Schrödingers Kasten - Ein Laufkrimi - Markus Heidl - E-Book

Schrödingers Kasten - Ein Laufkrimi E-Book

Markus Heidl

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Beschreibung

Kaisa ist zurück: als Ermittlerin und Läuferin! Sie startet beim Berlin-Marathon und trifft dort auf ihren Hauptverdächtigen im aktuellen Fall der Offenbacher Polizei, Rudolf Schrödinger. Das Rennen wird spannend, nicht nur in sportlicher Hinsicht: wird Schrödinger sie aufhalten, wegen der Bombendrohung gar das ganze Rennen? Was ist in seinem Kasten? Kaisa hat keine Zeit zu verlieren! Der packende Laufkrimi ist ein Wettlauf mit der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes. Schrödingers Kasten ist der erste eigene Fall für Kaisa Nieminen. Das Buch gibt es auch gedruckt in jeder Buchhandlung und direkt beim Verlag Ampelpublishing - auf Wunsch auch mit Widmung!

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Hände hoch!

Eins

Ein Fußmarsch

Zwei

Ein Anfang

Drei

Feierabend

Vier

Work-Run-Balance

Fünf

Früher war alles besser

Sechs

Durchtrainierte Waschbären

Sieben

Unerwartete Gegenwehr

Acht

Eine virginische Nachtigall

Neun

Schrödinger

Zehn

Ein Meistersprinter

Elf

Ein Unterstand

Zwölf

Vegane Muffins

Dreizehn

Rastlosigkeit

Vierzehn

Alternativtraining

Fünfzehn

Ein Gedankenexperiment

Sechzehn

Ein Wettkampf

Siebzehn

Fußjagd

Achtzehn

Schlechtes Timing

Neunzehn

Dunkler Wald

Zwanzig

Ein Sinneswandel

Einundzwanzig

Eine Erinnerung

Zweiundzwanzig

Ein charmantes Lächeln

Dreiundzwanzig

Ein breiter Rücken

Vierundzwanzig

Ein Intercityexpress

Fünfundzwanzig

Zweiundvierzig Kilometer

Sechsundzwanzig

Schrödingers Kasten

Siebenundzwanzig

Ein Glückstreffer

Achtundzwanzig

Ein Umweg

Neunundzwanzig

Eine Luftaufnahme

Dreißig

Schnurzelchen

Einunddreißig

Nerven wie Drahtseile

Zweiunddreißig

Die Frau Di Lacht

Dreiunddreißig

Kein Mitleid

Vierunddreißig

Ein Chat

Fünfunddreißig

Überraschungskasten

Sechsunddreißig

Das Glück hat vier Pfoten

Impressum

MARKUS HEIDL

Schrödingers Kasten

Ein Laufkrimi

Kaisas erster Fall

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

„Schrödingers Kasten“ gibt es als Buch und eBook direkt beim Verlag unter ampelpublishing.de und in jeder Buchhandlung sowie deren Webshops.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Markus Heidl

ISBN des Originalwerkes: 978-3-98207819-9

ISBN dieser eBook-Ausgabe: 978-3-9825732-0-5

1. Auflage 2023

Verlag und Distribution im Auftrag des Autors:

Ampel Publishing, Am Kapellchen 18, 56283 Nörtershausen, Deutschland

Coverdesign: BLINKFEUER Mediendesign, Dietzenbach, Deutschland

Titelfoto: Roland Heidl & Markus Heidl

Karten: openstreetmap.org

Lektorat: Johannes Licht

Korrektorat: Regina & Roland Heidl, Sabrina Höfer

Druck und Herstellung: UAB Overprintas, Vinius, Lithauen

Für Jesper.

Laufen hilft.

Prolog

Hände hoch!

Donnerstag, 01. September

Neu-Isenburg, Hessen

„Notruf Polizei.“

„Ja, hallo. Äh – hallo!“, Elisabeth Büchler war schon jetzt außer Atem. „Hallo, äh, hier spricht Elisabeth Büchler. Sie müssen ganz schnell jemanden schicken bitte, hier passiert gleich was. Da hat einer eine Pistole!“

„Hallo Frau Büchler, ich schicke sofort jemanden vorbei. Wo befinden Sie sich denn gerade?

„Danke, vielen Dank! So schnell wie möglich bitte, ich habe das Gefühl, der meint es wirklich ernst!“

„Frau Büchler, wo sind Sie gerade?“

„Ach so, ja. Ich bin zuhause. Ich schaue jeden Abend nochmal aus dem offenen Fenster, bevor ich zu Bett gehe. Und da habe ich sie erst gehört und dann gesehen, diese merkwürdigen Gestalten. Also – äh – ich habe Stimmen gehört, laute Stimmen, ganz aggressiv waren die und, ja, da habe ich genauer hingeschaut…“

„Ich unterbreche Sie nur ungern, Frau Büchler, aber…“

„Ja, Entschuldigung! Ich wohne in der Friedensallee in Neu-Isenburg. Nummer 136, gegenüber vom Waldspielpark Tannenwald. Wissen Sie, dort, wo man so schön mit den Kindern unter den Wasserfontänen spielen kann.“

„Den Waldspielpark kenne ich tatsächlich. Die Kollegen sind schon unterwegs, aber noch eine wichtige Frage, Frau Büchler: sind Sie selbst in Sicherheit, falls dort wirklich Schusswaffen verwendet werden?“

„Das ist gut. Ja, ich bin in Sicherheit. Ich wohne im zweiten Stock, müssen Sie wissen, deshalb kann ich auch so weit sehen, wenn ich aus dem Fenster schaue. Das mache ich abends gerne, nochmal aus dem Fenster zu schauen. Der Wald hat etwas Beruhigendes, obwohl…“

„Frau Büchler? Entschuldigung, ich muss Sie unterbrechen. Kann man die bewaffnete Person von den anderen unter- scheiden?“

„Das macht doch nichts, ich rufe ja nicht zum Spaß an. Obwohl Sie durchaus eine beruhigende Art haben, da fühle ich mich wohl, mit Ihnen zu sprechen. Ja, also ob man ihn unterscheiden kann. Puh – ich fürchte nicht. Ich zumindest. Die sind alle dunkel von hier oben. Das hatte ich ja eben schon gesagt, dass man es im dunklen Wald ganz schön mit der Angst bekommen kann. Besonders, wenn man im Dunkeln hindurch marschiert. Mittlerweile wird es ja schon wieder früher dunkel. Haben Sie… ah!“

„Frau Büchler? Hallo, Frau Büchler? Sind Sie noch dran?“

Ein lautes Knacken, dann Rascheln in der Leitung.

„Entschuldigung, Frau Kommissarin, ich habe vor lauter Schreck das Telefon fallen lassen. Dabei ist nur die Katze hereingekommen. Ich bin ganz durch den Wind.“

„Gar kein Problem, Frau Büchler. Ich brauche bitte noch weitere Informationen zur Situation. Können Sie die Personen noch sehen, die sich streiten? Wie viele sind es?“

„Warten Sie, ich gehe zurück zum Fenster. Vorhin bin ich fast noch gestolpert, als ich so schnell zum Telefon gelaufen bin, nachdem ich die Pistole gesehen hatte. Was ein Glück, dass die Telefone heutzutage auch ohne Schnur funktionieren. Mit Kabel wäre das jetzt schwieriger, da müsste ich Sie auf der Kommode liegen lassen. Moment, jetzt bin ich da. Ja, ich sehe sie noch. Wobei es jetzt nochmal dunkler ist. Moment, ich zähle nach: rechts steht der eine, der immer noch mit der Pistole fuchtelt. Das ist doch gefährlich! Und gegenüber stehen drei, äh, nein, vier andere Personen. Warum müssen die sich auch so dunkel anziehen! Etwas Farbe wäre doch schön.“

„Im System kann ich sehen, dass die Kollegen gleich an- kommen sollten. Nur noch eine, höchstens zwei Minuten.“

„Das ist gut, das beruhigt mich ungemein.“

„Verstehen Sie, was die Stimmen sagen? Erkennen Sie die Sprache?“

„Nein, das leider nicht, Frau Kommissarin. Dafür sind sie zu weit weg. Erst habe ich sie weder gehört noch wahrgenommen, als ich aus dem Fenster geschaut habe, auf dem Weg sind ja immer Leute unterwegs, meist mit ihren Hunden, da habe ich nicht darauf geachtet. Bis sie mit dem Schreien angefangen haben. Moment! Jetzt passiert was! Oh je, ich bin so aufgeregt.“

„Ganz ruhig, Frau Büchler. Ich verstehe Ihre Aufregung, brauche aber ein paar weitere Informationen. Was sehen Sie?“

„Ich glaube nicht, dass er geschossen hat. Haben Sie einen Knall gehört? Ich nicht. Er kann doch nicht geschossen haben?“

„Was ist passiert?“

„Entschuldigung. Da geht gerade alles durcheinander. Ich bin für diese Berichterstattung nicht gemacht. Ich war früher Bäckereiverkäuferin – oder Fachverkäuferin im Lebensmittelhandwerk, Fachrichtung Bäckerei, wie es dann irgendwann offiziell hieß –, …“

„Frau Büchler, was ist passiert?“

„Na das erzähle ich doch gerade. Zumindest versuche ich es. Das ist nicht so einfach, wenn alles gleichzeitig passiert, das können Sie mir glauben. Nun gut, äh, also zumindest ist der mit der Pistole jetzt weg.“

„Das verstehe ich jetzt nicht, warum ist er plötzlich weg?“

„Also – Moment, ich muss mich setzen, diese Aufregung! – irgendwas muss die alle ziemlich erschreckt haben. Auf einmal haben sich die vier ohne Pistole geduckt oder auf den Boden geworfen während gleichzeitig der andere weggerannt ist. Von der anderen Straßenseite, also quasi von unter mir, kam ein weiterer Mann, den ich vorher noch nicht gesehen hatte, über die Straße gerannt. Ziemlich schnell war der, nur nicht für lange. Schon auf der anderen Straßenseite hat er angefangen, auf einem Bein zu hüpfen, um abzubremsen, und hat sich gleichzeitig mit der rechten Hand das andere Bein gehalten.

Die anderen vier haben erst nur geschaut, wie der Mann mit dem Bein angerauscht kam, haben sich dann aber zusammen-gerauft und sind abgehauen. Auch in den Wald, aber nicht schräg rechts wie der mit der Pistole, sondern eher schräg links.

Und dann kamen, auch noch gleichzeitig, ihre Kollegen. Ohne Blaulicht, aber mit quietschenden Reifen. Die unterhalten sich jetzt mit dem Mann mit dem Bein. Der sitzt jetzt auf der Bank.“

„Vielen Dank, Frau Büchler. Da scheint ja alles gut aus- gegangen zu sein. Ich bespreche mich mit den Kollegen und komme dann noch einmal auf Sie zurück. Vielleicht kommt ein Kollege vorbei, um ihre Zeugenaussage aufzunehmen.“

„Ist gut, ich muss das sowieso erstmal sacken lassen. Auf Wiederhören!“

„Ja, tschüss, Frau Büchler!“

Eins

Ein Fußmarsch

Acht Tage zuvor. Mittwoch, 24. August

Dietzenbach, Hessen

An diesem Abend war es ungewöhnlich dunkel. Es war einer jener Spätsommertage, an denen man bereits sicher war, dass der Herbst längst Einzug gehalten hatte. Schon am Morgen hatte sich der Nebel ungewöhnlich lange über den Feldern gehalten und diesen nasskalten Eindruck hinterlassen, der einem in den Knochen steckenblieb, auch wenn es später noch sonnig wurde. Alsbald würde man die Sommerjacke wieder gegen einen Mantel tauschen müssen.

Es war also bereits wieder die Zeit im Jahr, wenn die Tage merklich kürzer und vor allem auch kühler werden. Wer abends unterwegs war, merkte vor allem an den Fahrradfahrern, dass sich Jahr um Jahr viele von der wieder früher einsetzenden Dunkelheit überraschen ließen. Da war es keine Seltenheit, dass dunkle Gestalten zu Schatten wurden, weil sie ihr Licht zuhause vergessen hatte. Auch Fußgänger waren auf den dunklen Teilstücken zwischen den Straßenlaternen einfach nicht auszumachen.

Ihm allerdings war das recht. Zwar war auch er auf seinem abendlichen Marsch von der früher einsetzenden Dämmerung überrascht worden. So musste er aber weniger lang auf seine Freundin, die Dunkelheit, warten. Im Schutz der Nacht fühlte er sich sicher. Wenn er, wie an diesem Spätsommerabend, noch im Hellen losging, freute er sich darauf, mit der tiefer sinkenden Sonne bald einer dieser dunklen Umrisse zu werden. Obwohl er fest davon überzeugt war, dass sich auch im Hellen niemand an ihn erinnern würde, musste es Nacht sein, um wie beim Unterschied zwischen Tag und Nacht auch das Dunkle im Menschen hervorzulocken. Je mehr sich ein Tag dem Ende entgegen neigte, desto größer wurde das Aggressionspotential in den dunklen Ecken. Und danach suchte er.

Für seinen heutigen Marsch hatte er sich die Kreisstadt Dietzenbach als Ziel ausgesucht. Die bereits untergehende Nach- mittagssonne, die nach dem nebligen Morgen eine unerwartete Kraft entfaltet hatte, ließ er sich beim Hofgut Patershausen ins Gesicht scheinen. Dort hinten fühlte er sich fast wie im Urlaub, so fern fühlte er sich der Zivilisation. Die von Wald ein- gerahmten Wiesen wirkten immer so entrückt, als wäre dort die Welt noch in Ordnung. Dabei wartete das Unheil schon hinter der nächsten Kurve.

Kaum hatte er nämlich das nächste Waldstück durchquert, hatte er Dietzenbach schon erreicht. Auf der Waldstraße lief er nach rechts weiter, um nach dem Logistikcenter einer Einkaufskette links in Richtung S-Bahn abzubiegen.

Bereits an der kleinen Brücke über die Bieber standen die ersten potenziellen Zielobjekte. Eine kleine Gruppe Halbstarker, mal mit einer Flasche, mal mit einem Glimmstängel in der Hand. Und alle zu cool, um gerade stehen zu können. Gänzlich ohne Körperspannung hingen sie am Brückengeländer. Für ihn war die Wortherkunft des gemeinsamen „Herumhängens“ damit eindeutig geklärt. Aggression hing allerdings nicht in der Luft, vielmehr dieser ganz bestimmte blumige Geruch, den er jetzt, da er ihn wieder in der Nase hatte, sogar ein wenig vermisste.

Und weil die Jungs keinerlei Anstalten machten, ihn zu belästigen, schritt er weiter seines Weges. Sie fragten ihn sogar nach seinem Empfinden. Höflichkeit, das lobte er sich. Zu mehr als der Standardfloskel „Jo, läuft. Und bei euch?“ ließ er sich aber nicht herab. Schließlich hatte er noch etwas vor.

Also ging er weiter. Durch die Unterführung und anschließend den Bach begleitend an den Schienen entlang. Nachdem der Schotterweg zu einem asphaltierten Sträßchen zur Kläranlage wurde, merkte er, wie schnell es dunkel geworden war. Auf diesem Stück gab es keine Beleuchtung. Wenn alle Viertelstunde die S-Bahn vorbeihuschte, warfen die hell erleuchteten Fenster ihre Kegel auf die Straße, sodass man Hindernisse hätte ent- decken können. Trotz Ablicht des Industriegebiets war ansonsten aber die Nacht hereingebrochen.

Nach diesem Abschnitt wurde es wieder etwas heller, als er die Straße am Bahndamm erreichte. Mitten auf dem verlassenen Wendehammer in Richtung der nächsten S-Bahn-Station laufend, war er unverhältnismäßig lange von den Hunden, die jenseits des Zauns bellend hin- und herliefen, abgelenkt. So erschreckte er sich und zuckte gar zusammen, als sich drei Gestalten kurz vor ihm aus dem Schatten eines LKW schälten.

Die jungen Männer lachten über diese Reaktion seines Körpers und meinten, ein hilfloses Opfer gefunden zu haben. Ein schwerer Fehler – der Zufall meinte es gut mit ihm. Zunächst blieb er wie angewurzelt stehen und starrte.

„Alter, was glotzt du so blöd. Verzieh dich! Aber lass Handy und Kohle hier.“

„Ja Mann, die können wir viel besser gebrauchen als du. Reden kannst du ja offensichtlich eh nicht!“

„Hast du dich schon nass gemacht?“

Er gab sich eingeschüchtert: „Bitte nicht! Lasst mich einfach zufrieden, ich will nur kurz vor zum Einkaufen.“

Aber das kümmerte sie nicht. Ohne Mitleid im Blick kam ihm der Wortführer einen Schritt entgegen, die Hand fordernd ausgestreckt. „Was laberst du jetzt noch hier rum? Her damit! Und dann Abflug. Sonst müssen wir dir noch Manieren beibringen.“

„Lasst mich bitte in Ruhe.“

Er machte einen Schritt rückwärts, nahm die Hände allerdings nicht schützend nach oben, sondern steckte sie in die Jackentasche und wartete stoisch die nächste Beleidigung ab. Die auch prompt folgte. Während sich der eine abfällig zur Größe seines Gemächts ausließ, lachten die anderen beiden und nannten ihn Muttersöhnchen in weit despektierlicheren Synonymen.

Das reichte ihm.

In einer einzigen, flüssigen Bewegung machte er drei schnelle Schritte nach vorne und zog gleichzeitig die Hände aus den Taschen. Beide hatte er in die dort wartenden Schlagringe geschoben, was sein überraschtes Gegenüber aber nicht bemerkte, sondern nur zu spüren bekam. Der Wortführer hatte noch sein dreckiges Lachen im Gesicht, als er mit einem geraden Schlag mitten ins Gesicht getroffen und der Länge nach niedergestreckt wurde.

Noch im Fallen folgten zwei weitere, schnelle Hiebe ins Gesicht. Dafür brauchte er keine besondere Kampftechnik wie einst die Inder mit ihrem Vajra mushti oder die Sikhs mit ihrem Sher Panja, die sich auch mit Schlagringen bewaffnet hatten. Er nutzte das Überraschungsmoment. Ohne Vorwarnung, mit voller Kraft. Direkt auf die Zwölf.

Trotz des Schutzes, den ihm sein Schlagring bot, spürte er sehr genau, wie Joch- und Nasenbein brachen. Mit einer Mischung aus Ekel und Wohlwollen genoss er den Moment, der genauso plötzlich vergangen war, wie er angefangen hatte: der eben noch so aufmüpfige Möchtegern landete mit einem satten Schlag rittlings auf dem Asphalt. Er ließ ihn ohnmächtig liegen. Seine Aufmerksamkeit galt den anderen beiden, denen er den gewünschten Schreck ihres Lebens eingejagt hatte. Deren einzige Reaktion bestand aber nach kurzem, ungläubigen Starren in der Flucht. Feiglinge. Da rannten sie, nahmen ihre Beine in die Hand, ohne sich um ihren Kumpanen zu scheren.

Jetzt musste er auch noch den Notruf absetzen. Anonym, mit der Andeutung, dass zwei Männer einen dritten nieder- geschlagen hätten. So schnell würden sie hoffentlich niemanden mehr belästigen.

Für ihn hatte sich die Wanderung damit gelohnt. Mit den Schlagringen wieder gut getarnt in den Taschen und dem beruhigenden Gefühl, erneut einen Dämon losgeworden zu sein, stieg er wenige hundert Meter weiter in die S-Bahn und ließ sich nach Hause chauffieren. Wie zufällig war sein Gesicht dabei stets von den Kameras abgewandt.

Zwei

Ein Anfang

Mittwoch, 24. August

Offenbach, Hessen

So hatte er also begonnen, der neue Lebensabschnitt. Mittlerweile war es schon viereinhalb Monate her, dass Kaisa kräftig durchgeatmet hatte, sich Hermann Hesses Zitat „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ ins Gedächtnis gerufen und mit der Tür des Polizeipräsidiums auch das nächste Kapitel ihres Referendariats aufgestoßen hatte.

Damit war die nächste Stufe erreicht. Bis dorthin war es ein langer Weg gewesen, sie bereute ihre Entscheidung allerdings nicht, vor viereinhalb Jahren ihr bisheriges Studium abgebrochen und an die Goethe-Uni in Frankfurt gewechselt zu haben. Nach ihrem unfreiwilligen Abenteuer in Frankreich hatte sie nicht anders gekonnt, als all ihre zur Verfügung stehende Energie der gerechten Strafverfolgung zu widmen, um die Welt zumindest ein kleines Stückchen besser zu machen.

Und so war sie jetzt also in Offenbach gelandet. Die dortige Kriminalpolizei war bereits ihre dritte Station des Referen- dariats, nachdem sie ihr Studium der Rechtswissenschaften in Regelstudienzeit absolviert hatte. Seit April absolvierte sie ihre sogenannte Verwaltungsstation, die zehn Monate in Anspruch nahm. Direkt nach dem Studium sowie dem ersten Staats- examen hatte sie bereits die Zivilrechtspflege sowie die Strafrechtspflege absolviert. Mit jeweils vier Monaten waren sie genauso schnell vergangen wie die erste Zeit bei der Offenbacher Kriminalpolizei. Dennoch lag nach Kaisas Empfinden noch ein langer Weg vor ihr, bis sie schließlich Staatsanwältin wäre. Nach der Verwaltungsstation würden noch neun Monate bei der Rechtsanwaltschaft folgen, anschließend stand das Examen an, bevor schließlich die Wahlstation das Ende des Referendariats einläuten würde, das schließlich mit der mündlichen Prüfung einen hoffentlich guten Abschluss bedeuten würde. Aber das war Zukunftsmusik!

Es hatte sehr sympathisch begonnen, dort in Offenbach. Es gab zwar nur unglaublich schlechten Kaffee, dafür aber umso nettere Kollegen, bei denen sie sich von Beginn an sehr gut aufgehoben gefühlt hatte. Joshua Grimm, der sie von Anfang an bildlich gesprochen an die Hand genommen hatte, zitierte bezüglich des schwarzen Zaubertranks immer seine Astérix- Comics: „Je schlechter das Essen, desto besser die Soldaten!“ – vielleicht war etwas Wahres dran.

Nach den ersten gemeinsamen Fällen war es in den letzten Wochen sehr ruhig zugegangen. Viele Kolleginnen und Kollegen waren im Urlaub; gleichzeitig gab es nur sehr wenige Verbrechen. Vielleicht wegen der August-Hitze, die bekanntlich träge macht. Deshalb war Joshua mit ihr vor allem alte Fälle durchgegangen und hatte sich sehr für ihre Sicht der Dinge interessiert, schließlich blickten Juristen noch einmal ganz anders auf die Welt als Menschen ohne einschlägiges Studium. Dabei verstanden sie sich gut und hatten sich sogar durch neue Aspekte in gleich zwei Fällen hervorgetan, denen gerade parallel nachgegangen wurde.

Aber man wusste nie. Auch früher schon waren Kaisa oft Leute, die ihr erst sympathisch vorkamen, auf längere Sicht deutlich unsympathischer geworden als andere, die sie zunächst nicht gemocht hatte. In einem Schuljahr war dieses Phänomen so deutlich gewesen, dass sich ihr Empfinden den Lehrenden gegenüber innerhalb weniger Wochen um 180 Grad gedreht hatte.

Joshua machte aber einen gänzlich anderen Eindruck. Kaisa hatte von Beginn an das Gefühl gehabt, mit ihm könne sie Pferde stehlen und es fast schon wieder bereut, den Weg in die Staatsanwaltschaft eingeschlagen zu haben. Die Zusammen- arbeit mit Joshua war im Rahmen ihres Referendariats auf wenige Monate beschränkt, danach stünde für sie die nächste Station an, während man für Joshua hoffentlich eine neue Partnerin gefunden hätte. Antonia Niederstedt, von der er während ihrer Zusammenarbeit viel gelernt hatte, hatte sich nach 45 Arbeitsjahren in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Nach Joshuas Erzählungen hätte Kaisa sie gerne kennengelernt.

Weil Mittwoch war, gingen sie in der Mittagspause am Dreieich-Park entlang und unter den Schienen hindurch ins ess:zimmer. Kaisa freute sich mittlerweile jede Woche darauf, insbesondere, weil ihre Erwartungen übertroffen worden waren. Von einer Vereinsgaststätte – darauf hatte sie geschlossen, weil die Gaststätte mit „Restaurant am OTC“ titelte – hätte sie kaum mehr erwartet als von der Kantine. Direkt neben den Tennisplätzen konnte man aber sehr schön im Grünen sitzen, von pavillon- ähnlichen Zelten vor der Sonne geschützt, und aus einer modernen Speisekarte wählen. Bisher hatte es ihr immer sehr gut geschmeckt.

„Warum habt ihr euch eigentlich den Mittwoch ausgesucht, um auswärts essen zu gehen?“, hatte sie Johannes, einen anderen Kollegen, einmal gefragt. Neben dem leckeren Essen war das Networking, wie es heutzutage hieß, der schönste Nebeneffekt dieser Routine.

„Zur Feier der Mitte der Woche, ist doch klar. Bald müssen wir schon wieder traurig sein, weil Freitag ist und wir zwei Tage nicht kommen dürfen.“

„Und was, wenn samstags gearbeitet wird?“

„Mittwochs ist immer Mitte der Woche. Deswegen heißt er ja Mitt-woch. Ab unserem mittwöchlichen Mittagessen sind wir dem nächsten Wochenende per Definition näher als dem vergangenen. Du musst mir doch zustimmen, dass das ein Grund zum Feiern ist!“

Ja, sie hatte wahrlich Glück mit den Kollegen. Johannes hatte sich selbst so sehr in Feierlaune geredet, dass er nach dem Essen für alle eine Runde Espressi ausgab.

Ein weiterer Glücksfall bei ihrer neuen Arbeitsstelle war Tina. Sie kannte Kaisa schon länger, einfach, weil sie beide Läuferinnen waren. Bei verschiedenen Volksläufen waren sie sich immer wieder über den Weg gelaufen. Da kam man wie von selbst ins Gespräch.

Entsprechend hatten sich die beiden gleich für Kaisas zweite Arbeitswoche zum Laufen vor der Arbeit verabredet. Auch am Mittwoch. So hatte Kaisa eine nette Ablenkung von ihren schweren Beinen, die am Tag nach einem Tempotraining eher für Inaktivität plädiert hätten. Tina wiederum, die im Wettkampf noch nie länger als 10 km gelaufen war, hatte mit dem gemeinsamen Lauf ihre lange Einheit für die Woche bereits abgehakt. Weil sie sich außerdem sehr gut verstanden, hatten sie den frühen Mittwochmorgen als Regeltermin vereinbart.

Bisher waren sie immer am Main gelaufen. Der Dreieich-Park war schlicht zu klein, da wären sie beim Zählen der Runden nicht hinterhergekommen und im Stadtwald war es ihnen so früh am Morgen einfach zu dunkel.

Von der Kriminalpolizei Offenbach in der Geleitstraße liefen sie also beim Deutschen Wetterdienst vorbei bis hinunter an den Hafen, so waren sie bereits nach anderthalb Kilometern am Ruderverein und damit am Main. Von dort bogen sie dann nach rechts ab, weg von Frankfurt, am Mainbogen entlang bis an Bürgel vorbei. Hinter dem Arthur-von-Weinberg-Steg wurde es dann an den Mainwiesen sehr schön, besonders, wenn gerade die Sonne aufging. Erst am Schloßpark Rumpenheim ging es schließlich wieder Retour und den gleichen Weg zurück, wobei aus der anderen Richtung alles wieder ganz anders aussah. Mit einem 20 km Dauerlauf kommt man sehr weit. Aufgeladen mit all den Eindrücken konnten dann beide in den Tag starten. Das Training war bereits erledigt. Kaisa würde nur noch am Abend mit dem Rad zurück nach Hause fahren.

Überhaupt war das Laufen einmal mehr ein Türenöffner. Etwa jedes halbe Jahr gab es während der Arbeitszeit ein gemeinsames Training all jener Polizistinnen und Polizisten, die bei Polizeimeisterschaften starteten, seien es nun die Deutschen oder gar Europa- oder Weltmeisterschaften. Ihr Chef, Herr Papendorff, hatte sie direkt mitgeschickt. Zum einen, weil sie schneller liefe als ein paar der Jungs, zum anderen, um „ein paar Leute kennenzulernen.“

Das Laufen betreffend war der Chef der Kriminalpolizei Offenbach leicht zu begeistern und immer für eine Anekdote zu haben. Schon bei ihrem ersten Treffen, als noch gar nicht wirklich klar war, ob Kaisa nun in Offenbach eine Station ihres Referendariats absolvieren würde oder nicht, hatte Werner Papendorff sie bereits nach ihren Bestzeiten ausgefragt und selbst von alten Abenteuern erzählt. 1983 war er den Frankfurt Marathon gelaufen und ein Jahr später gar nach New York geflogen, hatte dort aber wegen einer Erkältung nicht starten können. Als Ersatz ging es ein halbes Jahr später nach London, wo er seine Zeit aus Frankfurt mit „drei Stunden und sechs Minuten pulverisiert“ habe. Dann habe er leider aufgehört, „wegen der Kinder“, das Geschehen aber immer sehr interessiert verfolgt.

Wie es der Zufall so wollte, war Christoph Lampe Teil dieses Laufteams. So lernte Kaisa endlich jenen Herrn Lampe persönlich kennen, der fünf Jahre zuvor maßgeblich zu ihrer Rettung beigetragen hatte. Da hatte sie auch verstanden, wen Herr Papendorff mit „Leute“ gemeint hatte.

Drei

Feierabend

Dienstag, 30. August

Darmstadt, Hessen

Als Peter schließlich Feierabend gemacht hatte und sich durch den immer noch anhaltenden Nieselregen zur Bushaltestelle quälte, dachte er einmal mehr an die Ereignisse der Morgenstunden zurück. Wie jeden Morgen war er trotz Dunkelheit und Regen mit dem Fahrrad los. Nicht nur wegen seines Gewissens dem Klima gegenüber stand sein Transportmittel fest, auch weil er damit Zeitersparnis und die tägliche Sporteinheit unter einen Hut bekam.

Nach dem ersten Unbehagen ob der Wetterverhältnisse hatte er schnell seinen Rhythmus gefunden und nur seinen Gedanken nachgehangen. Den Weg fand er auch im Schlaf – im Wald ging es eigentlich nur geradeaus. Erst in der Stadt musste er für das letzte Stück rechts abbiegen. Dort war der Fahrradstreifen aber so komfortabel breit und rot gekennzeichnet, dass er sich keine Gedanken zu machen brauchte. Wegen des schräg von vorne kommenden Regens nahm er den Kopf herunter, sodass die Sonnenblende des Helms zumindest ein wenig Schutz bot. Wie schön die vielen kleinen Tropfen glitzerten, wenn sie gerade durch den Lichtkegel seines Vorderlichts fielen!

Nässe und Gegenwind, das konnte man als Radfahrer einfach nur lieben.

Und dann tat es einen mächtigen Rumms!

Ehe sich Peter versah, lag er auch schon auf dem Boden. Das Rad neben sich, dessen Vorderrad sich weiterhin drehte, sowie mit mächtig schmerzendem rechten Oberschenkel. Sonst schien glücklicherweise alles heile zu sein. Ganz plötzlich war das Hindernis direkt vor ihm aufgetaucht. Er hatte kaum Zeit, auch nur den Lenker herumzureißen und war mit voller Geschwindigkeit gegen die Heckklappe des großen, schwarzen Boliden gedonnert.

Der schwarze Lack hatte dazu beigetragen, dass Peter das Auto erst so spät entdeckt hatte. Warum musste dieser Depp hier auch mitten auf dem Fahrradweg parken? Mit einem plötzlichen Anflug von Aggression rappelte er sich mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck auf und ließ seinen Emotionen freien Lauf: begleitet von einem „Scheißkerl!“-Schrei trat er dem Auto den Außenspiegel ab. Wie zur Strafe tat ihm der Oberschenkel augenblicklich noch mehr weh.

Eigentlich waren solche Ausbrüche so gar nicht seine Art, weshalb er sich auch schnell wieder fing. Die Sachbeschädigung bereute er dennoch nicht, wahrscheinlich hatten sich zu viele Konflikte mit Autofahrern angestaut.

Also hob er sein Rad auf und schob es das letzte Stück zur Uni, wo er am Fachbereich Physik arbeitete. Sein leichtgewichtiger treuer Begleiter war zum Glück unbeschadet davongekommen. Dennoch stellte er seinen Drahtesel nach einem Arbeitstag mit möglichst wenig Bewegung über Nacht ins Büro. Noch schmerzte sein Oberschenkel zu sehr, um mit dem Rad nach Hause zu fahren.

Entsprechend ging es mehr humpelnd als gehend im Feierabend zur Bushaltestelle, um sich nach Hause kutschieren zu lassen. Die dichten Wolken ließen den Abend noch später wirken, als es ohnehin schon war. Und zu allem Überfluss – neben der Nässe von oben, dem schmerzenden Bein und dem Verdruss über den Zeitverlust – warteten auf seinem Weg kurz vor der Haltestelle auch noch drei dubiose Gestalten, denen Peter am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Zum Glück würde der Bus laut Fahrplan schon in fünf Minuten ankommen, weshalb Peter sich dafür entschied, seine Geschwindigkeit zu halten, den Blick zu senken und seine unangenehmen Mit- menschen einfach unbeteiligt zu passieren.

Doch just auf deren Höhe passierte es. Er wurde angerempelt oder geschubst – so genau konnte er es nicht sagen – und stolperte in der Folge auf die Fahrbahn, wo glücklicherweise gerade kein Auto fuhr. Sein schmerzendes Bein musste aber die zusätzliche Energie abfedern, sodass ihm ein verärgertes „Verdammt!“ entfuhr. Wahrscheinlich hätte er sowieso nichts daran ändern können, die drei waren auf Ärger aus. Seinen Aufschrei zumindest deuteten sie als Provokation, woraufhin gleich der nächste Stoß folgte. Peter landete rücklings auf dem Hosenboden. Ob sie wegen seines Humpelns davon ausgingen, dass er ihre Nobelkarosse demoliert hatte? Das musste doch jemand anderes gewesen sein.

Noch während er sich aufzurappeln versuchte, um sich, wenn irgend möglich, zu verteidigen, geschah aber etwas Unerwartetes. Ohne dass Peter dessen Kommen wahr- genommen hatte, rauschte eine dunkle Gestalt daher, die durch seine Angreifergruppe fegte. Den Vordersten der drei erwischte es so heftig, dass er auf den Boden fiel und dort regungslos liegen blieb. Die anderen beiden steckten wohl leichtere Hiebe ein, nahmen sie doch nach der ersten Abwehrreaktion schnell die Beine in die Hand und waren verschwunden.

Schon war auch sein Retter wieder wie vom Erdboden verschluckt. Läge nicht noch ein niedergeschlagener Mann direkt vor ihm, Peter hätte alles nur für einen Spuk gehalten.

Doch er besann sich eines Besseren und krabbelte zu seinem jüngsten Peiniger. Was ein Glück! Er atmete noch. Sollte er ihn an Ort und Stelle, mitten auf der Straße, in die stabile Seitenlage bringen? Zunächst aber zückte er sein Handy und wählte die 112. Und schon kam auch endlich der Bus mit genügend Hilfe. Winkend machte er die Busfahrerin auf die Gefahrensituation aufmerksam, die auch sofort die Warnblinker aktivierte und schon auf die Straße gesprungen kam. Gemeinsam kümmerten sie sich um die Erstversorgung, bis nach wenigen Minuten der Krankenwagen angefahren kam.

Wie würde er diesen Schlamassel nur erklären?

Vier

Work-Run-Balance

Sechs Tage später, zwei Tage vor dem Prolog.

Dienstag, 30. August

Neu-Isenburg, Hessen

„Hi Kaisa, was passt sich jedem Zimmer an und bellt?“, war seine Frage noch vor dem Willkommenskuss. Michael liebte Flachwitze.

Sie musste schon lächeln. „Was denn?“

„Ein Einwauschrank!“

Sie gab ihm einen Kuss. Es war schön, mit guter Laune empfangen zu werden. Michael hatte mal in einem Beziehungsratgeber gelesen, dass Frauen auf Männer mit Humor stehen. Er hatte es sich entsprechend zur Aufgabe gemacht, Kaisa mindestens einmal am Tag zum Lächeln zu bringen. Seine Ausdauer und Kreativität waren diesbezüglich beeindruckend.

„Bist du schon bereit?“, rief sie einmal quer durch die Wohnung. Ihre Freundin Tina beschrieb die Ehe so, dass man die meisten Unterhaltungen führe, während man in unterschiedlichen Räumen sei. Laut dieser Definition wären Michi und sie schon jahrelang verheiratet.

„Klar, hast du eben nicht gesehen, dass ich die Laufsachen schon anhabe?“

Das hatte sie tatsächlich nicht. Sie war mit den Gedanken halb bei seinem Einwauschrank und bereits halb beim Training gewesen. Gleich stand noch eine harte Einheit an, da war sie froh, dass Michi sie unterstützte und mitlief. Denn alleine würde es ihr deutlich schwerer fallen. Aber sie befand sich bereits im Endspurt: ihr großes Ziel, der 48. Berlin-Marathon am 25. September, war keine vier Wochen mehr entfernt.

Dass sie jetzt überhaupt wieder regelmäßig und ambitioniert lief, war lange nicht abzusehen gewesen. Nach dem Rennen in Heidlberg, als sie im Stadionoval nicht nur eine unglaubliche Bestzeit aufgestellt, sondern scheinbar auch ihre Dämonen besiegt hatte, folgte eine harte Zeit. Die Vergangenheit schien sie auch Wochen später nicht loslassen zu wollen, sodass sie die Lust am Laufen komplett verloren zu haben schien.

Zum Glück hatte Michi stets zu ihr gehalten. Er brachte sie dazu, wieder hinauszugehen und andere Sportarten auszuprobieren. Sie versuchten sich an Bouldern und Crossfit, an Karate und Bogenschießen. Und blieben schließlich doch wieder beim Ausdauersport hängen: dem Radfahren. Gemeinsam hatten sie wunderschöne Touren unternommen und ihre Heimat im größeren Radius mit ganz anderen Augen gesehen. Jetzt kannten sie viele schöne Wege abseits des Autoverkehrs. Wenn der Wind einmal von hinten blies oder es leicht bergab ging, liebte Kaisa das Gefühl, wie all die Hindernisse und Nichtigkeiten am Wegesrand nur so an ihr vorbeiflogen. Auch liebte sie es, unterwegs für einen Espresso, ein Stück Kuchen oder ein Eis – oder auch alles zusammen – anzuhalten. Beim Radfahren konnte sie so viel essen, dass sie sich beim Umziehen vorher manchmal fragte, ob sie eigentlich radeln oder essen gingen.

Das Witzigste blieben für Kaisa aber die Fußgänger, bei denen sie stets das gleiche Phänomen feststellte: wenn man hinter einer Gruppe klingelte, gingen stets die rechts Spazierenden auf die linke und die links Gehenden auf die rechte Seite. Nicht selten kam es dabei zu kurzfristigem Chaos, besonders, wenn eine Hundeleine im Spiel war.

Dennoch war Kaisa mit ihrem Fahrrad nie so richtig warm geworden: irgendwann taten ihr immer Nacken und Rücken weh, allzu oft hatte sie kalte oder gar taube Finger und Fußzehen. Scheinbar war es auch das ganze Jahr über durchgängig windig, wobei es außerdem stets aus der falschen Richtung blies. Und schließlich gab es immer irgendetwas zu reparieren, sei es auch nur das Reinigen der Kette oder das Richtigstellen des Reifendrucks.

Schon da hatte sie schließlich erkannt, dass das Laufen das Richtige für sie war. Nichts war einfacher, nie fühlte sie sich freier, mutiger und stärker als in Laufschuhen.

Aber dann war sie ungeplant schwanger geworden.

Jetzt hieß es aber erst einmal: Espresso und los! Dass Michi viel Geld in eine Siebträgermaschine mit zugehöriger Kaffeemühle und einigem weiteren Schnickschnack investiert hatte, hatte Kaisa erst überhaupt nicht gefallen. Wie konnte man nur so viel Zeit und Geld investieren, um bittere, braune Suppe zu kochen? Mittlerweile war sie aber überzeugt davon, dass sich jeder Euro gelohnt hatte. Ohne ihren doppelten Espresso vor den Tempoeinheiten, der übrigens überhaupt nicht bitter schmeckte, lief sie einfach langsamer. Schwarzes Gold, legales Doping!

Kurz darauf waren Michael und Kaisa schon mit leichtem Gepäck in Richtung Sportpark unterwegs. Dort gab es eine jederzeit frei zugängliche, nagelneue Tartanbahn. Kaisa dachte jedes Mal, dass sie sich, wenn die Bäume nicht nur außen, sondern genauso auch inmitten der ovalen Rundbahn stünden, vorkäme wie in Oregon. Entsprechend trainierten sie auch effektiv. Sehr exakt durch die Bahn mit exakten Markierungen, sodass sie sich nicht auf das GPS-Signal ihrer Uhren verlassen mussten. Einen Kilometer schnell, einen Kilometer einen Hauch langsamer, immer im Wechsel. Runde für Runde für Runde.

Fünf

Früher war alles besser

Zwei Tage später, am Tag des Notrufs.

Donnerstag, 01. September

Neu-Isenburg, Hessen

Lars Klingauf saß sehr lässig in seinem Caddy. Er fühlte sich als Besitzer des Autos, obwohl es genau genommen gar nicht seines war, sondern das der Dienststelle. Er benutzte ihn aber einfach am häufigsten, alles war auf ihn eingestellt: der Sitz, die Spiegel, die Radiosender, die Bluetooth-Verbindung zu seinem Smartphone. Es war einfach sein Blitzer-Flitzer, mit dem er regelmäßig für mehr Sicherheit im Straßenverkehr sorgte. Vor Schulen, Kindergärten, gefährlichen Kurven oder in verkehrs-beruhigten Straßen. Seine Kollegen blitzten nicht gern, er meldete sich da immer freiwillig. Lars mochte diese Tage.

Die Seitentür hatte er aufgeschoben, halb saß er auf dem Rücksitz, halb hing sein Bein heraus. Einen Großteil des Tages hatte er so verbracht, während durch die Heckscheibe des Zivilfahrzeugs körnige Bilder der zu schnell fahrenden Verkehrs- teilnehmer aufgenommen wurden.

---ENDE DER LESEPROBE---