Bitte laufen Sie rechts ran! - Laufbuch - Markus Heidl - E-Book

Bitte laufen Sie rechts ran! - Laufbuch E-Book

Markus Heidl

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie schön ist doch der Sonnenschein, der sich in Pfützen spiegelt, sind die Rehe, die im Wald verschwinden, die Nebelschwaden auf den Feldern sowie die Aussicht von erklommenen Hügeln und Bergen. Wie wunderbar lebendig man sich auf der atemberaubenden Strecke des Jungfrau Marathons fühlt. Wie angenehm die nette Gesellschaft während eines gemeinsamen Laufs ist und wie natürlich dadurch feste Freundschaften entstehen. All dies sind Erlebnisse, die das Laufen ausmachen, sie alle sind Bestandteile unseres wunderbaren Sports! 31 bunten Geschichten auf mehr als 200 spannenden Seiten. „Bitte laufen Sie rechts ran!“ ist ein Buch über Träume und die Schönheit des Laufsports in allen Facetten, das Lust macht, die Schuhe zu schnüren und hinaus zu gehen: hinaus in unsere wunderbare Welt, um Abenteuer zu erleben. Denn beim Laufen, da sind wir alle gleich. Ob Olympiasieger oder blutiger Anfänger, wir alle schnaufen, wir alle genießen die Bewegung und wir alle fühlen uns besser, wenn wir nach einem Lauf wieder zu Hause sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Frau Schmitt

Vorwort des Autors

Eins, zwei, Polizei!

Die echte Polizeibegleitung

Kaisa, Prolog

Warum wir laufen

Die Heidl Chroniken, Abschnitt 13, I

Kaisa, I

Das Laufen ist mein Steckenpferd

Die innere (Un)Ruhe

Aktivisten, Peter

Kaisa, II

Ich bin ein Ultra

Keine Macht den Drogen

Was ist das?

Drei Hunde

Olympia ohne Fair Play: Was nicht verloren gehen darf

Die Heidl Chroniken, Abschnitt 13, II

Meine Ode an die Buche

Kaisa, III

Die Initiative gegen mickrige Muskeln

Muss mein Essen super sein?

Die leckersten Orangen der Welt

Die besten Laufzitate

Kaisa, IV

Schnellste bekannte Zeiten

Ökonomie

Aktivisten, Tina

Ein Rascheln im Wald

Der Reh-Indikator

Der Habichtswaldsteig

Kaisa, V

Die Heidl Chroniken, Abschnitt 13, III

Analogien

Zwei Jahre

Kaisa, VI

Die drei großen Lauflügen

Taktische Spielchen

Laufen mit Köpfchen

Der Jungfrau Marathon

Kaisa, Finale

Haile und ich

Literaturverzeichnis

Anhang: 15 Laufregeln

Impressum

MARKUS HEIDL

Bitte laufen Sie rechts ran!

Träume eines Läuferlebens

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

„Bitte laufen Sie rechts ran!“ gibt es als Buch und eBook

sowie weitere Bücher und eBooks von Markus Heidl bei

ampelpublishing.de und in jeder Buchhandlung .

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Markus Heidl

Theodor-Heuss-Ring 46, 63128 Dietzenbach

Coverdesign: Lars Höfer, BLINKFEUER mediendesign

Lektorat/Korrektorat: Corinna & Johannes Licht, Sabrina Höfer, Regina & Roland Heidl

ISBN der Originalausgabe: 978-3-7534-2417-0

ISBN dieser eBook-Ausgabe: 978-3-7579585-8-9

Laufen hilft.

ÜBER DEN AUTOR

Dr.-Ing. Markus Jürgen Heidl studierte Maschinenbau an der TU Darmstadt und der École Polytechnique Fédérale de Lausanne am malerischen Lac Léman in der Schweiz. Während dieser Zeit sowie der anschließenden Promotion entdeckte er nicht nur das Laufen für sich, sondern außerdem das Schreiben, woraus in Kombination der Blog „laufen hilft!“ (www.laufenhilft.de) entstand, auf dem er weiterhin fleißig Beiträge veröffentlicht.

Später kamen Laufberichterstattungen für das Internetportal LaufReport hinzu, für das er auch die Kolumne „Pro & Kontra“ schreibt. Während Markus läuferisch trotz einiger Fehlversuche noch immer von einem schnellen Marathon träumt, ist das noch längst nicht seine größte Träumerei. Aber lest selbst, in 31 bunten Geschichten auf mehr als 200 spannenden Seiten.

Markus wohnt mit seiner Frau Svenja in Südhessen. Im Hause Heidl sind stets Kekse, Laufschuhe, Obst und Gemüse, Bücher sowie gute Laune im Überfluss vorhanden.

Vorwort von Frau Schmitt

„Jedes Buch, das nicht geschrieben wird, ist ein gutes Buch“, sagt der Kabarettist und Ex-Buchhändler Jochen Malmsheimer mit einem kritischen Blick auf die Flut der Neuerscheinungen. Glücklicherweise gilt der Umkehrschluss nicht und es gibt Bücher, die gut sind, obwohl sie geschrieben worden sind. Das beruhigt.

Der geneigte Läufer (m/w/d) kann heute aus einem wahren Berg von Laufliteratur wählen. Man kann spektakulären Lebensläufen folgen und sich am „Schneller, höher, weiter“ von Menschen erbauen, die absolut Übermenschliches leisten. Oder man kann nach Geschichten suchen, die das Läuferherz allein dadurch erfreuen, dass sie nah dran sind. Am eigenen Erleben, an den eigenen Gedanken und am Tellerrand, um einfach mal drüber zu schauen. Üblicherweise sind es eher die Dumdideldum-Läufer, die Genusstraber, die sich in diesem Sinne die Zeit nehmen, beim Laufen nach rechts und links zu schauen, um darüber zu berichten. Leistungsorientierte Läufer sind einfach zu schnell dafür.

Hier ist das anders. Markus Heidl ist pfeilschnell und denkt dabei trotzdem in ganzen Sätzen – etwas, was mir selbst nie gelungen ist. In diesem Buch kommen dann auch große Leistungen vor, allerdings ganz ohne den stolzen Unterton, der Heldenhaftes ins beleuchtete Schaufenster stellt. Markus schreibt persönlich, ideenreich und mit warmem Herzen, schaut neugierig und freundlich auf Mitläufer und reflektiert den eigenen Laufweg. Das klingt unspektakulär, ist aber genau das, was in diesen Zeiten wohl tut, den Laufleser in einen positiven Flow bringt und motiviert. Ich fasse also kurz zusammen: Guter Läufer, gutes Buch, gute Wahl. Viel Freude beim Lesen und Laufen.

Heidi Schmitt

laufen-mit-frauschmitt.de

Vorwort des Autors

Wer läuft, muss Ziele haben. Denn ohne Ziele lässt sich beim Laufen wenig erreichen. Gleich, ob man in Form kommen möchte, ob man für den örtlichen Volkslauf trainiert, ob man vor Liebeskummer flüchtet, ob man seinen ersten Marathon schaffen will oder schlicht aus Langeweile läuft. Ohne Ziele sind die Ansätze schnell beendet und Ausreden schnell gefunden. Mal ist es zu kalt, mal zu warm, mal ist man müde und mal die Zeit zu knapp. Der Schweinehund ist hartnäckig.

Denn das Loslaufen, das ist das Schwerste. Für den ersten Schritt, mit dem bekanntlich auch eine Reise von 1.000 Meilen beginnt, braucht es ein Ziel, einen festen Vorsatz. Dann geht es hinein in die Laufschuhe und hinaus aus der Tür, auch wenn das Wetter schlecht oder der Tag eigentlich schon voll ist.

Ist man einmal losgelaufen, dann hat man es geschafft. Und wenn man wieder nach Hause kommt, ist immer alles besser als vor dem Lauf. Auch das kann ein Ziel sein.

Träume sind dann das, was über die Ziele hinausgeht. Der Vorteil daran ist, dass Träume – im Gegensatz zu Zielen, die sowohl ein Datum, als auch ein klar messbares Ergebnis brauchen – nicht fest definiert sein müssen.

Träume lenken vom Hier und Jetzt ab. Wenn der Dauerlauf beispielsweise durch einen unangenehmen Wolkenbruch führt oder sich die Intervalle härter anfühlen, als sie sollten. Dann hilft das imaginäre Publikum durch das lautstarke Anfeuern, oder es läuft sich einfach am sonnigen Sandstrand viel angenehmer als auf dem kalten, tristen Seitenstreifen.

Auch können Träume über die Jahre reifen. Jahrelang hatte ich beispielsweise den Traum, einmal ein Buch zu schreiben. Bevor es zum Ziel werden konnte brauchte ich erst die Idee. Da mussten viele Geschichten und Handlungsstränge verworfen werden, bis endlich der richtige Ansatz gefunden war.

Im gleichen Maß müssen beim Laufen oft viele Kilometer zurückgelegt werden, bevor aus einem Traum ein Ziel werden kann. Und ob wir das Ziel erreichen, steht dann noch einmal auf einem anderen Blatt.

Man muss sich aber trauen und einfach einmal anfangen. Deshalb möchte ich, auch durch dieses Buch, dazu ermuntern, groß zu träumen. Nicht jeder Traum muss realistisch sein oder irgendwann zu einem Ziel werden. Dennoch können sie uns helfen.

Joseph Conrad sagte einst: „Wir leben wie wir träumen – allein.“ Auch beim Laufen sind wir häufig allein, doch wir lernen damit umzugehen. Träume sind es, die uns beflügeln und möglich machen, was undenkbar schien. So können wir gemeinsam Momente erleben, die wir ohne unsere Träume nie erlebt hätten.

Ja, ich bin ein Träumer. Ich träume von einer besseren Welt, von Hilfe ohne Hintergedanken, von Humanität, von Tier- und Umweltschutz, von fairer Mobilität, von einem harmonischen Miteinander. Und ich träume von einem schnellen Marathon.

Meine Träume sind nicht immer realistisch. Manche Träume bleiben Utopie. Manche Träume werden aber zu Zielen. Dann werden manche Träume noch Wirklichkeit und manche, die sind es schon!

In diesem Sinne: viel Spaß beim Laufen, viel Spaß beim Träumen. Und natürlich: viel Spaß beim Lesen!

Euer Markus

Eins, zwei, Polizei!

Mittwochs ist bei mir Tempodauerlauf-Tag. Es wird also zwar nicht richtig schnell, aber flott allemal. Was mache ich also im Winter, bei garstigen Witterungsbedingungen, mit Schnee und vor allem Eis?

Zügig im Wald laufen funktioniert nicht, das ist einfach zu rutschig, da habe ich keine Chance. Für die Grundlagen-Dauerläufe ist das kein Problem, da gibt es vielleicht sogar noch eine Extraportion Kraftausdauer gratis dazu, aber für ein qualitatives Training muss etwas anderes gefunden werden.

Nun wird doch in den Städten immer Salz gestreut. Umwelttechnisch gesehen ist das fragwürdig, fürs Laufen aber wegen der Bodenhaftung durchaus von Vorteil. Mein Laufkumpel Manuel hatte mir vor einigen Wochen seine innerstädtische Laufrunde gezeigt, die nun entsprechend als rutschfreie Temporunde herhalten musste. Soweit der Plan.

In der Theorie war die Idee aber leider viel besser als in der Praxis, vor Ort waren die Gehwege nämlich nur selten geräumt. Und bei halbaufgeweichtem Schneematsch ist das Laufen noch mühsamer als auf festgetretenem Schnee im Wald.

Die letzte Alternative, die blieb, war also das Laufen auf den Straßen, was zwar teilweise noch rutschig, meist aber sehr gut war. Vom Grip her zumindest.

Da gab es nur leider das nächste Problem, die Kraftfahrzeuge. Die hatten zwar für freie Straßen gesorgt, wollten diese aber nervigerweise zur gleichen Zeit benutzen wie ich.

Zum Glück verläuft die Runde eher auf Nebenstraßen im Industriegebiet, die klein genug sind, sodass nicht allzu viel los ist, aber gleichzeitig groß genug, um größtenteils schneefrei zu sein. Bei den wenigen Autos hatte ich keinerlei Überholprobleme – und diese andersherum auch nicht.

Doch dann – plötzlich – fährt eines recht langsam von hinten heran und langsam neben mir her. So ein Mist: Polizei!

„Fühlen Sie sich wie ein Fahrrad oder warum laufen Sie auf der Straße?“, will der Polizist auf dem Beifahrersitz durch das heruntergelassene Seitenfenster wissen. „Entschuldigung, Herr Wachtmeister“, antworte ich, etwas außer Atem, „aber auf den Bürgersteigen ist schnelles Laufen unmöglich, und weil nicht so viel los ist, dachte ich, als Ausnahme einmal auf der Straße laufen zu dürfen. Ausfallen lassen kann ich die Einheit nicht. Mit Blick auf Rio 2016 bin ich schon etwas in Verzug!“ – „Hm“, meint der Polizist nachdenklich, „das ist ein gutes Argument. Was im Trainingsplan steht, sollte auch eingehalten werden. Aber dass Sie hier einfach so auf der Straße laufen, ist zu gefährlich. Nachher übersieht Sie ein Autofahrer, und dann können Sie Olympia abhaken. Aber ich habe eine Idee, wir müssen nämlich noch den neuen Warnblaulichtblinkmodus testen. Laufen Sie einfach weiter, wir kommen gleich nach.“

Ich laufe also weiter. Etwas anderes blieb mir auch nicht übrig. Aber ich sollte keinesfalls bestraft werden. Viel eher belohnt, denn von nun an hatte ich Begleitschutz. In kurzem Abstand folgte mir die Polizei und sorgte dafür, dass ich ohne Verkehrsbehinderungen meinen Tempodauerlauf durchziehen konnte.

Nicht nur die gelegentlichen Tempodurchsagen von hinten oder die vielen ungläubigen Blicke der beachtlichen Anzahl von Passanten motivierten mich, sondern vor allem das helle Xenon-Licht, wodurch ich perfekte Sicht auf die immer dunkler werdenden Straßen hatte, die nur für mich freigehalten wurden. Die Durchgangszeiten wurden deutlich schneller. Es wurde ein richtig gutes Training.

Und nachdem die 15 km in weniger als 55 Minuten geschafft waren, bedankte ich mich mit ausgestrecktem Daumen nach oben und lief rechts ran. Noch beim Auslaufen musste ich über dieses außergewöhnliche Training schmunzeln.

Die echte Polizeibegleitung

Im Gegensatz zur letzten Geschichte handelt es sich bei dieser um eine wahre Erzählung. Zum Jahreswechsel von 2013 auf 2014 durften nämlich meine Frau und ich Freunde in ihrer geräumigen und gemütlichen Ferienwohnung nahe Barcelona besuchen. Neben dieser schönen Stadt lernten wir so außerdem den Nationalpark Garraf sowie das Kloster Montserrat kennen.

Gelaufen wurde natürlich auch! An gleich zwei Cursas dels Nassos beteiligten wir uns. Der erste Silvesterlauf fand schon am Sonntag vor dem Jahreswechsel in Sant Sadurni d’Anoia statt, das größere Ereignis stand dann zu Beginn der Silvesternacht in Barcelona an.

Unsere erste spanische Rennerfahrung durften wir im beschaulichen Sant Sadurni d’Anoia sammeln, einem feinen, kleinen Städtchen in den Hügeln und Bergen, die sich direkt nach der Küste im Landesinnern erheben. Die Veranstaltung ähnelte einem deutschen Volkslauf sehr. Es gab zwei angebotene Streckenlängen über 10,1 km und 6,4 km, die durch unterschiedliche Farben der Startnummern gekennzeichnet wurden. Weil zwei Tage später bereits das nächste Rennen anstehen würde, hatten wir uns für die kürzere Strecke gemeldet und bekamen blaue Startnummern. Bei schönstem Sonnenschein erfolgte dann pünktlich der Start vom Rathausplatz, auf dem sich alles, von der Startnummernausgabe über Start und Ziel bis zur Siegerehrung, abspielen sollte.

Gleich zu Beginn ging es im Galopp eine Gasse hinauf. Weil ich nicht ganz vorne, in der ersten Startreihe, stand und gleich zu Beginn jemand stürzte, verlor ich schon auf den ersten Metern an Boden auf die Führenden, die lossprinteten, als wären sie beim Crosslauf. Ich bemühte mich, aufzuschließen und rückte rasch an die vierte Position vor. Die ersten beiden waren schon weit enteilt. Durch ihre Startnummern, die ich am Start gesehen hatte, wusste ich aber, dass sie die längere Strecke zu absolvieren hatten. Der vor mir Laufende kam besonders bei den Steigungen Stück für Stück näher. Bei km 2 konnte ich aufschließen und überholen.

Dann waren auch endlich die Asphaltpassagen geschafft. Es begannen die Lehmpfade, auf denen viele Steine lagen und die von Wasserrinnen zerklüftet waren. Laufspaß pur. Rundherum konnte man die spanische Berglandschaft mit einigen standhaften Bäumen bewundern, sobald man nicht gerade auf seine Füße aufzupassen hatte. Nach einer letzten Bachüberquerung leitete dann eine ordentliche Steigung das Ende der Runde ein und das Ortsschild tauchte auf.

Und vor diesem bewussten Ortsschild erwarteten mich zwei Polizeiwagen. So schnell werden Spinnereien zur Wirklichkeit, denn der eine der beiden Wagen bahnte mir als Führenden mit Blaulicht den Weg zurück zum Ziel und vollendete dort das Lauferlebnis. Nach 22:52 min durfte ich durch ein Banner laufen und meinen ersten internationalen Sieg bejubeln. Was ein Abschluss dieses landschaftlich so reizvollen Laufs!

Kaisa, Prolog

Manchmal bin ich gerne ganz für mich allein. Ich stehe dann einfach mitten im Wald und genieße die Ruhe. Ich höre mein Herz schlagen, ich spüre meinen Atem. Ich bin ganz ich selbst.

Es gibt nichts Schöneres, Entspannenderes, Wohltuenderes, als ganz bei sich selbst zu sein. Ein Moment reicht. Mir zumindest. Danach laufe ich weiter.

Einen solchen Moment der Einsamkeit gönnte er sich auch heute. Einatmen und ausatmen. Ganz bewusst. Heute, am Tag, der sein Leben verändern sollte. Denn als er so dastand, mitten im Wald, und ganz bei sich selbst war, mit geschlossenen Augen und sonnenbeschienenem Gesicht, und er nur seinen eigenen Atem hörte, da wurde er unterbrochen.

„Na, kannst du schon nicht mehr?“

Etwas erschrocken drehte er sich um. Diese Stimme kannte er nicht. Aber als er sich umdrehte, um dieser rüden Hundebesitzerin oder wem auch immer, die es gewagt hatte, sich anzuschleichen und ihn dann in seinem so kostbaren Moment so frech zu stören, die Meinung zu geigen, blieb ihm nur der Mund offen stehen.

Ein Engel! Oder das, was der menschlichen Verkörperung am nächsten kommt. Vor ihm stand die hübscheste junge Frau, die er jemals gesehen hatte. Schlank und durchtrainiert, geradezu zierlich und dennoch eine außerordentliche Kraft ausstrahlend, mit blondem, fast weißen, im Sonnenlicht strahlenden Haar. Und Augen, die geradezu funkelten.

Augen, die ihn fragend anschauten. Moment, da war noch was. Gerade noch rechtzeitig, bevor es merkwürdig wurde, erinnerte er sich an die Frage, die ihn erst erzürnt hatte und jetzt froh machte. Denn Worte, die waren sonst nicht seine Stärke. Wie hätte er sie je ansprechen sollen? Jetzt musste er nur antworten:

„Natürlich nicht. Ich zeige es dir!“

So einfach konnte es sein, mit der schönsten Frau der Welt zu plaudern: man musste einfach nur locker mit ihr laufen gehen. Wobei sie für einen lockeren Lauf ziemlich zügig unterwegs war.

Die beiden unterhielten sich – natürlich – über das Laufen. Sie verbanden große Ziele und Träume von schnellen Zeiten. Gerade hatte sie erzählt, dass sie Kaisa hieße und zum Studium nach Deutschland gekommen sei, um Ingenieurin zu werden, als sie auch schon abbiegen musste, während sein Weg weiter geradeaus führte.

Nach ihrem letzten Satz, „lass uns gerne nochmal zusammenlaufen, ich kenne hier ja noch niemanden!“, und sie so leichtfüßig geradezu davonschwebte, schlug sein Herz schneller als normal.

Kaisa! Er hatte sich verliebt.

Warum wir laufen

Wir, die wir regelmäßig laufen, haben es geschafft. Denn wir schaffen es immer wieder, loszulaufen, uns aufzuraffen. Aus meiner Sicht ist dies das größte Hindernis: der erste Schritt, mit dem auch die längste Reise irgendwann einmal beginnt. Wir Läufer schaffen es, immer wieder loszulaufen, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. So bleiben wir in Form, im inneren Gleichgewicht und vor allem gesund!

Aber warum gibt es so viele, die es nicht schaffen, es uns gleichzutun, obwohl es den meisten so guttäte? Die zu wenig frische Luft schnappen, zu dick sind und immer kränker werden? Die es mit sich selbst nicht aushalten und immer nach Ablenkung suchen?

Bei manchen scheitert es daran, überhaupt auf die Idee zu kommen. Andere scheitern daran, den Entschluss zu fassen. Manche scheitern daran, sich aufzuraffen und Sportkleidung anzuziehen, wieder andere, aus der Haustür zu gehen. An jeder Ecke lauert scheinbar der innere Schweinehund.

Es ist ganz einfach und doch so schwer. Wir, die wir regelmäßig laufen, haben eine Motivation gefunden, ein Ziel, das uns immer wieder die Schuhe schnüren und den ersten Schritt tun lässt. Der zweite ist schon so viel einfacher. Wir schaffen es, unsere Ziele in Handlungen umzusetzen, was man als Volition bezeichnet. Aber wie machen wir das?

Unterschieden wird zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation. Wenn man etwas nur einfach so zum Selbstzweck tut, weil es Spaß macht und weil wir es beim Tun genießen, wird von intrinsischer Motivation gesprochen. Alle Läufer, die aus intrinsischer Motivation laufen, haben es am besten, denn wir müssen unsere Psyche nicht austricksen, um endlich loszukommen. Wir lieben das Laufen und genießen (fast) jeden Schritt.

Bei extrinsisch motivierten Läuferinnen und Läufern ist es nämlich schon schwieriger. Dort geht es darum, ein Ziel zu erreichen. Dann ist Laufen nur ein Mittel zum Zweck, wie beispielsweise zum Abnehmen, für die Gesundheit usw. – Laufen als notwendiges Übel. Dabei ist extrinsische Motivation nichts Schlechtes, nur wird die Handlung an sich ungern ausgeführt und somit ist es schwieriger, überhaupt loszukommen. Erst hinterher ist man dann froh, es geschafft zu haben.

Oft ist es so, dass Menschen genau das am meisten wollen, was sie nicht haben können. Das beginnt schon im Kindesalter. Ein Spielzeug kann stundenlang unbeachtet in der Ecke liegen, wenn es dann von einem anderen Kind entdeckt wird, gibt es nichts von größerem Interesse. Und auch wir Erwachsenen merken oft erst, wie wichtig uns etwas ist, wenn es fehlt. Allzu oft fällt es uns schwer, uns zum Laufen zu motivieren, sind wir aber einmal krank oder verletzt, würden wir nichts lieber tun. Entsprechend passend finde ich das Motto einer großen Spendenveranstaltung, wenn für die gelaufen wird, die es nicht mehr können. Dann sammeln wir nicht nur Gelder für wichtige Forschung, sondern führen uns aktiv vor Augen, was wir für ein Glück haben, laufen zu können. Auch dann, wenn es gerade schwerfällt.

Auch das Jahr 2020 hielt uns in Bezug auf unsere Einstellung zum Laufen den Spiegel vor. Durch die weltweite Pandemie, die nicht nur unsere heile Laufwelt auf den Kopf stellte, mussten über eine lange Zeit sämtliche Veranstaltungen abgesagt werden. Dadurch fehlten konkrete Ziele, sodass einige – sonst bis in die Zehennägel motiviert – in ein Loch fielen und sich die Sinnfrage stellten: warum laufen wir?

Mir ging es ähnlich. Auch ich stellte mir die Frage, warum ich eigentlich laufe. Zum Glück fand ich die Antwort sehr schnell, nämlich beim nächsten Dauerlauf: ich laufe, weil Laufen mein Ausgleich ist. Durch Laufen kann ich mich beruhigen, genauso kann ich aber auch erst in Fahrt kommen. Beim Laufen werde ich kreativ und finde Lösungen für meine Probleme. Und in Zeiten wie der Pandemie des Jahres 2020 hilft mir das Laufen, nicht verrückt zu werden. Wieder bekamen wir vor Augen geführt, was Laufen doch für ein toller Sport ist: Schuhe an und los. Wir brauchen keine Hallen oder Mitspieler, nicht einmal Utensilien. Das alles wäre problematisch gewesen.

Auch hat mir das Laufen so viel gegeben: wunderbare Freundschaften, unvergessliche Abenteuer, bewegende Geschichten, unendliche Geduld und ausdauernden Biss. Durch das Laufen habe ich mich selbst gefunden, denn ohne diesen Sport wäre ich ein anderer. Ich wüsste deutlich weniger über meine Grenzen. Meine Verbundenheit zur Natur wurde durch die Lauferei verstärkt. Und schließlich kann ich mir meinen gesunden Appetit nur durch das Laufen leisten.

Entsprechend rückten die abgesagten Wettkämpfe in den Hintergrund. Das Wichtigste war, dass ich laufen konnte und durfte. Dennoch blieb es nicht nur beim gemütlichen Dahintraben, alsbald trainierte ich wieder zielgerichtet, mit einem ausgewogenen Wechsel von Be- und Entlastung. Denn genauso, wie ich mir darüber klar wurde, dass das Laufen zu mir gehört, merkte ich schnell, dass ich nicht nur die Bewegung brauchte, sondern dabei auch Spaß haben wollte. Und am meisten Spaß macht mir das Laufen, wenn es wie von selbst läuft. Wenn ich mich stark fühle und in gewisser Weise denke, unverwundbar zu sein.

Diesen Status wiederum erreiche ich nur, wenn ich wirklich fit bin. Auch wenn ich meine Form im finalen Marathon oft nicht zeigen konnte, war es in den Wochen davor immer genial, die gute Verfassung körperlich zu spüren. Wenn man im Training richtig Gas geben kann und dennoch erst einmal nicht müde wird. Wenn man nach kürzester Zeit schon wieder erholt ist. Und wenn es eben immer öfter diese Momente beim Laufen gibt, wenn man „im Flow“, „in the zone“, im „runner’s high“ oder wie auch sonst man es nennen möchte, ist. Wenn man gefühlt mühelos durch den Wald rennen kann.

Um diesen Zustand aber zu erreichen, ist Fleiß notwendig. Das stets aufs neue Loslaufen, immer wieder den ersten Schritt tun. Denn selbst dann, wenn ich in Topform bin, fällt es mir nicht immer leicht, loszulaufen. Es ist beruhigend zu wissen, dass es uns allen so geht.

Was uns beim Loslaufen und Dranbleiben sehr gut hilft und was uns Menschen laut heutiger Forschung von Tieren unterscheidet: wir können Erlebnisse antizipieren, wir können uns Träume ausmalen. Wir können uns das große Ziel vorstellen und vorab erleben, den Zieleinlauf vor dem inneren Auge sehen, die Medaille in Händen halten. Und daraus Motivation schöpfen. Genauso, wie wir schon vorher wissen, dass es uns – ganz gleich, wie wir uns währenddessen fühlen werden – nach dem Laufen besser gehen wird als davor.

Deshalb bleibt, ganz gleich, was euch antreibt, am Ball. Die Regelmäßigkeit zählt im Ausdauersport mehr als einzelne Höhenflüge. Eine passende Anekdote ist von Trainer-Urgestein Peter Greif zu lesen: Mit der Form sei es wie mit einem Berg. Jedes Training bringt uns ein Stück bergauf, aber mit jedem verpassten Training kommt die Form erst zum Stillstand, dann rutschen wir wieder bergab. Und das immer schneller.

Deshalb: den Schweinehund überwinden und den ersten Schritt tun – laufen hilft!

Die Heidl Chroniken, Abschnitt 13, I

Es trug sich zu, im Jahre des Herrn 2004, dass ein Junge auszog, um die Welt zu entdecken. Zurück ließ er seine Lieben in der gewohnten Umgebung, um in einem großen stählernen Vogel zu neuen Ufern aufzubrechen. Für den sechzehnjährigen Jüngling ging es in ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Abschied fiel nicht leicht, doch er wusste, dass es die richtige Entscheidung war. Persönlich, sprachlich und auch sportlich kam er dort in der Fremde seinem späteren Ich ein großes Stück näher.

Freundlich wurde er empfangen, in diesen fremden Landen, in welchen die Ebenen weit, die Menschen offen und die Straßen so ungeheuerlich breit sind. Gesprochen wird in fremden Zungen und gegessen wird aufbauend auf anderem Brauchtum. So ist es dort üblich, übersetzt man den Wortlaut sprichwörtlich, schnell zu essen. Doch diese Übersetzung schien angemessen, wurde er doch nicht nur von seinem künftigen Gastvater empfangen, sondern ebenso von seinen anempfohlenen Kameraden, mit denen er in den kommenden Wochen fast täglich durch die angrenzenden Grünflächen eilen würde.

So trug es sich zu, dass sich der heranwachsende Jüngling schnell an seine neue Heimat auf Zeit gewöhnte. An Tagen, an denen das Volk zu arbeiten pflegte, besuchte er von morgens bis in die Stunden des Nachmittags die örtliche Lehranstalt, in der sein Kursplan sich täglich wiederholte.

Im direkten Anschluss traf er sich mit seinen anempfohlenen Kameraden, mit denen er zu nahegelegenen Grünflächen aufbrach, um dort in verschiedenen Konstellationen und Geschwindigkeiten um die Wette zu laufen. Ziel war stets der sechste Tag der Woche.

An diesem sechsten Tag der Woche war es üblich, sich bereits in den frühen Morgenstunden erneut an der bewussten Lehranstalt zu treffen, um in der Folge in die nähere oder fernere Umgebung aufzubrechen, um dort mit vielen anderen erneut um die Wette zu laufen. Dabei entstand ein Band zwischen den Jünglingen und ihrem Mentor, das nicht nur auf der Rennstrecke florierte, sondern ebenso beim gemeinsamen schnellen Mahl.

Der siebte Tag der Woche wiederum gehörte Gott. Am Tage des Herrn wurde gemeinsam mit der Familie das Gotteshaus aufgesucht, um dort mit vielen anderen gemeinsam zu beten, zu singen, zu speisen und auch alte Schriften zu studieren. Obwohl die Zungen fremd sprachen, blieb doch die Botschaft die gleiche wie in der Heimat.

Bereits im Sommer des bewussten Jahres hatte es sich zugetragen, dass sich der Jüngling der Erzählung auf das Zurücklegen von längeren Strecken im schnellen Schritte vorbereitet hatte. Zuvor hatte der Jüngling zwar hin und wieder fußläufig Ausflüge unternommen, sich dennoch aber vornehmlich ganzkörperlich ertüchtigt. Fürwahr hatte er sich im Werfen von Kugeln, Scheiben und Spießen, gar im Springen in die Weite und in die Höhe geübt. Die Bewegung auf schnellem Fuße hatte nur nebensächlich Beachtung gefunden.

Mit der sich ankündigenden Reise wiederum hatten sich die Prioritäten geändert. Fast täglich war er durch die nahen Waldflächen geeilt, die er in der Folge immer besser kennenlernte, um die anempfohlenen Kameraden aus Übersee bei der gemeinschaftlichen Hetze unterstützen zu können. In den Wochen seiner Vorbereitung wurden bereits merkliche Veränderungen spürbar.

Es trug sich zu, im Jahre des Herrn 2004, dass die gemeinschaftliche körperliche Ertüchtigung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten in der Gemeinschaft etwa gleichaltriger Jünglinge vielseitig war. Nach dem täglichen Verlassen der örtlichen Lehranstalt brach man gemeinsam zu den Grünflächen des nahegelegenen John Bryan State Parks auf, um dort zu Fuße über Pfade und Wege zu traben. Allzu oft variierte das Tempo, in dem man sich fortbewegte. Mal neigte die ganze Gruppe zu hoher Konzentration, mal suchte man Zerstreuung und sprang gar unter Wasserfälle. An Quellen, die man händisch aktivieren konnte, labte man sich am hervorsprudelnden Nass. Auch veranstaltete man spielerische Verfolgungsjagden. Dem Meister, der den Kameraden vorstand, schien es nie an Ideen zu mangeln, um seine Jünglinge auf die sich stets aufs Neue am sechsten Tage anstehenden Wettläufe vorzubereiten. Mit der Zeit wurden die Beine kräftiger und die Lungen stärker. Auch des Jünglings Ausdauer wuchs.

So vielseitig die gemeinsamen ertüchtigenden Nachmittage waren, so abwechslungsreich gestalteten sich in gleicher Weise die Wettläufe. Gemeinsam mit einem Heer von Jünglingen anderer Lehranstalten ging es über Stock und Stein, durch Bäche, über Wiesen, Äcker und geschlungene Pfade sowie über Hindernisse natürlicher Art wie Baumstämme oder Strohballen. Es hätten einfachere Strecken gewählt werden können, hätte man es denn gewollt.

Weil für diese Wettläufe andere Gruppen von nah und fern ebenso anreisten, und man aufgrund der kompetitiven Vergleichbarkeit zuordnen wollte, wer in welcher Reihenfolge das Ende der abgesteckten Route überschritt, hatte jeder teilnehmende Jüngling sich eine Nummer an die Brust zu heften. So wurde allwöchentlich bis über 200 durchgezählt.

Gleichwohl ein jeder Jüngling in gewisser Weise für seine Schritte selbst Verantwortung zu tragen hatte, war der Sport des schnellen Fußes doch eine Sache der Gemeinschaft. So zählte im Wettlauf nicht die Leistung des Einzelnen, sondern die Summe der besten Sieben einer Lehranstalt. Entsprechend stand die Gemeinschaft im Mittelpunkt, die durch die gegenseitige Unterstützung, gemeinsame Schlachtrufe und einheitliche Gewänder zelebriert wurde.

Diese Gemeinschaft sowie auch die Masse an Gleichgesinnten, die sich wöchentlich an unterschiedlicher Lokalität für den gemeinsamen Wettlauf versammelte, begeisterte den Jüngling, und weil er körperliche Fortschritte machte, konnte er alsbald am Ende der Wettläufe kleine drei- oder viereckige Stoffe erbeuten, auf die der Jüngling stolz war.

Gekrönt wurde die gemeinschaftliche Leistung des Jünglings mit seinen anempfohlenen Kameraden schließlich mit dem Erringen eines großen Goldkelchs. Um daraus zu trinken stellte dieser sich als ungeeignet heraus, dennoch jubelte man. Das gemeinsame gen-Himmel-Strecken desselbigen Kelchs war die Belohnung für die Strapazen, die man täglich gemeinsam gemeistert hatte.

So trug es sich zu, dass der Jüngling immer mehr zu einem stattlichen Mann heranreifte, der regelmäßig fußläufig in einem zwar friedlichen, aber quadratisch aufgebauten und vornehmlich mit motorgetriebenen Vehikeln besiedelten Gebiet heimisch wurde. Für die Zurücklegung von Strecken waren längst technische Hilfsmittel vorhanden, sodass sich der Zweibeiner der bewussten Zeit längst nicht mehr aus eigener Muskelkraft fortbewegen musste. Doch an der körperlichen Anstrengung erfreute sich der Jüngling, es machte ihm Spaß, nur von der eigenen Beine Kraft abhängig zu sein. Das Laufen, wie er es nannte, wurde für den Jüngling ein Teil seines Lebens.

So trug es sich zu, dass der Jüngling, auch nach Rückkehr in seine alte Heimat, Gefallen an der fußläufigen Fortbewegung fand.

Kaisa, I

Wie hatte er sie nur einfach so davonlaufen lassen können? Er wusste fast nichts über sie – nur das, was sie ihm in den knapp fünfzehn Minuten gemeinsamen (und wundervollen!) Dauerlaufs erzählt hatte: dass sie für ihr Studium nach Deutschland gekommen war und perfekt unsere Sprache beherrschte, weil ihr Großvater aus Deutschland kam und sie als Kind viel Zeit mit ihm verbrachte.

Außerdem natürlich, dass sie leidenschaftliche Läuferin war und alles dafür tat, um schneller zu werden. Aber wo sie wohnte, wie sie mit Nachnamen hieß, gar ihre Telefonnummer? Natürlich nichts. Die so leichthin in Aussicht gestellte Verabredung zum gemeinsamen Lauf, die sein Herz so viel schneller hatte schlagen und vor Glück überschäumen lassen, war alles, an das er sich festklammerte. Es war zum Verrücktwerden!

Verrückt wurde er wirklich! Der erste Gedanke am nächsten Morgen galt nur ihr. Er wollte sie beim Laufen wiedertreffen. Er musste sofort hinaus in den Wald, auf die Felder, um sie wiederzusehen. In der kommenden Woche lief er so oft wie noch nie. Seine Runden wurden dabei immer länger und kreisten immer um den „gemeinsamen“ Fleck – jenen Fleck, bei dem er kurz den Moment genossen hatte und anschließend von ihr angesprochen worden war.

Aber er sah sie einfach nicht. Wie lange er auch lief, wie sehr er sich auch ihre Silhouette am Horizont erhoffte, wie oft er auch den gemeinsamen Fleck umkreiste und alles andere um sich herum vergaß, sie tauchte einfach nicht auf. Beim Aufstehen dachte er nur daran, dass er laufen müsse, um ihr endlich wieder zu begegnen; wenn er dann wiederkam, plagten ihn bereits Zweifel, ob er sie nicht genau jetzt verpasste. Teilweise lief er sogar morgens und abends. Und drehte mittags noch eine Runde mit dem Rad.

Wenn ihr nun etwas passiert war? In der Zeitung las man immer wieder von jungen Frauen, die auf ihrer Joggingrunde verschwanden. Bisher hatte er diese Artikel ignoriert, weil er zum einen hoffte, als Mann sicher zu sein und zum anderen „solche Dinge“ nicht zu nah an sich heranlassen wollte. Aber jetzt? Was war nur mit Kaisa? Hatte sie gar ihre Zelte komplett abgebrochen? Alles drehte sich nur um sie.

Dann aber wurde er zum Glück erlöst. Kurz bevor er völlig durchdrehte. Wie das Leben so spielt, fand er Kaisa aber nicht im Wald, wo er quasi ständig nach ihr Ausschau hielt, sondern im Supermarkt.

Schließlich war es Samstagnachmittag geworden und er hatte nichts mehr zu essen in der Wohnung. Normalerweise ging er immer mittwochs direkt nach der Uni einkaufen, weil er den ganzen Nachmittag frei hatte. Vergangenen Mittwoch aber hatte er nur eines im Kopf: auf in den Wald. Oder präziser ausgedrückt: Kaisa!

Zweieinhalb Tage ohne Nachschub hatten sich ganz gut überstehen lassen. Da waren verschollene Konserven aufgetaucht, auch im Tiefkühlfach hatte er noch Essbares entdecken können. Eine alte Packung Salzstangen war noch erstaunlich knackig gewesen.

Samstagmittag hatte er dann aber so überhaupt keinen Appetit auf die alten, harten Gummibärchen, die er hinten im Schrank gefunden hatte. Er hatte ernsthaft einen Lieferdienst in Erwägung gezogen, Fast Food war aber eigentlich so gar nicht sein Ding. Außerdem würde er morgen nicht einkaufen können. Und seine Beine waren müde. Wirklich müde! Eine zweite Runde würde er heute nicht schaffen und seine Hoffnungen, Kaisa wiederzusehen, schwanden. Also fuhr er mit dem Fahrrad und seinem größten Rucksack in den Supermarkt.

Während er schließlich dort sorgfältig seine Äpfel auswählte – sie müssen aus der Region sein, sie dürfen keine Dellen haben und sollten aller Wahrscheinlichkeit nach in Berührung mit möglichst wenigen anderen Händen gekommen sein – schwebte sie herein. Einfach so. Durch die Eingangstür auf dem direkten Weg zum Suppengrün.

Ihm muss wieder der Mund offen gestanden haben. Denn die ältere Dame, die ihm gegenüberstand und die Tomaten studierte, dann aber seinem Blick gefolgt war, meinte lächelnd: „Na los!“. Und obwohl er hauptsächlich seinen Herzschlag in den Ohren hatte, vernahm er ihre Worte.

Und die musste sie ihm nicht zweimal sagen!

Die beiden hatten sich an diesem Sonntagmorgen für neun Uhr an ihrem Fleck verabredet. Den ganzen gestrigen Abend war er gleichermaßen aufgeregt wie erleichtert gewesen: er hatte sie wiedergesehen und würde es gleich morgen wieder tun. Vor Freude laut singend war er auf dem Fahrrad nach Hause gefahren!

Andererseits: natürlich würden sie gemeinsam laufen! Zwar würde er sie also höchstwahrscheinlich für sich allein haben, nach dieser Woche aber möglicherweise nicht mehr in der Lage sein, bei ihr mitzuhalten. Denn zum Abschied hatte sie noch gelächelt und gemeint: „Lass uns morgen etwas schneller laufen als beim letzten Mal!“ – entsprechend hatte er nicht nur zusätzlich Nudeln, sondern auch Eis zum Nachtisch eingekauft, um die Energiespeicher wieder aufzufüllen.

Zum Glück war er nach diesem Imbiss, der die neuen Einkäufe gleich wieder beträchtlich reduzierte, direkt ins Bett gefallen und dadurch heute Morgen frisch und erholt. Nach einem schnellen Frühstück und zwei Gläsern Wasser war er etwas zu früh, gegen zehn vor neun Uhr, am Treffpunkt.

Und sah sie schon kommen. So locker, so leicht. Spielerisch. Schwebend. Völlig unangestrengt begrüßte sie ihn mit einem „Hallo!“ und dem schönsten Lächeln, sodass er sich wieder einmal zusammenreißen musste.

Für ihren Lauf schlug sie ein „spielerisches Fahrtspiel“ vor: in ihren Dauerlauf würden sie fünf Fluchten einbauen: zuerst würde sie vor ihm „flüchten“, mit zehn Sekunden Vorsprung, dann er vor ihr, immer abwechselnd und insgesamt fünf Mal.

Beide waren sie ziemlich motiviert, sodass es trotz allem Spaß, den es machte, doch sehr anstrengend wurde. Beim Auslaufen waren sie dann bester Laune, teils wegen der Endorphine, die durch das schnelle Laufen freigesetzt worden waren, teils, weil sie die gegenseitige Gesellschaft genossen.

Beim fünften Lauf, als er sie zum dritten Mal eingefangen hatte, klatschte er sie nicht nur ab, sondern hielt sie ganz spontan einfach fest. Was ihr zu gefallen schien, trotz aller Verschwitztheit. Und weil sie im Anschluss sogar über seine schlechtesten Witze lachte, nahm er seinen ganzen Mut zusammen: „Würdest Du heute Abend mit mir Essen gehen?“

Nach ihrem „Gerne!“ schlug sein Herz wieder genauso schnell wie beim letzten Schlussspurt.

Sie waren also zu ihrem ersten Date verabredet. Kaisa war etwas ganz Besonderes, soviel war ihm klar. Sie könnte die Eine für ihn sein, also musste auch ihre erste Verabredung außergewöhnlich sein. Er wollte sie genauso fesseln, wie sie umgekehrt sein Herz im Sturm erobert hatte. Mühelos.

Viel wusste er noch nicht über sie, sicher war er sich aber, dass sie gerne draußen an der frischen Luft war. Ein enges, schummriges Restaurant mit Essen in stickiger Luft, was andere für romantisch halten mögen, schloss er also aus.

Was ein Glück, dass er Miro kannte. Zusammen waren sie viele Jahre zur Schule gegangen, jetzt jobbte sein alter Kumpel nebenbei bei seinem Lieblingsitaliener als Kellner. Bei einem kurzen Anruf bestätigte er ihm, dass er auch an diesem Abend eingeteilt war und versprach, einen Tisch im Garten etwas abseits für die beiden herzurichten.

Seinen Anfängerfehler hatte er nicht wiederholt. Er wusste zum einen, wo er sie abholen sollte, außerdem hatten sie für Eventualitäten Handynummern ausgetauscht. Den ganzen Rückweg hatte er ihre Nummer im Kopf wiederholt, um sie ja nicht zu vergessen, und gleich daheim auf einem Zettel notiert. Die Schätze unserer Zeit.

Als er sie abholen kam – natürlich mit dem Fahrrad – konnte er sein Glück kaum fassen. Sie wartete auf ihn und würde wirklich mit ihm ausgehen. In ihrem Kleid und den offenen, langen, blonden Haaren war sie sogar noch hübscher als in Laufklamotten.

So verbrachten sie den lauen Frühsommerabend erst bei leckerem italienischem Essen, dann überredete er sie noch zu einem Eis zum Mitnehmen. Zum Abschluss des wundervollen Abends schlenderten sie eisschleckend in den Sonnenuntergang.

Er nahm erst all seinen Mut zusammen und dann ihre Hand in seine. Sein Herz überschlug sich zum ersten Mal, als sie ihre Hand nicht zurückzog, sondern wie selbstverständlich in seiner blieb. Fast stehen blieb es dann nicht viel später beim ersten Kuss. Sie waren ein Paar und er der glücklichste Mann der Welt.

Der folgende, wundervolle Sommer war die schönste Zeit seines Lebens. Die beiden sahen sich fast täglich, sei es nur für einen kurzen Lauf am frühen Morgen, sei es von früh bis spät bei langen Ausflügen oder auch einfach nur beim Nichtstun.

Es war ein Sommer voller Glück. Sie waren zusammen laufen, picknicken, schaukeln, Eis essen, fahrradfahren, Enten füttern, Sternschnuppen schauen, Karten spielen. Er lernte jonglieren, Vogelstimmen auseinanderzuhalten und Einradfahren, sie Basketballspielen, eine richtige Arschbombe und das Balancieren auf einer Slackline. Von so manchem – Ausflüge zum Badesee, Tischtennis im Freien, Besuch von Flohmärkten oder Ausstellungen – war er vorher nie ein Fan, mit Kaisa aber konnte er sich nichts Besseres vorstellen.

Erstaunlicherweise wurde er gleichzeitig auch in der Uni besser. Man hätte denken können, er sei abgelenkt und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Von ihr geliebt zu werden gab ihm aber ein solches Selbstvertrauen, dass er sich auch an Problemstellungen heranwagte, die er zuvor abwinkend als zu schwer abgetan hätte. Sie tat ihm einfach unglaublich gut.

Auch sprachen sie über die Zukunft. Als hätten sie sich abgesprochen, war beiden immer klar, dass sie einmal ein kitschiges Vorstadtleben würden führen wollen. Zuvor aber mussten sie natürlich fertig studieren und insbesondere Kaisa wollte ihre sportlichen Grenzen ausloten. Obwohl sie regional eigentlich jeden Lauf gewinnen konnte, wollte sie noch schneller laufen.

Und dafür reichte er ihr als Trainingspartner nicht. Sie wollte eine starke Gruppe und einen erfahrenen Trainer – zumindest zeitweise. Im Internet war sie auf ein Trainingscamp in den luftigen Höhen der Pyrenäen gestoßen. Sie erzählte ihm von traumhaften Aussichten bei lockeren Trailläufen, von schnellen Asphaltgeraden und einem Sportzentrum mit nagelneuer Tartanbahn, Kraftraum und Eistonnen. Er wusste noch nicht, dass sich sein Leben dadurch allzu bald auf den Kopf stellen würde. Mehr genießen können hätte er die Zeit mit Kaisa aber keine einzige Sekunde. Mit ihr lebte er auf. Durch sie lernte er das erste Mal, was Glück war. Nirgends sonst konnte er so sehr er selbst sein wie mit ihr. Lachen, lieben, laufen, leben!

Sie waren füreinander geschaffen.

Und dann war sie plötzlich weg.

Das Laufen ist mein Steckenpferd

Das Laufen ist mein Steckenpferd,

auf dem ich täglich reite.

Ich hoffe dabei auf den Gerd,

auf dass er mich begleite.

Der Gerd, der ist ein schneller Mann,

und das auf leisen Pfoten!

Denn wenn ich schnauf‘, gleich nebenan,

erzählt er Anekdoten.

Ich laufe spät, ich laufe früh,

bin immer nur am Flitzen,

und geb‘ mir dabei alle Müh!

Gerd muss noch nicht mal schwitzen.

Da renne ich, so schnell ich kann,

und drück mich ab bei jedem Schritt,

der Gerd, der ist ein schneller Mann,

bis jetzt hielt er noch immer mit.

Wie kann das geh‘n, das will ich wissen.

Auf Straße, Waldweg oder Pfad,

die Antwort, die ist leicht umrissen,

denn ich lauf – und Gerd fährt Rad.

Die innere (Un)Ruhe

Als Zivilisationskrankheiten werden unter anderem Karies, Herz- und Gefäßkrankheiten, Essstörungen und Adipositas bezeichnet1. Die Ursachen dafür seien vielschichtig, die Summe verschiedener Faktoren wie Zucker, Fehlernährung, Bewegungsmangel oder auch Stress.

Eine wird dabei aber stets vergessen, wie ich finde: In der Liste der Zivilisationskrankheiten fehlt die innere Unruhe. In einer Zeit, in der stets alles schnell gehen muss, jeder immer und überall erreichbar ist und von Ruhe zwar viel gesprochen wird, diese aber nie vorhanden ist, wird uns viel zu schnell langweilig.

Stellt euch eine Almhütte in den Bergen vor, auf einer grünen Wiese, mit zwei Tannen und drei weißen Berggipfeln im Hintergrund, mit warmen Sonnenstrahlen beschienen. Immer mit dabei, in diesem gedanklichen Bild: Eine Frau oder ein Mann, der oder die auf der Bank davor sitzt und nichts tut. Einfach so, und in sich ruht. Den Gedanken nachhängend, träumend, in die Gegend schauend. Für jüngere Generationen einfach unvorstellbar – es wäre langweilig.

Nichts scheint schlimmer zu sein, als nichts zu tun zu haben, ohne Ablenkung zu sein, mit seinen Gedanken alleine. Stets wird das Smartphone gezückt, etwas gelesen. Sich durchgängig abgelenkt. Auch von sich selbst.

Deswegen wird das Laufen auch teilweise als langweilig bezeichnet. Denn wer läuft, und dabei etwa Kopfhörer etc. weglässt, ist zwangsläufig mit seinen Gedanken alleine.

Wertvolle Zeit! Die wir uns sonst kaum mehr gönnen – und gönnen wollen.

So zeigte etwa eine US-Studie im Jahr 20142, dass sich Menschen lieber selbst Stromstöße verpassen, als mit ihren Gedanken allein sein zu müssen. Der „Zustand des inneren Sinnierens“ scheint für viele unbekannt. Allein sechs bis 15 Minuten ohne Ablenkung – pures „Gedankennachhängen“ – konnte von freiwilligen Probanden nicht genossen werden.

Doch davon nicht genug! In einem Folgeexperiment konnten sich die Probanden, wenn ihnen die 15-minütige Denkzeit zu lang wurde, selbst einen Elektroschock verpassen, der vorher durchweg als unangenehm empfunden wurde. Zwölf von 18 Männern und sechs von 24 Frauen griffen zum Schocker! Selbst unangenehme Aktivitäten scheinen – für manche – lieber zu sein als gar keine.

Muss das Träumen und Fantasieren, das uns eventuell von anderen Lebensarten unterscheidet, heutzutage erst durch Meditation erlernt werden? Laut einer anderen Studie von 20133 zeigen sich durch regelmäßige Meditation deutliche Veränderungen in der Hirnstruktur. So wird die graue Substanz an der Amygdala (Verarbeitung von Stress und Angst) weniger, dafür im Hippocampus (Selbstwahrnehmung und Mitgefühl) dichter. Außerdem sind die Forscher aus Gießen und den Vereinigten Staaten überzeugt, dass Meditation das Altern des Gehirns verlangsame.

Fasst man diese Überlegungen zusammen, ist das Laufen auch aus dieser Sicht ein guter Lehrmeister. Denn beim Laufen lernt man zwei Dinge, die in unserer heutigen Zeit immer rarer werden. 1.) Läuft man in der Gruppe, lernt man zu kommunizieren, ohne ständig digital abgelenkt zu werden. Und 2.) läuft man alleine, lernt man mit den eigenen Gedanken umzugehen, mit sich selbst allein zu sein. Tugenden, die viele längst verlernt haben.

Vielleicht sind ja die Menschen, die vor unserer imaginären Almhütte sitzen, auch Läufer. Es würde passen.

(Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2021)↩

(Wilson, et al., 2014)↩

(Hölzel, et al., 2011)↩

Aktivisten, Peter

Zum Fahrradfahren war Peter gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Natürlich konnte er per se schon immer Fahrrad fahren, nur war er viele Jahre lang gar nicht erst auf die Idee gekommen. Zu Studienzeiten war er in die Stadt gezogen und hatte mit drei anderen in einer WG gewohnt. Von dort aus war es zum einen Teil des Campus nur ein Katzensprung, sodass er zu Fuß ging, zum anderen bot sich die Straßenbahn an. Damals hatte er nicht mal ein Fahrrad besessen!

Im Anschluss hatte er glücklicherweise schnell einen Job gefunden – nur war seine Arbeitsstätte satte 70 Kilometer von der gemeinsamen Wohnung, in die er erst kürzlich mit seiner Freundin gezogen war, entfernt. Zudem lag sein Arbeitsort so abgelegen, dass ihm kurzfristig keine andere Wahl blieb, als sich ein Auto zuzulegen. In der Folge war pendeln angesagt.

Teilweise hatte er dem Autofahren sogar etwas abgewinnen können. Wenn er sich erst einmal auf die Autobahn gekämpft hatte und die Fahrbahn frei war, konnte er sich gemütlich zurücklehnen, entspannt seinem Lieblingspodcast lauschen und die Landschaft an sich vorbeiziehen lassen. Im Winter war es Dank der Heizung angenehm warm, im Sommer kühlte die Klimaanlage.

Meist war dieser tägliche Arbeitsweg aber ein Graus. Schon innerhalb der ersten zwanzig Minuten bis zur Autobahn war er völlig genervt, weil gefühlt jede Ampel nur für ihn auf Rot schaltete. Dann diese Enge im Fahrersitz: kaum Platz, um sich zumindest ab und an einmal zu strecken, vom vielen Sitzen tat ihm immer wieder die Hüfte weh. Außerdem die Autobahn, wo bei der Baustelle, durch die er täglich musste, scheinbar nichts voranging und wo ständig jemand eine Panne hatte, wodurch er immer wieder im Stau stand. Einmal verbrachte er den ganzen Vormittag auf der Autobahn – stehend, wegen einer Vollsperrung.

Und natürlich: die ganzen anderen Idioten. Zumindest war ihm bewusst, dass er für andere auch hin und wieder ein Idiot war. Wenn aber wieder einmal jemand drängelte und viel zu dicht auffuhr, wenn jemand viel zu knapp einscherte und andere zum plötzlichen Bremsen zwang, wenn andere Autos übersehen oder schlicht und einfach nicht mitgedacht wurde oder wenn bei einer grünen Ampel nicht losgefahren wurde – Peter war stets kurz davor, ins Lenkrad zu beißen. Mit Flüchen und Schimpfwörtern wurde er immer kreativer.

Was ein Verlust an Lebenszeit!

Zu seinem großen Glück bekam er nach gut anderthalb Jahren dieser geistigen und körperlichen Qualen ein neues Jobangebot: sein ehemaliger Professor wollte ihn für ein Projekt, das sehr nah an seiner Abschlussarbeit war, wieder ins Institut holen. Dafür brauchte er keine lange Bedenkzeit, er hielt den Arbeitsweg einfach nicht mehr aus.

Aus reiner Gewohnheit setzte er sich zunächst weiterhin ins Auto, um zur Uni zu fahren. Zum Umdenken brauchte es einen sehr unerfreulichen Vormittag.

Der Tag, der sein Leben verändern sollte, hatte zunächst begonnen wie jeder andere. Gedankenverloren war er nach seiner Morgenroutine wie jeden Tag mit seinem Thermo-Kaffeebecher in der Hand zu seinem Auto geschlurft und hatte sich in selbiges hineinfallen lassen. Dann jedoch war der Wagen einfach nicht angesprungen. Schnell war er zu dem Schluss gekommen, nichts ausrichten zu können und kurzfristig auf die öffentlichen Verkehrsmittel auszuweichen. Das war zwar umständlich und vergleichsweise teuer, dennoch wohl der schnellste Weg, um an diesem Morgen auf die Arbeit zu kommen.

Dann jedoch fiel sein Blick auf das Rad seiner Freundin, die am bewussten Tag von zu Hause aus arbeitete. Schicksal? Kurz entschlossen wich er nämlich doch nicht auf die Öffentlichen aus, sondern schwang sich aufs Rad – und brauchte, trotz ungeeigneter Kleidung sowie einem zu kleinen Fahrradrahmen inklusive tiefem Sattel, für die knapp acht Kilometer Arbeitsweg nur unwesentlich länger als mit dem Auto. Dabei fühlte sich Peter aber so viel freier! Er war es nicht gewohnt, bereits auf dem Arbeitsweg frische Luft zu atmen – im kommenden Winter genoss er sogar die kalten Windböen, die ihm ins Gesicht schlugen –, Platz für Bewegung zu haben, durch eine geschickte Routenwahl nicht mehr ständig von Ampeln ausgebremst zu werden und durch die eigene Muskelkraft bestimmen zu können, wie schnell er sein Ziel erreichte.

Schnell lernte er dieses Gefühl lieben und wollte es nicht mehr missen.

So wurde aus der Not eine Tugend. Es brauchte nur einen Besuch im örtlichen Fahrradladen, schon war er perfekt ausgestattet. Durch sein eigenes, besser geeignetes Fahrrad war er schneller am Institut als mit dem Auto, durch die neue Kleidung fuhr er bei jedem Wetter – bei Sonne und bei Regen, an warmen Sommertagen wie im kalten Winter. Motorradhandschuhe konnte er für kälteempfindliche Akademikerfinger empfehlen!

Vor lauter Begeisterung hätte er fast sogar sein Auto in der Werkstatt vergessen. Er fuhr es auch gar nicht erst abholen, sondern räumte nur die wenigen persönlichen Gegenstände aus und ließ es direkt vom Werkstattbesitzer weiterverkaufen. So war nicht nur sein tolles, neues Rad sofort bezahlt, allein durch die gesparten Benzinkosten hatte er wöchentlich mehr Geld auf dem Konto. Hinzu kamen noch die gesparten Steuern sowie die Versicherungs- und Instandhaltungskosten1, die in den letzten Jahren gehörig ins Gewicht gefallen waren.

Aber nicht nur finanziell hatte sich das Fahrradfahren bezahlt gemacht – von den Umweltfolgen einmal abgesehen2. Er fühlte sich wie ein neuer Mensch. Peter wurde nicht nur fitter, auch verhalf ihm das Radeln zu einem anderen Weltbild: Autos sah er nach und nach in einem immer schlechteren Licht.

Letztens erst fuhr er gemeinsam mit drei Kollegen nach einem langen Arbeitstag erst spät zurück nach Hause. Dabei nutzten sie den wenigen Verkehr der späten Abendstunden – im etwas abseits gelegenen Industriegebiet ist dann eigentlich nichts mehr los – um auf einer ganz normalen Straße zu viert nebeneinander zu fahren. Und dieses freie Fahren, das war ein tolles Gefühl! Peter fragte sich daraufhin, ob wohl so die Zukunft aussehen würde?

Denn glücklicherweise gab es bereits erste Diskussionen um die Vormachtstellung des Automobils. Bis zu seinem Umstieg aufs Fahrrad war ihm das nie wirklich klar gewesen, aber zu seiner Zeit war Autofahren viel zu angenehm und günstig. Peter war bereits auf funktionierende Projekte aus anderen Städten gestoßen, die zeigen konnten, wie viel attraktiver Städte werden, wenn dort nicht Auto gefahren wird – aus zugeparkten Straßen wurden freie Plätze zum Spielen mit der ganzen Familie, aus großen, stinkenden Kreuzungen wurden grüne Inseln, wo Restaurants große Außenbereiche haben und Menschen in Ruhe und ohne Abgase zusammenkommen können. Die autofreie Innenstadt war längst keine Utopie mehr, sondern realistischer Traum3.

Grundsätzlich war aber ganz Deutschland (und Europa?) auf das Auto ausgelegt. Während vieler Stunden auf seinem Rad fragte sich Peter, ob diese Normalität aber überhaupt annehmbar war. Warum müssen Kinder, wenn sie über die Straße laufen, nach Autos schauen – und nicht umgekehrt? Auch der Flächenverbrauch eines Autos ist absurd, die Städte sind stets so voll, dass autofreie Straßen und freie Parkplätze ganz ungewohnt erscheinen. Erst wenn einmal durch besondere Ereignisse wie beispielsweise Nachbarschaftsfeste ganze Straßen einmal für Autos gesperrt wurden, merkte Peter, wie viel Platz und einhergehend wie viel Lebensqualität hier verschenkt wurde.

Statt mit Autos einfach wegzufahren, um „in die Natur“ zu flüchten, wollte Peter seinen städtischen Lebensraum verteidigen. Besser wäre es doch, wenn man gar nicht erst wegfahren müsste, um es schön zu haben.

Nun konnte er auf der einen Seite den Einzelhandel verstehen, der darauf gedrängt hatte, dass genügend Parkplätze für die Kunden vorhanden sind, woraufhin sämtliche Freiflächen als Abstellort gekennzeichnet und ganze Parkhäuser (allein dieser Name klang in Peters Ohren absurd) gebaut wurden. Auf der anderen Seite – und dafür brauchte es wieder Sperrungen von Straßen für Autos – fand Peter, dass er sich viel lieber in der Innenstadt aufhielte, wenn keine Autos störten. Schlendern ist dann angenehm, was wiederum dem Einzelhandel gut tut. Überhaupt ist Einkaufen sehr gut zu Fuß, mit dem normalen Fahrrad oder mit den immer häufiger aufkommenden Lastenrädern möglich, meinte er. Wer gar nicht erst daran denkt, für kleine Wege das Auto zu nutzen, bleibt allein durch den Alltag länger fit.

Natürlich dachte er auch an die Ausnahmen, die es immer geben muss. Geschäfte müssen schließlich beliefert und Menschen, die nicht mehr mobil sein können, versorgt werden. Hierfür stellte sich Peter Liefer- und Pflegedienste auf Elektrobasis vor, die im Regelfall sogar mit beschränkten Zufahrtszeiten auskommen würden.

Wenn Peter dann wieder einmal eine längere Runde drehte, fragte er sich des Öfteren, wie seine autofreie Vision auch auf dem Land funktionieren könne. Denn dann denkt zunächst jeder erst einmal, dass es ohne öffentliche Verkehrsmittel keine Alternative zum Auto gibt. Gerade aber durch die höheren Geschwindigkeiten, so erklärte es sich Peter, werden nur die Wege länger, die investierte Zeit bleibt gleich. Es werden weite Strecken gefahren, um dieselben Dinge einzukaufen, die es auch im kleinen Laden um die Ecke gab. So zerstört das Auto die kleinen Strukturen und verändert die Wirtschaftsstruktur, die Stadtstruktur und die sozialen Beziehungen. Ziel sollte es sein, fand Peter, kleine Geschäfte zu fördern.

Selbst erlebt hatte Peter sein Umdenken auf dem Arbeitsweg, weshalb er sich wünschte, dass es ihm möglichst viele gleich taten. Geradezu Wundererzählungen hatte er aus Städten wie Kopenhagen und Amsterdam gehört, die er aber leider noch nicht mit eigenen Augen hatte sehen dürfen: von mehrspurigen Fahrradstraßen wurde erzählt und von einer Selbstverständlichkeit, das Zweirad zu nutzen, während die ihm bekannte Realität immer noch standardmäßig das Auto nutzte. Wie viele schädliche Klimagase sich dadurch sparen ließen!4

Klar war ihm, dass sich für diesen Umstieg auch die Infrastruktur würde ändern müssen, weshalb er der Meinung war, dass man zum einen das Autofahren immer unattraktiver und zum anderen sonstige Fortbewegungsarten (sei es zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln) immer attraktiver machen müsste. Denn Autos zerstören die Natur, die Landschaft, unsere Städte wie auch die Wirtschaft - und entziehen zusätzlich nachhaltigen Verkehrsmitteln den Boden.

Eine Vision Peters war, um zügiges Radfahren zu fördern, Induktionsschleifen auf Fahrradwegen vor vielbefahrenen Straßen zu installieren, die den Autoverkehr automatisch für die Durchfahrt stoppen. So müsste keine Unterführung oder Brücke gebaut werden, während gleichzeitig das Autofahren unattraktiver wird.

Sehr angetan war Peter außerdem nicht nur von einem sehr niedrigen Tempolimit auf den Autobahnen, sondern außerdem von einer generellen Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h in Städten. Die Städte würden dadurch für andere Verkehrsteilnehmer bedeutend sicherer.

Peter wusste um die Kraft seiner Beine und die Ausdauerfähigkeit des menschlichen Körpers. Er wusste mittlerweile, wie unfassbar weit man mit einem Fahrrad kommen kann. Das Gehen wie auch das Radfahren sollte seiner Meinung nach als Fortbewegungsart die oberste Priorität haben, denn beides ist gesund, ökologisch sowie sozial und ökonomisch verträglich. Aus seiner Sicht müssten sämtliche Autos weg.

(Randelhoff, 2020)↩

(Umwelt Bundesamt, 2020)↩

(Mößbauer, 2019)↩

(Europäisches Parlament, 2019)↩

Kaisa, II

Was war das nur für eine wundervolle Zeit! So viel und so gut wie hier hatte sie noch nie trainiert. Gleich morgens früh ging es los. Noch bevor die Sonne aufging wurden sie alle gemeinsam geweckt, dann wurde ohne viel Grummeln aufgestanden. Viel geredet wurde zwar noch nicht, weil alle allein damit beschäftigt waren, sich nur kurz anzuziehen, um direkt laufbereit zu sein. Ein Glas Wasser reichte als erstes Frühstück.

Dann ging es los auf die erste kurze Runde des Tages. 20 Minuten etwa wurde locker gejoggt, dann folgten ein paar Dehnungs- und Lockerungsübungen, bevor es zum Frühstück ging. Und was waren das für 20 Minuten, wenn gerade die Sonne aufging! Selten hatte sich Kaisa so wohl gefühlt, wie gemeinsam laufend den Beginn eines neuen Tages mitzuerleben.

Am späten Vormittag stand dann die nächste Einheit auf dem Programm. Jetzt konnte es auch schneller werden, bei diesem Training wechselten sich lockere Läufe mit Intervallen oder auch längeren Tempoläufen ab. Dafür hatten sie ihren Trainingsplan.

Schon war es dann Zeit fürs Mittagessen und im Anschluss – ganz wichtig! – den Mittagsschlaf. Der konnte bis zu zwei Stunden dauern. Eigentlich war Kaisa nur mit drei unterschiedlichen Dingen beschäftigt: schlafen, essen oder trainieren. Wegen der hohen körperlichen Belastung gab es nur selten ein Abendprogramm. Meist wurde zwischen 20:30 und 21 Uhr bereits das Licht gelöscht.

Denn das Programm war auch im Anschluss an die Mittagspause noch nicht vorbei, am Nachmittag stand die dritte Einheit des Tages an. Wieder waren hier der Kreativität des Trainers keine Grenzen gesetzt, da konnte es locker oder hart werden. Auch Alternativeinheiten wie Radfahren oder Schwimmen waren möglich. Dann aber war das Tagespensum geschafft.

Vor dem Abendessen war abschließend noch Zeit für regenerative Maßnahmen wie die Eistonne, Sauna oder Massage. Am liebsten aber machte Kaisa zum Tagesabschluss etwas Yoga, das ihre Muskulatur so schön lockerte. Jetzt wäre auch Zeit gewesen, sich zu Hause zu melden. Kurznachrichten zu schreiben oder mit ihrem Freund zu telefonieren. Handys waren im Camp aber strikt verboten, Kaisa hatte ihr mobiles Endgerät gleich zu Beginn abgeben müssen, denn laut ihrem Trainer war nicht nur der volle Fokus auf das Training wichtig, auch kam es auf die richtigen Gedanken an. Eine positive Stimmung beflügelte eine Gruppe, eine negative bremste alle. Und weil im Internet und in den sozialen Medien zu viel Neid, Missgunst und Eifersucht herrschten, waren elektronische Geräte schlicht verboten.

Eigentlich hätte Kaisa diese Abgeschiedenheit schwerfallen müssen, hatte sie doch früher auf Klassenfahrten beispielsweise stets Heimweh gehabt. Auch vermisste sie ihren Freund nach diesem wundervollen Sommer. Viel Zeit dafür blieb ihr aber schlicht und einfach nicht. Und mit den anderen Mädels im Camp – sie trainierte in einer rein weiblichen Trainingsgruppe – verstand sie sich bestens. Immerhin hatten sie alle die gleichen Interessen!

Nur sonntags wurde vom altbewährten Tagesrhythmus abgewichen. Lediglich morgens in der Frühe wurde eine Stunde gelaufen, danach war der Tag frei. Vielleicht hätte Kaisa sonst auch komplett die zeitliche Orientierung verloren. Klar tat eine Auszeit gut, auch, um am nächsten Tag wieder voller Energie, Elan und Motivation in die nächsten Einheiten zu starten. Sie hatte aber auch viel mehr Zeit als sonst, um nachzudenken. Insbesondere in diesen Stunden vermisste Kaisa ihre neue Heimat, dann wurde das dumpfe Ziehen, das sie sonst nur im Hintergrund begleitete, zu starker Sehnsucht. Da half die Gesellschaft ihrer neuen Freundinnen. Außerdem würde sie ihren Freund ja bald wiedersehen.

Würde sie?

Zum ersten Mal überhaupt, seit er studierte, hatte er nach seiner letzten Klausur drei herrliche Wochen komplett frei. Während der letzten sogenannten Semesterferien war stets im Abstand von zwei bis drei Wochen eine Prüfung auf die nächste gefolgt, sodass er durchgängig am Lernen war, bis dann das neue Semester startete.

---ENDE DER LESEPROBE---