Pfeile im Revier - Markus Heidl - E-Book

Pfeile im Revier E-Book

Markus Heidl

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Brandstiftungen des vergangenen Sommers scheinen vergessen, als den ersten Autos im Naturschutzgebiet die Reifen zerstochen werden. Noch erahnt niemand die Hintergründe dieser Machenschaften im Naturschutzgebiet. Ist es Klimaterrorismus, wenn der ortsansässige Bürgermeister beim Joggen von einem Pfeil getroffen wird? Nach und nach werden Kriminalhauptkommissar Joshua Grimm und seine Partnerin Kaisa Nieminen in einen Fall verwickelt, der sie mitten in den tiefen, dunklen Wald führt. Dort geht ein Täter umher, der sich anmaßt, über Leben und Tod zu entscheiden. Joshua kämpft nicht nur gegen die Zeit, sondern auch mit seinem persönlichen Chaos: Während seine Freundin Natalie von Eifersucht geplagt wird, lernt er die faszinierende Försterin Caroline Peters kennen. Trotz deren Hilfe kommen Joshua und Kaisa der Lösung des Falls nicht näher. Und sie geraten unter Druck, denn die Ruhe des Waldes ist trügerisch. Ein brutaler Mord des mutmaßlichen Bogenschützen wirft sämtliche Theorien über den Haufen. Die Wahrheit ist näher als gedacht – und erschüttert Joshua in seinen Grundfesten. Denn der Wald birgt nicht nur dunkle Geheimnisse, sondern gibt und nimmt, wie es die Gesetze der Natur gebieten. Ein fesselnder Kriminalroman über Umweltschutz, Macht und die Abgründe der menschlichen Seele.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog- Plattfuß

Eins - Im Wald

Zwei- Hin- und hergerissen

Drei- Wahre Liebe

Vier - Kommunalpolitik

Fünf - Prunk und Protz

Sechs - Ich atme ein, ich raste aus

Sieben - Väterlicher Stolz

Acht - Waldbaden

Neun - Im Trüben fischen

Zehn - Gereizt

Elf - Im Namen des Staates

Zwölf - (K)ein Date

Dreizehn - Personenkontrolle

Vierzehn - Schlachtbank

Fünfzehn - Maria Anna

Sechzehn - Operation Klappstuhl

Siebzehn - Mein Wald, Mein Bogen und ich

Achtzehn - Knapp vorbei ist auch daneben

Neunzehn - Sich überschlagende Ereignisse

Zwanzig - Schlaflose Nächte

Einundzwanzig - Hoppe hoppe Reiter

Zweiundzwanzig - Hofluft

Dreiundzwanzig - 50 Töne von Grün

Vierundzwanzig - Posten Suchen

Fünfundzwanzig - Postkoitaler Mittagsschlaf

Sechsundzwanzig - Wienzer & Söhne

Siebenundzwanzig - Dear Mr. President

Achtundzwanzig - Allerweltsgesicht

Neunundzwanzig - Stressmanagement

Einunddreißig - Ordnung ist das halbe Leben

Zweiunddreißig - Ein schnelles Finale

Dreiunddreißig - Nur ein Schuss

Vierunddreißig - Nur mit dem Gemächt gedacht?

Epilog - Everybody’s Darwin

DANKE

Schrödingers Kasten von Markus Heidl

Bitte laufen Sie rechts ran! von Markus Heidl

MARKUS HEIDL

Pfeile im Revier

Kaisas zweiter Fall

Ein Laufkrimi

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

„Pfeile im Revier“ gibt es als Buch und eBook direkt beim Verlag unter ampelpublishing de und in jeder Buchhandlung sowie deren Webshops.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 Markus Heidl

ISBN des gedruckten Buches: 978-3-9825732-8-1

1. Auflage 2024

Verlag und Distribution im Auftrag des Autors: Ampel Publishing,Guido Lange, Am Kapellchen 18, 56283 Nörtershausen, Deutschland

Coverdesign: BLINKFEUER Mediendesign, Dietzenbach, Deutschland

Titelfoto: Markus Heidl

Karten: openstreetmap org

Lektorat: Johannes Licht

Korrektorat: Regina & Roland Heidl

Druck und Herstellung: UAB Overprintas, Vinius, Lithauen

Für Svenja.

Laufen hilft.

Und für Marianne – Oma Nanne –

im Namen aller Großmütter. Ihr seid wichtig!

Prolog- Plattfuß

Sonntag, 21. Januar

Dreieich, Hessen

Bisher war es der perfekte Sonntagmorgen: Uwe Wienzer war für die eines Sonntags angemessen ausgedehnte Gassirunde zur Luderbachaue von Dreieich gefahren. Dafür hatte er wie gewohnt an der kleinen Ausbuchtung neben der L3317 zwischen dem Golf-Club Neuhof und der Autobahn A661 gegenüber der Herrnröther- und Bornwaldwiese geparkt, um von dort aus durch den dichten, urwüchsig wirkenden Wald zu spazieren.

An diesem Morgen war Bilderbuch-Winterwetter. In der windig kalten Januarnacht hatte es gegraupelt, sodass die Aue nun von einer hauchdünnen, weißen Schicht bedeckt war, die von einer kalten Wintersonne beschienen wurde. Wie gewohnt war Uwe auf seiner Runde mutterseelenallein gewesen, begleitet nur von seinem Rüden Hurtigruten sowie dem ein oder anderen unbekannten Tier, das abseits der Wege die Äste knacken ließ.

Auch Hurtigruten hatte die Runde genossen, das spürte Uwe. Er strahlte gelassene Freude aus. Selbst sein Schwanz wedelte derzeit verhältnismäßig ruhig hin und her. Unter der Woche, wenn die gemeinsamen Spaziergänge aufgrund des Korsetts des Alltags kürzer ausfielen, hatte sein behaarter Liebling etwas Getriebenes, Gehetztes an sich, was sich im hektischen Wedeln seiner Rute spiegelte. Dass seine Frau Heike und er kurz zuvor eine Kreuzfahrt mit einem Schiff der Hurtigruten-Flotte unternommen hatten, hatte damals den Namen besiegelt.

Heike kam sonntags nicht mit auf die Gassirunde. Sonntagmorgende waren Männersache, nur Uwe und Hurtigruten. Frauchen ging währenddessen entweder alleine ins Schwimmbad oder verabredete sich dort mit einer oder mehreren Freundinnen, um mehr oder weniger gemütlich Bahnen zu ziehen. Gleich würden sich Heike, Uwe und Hurtigruten im Anschluss an die körperliche Betätigung zur Belohnung bei ihrem Lieblingsbäcker treffen, um dort einen Kaffee mit einem leckeren Stück Kuchen zu genießen.

So sollte ein Sonntag sein!

Die böse Überraschung wartete auf den letzten Metern des Rückwegs. Schnurgerade führte der Waldweg zurück zur Straße, sodass Uwe die abgestellten Autos bereits von Weitem sehen konnte. Wegen des grandiosen Winterwetters waren erheblich mehr Menschen in den Wald gefahren, als für einen Januarmorgen üblich waren. Es wirkte fast, als sei schon Frühling: Stoßstange an Stoßstange standen die Kraftfahrzeuge am Wegrand. So hatte es sich eingebürgert, obwohl nur wenige Meter nach der Bundesstraße das Naturschutzgebiet begann. Trotz des eindeutigen Hinweisschilds war der Waldboden neben dem Weg über hunderte Meter plattgefahren. Tage wie heute trugen dazu bei, dass der Wald noch weiter weichen musste.

Die Parksituation überraschte Uwe noch nicht, auch wenn ihn der Andrang verwunderte. Während sein Blick die Autoschlange entlangwanderte, fiel ihm auf, dass eines – relativ weit hinten in der Reihe –, plötzlich beträchtlich wackelte. Es schaukelte geradezu hin und her. Und jetzt schon wieder! Wie konnte das sein?

Das Wackeln setzte sich fort. Jetzt wankte der nächste Wagen. Suchte dort ein Wildschwein nach Essensresten und stieß immer mächtig gegen die blechernen Hindernisse? Auch Hurtigruten spürte, dass etwas nicht stimmte, dass sein Herrchen plötzlich aufgeregt war. Normalerweise spielte er ab der Geraden auf Zeit, weil er wusste, dass die Gassirunde fast beendet war. Jetzt lief er bei Fuß und schaute konzentriert geradeaus, so als sehe er wie Uwe das Wackeln der Autos.

Uwe meinte mittlerweile, eine Gestalt ausgemacht zu haben, die um die Autos herumhuschte. Von Reifen zu Reifen, von Auto zu Auto. Das Wackeln ging damit einher. Seine Brille war unglücklicherweise durch die gefrierende Nässe beschlagen, weshalb er nicht sicher sein konnte. Er beschleunigte seinen Schritt. Hurtigruten bellte immer wieder und eilte einige Schritte voraus, blieb aber lieber bei Uwe.

Als Uwe die am tiefsten im Wald geparkten Autos erreichte, war klar, dass er mit seiner Vermutung richtig lag: da hatte einer sämtliche Reifen plattgestochen! Oder besser: er war noch immer dabei! Trotz seiner Hüfte und der schweren Stiefel begann Uwe zu rennen. Sein schönes Auto durfte nicht dasselbe Schicksal erleiden! Er hatte nicht im Naturschutzgebiet geparkt, sondern noch vor dem Schild, direkt neben dem Radweg, da gab es doch keinen Grund, seine Reifen plattzustechen?

Aufgrund Hurtigrutens Gebell war die Gestalt ihres Kommens gewahr. Gerade verlor der vorletzte Wagen den vierten Reifen. Auf dem Weg zu Uwes Auto schaute sich die Person um. Sie war jedoch in einen dicken, dunkelgrünen Parka eingehüllt und hatte die Kapuze über eine dunkle Mütze gezogen, außerdem bedeckte ein Halstuch Mundpartie und Nase. Da legte jemand Wert darauf, nicht erkannt zu werden. Ebenso lag es nicht in Uwes Macht, den Täter physisch aufzuhalten: Wie zum Abschied stach der Vermummte kurz und kraftvoll in Uwes Hinterreifen, um sich dann auf ein abgestelltes Fahrrad zu schwingen und davonzubrausen.

Verflixt, dachte sich Uwe. Dabei war er mit nur einem platten Reifen noch glimpflich davongekommen. Er musste Heike anrufen, dass sie sich verspäteten. Und zuvor die Polizei, wegen der Sachbeschädigung. Oder vielleicht doch lieber Heike, damit sie sofort informiert war?

Er zählte 27 Autos, davon 26 rechtswidrig im Naturschutz-gebiet geparkt, mit insgesamt 105 platten Reifen. Es war doch kein perfekter Sonntagmorgen!

Eins - Im Wald

Mittwoch, 24. Januar

Rodgau, Hessen

Zweige knacken unter meinen schweren Stiefeln, mit denen ich quer durch den Wald stapfe. Das mag ich: die Ruhe des Waldes, wenn ich das Gefühl habe, weit entfernt von allen Menschen, aber doch nicht allein zu sein. Ich sehe sie zwar nicht, dennoch sind sie immer da, die Tiere des Waldes. Es sind meine Tiere, ich begleite sie von der Geburt bis zum Tod. Sie wissen das: Nicht selten kommt es vor, dass ich wie gebannt stehen bleibe und einem mutigen Reh minutenlang in die Augen starre oder einen Buntspecht bei der Nahrungssuche am toten Baumstamm beobachte. Das sind meine Glücksmomente. Deshalb liebe ich den Wald.

Was ich nicht mag: wenn die menschengemachten Spuren allzu offensichtlich sind. Gerade hier, wo ich mich durch ein Dornengestrüpp kämpfe, das meiner verstärkten Hose jedoch nichts anhaben kann, trägt beispielsweise jeder Baum eine mit der Sprühdose aufgebrachte Markierung, ob er dem Tod geweiht ist und gefällt werden darf oder ob er Glück hat, weil er ein Brutbaum von Vögeln oder ein starker, gesunder Zukunftsbaum ist. Pech ist es natürlich, wenn Bäume umstürzen. Das darf nicht sein, schon gar nicht auf eine Straße, denn dann wäre der Autoverkehr beeinträchtigt! Dass die Dürre des letzten Sommers im Besonderen und die Klimakatastrophe im Allgemeinen maßgeblichen Anteil am derzeit miserablen Zustand unserer Wälder haben, will natürlich niemand hören. Hauptsache, die Fahrbahn ist frei!

Zu allem Überfluss hatten wir dann noch diesen Gestörten im Ort, der als Feuerteufel Schlagzeilen gemacht und jede Menge Schaden angerichtet hat. Gleich mehrere Brände hat diese primitive Kanaille gelegt, indem er – so die Vermutung in den Medien – Teelichter von der silbernen Fassung befreit und brennend in einen Plastikbecher platziert hat, den er dann wiederum mitten im Wald zurückgelassen hat. Vom Wind geschützt geht die kleine Flamme nicht aus und wird dennoch nicht bemerkt, bis der Täter längst über alle Berge ist.

Wenn schließlich aber der Plastikbecher brennt, breiten sich die Flammen im trockenen Wald rasend schnell aus. Eine absolute Katastrophe! Ich hätte jedes Mal heulen können! Nicht nur einmal dachte ich mir: Wenn ich den Typen erwische, drehe ich ihm den Hals um. Aber dann ist mir eine bessere Idee gekommen. Denn den Kopf in den Sand zu stecken bringt bekanntlich nichts!

Also habe ich damals mein Training gestartet. Pfeil und Bogen waren schnell bestellt und geliefert – natürlich nicht auf meinen Namen –, dann habe ich fast täglich geübt, indem ich immer wieder auf ein und dieselbe Baumwurzel geschossen habe. Und habe ziemlich schnell ziemlich gut getroffen!

Versteckt habe ich meine wertvolle Waffe, in einem Wachstuch eingeschlagen, in einem hohlen Baum tief im Wald. Dort, wo es sonst sicher niemand hin verschlägt, bin ich gerade unterwegs. Weit ist es nicht mehr. Das ist auch gut so, bald setzt die Dämmerung ein.

Was ich mag: in Konzentration über den blanken Bogen zu streichen, ruhig zu atmen, dann den Pfeil einzulegen und schließlich die Sehne zu spannen. Ich hatte schon immer eine Affinität zu dieser Waffe, obwohl ich nicht allzu viele Gelegenheiten hatte, damit zu schießen. Ich finde sie so viel eleganter als die anderen Schusswaffen mit ihrem Schwarzpulver und ihren Explosionen.

Wer sich beim Bogenschießen einen elastischen Stock vorstellt, an den ein Seil geknotet ist, lebt übrigens weit in der Vergangenheit: Heutzutage ist viel Carbon verbaut, wodurch die Waffe sehr leicht ist. Ich kann den Pfeil mühelos in der Waagerechten halten. Zum Zielen halte ich kurz meinen Atem an und werde ganz ruhig, bis ich den Pfeil auf seine Reise schicke, der wiederum sein Ziel nur Augenblicke später schon erreicht hat. Ein Ziel, wie gesagt, das ich immer öfter genau dort anvisiert hatte, wo der Pfeil dann eingeschlagen ist. Im mittlerweile leicht feuchten Holz macht das diesen sehr beruhigenden, dumpfen Wumms.

Leicht feucht ist das Holz, weil mittlerweile der Herbst in den Winter übergegangen ist und die grässliche Dürre beendet hat. Auch deshalb brannte der Wald seitdem nicht mehr. Was ich am Herbst mag: die vielen bunten Blätter, die fast den kompletten Waldboden bedecken und häufig auch sanft zu Boden sinken. Durch fallendes Herbstlaub zu schreiten gefällt mir noch besser als warmer Sommerregen, das ist einfach herrlich. Die schönsten Blätter sammele ich auf. Als Kind habe ich sie früher zwischen Bücherseiten gelegt, um sie aufzuheben. Dieses Jahr habe ich sie als Zielscheiben benutzt. Als ich acht gelb-rot-braun-grün-gescheckte Blätter auf dem Weg aufgelesen und leicht versetzt an meinen Baumstamm gehängt hatte, brauchte ich nicht meine zehn Pfeile, die ich zur Verfügung gehabt hätte. Ich traf mit jedem Schuss! Das war ein neuer Rekord für mich, ab diesem Zeitpunkt vergrößerte ich nach und nach die Entfernung.

Seit ich so gut geworden bin, sehe ich mich selbst gern als Robin Hood. Als Rächer der Schwachen, also der Tiere des Waldes, im übertragenen Sinne sogar des Walds und der Natur im Allgemeinen. Passend fand ich dazu den Disney-Film, den ich als Kind sehr geliebt habe, in dem Robin und Maid Merian Füchse sind. So, wie ich mit meinem Bogen durch den Wald streife, könnte auch ich ein Fuchs sein. Mein Beileid für diesen Brandstifter, schließlich kann ich mit meinem Bogen äußerst kräftig und schmerzhaft stechen.

Dann plötzlich, während ich mich in Gedanken über den bestmöglichen Einsatz meines Bogens verlor, wie ich mich in Gewaltphantasien an Umweltschändern ergötzte, schaute mich plötzlich dieses Wildschwein an. Ein beeindruckend großer Eber, der weder Anstalten machte, mich anzugreifen, noch zu fliehen. Er schien genauso auf eine Reaktion meinerseits zu warten wie umgekehrt ich auf seine.

Schräg rechts vor mir stand er, keine dreißig Meter entfernt. Ich konnte damals nicht anders, sondern griff mir in einer sanft fließenden Bewegung einen Pfeil aus meinem Köcher und legte ihn behutsam in meinen Bogen ein. Jetzt war Konzentration gefragt. Ich musste eins sein mit meiner Waffe. Ich atmete ein, ich atmete aus, die Augen immer auf den stattlichen Eber fixiert. Jetzt war mein Bogen ein Körperteil von mir. Der Eber blickte weiterhin stoisch in meine Richtung, rührte sich aber nicht. Gut so! Es hat auch Vorteile, dass sich die Tiere so sehr an Lärm und die Anwesenheit von Menschen gewöhnt haben. Ich war erstaunlich gelassen, meine Aufregung übertrug sich nicht auf meine Arme, die den gespannten Bogen vollkommen ruhig hielten. Ich stellte mir ein buntes Blatt auf der Stirn des Ebers vor, schoss aber noch nicht.

Ich veränderte meine Haltung ein wenig, dann ließ ich die Sehne los.

Diesmal hörte es sich anders an, als der Pfeil kein feuchtes Holz, sondern genau auf eine alte Dose direkt neben dem Wildschwein traf. Durch das ungewohnte Geräusch flüchtete der Eber und war von Jetzt auf Gleich wie vom Erdboden verschluckt. Kurz darauf hörte ich auch kein Knacken mehr im Unterholz.

Die Dose habe ich genau dort getroffen, wo ich sie anvisiert hatte. Ich hätte also auch töten können, hätte ich weiterhin auf die Stirn des Ebers gezielt. Und das fühlte sich… ungeheuerlich und im gleichen Augenblick – so unglaublich es auch klingen mag – sehr berauschend an. Wie schon einmal.

Diese Momente, wenn man über Leben und Tod entscheidet, haben mich innerlich verändert. In diesem einen Bruchteil einer Sekunde habe ich meine eigenen Grenzen überschritten und mich dadurch weiterentwickelt. Meine Gedanken haben einen neuen Pfad eingeschlagen. Von dort kann ich nicht mehr zurück. Was ich seitdem mag: wenn ich große Entscheidungen treffen darf, weil mein Pfeil ganz genau sein Ziel trifft. Wenn mein Handeln die Zukunft positiv beeinflusst.

Was ich nicht mag, denn das folgte jeweils auf den Schuss: die Verantwortung, die mit meinem Können einhergeht.

Zwei- Hin- und hergerissen

Zwei Wochen später. Mittwoch, 07. Februar

Offenbach, Hessen

Joshua fühlte sich innerlich zerrissen. Auf der einen Seite schwebte er seit September auf Wolke Sieben und er war glücklich mit Natalie. Seit der gemeinsamen Zugfahrt nach Berlin und der anschließenden Nacht waren sie ein Paar. Er genoss die gemeinsame Zeit mit seiner Freundin sehr.

Auf der anderen Seite war sie ihm zu übergriffig. Er hatte immer Wert darauf gelegt, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Doch während die rosarote Brille langsam verblasste, wurde immer offensichtlicher, dass Natalie zur eifersüchtigen Sorte Mensch gehörte. Am liebsten wäre es ihr wohl, wenn Joshua mit überhaupt keiner Frau zwischen 20 und 45 Jahren spräche, was allein aufgrund seines Berufs völlig ausgeschlossen war. Er war allerdings bereits vorsichtiger geworden, was er Natalie erzählte. Das war schlicht einfacher. Dabei hatte er sich nie unterbuttern lassen – oder es zumindest nicht so bewusst wahrgenommen. Ein wenig fühlte er sich wie damals am Streckenrand des Berlin-Marathons, als er sich nicht hatte rühren können. Bis zu diesem Moment hatte er sich für mutig gehalten. Durch Natalie hatte er also wieder eine neue Seite an sich selbst entdeckt, auch er ließ sich von seiner besseren Hälfte bevormunden.

Insbesondere Kaisa war ein heikles Thema. Dass er sich mit einer Kollegin so gut verstand, war Natalie immer ein Dorn im Auge gewesen. Dass ihre zehnmonatige Verwaltungsstation des Referendariats jetzt geendet hatte, hatte Joshua sehr traurig gemacht. Mit Kaisa hatte die Arbeit Spaß gemacht. Sie hatten sich gut ergänzt und trotz aller Abgründe, in die sie gemeinsam hatten schauen müssen, immer etwas zu lachen gehabt.

Natalie hingegen war froh gewesen, dass die gemeinsame Arbeitszeit der beiden nun ein Ende hatte. Joshua und Kaisa waren auf einer Wellenlänge und hatten sich so gut ergänzt, dass Natalie mehr als bloße Sympathie füreinander unterstellte. Dass Joshua aufgrund des Konfliktpotentials mit der Zeit weniger erzählt hatte, um die Eifersucht nicht noch weiter zu steigern, hatte der Phantasie keinen Abbruch getan.

War die Eifersucht aber vergessen, waren Natalie und Joshua ein Herz und eine Seele. Sie lachten zusammen, hatten bei Essen und Serien den gleichen Geschmack und konnten noch lange nicht die Finger voneinander lassen.

Nichtsdestotrotz vermisste Joshua Kaisa, obwohl sie sich erst letzte Woche verabschiedet hatte. Obgleich sie kein Jahr zum Team gehört hatte, hatte sie sich so sehr integriert, dass sie zum Abschied von den meisten umarmt wurde, es wurde gar die ein oder andere Träne verdrückt. Dass Joshua Kaisa ganz besonders vermisste, hatte er Natalie natürlich ebenso wenig auf die Nase gebunden, wie dass er sich keine Partnerin vorstellen konnte, mit der er lieber ermitteln würde.

Aber das Team war groß, es blieb abzuwarten, mit wem er den nächsten Fall bearbeiten würde. Kaisa würde derweil das nächste Dreivierteljahr einem Rechtsanwalt zuarbeiten. Joshua hoffte, dass sie beide Glück mit den Kollegen haben würden. Außerdem wünschte er sich, dass sie in Kontakt bleiben würden, war sich aber bewusst, wie unwahrscheinlich das war, wenn man sich erst einmal aus den Augen verloren hatte. Nun, Natalie zumindest würde es freuen!

So brütete er einmal mehr vor sich hin, während er auf seinen Bildschirm starrte, an dem er eigentlich gerade an einem Bericht saß. Es wurde Zeit, sich wieder zu konzentrieren. Vielleicht half dafür ein Kaffee.

Diesen gab es mittlerweile kostenlos. Bereits vor einigen Monaten war die gesamte Kriminalpolizei in die neuen Polizeigebäude im Spessartring umgezogen. Das neue Präsidium gefiel Joshua. Die moderne Einrichtung trug ebenso zu einer angenehmen Arbeitsatmosphäre bei wie der Sichtbeton der tragenden Wände. Ansonsten war viel Glas verbaut, sodass man in Büros und Meetingräume blicken konnte. Für die Sommerzeit war Joshua deshalb skeptisch gewesen, die Dreifachverglasung verhinderte aber ein Aufheizen. Innen blieb es angenehm kühl. Weiterhin hatte sich sein Arbeitsweg durch den Umzug verkürzt. Aus Hanau fuhr er jetzt nicht mehr über die A3 und A661 von Westen nach Offenbach hinein, sondern nahm direkt – je nach Verkehrslage – die B43 oder die Kombination aus B45 und B448. Dort ging es im Berufsverkehr einen Hauch entspannter zu.

Der merklich größte Unterschied durch den Umzug waren aber natürlich die Küchen: dort konnte man sich kostenlos an großen Kaffeevollautomaten bedienen. Auch für die Teetrinker war gesorgt, konnte man doch direkt aus dem Wasserhahn kochendes Wasser zapfen. Sogar Sprudelwasser kam auf Wunsch direkt aus der Leitung.

Solch einladende Räumlichkeiten förderten die Kommunikation, da war sich Joshua sicher. Wie erwartet war er auch nicht der einzige mit dem akuten Wunsch nach einem koffeinhaltigen Heißgetränk: gerade zischte und dampfte es in die große Tasse seines weißhaarigen Kollegen Johannes Walther.

„Na, Johannes, was verkochst du da gerade?“

„Zaubertrank, mein Lieber! Einen Bohnensud, der es fast vermag, Tote wieder zum Leben zu erwecken!“

„Was du nicht sagst! Verrätst du mir das Rezept?“

Johannes zögerte. „Na gut, aber nur weil du es bist. Auf dieser magischen Oberfläche drückst du ein beliebiges Feld deiner Wahl, nachdem du dein Trinkgefäß dort platziert hast, wo eben noch das meine stand.“

Joshua lachte, stellte seine Kaffeetasse in die Maschine und wählte – ohne jeden Firlefanz – einen einfachen, schwarzen Kaffee.

„Und sonst so?“, fragte er ganz vage in Richtung Johannes, der es nicht eilig zu haben schien, an seinen Arbeitsplatz zurückzukommen. Er hatte sich an die Arbeitsplatte gelehnt.

„Ach, ich wäre ganz froh, wenn ich wenigstens einen Tag in der Woche mal nicht nass werden würde. Derzeit regnet es einfach ständig! Zumindest ist es sehr angenehm, dass die Tage wieder deutlich länger werden. Besonders im Dezember ist es immer deprimierend.“

„Du fährst mit dem Fahrrad zur Arbeit, oder? Wie weit hast du es?“, wollte Joshua wissen.

„Exakt 20 Kilometer sind es aus Eppertshausen. Bis zum Umzug waren es sogar 22.“

„Mannomann, du machst mir echt ein schlechtes Gewissen! Kaisa hat mich immer wieder darauf hingewiesen, dass es für mich nur knappe 15 Kilometer wären. Ich habe mich aber nie überwunden, es einmal auszuprobieren.“

„Du solltest es wirklich mal probieren! Ich verspreche dir, dass du viel entspannter zu Hause ankommst. Im Wald ist die Zahl der Idioten deutlich geringer als auf den Straßen und du hast etwas für deine Kondition und die Gesundheit getan. Und natürlich für die Umwelt.“

„Weiß ich ja alles“, langsam wurde die Richtung, in die das Gespräch verlief, Joshua unangenehm. „Ich sage mal ganz vage: vielleicht bald. Natalie sucht gerade nach einer gemeinsamen Wohnung. Da wäre es praktisch, wenn die näher am Präsidium läge. Sie kann als Social Media Content Designerin fast ausschließlich im Home Office arbeiten und muss nur ab und zu mal nach Berlin.“

„Wollt ihr mieten oder denkt ihr schon ans Kaufen?“

Doch bei dieser Frage kam Joshua um eine Antwort herum, er musste gar nicht erst mit den aktuell viel zu horrenden Preisen argumentieren. Sein Handy meldete sich eindringlich, für die Zentrale hatte er den entsprechenden Klingelton gewählt.

„Entschuldigung, da muss ich ran“, meinte er zu Johannes und nahm den Anruf entgegen. Wegen der Dringlichkeit konnte er nicht nur den Papierkram liegen lassen, er vergaß auch seinen Kaffeebecher in der Küche: Er wurde zu einem Tatort gerufen, es gab einen eventuellen Tötungsversuch in Heusenstamm!

Drei- Wahre Liebe

Zwei Wochen zuvor. Donnerstag, 25. Januar

Heusenstamm, Hessen

In Lukas Tubas Leben gab es nur eine große Liebe: seine Dackeldame Hildegard. Gegen sie kam keine Frau an. Außerdem hatte der bekennende Single auch keine Zeit für eine Beziehung. Seine Gassirunden waren die einzige Auszeit, die er sich gönnte, schließlich wollte er nur noch wenige Jahre arbeiten müssen. Sämtliche Energie steckte der junge Investmentbanker deshalb in seine Karriere.

Er hatte es sich angewöhnt, seine Home-Office-Tage in den frühen, noch dunklen Morgenstunden mit einem ausgiebigen Spaziergang zu beginnen. Damit Hildegard in der neblig-nassen morgendlichen Kälte weder frieren musste noch verloren ging, hatte sie Lukas liebevoll in ihre mit Schafswolle gefütterte Weste gekleidet, die mit LED-Leuchten ausgestattet war. So konnte er den ihn glücklich begleitenden Lichtpunkt selbst in der dunkelsten Winternacht stets im Blick behalten. Und zur absoluten Sicherheit war ein GPS-Chip in Hildegards Halsband eingearbeitet, sodass Lukas sie jederzeit mit seinem Smartphone orten konnte. Nicht, dass ihm seine Herzensdame verlorenging!

Ihm war bewusst, dass sein Plan, schon im Alter von nur vierzig Jahren in den Ruhestand zu gehen, durchaus ambitioniert war. Im Grunde war Lukas, während er Atemwolken in den Schein seiner Stirnlampe stieß, jedoch davon überzeugt, dass Menschen im Finanzwesen keine Zukunft hatten. Bald würden Rechenzentren und künstliche Intelligenz bestimmt 99 % der Belegschaft ersetzen können. Sich selbst zählte er sicher dazu. Sein Plan sah deshalb vor, noch die nächsten fünf Jahre bis zu seinem vierzigsten Geburtstag zu klotzen statt zu kleckern, um sich dann zur Ruhe setzen zu können. Mit einem kleinen Portfolio an Immobilien sollte es sich von den Mieteinnahmen gut leben lassen. Bisher war der Plan gut angelaufen. Sein geräumiges Haus im Heusenstammer Stadtteil Rembrücken war bereits abbezahlt, auf dem Dach waren Solarmodule installiert, die seinen Tesla in den sonnigen Mittagsstunden aufladen würden.

Dieses Auto, das er liebevoll Walt getauft hatte – nach dem aus seiner Sicht erfolgreichsten Unternehmer Walt Disney, denn mit nur ein paar Strichzeichnungen fast unendliche Reichtümer zu verdienen fand Lukas äußerst beeindruckend –, hatte Hildegard und ihn soeben zum Start ihres Spaziergangs chauffiert. Zwar lag auch die Hubertusanlage, zu der sein Haus zählte, direkt an Feld und Wald, seine Hundedame sollte jedoch nicht immer dieselben Ecken sehen müssen, weshalb Lukas donnerstags am Sportzentrum Martinsee vorbei in den Wald fuhr. Dass ab der Schranke neben dem Sportgelände für sämtliche Kraftfahrzeuge, außer für den Forstbetrieb, die Einfahrt verboten war, ignorierte er jede Woche aufs Neue. Schließlich fuhren die schweren LKW auch bis zur Kiesgrube, da machte sein sauberes E-Auto doch wahrlich keinen Unterschied! An der Skateranlage fuhr er noch ein Stück weiter, um Walt kurz darauf rechts auf den Waldweg zu lenken, den er gleich mit Hildegard entlangspazieren würde.

So hatte dieser Morgen wie jeder andere Donnerstag begonnen. Auch eine Viertelstunde später war mitten im Wald an diesem frühen Januarmorgen nichts Außergewöhnliches. Während der kurzen Pause auf der Brücke der Mühle Renigishausen hatte Lukas zwar einen Reiher gesehen, dessen Schatten sich vor den überschwemmten Wiesen abgezeichnet hatte, womit man aber an dieser Stelle rechnen konnte. Auch sein Smartphone hielt keine Überraschung für ihn bereit, als er Kaffee aus seinem Thermobecher schlürfend die ersten Mails des Tages überflogen hatte.

Diese kam erst später, nachdem Hildegard aus voller Hundeseele die taubenetzte, weite Wiese genossen hatte, über die sie trotz der frühen Stunde laut bellend gestürmt war. Allein dafür, dass sie diesen Moment der Freude hatte, würde Lukas alles tun. Auf dem weiteren Rückweg schweiften seine Gedanken recht ziellos hin und her. Diesen Prozess des vagabundierenden Denkens genoss wiederum Lukas sehr, bis ebendiese doch immer wieder zur To-Do-Liste des Tages zurückkamen. So war er nun einmal – aber ohne diesen ständigen Fokus machte man auch keine großen Sprünge!

Dann waren sie zurück am Auto. Lukas war gedanklich bereits dabei, Hildegard für die Autofahrt aus ihrer Weste zu befreien, als er die Bescherung sah. Das konnte doch nicht wahr sein: Seine Reifen waren platt! Zu allem Überfluss musste das Unglück mutwillig geschehen sein, warum sonst wären gleich alle vier Räder ohne Luft? Kaum hatte er die Taschenlampe ausgerichtet, sah er auch schon die Einstichstellen mit den sauberen Kanten: Man hatte ihm alle vier Reifen plattgestochen! Hektisch schaute er sich um, konnte aber niemanden entdecken, den er als Übeltäter beschuldigen konnte.

Was machte er denn jetzt?

Das Reifen-Flick-Set half ihm nicht wirklich weiter, damit konnte er nur einen Reifen kurzfristig fahrtüchtig machen. Und den ADAC oder den Tesla Service konnte er schlecht mitten in den Wald bestellen. Es war wohl doch nicht so schlau gewesen, dort zu parken, wo es absolut verboten war. Da half nur eins: Er musste – auch wenn es ihm schwerfiel, über den eigenen Schatten zu springen – seinen früheren Klassenkameraden Silas Jansen um Hilfe bitten.

Wütend darüber, dass sein akribisch geplanter Tagesablauf gehörig durcheinander gekommen war – seine Routine half ihm beim strukturierten Arbeiten – und er unsympathischen Bekannten schmeicheln musste, zückte Lukas sein Telefon. Die Nummer von Silas‘ Autowerkstatt hatte er glücklicherweise eingespeichert; diese mit schlechter Netzverbindung im Internet nachschlagen zu müssen hätte ihn jetzt zur Weißglut getrieben.

Nach dem zweiten Klingeln wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen. Lukas stellte sich kurz vor und bat darum, mit Silas sprechen zu dürfen. Während die nervige Musik der Warteschleife spielte, ging Lukas nervös auf und ab. Hildegard hatte noch nichts von der Aufregung mitbekommen, sondern genoss es sichtlich, weiter all die interessanten Gerüche der näheren Umgebung gründlich abschnüffeln zu dürfen.

„Eure Hoheit und Durchlaucht Lukas Tuba! Höre ich richtig, dass du es bist? Was verschafft mir die unverhoffte Ehre?“, schallte es derweil aus dem Telefon. Endlich keine Warteschleifenmusik mehr!

„Grüß dich, Silas! Ich wollte dir den Tag versüßen!“, erwiderte Lukas.

„Das heißt, du hast deine Elektro-Karre verkauft und bist wieder auf einen ordentlichen Wagen umgestiegen?“

Silas hielt nichts von der Idee, Autos mit Elektromotor zu bauen. Er hatte schon als Jugendlicher gerne an Verbrennungsmotoren herumgeschraubt.

„Nein, leider nicht. Hör zu, Silas… ich bräuchte deine Hilfe.“

„Haha“, lachte es am anderen Ende der Leitung. „Der gute, alte Lukas! Will natürlich etwas. Sag mal, warst du schon beim Proktologen?“

„Äh…“, Lukas war verunsichert, nun hatte es Silas doch wieder geschafft, ihn aus dem Konzept zu bringen. „Wie kommst du jetzt darauf?“

„Na weil du doch Geld zu scheißen scheinst!“

Lukas musste sich eingestehen, dass er bei ihrer letzten flüchtigen Begegnung wohl etwas zu sehr auf dicke Hose gemacht hatte. Das war allerdings schon so lange her, dass er seine Angebereien längst vergessen hatte. Bei Silas hatte er scheinbar einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Sorry. Ich erinnere mich, das war nicht allzu nett. Kannst du mir bitte trotzdem helfen? Es soll auch nicht zu deinem Schaden sein.“

„Na gut“, lenkte der Werkstattbesitzer ein. „Erzähl.“

Also berichtete Lukas von seiner misslichen Lage und wurde eine Dreiviertelstunde später doch tatsächlich von einem Abschleppwagen aufgelesen. Es war der vielleicht teuerste Donnerstagvormittag seines Lebens.

Vier - Kommunalpolitik

Mittwoch, 07. Februar

Heusenstamm, Hessen

Mit Blaulicht durch den Wald. Nun war Joshua bereits einige Jahre bei der Polizei, eine solche Fahrt hatte er aber noch nicht erlebt. Man hatte ihn zu einem Tatort gerufen, an dem ein Jogger angeschossen worden war. Und weil Joggen im Wald am schönsten ist, war es nicht verwunderlich, dass er mitten in selbigen musste.

Joshua war sofort nach dem Anruf in einen Dienstwagen gesprungen und hatte Heusenstamm über die Waldstraße zügig erreicht. Soweit war alles normal verlaufen, ähnliche Situationen kannte er zur Genüge. Als er in Heusenstamm angekommen war, hatten ihm die anderen Fahrzeuge auf der Ringstraße artig Platz gemacht, auch die rote Ampel an der Kreuzung zur Hohebergstraße war kein Problem gewesen. Bis dorthin war die Fahrt fast Routine. Dann aber war er – nach Überqueren der Brücke und einer grünen Ampel – rechts auf den Niederröder Weg eingebogen. Die Schranke, die ihm einen Umweg beschert hätte, hatte offen gestanden. Jetzt fuhr er auf einem Feldweg. Das war nicht normal. Und rumpelte bisweilen bedenklich.

In die irritierten Blicke der Passanten – in bunte Regenkleidung verpackte Menschen auf Fahrrädern, Herrchen und Frauchen von hechelnden Vierbeinern sowie ein konzentriert wirkender Läufer – hatte Joshua Verständnis hineininterpretiert, schließlich rechtfertigte sein Blaulicht die Dringlichkeit. Trotz der Eile, an den Tatort zu gelangen, fuhr er bedächtig, er wollte keinesfalls Mensch oder Tier verletzen. Auf einem Feldweg hatten Autos keine Vorfahrt.

Von unterwegs hatte er Natalie angerufen, denn aus dem gemeinsamen Mittagessen, das sie geplant hatten, wurde nichts. Auf der Waldstraße war das noch – wenn auch kurz angebunden – möglich gewesen, jetzt brauchte er seine volle Konzentration. Zunächst bei der Fahrt, dann beim neuen Fall. Schon war nämlich der kleine Spielplatz linker Hand passiert, dann der Wald erreicht. Die von Schlaglöchern gekennzeichnete Asphaltdecke wechselte zu einer Schotterpiste, kurz darauf sah Joshua bereits weitere PKW im Wald stehen. Dort musste der Tatort sein. Er stellte den Dienstwagen ab und eilte, nachdem er sich kurz orientiert hatte, zu Fuß weiter.

Der Fall war schnell umrissen, dabei so archaisch wie unglaublich: ein Mann war beim Joggen von einem Pfeil in den Oberschenkel getroffen worden. Waldemar Landgraf, seines Zeichens hauptamtlicher Bürgermeister der Stadt Obertshausen, war bereits im Krankenwagen abtransportiert worden, um das Projektil im Krankenhaus fachmännisch entfernt zu bekommen. Dennoch war Joshua froh, sich an Ort und Stelle einen ersten Eindruck verschaffen zu können.

Sein Kollege Justus Diebag, der ihn eingangs des bewussten Waldwegs empfangen und ihn in aller Kürze ins Bild gesetzt hatte, stellte ihm gerade den Augenzeugen vor, der den Notruf abgesetzt hatte. Dieser war wohl per Zufall gerade rechtzeitig mit seinem Fahrrad am Verletzten vorbeigekommen, hatte der Bürgermeister doch gehörig unter Schock gestanden.

„Joshua, das ist unser Augenzeuge Herr Christian Kulang, der glücklicherweise zur rechten Zeit am rechten Ort Fahrrad fuhr. Herr Kulang, das ist mein Kollege Kriminalhaupt- kommissar Joshua Grimm, der mutmaßlich den Fall bearbeiten wird. Meine Herren, ich lasse Sie beide allein und beziehe wieder meinen Posten.“

„Danke dir, Justus. Und guten Tag, Herr Kulang“, begann Joshua, doch mehr brauchte er gar nicht zu sagen, schon sprudelte es aus seinem Gegenüber heraus.

„Also, Herr Kommissar, eigentlich war das alles ja nur Zufall. Normalerweise fahr ich gar net hier lang, sondern da drüben auf dem Asphaltweg. Nur heute hatte ich Zeit und das Wetter war gut, da dachte ich, ich mach noch den Schlenker hier über den schönen Waldweg. Is ja echt idyllisch hier. Und ob Sie’s glauben oder nicht, es hubbelt doch glatt weniger als auf dem Hauptweg da drüben, mit den ganzen Wurzeln unter dem Asphalt. Wenn’s regnet gibt’s dadurch sogar einige Pfützen.“

Joshua wäre gerne schneller zum Punkt gekommen, ließ Herrn Kulang jedoch die Zeit, seine Gedanken zu sortieren.

„Aber sei’s drum“, fuhr dieser fort, „darum geht’s ja auch gar net. Wie ich also hier so vor mich hin fahre und den Blick übers Feld schweifen lasse, hör ich schon diesen Schrei, aber im Wald denkt mer sich ja erstmal nix dabei. Besonders im Dunkeln hört man im Wald allerlei Dinge, die einem Angst mache könne, jetzt am Vormiddag bin ich da völlig unbesorscht. Desteweschen mach ich mir da keinen Kopp mehr drum. Kurz darauf hab ich dann abber diesen bunden Kleiderhaufen am Wegrand gesehen und mich gewunnert. Der hat mich vom schönen Ausblick über die Felder abgelenkt, obwohl da sogar der Reiher saß. Dem schau ich gern zu. Als ich abber realisiert hab, dass da ein Mensch liegt, ist mir wieder der Schrei in den Sinn gekommen und dann hab ich Gas gegeben.“

Herr Kuhlang hielt inne, sein Blick ging in die Vergangenheit. Deshalb hakte Joshua nach: „Sie haben sofort erkannt, dass dort ein Mensch auf dem Weg liegt?“

„Exakt, Herr Kommissar! Des sieht mer, des könne Sie mir glauben! Ich bin also hin und war erstmal erleichtert, dass er noch lebt. Er lag so gekrümmt da und hielt sich das Bein. Kein Wunder – da steckte ein Pfeil drin!“

„Ein Pfeil, wie beim Bogenschießen?“, wollte es Joshua genau wissen.

„Ja, so ein ganz moderner. Der Schaft hat geglänzt und die Federn waren dunkelrot. So rot wie das Blut vom Herrn Bürgermeister.“ Christian Kulang war – wohl wegen seiner schockierenden Erinnerungen – von seinem hessischen Dialekt ins Hochdeutsche gewechselt. Auch konnte er die Hände nicht mehr still halten, ständig kratzte er sich am Kopf unter seiner Wollmütze, um sie dann in seine Jackentaschen zu stecken und auch wieder herauszuziehen, um sie wärmend aneinander zu reiben.

„Waren Sie es dann, der den Notruf abgesetzt hat?“, Joshua wollte so viele Informationen wie möglich sammeln.

„Richtig, so war das…“, Herr Kulang klang weiterhin fahrig. Joshua nahm seinen Zeugen behutsam am Arm und führte ihn langsam den Schotterweg hinauf zu den Autos, während dieser „Blut konnte ich noch nie sehen“ murmelte.

„War Bürgermeister Landgraf ansprechbar, während sie beide auf den Krankenwagen gewartet haben?“, wollte Joshua währenddessen wissen, um Herrn Kulang von seinen blutigen Erinnerungen abzulenken. Mehr als ein gedehntes „Ja…“ bekam er aber nicht mehr aus ihm heraus.

„Justus, würdest du dafür sorgen, dass sich um Herrn Kulang gekümmert wird? Er sollte wohl nicht direkt wieder auf sein Rad steigen“, bat Joshua seinen Kollegen. Der nickte und sprach behutsam auf den neben sich stehenden Mann ein, der plötzlich um zehn Jahre gealtert schien.

Noch während Joshua einmal durchatmete, um sich wieder zu sammeln, wurde er von hinten angesprochen.

„Guten Tag, sind Sie der für den Fall zuständige Beamte?“

Joshua drehte sich um. „Guten Tag, der bin ich. Joshua Grimm, Kriminalhauptkommissar.“

„Herr Grimm, ich bin Caroline Peters und Försterin in diesem Gebiet. Ihr Kollege oben am Weg hat mich aufgehalten und zu Ihnen geschickt, nachdem ich mich beim Vorbeikommen nach all den Autos erkundigt hatte. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“

„Ah, hallo! Schön, Sie kennenzulernen, Frau Peters“, Joshua war etwas verdutzt. Er hatte sich Förster immer als ältere Herren mit wettergegerbter, faltiger Haut vorgestellt. Dazu ein speckiger Hut und ein Jagdhund bei Fuß. Nicht als großgewachsene, attraktive Frau Mitte dreißig, die eine Amazonenkriegerin hätte sein können. Es fehlte nur noch ein Speer oder ein Schwert, das passende Kostüm und Gesichts- bemalung, schon hätte sie im Theater oder in einem Kinofilm die Hauptrolle spielen können. An diesem nasskalten Februarmorgen quollen Caroline Peters schwarze Locken unter einer olivgrünen Mütze hervor. Sie lächelte Joshua verhalten an.

„Dort vorne“, erwiderte dieser und zeigte den Weg hinab, „wo der Weg wieder ansteigt und rechterhand die Wiese liegt, wurde ein Mann angegriffen.“ Mehr wollte er derzeit noch nicht verraten. Er musste daran denken, den Kollegen Bescheid zu geben, dass seitens Krankenhauspersonal keine Informationen weitergegeben wurden.

---ENDE DER LESEPROBE---