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David Manthey und der Gastarbeitersohn Zoran Jerkov waren in ihrer Kindheit beste Freunde. Fast zwei Jahrzehnte später wird Manthey, inzwischen Ex-Polizist, von seinen Kölner Kollegen reaktiviert: Er soll Zoran aufspüren. Der ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er zwölf Jahre unschuldig gesessen hat. Nachdem er Rache geschworen hat, ist er untergetaucht. Und tatsächlich sterben nun Menschen, die mit seinem Fall zu tun hatten. Aber ist Zoran auch der Mörder? David Manthey kann es nicht glauben und will auf eigene Faust ermitteln.
»Bitter Lemon« ist ein packender Thriller über den Handel mit der Ware Mensch. Wolfgang Kaes erzählt dabei aber auch vom Wert und von der Ohnmacht einer Freundschaft.
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Seitenzahl: 476
Bitter Lemon
Thriller
C. Bertelsmann
1. Auflage
Copyright © 2010 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: R·M·E Roland Eschlbeck
und Rosemarie Kreuzer
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-04875-4
www.cbertelsmann.de
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten
Die Meute lag bereits auf der Lauer. Hungrig. Auf dem Bürgersteig jenseits der Aachener Straße.
Fernsehen, Hörfunk, Print, Online. Mikrofone, Kameras, Stative. Kristina Gleisberg zählte sechs Ü-Wagen.
Zoran Jerkov blieb mitten auf der Straße stehen, nahm den prallen Seesack von der Schulter, stellte ihn behutsam auf dem Asphalt ab, sah hinauf in den wolkenlosen Himmel, lächelte und blinzelte der Sonne zu. Wie einer Komplizin.
Warum stürmten sie nicht los? So wie immer? Nein, sie warteten jenseits der Straße, weil es die Gefängnisleitung zur Auflage gemacht hatte. Sie lauerten, reglos wie erfahrene Jäger. Jemand flüsterte eine Sprechprobe. Kristina Gleisberg berührte Jerkovs Arm, ganz sanft, als fürchtete sie, die Berührung könnte ihn erschrecken:
»Zoran, vielleicht sollten wir jetzt …«
»Natürlich, Kristina. Natürlich.«
Jerkov schulterte den Seesack, überquerte den Rest der Straße, setzte den Seesack auf dem Bürgersteig ab, fixierte zunächst stumm die Gesichter, bevor er sich umständlich räusperte.
»Guten Tag. Ich bin …«
Erneutes Räuspern.
»Ich bin … ich freue mich sehr, dass Sie … dass Sie so zahlreich hier erschienen sind … und … bitte … bitte entschuldigen Sie, aber ich … also, ich hatte die letzten zwölf Jahre nicht so oft Gelegenheit, die Sonne zu sehen … und ich hatte auch nicht so oft Gelegenheit, mich im Reden zu üben, und deshalb …«
Jerkov hielt in seinem Gestammel inne.
Die Meute wartete und starrte und schwieg. Nicht aus Mitleid, nein. Man war vielmehr peinlich berührt und inzwischen auch schon etwas gelangweilt und genervt.
Wegen der verplemperten Zeit.
Jerkov sah sich hilflos um.
»Kristina, könntest du vielleicht …«
»Natürlich, Zoran.«
Kristina Gleisberg trat einen Schritt vor, neben Jerkov, und nickte ihm beruhigend zu. Soeben war die erste Gelegenheit verstrichen, ihn ungestört und ungestraft beobachten zu können, ohne ihm durch unablässigen Augenkontakt im Besuchszimmer der Justizvollzugsanstalt Rheinbach beweisen zu müssen, dass sie es ehrlich mit ihm meinte. Und so war sie dummerweise erst jetzt, in den wenigen Sekunden der stillen Beobachtung, zu der niederschmetternden Erkenntnis gelangt, dass dieser kleine, untersetzte, für 40 Jahre viel zu alt wirkende Mann mit den schwarz gefärbten, altbacken streng gescheitelten Haaren und der ungesund grauen Haut, dem übertrainierten Stiernacken und dem speckigen Anzug, der um die breiten Schultern spannte, dass dieser Mann alles Mögliche war – nur nicht das, was sich die Meute für diesen Tag erhofft und erwünscht und herbeigeredet hatte: eine vermarktbare Medienfigur. Nein, Zoran Jerkov sah weder wie ein bedauernswertes Opfer noch wie ein strahlender Held aus. Dieser Mann sah vielmehr wie ein Niemand aus.
Sie hob frech das Kinn und entwaffnete die Reporter mit einem Lächeln, bevor sie loslegte:
»Guten Tag. Schön, dass Sie gekommen sind. Mein Name ist Kristina Gleisberg. Und dies ist Zoran Jerkov … der Mann, auf den Sie so lange gewartet haben … und auf den Sie jetzt, hier draußen vor dem Tor, überflüssigerweise noch einmal eine halbe Stunde warten mussten. Nach zwölf Jahren hat man sich wohl aneinander gewöhnt, da drinnen, und so mochte sich die Gefängnisbürokratie zum guten Schluss offenbar gar nicht mehr von Zoran trennen. Wir mussten erst noch eine Menge Papiere ausfüllen. Aber jetzt ist Zoran Jerkov endlich draußen … und die Gefängnisbürokratie muss weiterhin drinnen bleiben.«
Die ersten Lacher. Gut so. Der richtige Zeitpunkt, das Lächeln auszuschalten und Schärfe in die Stimme zu legen:
»Meine Damen und Herren, Zoran Jerkov konnte sich allerdings nie an das Warten gewöhnen. Denn dieser Mann hat zwölf Jahre seines Lebens unschuldig hinter Gittern verbracht. Für einen Mord, den er nachweislich nicht begangen hat, verurteilte man ihn zu lebenslanger Haft. Zwölf Jahre lang hat er auf den Moment gewartet, auf dieser Seite des stählernen Tores zu stehen, in Freiheit, und der Sonne einen guten Tag zu wünschen.«
War das jetzt zu dick aufgetragen? Sie ließ den Blick schweifen. Die Meute klebte an ihren Lippen. Deine Show, Kristina. Die Meute verlangte nach Futter. Wirf es ihnen vor die Füße. In die hungrigen Mäuler. Jetzt!
»Bedauerlicherweise habe ich diesen Mann erst vor einem Jahr kennengelernt. Ich bin kein professioneller Ermittler mit all den technischen und rechtlichen Möglichkeiten des Staates im Rücken. Ich bin nur eine Journalistin, eine Amateurin auf dem Feld der Kriminalistik. Eine einzelne Amateurin benötigte nicht länger als ein paar Monate, um zu beweisen, dass Zoran Jerkov unmöglich der Mörder der tschechischen Prostituierten gewesen sein kann, die man am frühen Morgen des 17. Januar 1998 tot in ihrer Wohnung in Köln-Bayenthal fand.«
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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