und ich stellte fest, dass ich mich nur dem Schmerz hingeben musste, um die Spannung, die ihn hervorrief, zu verstehen, und dabei konnte ich die Spannung jedes Mal lösen oder abbauen.

Bei dieser Therapie trat der Orgasmusreflex nur gelegentlich auf. Ich machte mir darüber keine Sorgen, weil ich mich auf meine Muskelverspannungen konzentrierte, und diese intensive Arbeit hielt mich davon ab, mich in erster Linie meinen sexuellen Regungen zu überlassen. Meine Neigung zu vorzeitiger Ejakulation, die trotz des augenscheinlichen Erfolgs der Therapie bei Reich fortgedauert hatte, verringerte sich stark, und das Erlebnis des sexuellen Höhepunkts wurde viel befriedigender. Diese Entwicklung führte zu der Erkenntnis, dass die wirksamste Behandlung sexueller Schwierigkeiten darin besteht, die Persönlichkeitsprobleme des Betreffenden durchzuarbeiten – Probleme, zu denen zwangsläufig auch sexuelle Schuldgefühle und Ängste gehören. Reichs vorrangige Beschäftigung mit der Sexualität war zwar theoretisch richtig, aber der Erfolg konnte angesichts der modernen Lebens- und Umweltbedingungen in den meisten Fällen nicht lange anhalten.

Als Analytiker hatte Reich die Bedeutung der Charakteranalyse betont. Bei meiner Behandlung war dieser therapeutische Aspekt jedoch vernachlässigt worden. Er wurde später, als man die charakteranalytische Vegetotherapie durch die Orgon-Therapie ersetzte, noch weniger berücksichtigt. Obgleich die charakteranalytische Arbeit viel Zeit und Geduld erfordert, schien sie mir unbedingt notwendig zu sein, um bleibende Erfolge zu erzielen. Ich kam damals zu dem Schluss, man müsse sich um die sorgfältige Analyse der Verhaltensmuster und Lebensweise des Patienten genauso bemühen wie um die Lockerung seiner muskulären Verspannungen. Ich begann mit einer ausführlichen Untersuchung der Charaktertypen, wobei ich die psychologische und physische Wirkungsweise der verschiedenen Verhaltensmuster verglich. Diese Studie wurde 1958 unter dem Titel The Physical Dynamics of Character Structure («Die körperliche Dynamik der Charakterstruktur») veröffentlicht. Sie behandelt zwar nicht alle Charaktertypen, dient aber als Grundlage für die gesamte Charaktertherapie, die bisher in der Bioenergetik geleistet wurde.

Als ich meine Therapie mit Pierrakos beendet hatte, war ich mit dem Erfolg sehr zufrieden. Auf die Frage, «Haben Sie alle Ihre Probleme gelöst, Ihr Wachstum vollendet, Ihr ganzes Persönlichkeitspotenzial erkannt und alle Ihre Muskelverspannungen gelöst?», hätte ich damals aber immer noch mit «Nein» geantwortet. Irgendwann erreicht man einen Punkt, an dem man es nicht mehr notwendig oder wünschenswert findet, die Therapie fortzusetzen, und hört deshalb auf. Wenn die Behandlung erfolgreich gewesen ist, fühlt man sich imstande, fortan für sein Wohlbefinden und weiteres Wachstum selbst zu sorgen. In meiner Persönlichkeit gibt es ohnehin irgendetwas, das mich zu dieser Einstellung veranlasst. Ich beendete also die Therapie – nicht aber die Arbeit an meinem Körper. Ich fuhr fort, die bioenergetischen Übungen, die ich meinen Patienten aufgab, auch selbst zu machen, entweder allein oder in einer Gruppe. Wie ich meine, ist diese Hingabe an meinen Körper wenigstens teilweise für die Tatsache verantwortlich, dass sich meine Persönlichkeit weiterhin in vieler Beziehung positiv änderte. Diesen Änderungen ging im Allgemeinen ein besseres Verständnis meiner selbst voraus, ein Selbst-Verständnis, das sich nicht nur auf meine Vergangenheit, sondern auch auf meinen Körper bezog.

Es ist jetzt vierunddreißig Jahre her, dass ich Reich kennenlernte, und seit dem Beginn meiner Therapie bei ihm sind mehr als zweiunddreißig Jahre vergangen. Ich habe mehr als siebenundzwanzig Jahre lang mit Patienten gearbeitet. Während ich über meine persönlichen Erfahrungen und die Erfahrungen meiner Patienten nachdachte und schrieb, kam ich zu einem wichtigen Ergebnis: Das Leben eines Menschen ist das Leben seines Körpers. Da der lebende Körper Geist, Lebensgeist und Seele einschließt, dient man dem Geist, dem Lebensgeist und der Seele, indem man das Leben des Körpers voll auslebt. Wenn mit diesen Seinsbereichen etwas nicht stimmt, liegt der Grund darin, dass wir nicht völlig in oder mit