Black Sun - Owen Matthews - E-Book

Black Sun E-Book

Owen Matthews

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Beschreibung

Ein aufwühlender Thriller in einer Zeit, in der alte Feindschaften wieder aufflammen

Sowjetunion, 1961: Tief in den Wäldern Zentralrusslands verbirgt sich ein Ort, der auf keiner Karte zu finden ist - die geheime Stadt Arsamas-16. Hier arbeiten Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker am Bau der stärksten Wasserstoffbombe der Welt. Doch zehn Tage vor der Testzündung wird der junge Physiker Fjodor Petrow tot aufgefunden - vergiftet mit Thallium, das er laut Bericht selbst eingenommen hat. Doch in Moskau ist man skeptisch.

Und so wird KGB-Agent Major Alexander Wassin entsandt, um den vermeintlichen Selbstmord zu untersuchen. Er stößt auf eine Wand des Schweigens. Denn in Arsamas-16 darf nichts dem "Projekt" in die Quere kommen, nicht einmal Mord ...

Basierend auf realen Hintergründen

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Seitenzahl: 502

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungPROLOGTEIL EINSKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERTEIL ZWEIKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENTEIL DREI

Über dieses Buch

Über den Autor

Owen Matthews ist Historiker, der auf osteuropäische und russische Geschichte und Politik spezialisiert ist. Darüber hinaus hat er als Korrespondent für diverse Zeitungen gearbeitet, darunter für The Sunday Times, The Daily Telegraph, The Guardian, The Observer, The Independent und The Spectator. Zwischen 2006 und 2012 war er der Leiter des Auslandsbüros in Moskau für The Newsweek.

Sein erster Roman Stalin’s Children (2008) war für mehrere renommierte Buchpreise nominiert und wurde in 28 Sprachen übersetzt. Er erschien 2014 unter dem Titel Winterkinder im List Verlag, ein russisches Familiendrama zur Zeit des Kalten Krieges. Mit Moskau Babylon erschien 2017 bei Ullstein sein zweiter Roman, ein Drama über die Erlebnisse eines Engländers im Moskau der 90er Jahre. Mit Black Sun hat er nun das Genre gewechselt und seinen ersten Thriller vorgelegt.

OWEN MATTHEWS

BLACKSUN

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by Owen Matthews

International Rights Management: Susanna Lea Associates

Titel der englischen Originalausgabe: »Black Sun«

Originalverlag: Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, Penguin Random House UK

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Diana Menschig, Viersen

Titelillustration: Design by R. Shailer/TWImages; Bilder: © shutterstock/Radomir; shutterstock/MP cz; shutterstock/Igor Vitkovskiy; shutterstock/ninopavisic; shutterstock/Megapixeles.es; shutterstock/Jens Ackermann; © Arcangel/Stephan Mulcahey

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde nach einem Design von R. Shailer/TWImages

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-9461-0

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Xenia,Nikita undTeddy

P R O L O G

Im Morgengrauen ertönte der Fliegeralarm. Lautsprecher an Laternenmasten verbreiteten das an- und abschwellende Sirenengeheul durch die schlafende Stadt, in die Gänge von Wohnheimen und Kasernen, in die Eingangshallen von Laboren und Werkstätten. Es hallte vom verlassenen Glockenturm der Kirche am Lenin-Platz und scheuchte Tauben auf, die erschrocken in den grauen Himmel des Oktobermorgens aufstoben. Die Vögel flogen über die Dächer der Altstadt, über die neuen Parks und Wohngebäude, über die Wachtürme und die drei konzentrischen Ringe aus Stacheldraht. Schließlich flatterten sie über den dunklen Wald, der die geheime Stadt Arsamas-16 wie ein Meer umgab.

In der Maschinenhaupthalle klang der schrille Lärm der Drehbänke zu einem Surren ab. Reihen von Neonleuchten an der Decke erloschen, und die Arbeiter blinzelten im durch das Glasdach einfallenden Morgenlicht. In der Fallschirmwerkstatt kamen die Nadeln der Nähmaschinen klickend zwischen den gespreizten Fingern der Näherinnen zum Stillstand. Steif richteten sich die Frauen auf, dankbar für die wöchentliche Luftangriffsübung und das vorzeitige Ende ihrer Nachtschicht. Im Konstruktionsraum räumten abgekämpfte junge Ingenieure Lineale und Geodreiecke von ihren ­Zeichentischen, rollten Pläne zusammen, die sie in langen Asbeströhren verstauten, und stiegen mit polternden Schritten die Stufen zu einigen feuersicheren Panzerverschlägen hinab.

Fünfzig Meter unter ihren Füßen rannte ein Trupp Soldaten schlaftrunken zu den Gefechtsstationen vor der Hauptsprengkopfkammer. Männer in weißen Kitteln kamen plaudernd aus dem Bunker und tasteten ihre Taschen nach Streichhölzern und Zigaretten ab. Hinter sich ließen sie geordnete Reihen von Bleikanistern zurück, die sich in Arbeitsnischen stapelten, eine große Halbkugel aus Stahl, aus der Drähte ragten, und Gefäße aus stumpfem Metall so groß wie Badewannen. Sobald der letzte Wissenschaftler herausgekommen war, schlossen Soldaten die explosionsbeständige Stahltür hinter ihnen. Der befehlshabende Offizier schob mit einem leisen Klirren die Bolzenriegel vor.

Tief in den Eingeweiden des Unionsforschungsinstituts für Experimentalphysik befand sich die als RDS-220 bezeichnete Bombe in dem geheimen Gewölbe allein und still in der Dunkelheit.

Fjodor Petrow rührte sich auf seinen blutdurchtränkten Laken nicht. Er nahm das anschwellende Geheul der Sirene nur am äußersten Rand des Bewusstseins wahr. Die ganze Nacht lang war er auf einem von Übelkeit angetriebenen Floß durch ein Meer von Schmerzen geschwommen. Flüssiges Feuer verzehrte seinen Körper.

Nun sah Petrow ein Licht. Ihm fiel ein, dass Licht eine Masse besitzt und Druck ausübt. Einen physischen Druck, winzig, aber messbar. Er glaubte zu spüren, wie die Partikel auf seine Gesichtshaut fielen, wie sie ihm von der Oberfläche der Sonne entgegenströmten. Petrow versuchte, sich zum Licht aufzurichten, doch sein junger Körper versagte ihm den Dienst. Mit einiger Willensanstrengung setzte er eine Hand in Bewegung. Sie zuckte spastisch, als sie seinen Rumpf entlang nach oben kroch. Sein Gesicht klebte am Kissen fest. Seine Finger kratzten an der klebrigen Masse unter seiner Wange und hoben einen Partikel vor seine Augen. Mit verschwommenem Blick betrachtete er ihn – sein eigenes blondes Haar, während der Nacht ausgefallen. Verkrustet von Blut und Erbrochenem.

»Aber ich darf nicht sterben«, hörte Petrow seine Stimme argumentieren. »Wenn ich sterbe, werde ich es nie erfahren.«

Er ließ die Hand sinken. Betäubende Dunkelheit empfing ihn.

Er träumte von Feuer, das die Welt gleich einem unaufhaltsamen Tornado verschlang. Er sah, wie die stolzen Türme des Kreml aus ihren Grundmauern gerissen wurden und sich in Trümmer und Staub auflösten. Er sah kochende Meere und sich neigende, in Flammen aufgehende Wälder. Die gesamte Erde brannte auf seinen Befehl.

Die Gesichter seiner Lehrer, Freunde und Genossen stiegen vor ihm auf. Sie diskutierten untereinander, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Tief in sich selbst gefangen spürte Petrow, wie sich die Außenwelt verflüchtigte. Das Fleisch, das ihn die ganze Nacht lang so qualvoll zurückgehalten hatte, fiel endlich von ihm ab. Er wurde zu einem Geist, der mit einem kalten, über sein Gesicht strömenden Wind schwindelerregend hoch aufstieg. Letztlich ging er in unendlichen Frieden ein, als Milliarden Sterne in seinem Kopf zu einem gleißenden Licht erstrahlten.

Die Sirene verstummte. Und mit ihrem Geheul verstummte der Takt von Fjodor Petrows schwachem menschlichem Herz.

T E I L  E I N S

DIE STADT, DIE NICHT EXISTIERT

Was meinen wir damit, wenn wir sagen, dass wir etwas »verstehen«? Wir können uns dieses komplexe Gebilde beweglicher Dinge, die zusammen »die Welt« ergeben, als eine Art großes Schachspiel der Götter vorstellen, bei dem wir nur Beobachter sind. Wir kennen die Regeln des Spiels nicht, uns ist nur gestattet, dabei zuzusehen.

RICHARDFEYNMAN

K A P I T E L  E I N S

Samstag, 21. Oktober 1961Neun Tage vor dem Test

I

Der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen, der den zusammengesunkenen Alexander Wassin aus seinem Halbschlaf riss. In der gegenüberliegenden Ecke des Abteils schnarchte der Parteifunktionär mit dem teigigen Gesicht, der aus Moskau mit ihm gereist war, mit vor der Brust verschränkten Armen leise vor sich hin.

Draußen herrschte eine ruhige, mondlose Herbstnacht. Der Zug hatte im Niemandsland angehalten, das von zwei langen Absperrungen aus Stacheldraht gesäumt und von elektrischen Laternen beleuchtet wurde. Ein frisch geharkter Sandstreifen erstreckte sich in die Dunkelheit. Von irgendwo weiter vorn hörte Wassin das Bellen von Wachhunden.

Als sie verstummten, atmete er den Geruch der Stille ein. Noch nie zuvor war er in einem Zug wie diesem gereist. Das Abteil entsprach dem Neuesten der Klasse gehobener Schienenfahrzeuge. Die Ausstattung roch nach Zukunft: Kunst­leder, Resopal und Silikon. Ein automatischer Ventilator blies warme Luft um seine Fußgelenke. Vorsichtig stieg Wassin über die ausgestreckten Beine des Apparatschiks hinweg und zog die Schiebetür auf.

Die Züge seiner Kindheit hatten an mobile Dörfer erinnert, erfüllt von Geplapper, Geschrei und Gezänk. Schaukelnde Theater der Menschlichkeit, vollgestopft mit Gepäck und undichten Schlafsäcken. Dieser Zug hingegen war still, laufruhig und hermetisch verschlossen wie ein Raumschiff. Nur durch den Windfang am Ende des Waggons drang die frostige Nachtluft mit dem vertrauten Eisenbahngeruch von Kohlenrauch und nassem Gras herein. Wassin schauderte und knöpfte seine kratzige neue Uniformjacke zu, bevor er ein Päckchen Zigaretten der Marke Orbita aus der Tasche zog. Orbita: angesagt, schwer zu beschaffen, stark. Die Zigarette eines Apparatschiks. Besser als die Marke, an die er sich gewöhnt hatte.

In der Spiegelung der Glastür strich Wassin seine Uniform glatt. Er hatte die hohe Stirn seines Vaters geerbt. Die dunkelblonden Haare begannen allmählich zurückzuweichen. Er steckte seine neue Brille in die oberste Tasche, betrachtete sich erneut mit zusammengekniffenen Augen, brachte sein Haar in Ordnung und spannte die Schultern an, um die Jacke auszufüllen. Am Kragen prangten Rangabzeichen, an der rechten Brust befand sich ein Emblem in Form eines Schwerts und eines Schilds. Major Wassin, KGB.

Durch den Gang drang leises Stimmengemurmel aus einem anderen Abteil. Gedämpfte Tanzmusik setzte mitten in einem Lied aus einem Radio im Kabuff der Schaffnerin ein. Das Zischen von entweichendem Dampf und das Kreischen sich drehender Räder folgten, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Er rollte durch einen von Flutlicht erhellten Kontrollpunkt in einen langen, von Stacheldraht umgebenen Käfig, der von einem Holzrahmen gestützt wurde. Zwei Deutsche Schäferhunde würgten sich an ihren Leinen, als sie sich kläffend auf die Hinterpfoten stellten und die Hundeführer fast von den Beinen rissen.

In der Ferne erschienen die Lichter der Stadt und die kantigen, urbanen Zinnen von Turmblöcken. Eine Station mit nur einem Bahnsteig kam in Sicht.

Wassin eilte zurück in sein Abteil und störte seinen Reisegefährten mitten in einem mächtigen Gähnen. Er wartete an der Tür, bis der ältere Mann einen dicken Regenmantel angezogen und einen Kunststoffkoffer aus der Ablage geholt hatte. Zum Abschied nickte er knapp, als der Zug langsam zum Stehen kam.

Entlang des Gangs wurden Abteiltüren aufgeschoben. Wassin zerrte seinen großen Bakelit-Koffer aus der Vorkriegszeit heraus, ein geschätztes Familienerbstück. Er ließ seine Mitreisenden vorbei und vor ihm aussteigen, bevor er das gute Stück auf den Bahnsteig schleppte. Die junge Schaffnerin stand lächelnd an der Tür. Sie wirkte hübsch in ihrer Uniformjacke und mit dem flotten Schiffchen auf dem hochgesteckten blondierten Haar.

Nach einem Pfiff des Bahnhofsvorstehers setzte die Lokomotive rückwärts aus der Station zurück. Der rote Stern vorn auf dem Kessel verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Kurzzeitig wurden die Neuankömmlinge in eine Wolke aus heißem, nach Öl riechendem Dampf gehüllt.

Die Wachleute salutierten vor jedem Passagier, bevor sie die Reisenden zu zwei Beamten scheuchten, die unter einer hellen Lampe saßen, um die Ausweise zu überprüfen und abzustempeln. Zu Wassins Überraschung wurde keinerlei Gepäck durchsucht.

Im nahezu verwaisten Warteraum saß ein stämmiger, bärtiger Mann gekrümmt auf einer Bank und hielt sich ein Buch dicht vors Gesicht. Er trug einen verknitterten Filzhut und halbherzig zugeschnürte, unpolierte Winterstiefel. Wassin stellte sich etwas verblüfft schweigend vor ihn.

»Ah! Genosse Major Wassin?« Rasch stand der Mann auf, klappte das Buch zu und stopfte es in seine Jackentasche. »Ich grüße Sie. Wadim Kusnezow. Major. Staatssicherheitsdienst Arsamas.«

Obwohl er einen Kopf kleiner als Wassin war, brachte er das Kunststück zustande, mit zusammengekniffenen Augen hinter einer schwarz umrandeten Brille die lange Nase entlang auf ihn herabzublicken. Das Hemd trug er bis zum dicken Hals fest zugeknöpft, der Spitzbart ragte vom Kinn ab.

»Willkommen in Arsamas-16. Der Stadt, die nicht existiert.«

Vor dem Bahnhof bestiegen gerade die letzten von Wassins Mitreisenden einen kleinen Bus. Als einziges weiteres Fahrzeug parkte auf dem Vorplatz ein militärischer UAZ-Jeep.

»Das ist unserer.«

Kusnezow öffnete mit einem Ruck die Autotür und warf Wassins Koffer achtlos auf den Rücksitz.

»Springen Sie rein.«

»Sie haben das Auto nicht abgesperrt?«

»Ha! In Arsamas gibt es keine Diebe! Das ist die ehrlichste Stadt der Sowjetunion.«

Kusnezow schwang sich federnd auf den Fahrersitz, pumpte das Gaspedal durch und hob einen Finger, eine Geste, mit der er ehrfürchtiges Schweigen verlangte. Stotternd erwachte der Motor zum Leben.

»Ein Wunder!«

Knirschend legte er den ersten Gang ein.

»Der Wagen ist noch nicht eingefahren. Sie wissen schon. Neue Autos.«

Wassin bedachte seinen Gefährten mit einem scharfen Blick, suchte nach Anzeichen auf Spott. Aber Kusnezow schenkte ihm keine Beachtung, sondern kämpfte mit dem Ganghebel des UAZ. Offensichtlich lebte er in einer Welt, in der neue Autos ein alltägliches Ärgernis darstellten. Sie fuhren los und beschleunigten erschreckend schnell eine breite, frisch asphaltierte Allee entlang.

»Unsere wunderschöne Stadt.« Kusnezow schwenkte aus­ladend eine Hand, während er über eine Kreuzung raste, ohne abzubremsen oder auf Querverkehr zu achten. »Die Besichtigungsrundfahrt machen wir morgen.«

Sie sahen keine anderen Menschen oder Autos. Um den Bahnhof herum ging die Stadt von den Stuckfassaden aus der Zeit vor der Revolution in einheitliche Reihen moderner, fünfstöckiger Plattenbauen über, die man als Chruschtschowka bezeichnete.

»Da sind wir. Sie übernachten während Ihres Besuchs bei mir.«

Röchelnd verstummte der Motor. Abgesehen vom Quaken einiger Frösche beherrschte Stille die Nacht. Von einer Reihe junger Apfelbäume ging ein durchdringender Geruch nach faulendem Obst aus.

Kusnezows Wohnung erwies sich als groß und leer. Ein breiter Korridor endete an einem tiefen Regal, das einige wenige, willkürlich angeordnete Bücher enthielt. Rechts befanden sich zwei geräumige Zimmer, links ein Wohnzimmer und dahinter eine Küche und ein Bad.

»Ich schlafe hier. Sie sind nebenan.«

Kusnezow deutete beiläufig in das erste der Schlafzimmer, wo Hemden und Kleiderbügel über das Bett auf dem Boden verteilt lagen, während Notizen und bedrucktes Papier einen kleinen Schreibtisch bedeckten.

Im Wohnzimmer nahmen polierte Schränke mit verglasten Fronten eine gesamte Wand ein. Es sah wie bei der Ausstellung Haus der Zukunft aus, die Wassin mit seinem Sohn Nikita zu Beginn der Sommerferien besucht hatte: kastenförmige Lehnsessel und ein kantiges, mit bunt gestreiftem Stoff bezogenes Polstersofa. Kein Bettsofa, sondern ein kompakter Zweisitzer, den man nicht zum Schlafen benutzen konnte. Etwas Vergleichbares hatte Wassin nie zuvor gesehen.

Vor seiner Ehe hatten seine Mutter und er in zwei angrenzenden Zimmern einer großflächigen Kommunalka mit hoher Decke in der Nähe der Metrostrojewskaja-Straße in Moskau gewohnt. Sie hatten sich mit zwei anderen Familien, insgesamt sieben Personen, die Küche und das Badezimmer geteilt. Mit seiner Versetzung zum KGB war Wassin mit Vera und ihrem gemeinsamen Sohn in eine eigene Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe des Gorki-Parks gezogen, ein geradezu schwindelerregender Luxus.

Und hier stand er in einem Raum, den überhaupt niemand bewohnte. Einem Raum nur zum Sitzen. In der Ecke befanden sich ein großes Radio und ein Plattenspieler, das neueste Modell von Rigonda in einem Gehäuse aus Eichenholz. Und auf dem Regal: eine meterlange Reihe Schallplatten.

»Aus der Tschechoslowakei«, rief Kusnezow aus der Küche. »Die Möbel, meine ich. Letztes Jahr wurde eine Zugladung hergebracht. Schön, oder?«

Wassins Zustimmung wurde von klappernden Pfannen übertönt.

»Ich habe Essen aus der Kantine da. Borschtsch. Frikadellen. Kartoffelbrei.«

In der Küche schnurrte in der Ecke ein neuer Kühlschrank, kein laut brummendes Monster aus dem Stalin-Werk. Kusnezow warf heeresübliches Feldgeschirr auf die Resopalplatte des Küchentischs.

»Genehmigen wir uns alles? Ich bin auch hungrig.«

Kusnezow stellte emaillierte Töpfe auf den Elektroherd und öffnete die Deckel des Feldgeschirrs.

»Gehen Sie sich ruhig waschen, wenn Sie wollen. Ich bin ein hervorragender Koch. Sehen Sie nur!«

Er ergriff mit jeder Hand ein Teil des Feldgeschirrs und leerte die Inhalte patschend in die Töpfe.

Als Wassin aus der Dusche zurückkehrte, saß Kusnezow über den Tisch gebeugt und schlürfte Suppe. Eine Portion für Wassin dampfte in einer großen Keramikschale.

»Also. Hat Sie schon jemand darüber informiert, was passiert ist?« Kusnezows Blick richtete sich fragend auf seinen neuen Mitbewohner.

»In der Zusammenfassung des Falls steht, dass Fjodor Petrow vergiftet wurde. Versehentlich.«

»Richtig. Ein intelligenter junger Physiker. Traurige Angelegenheit.«

»Es steht eine Menge darin, was passiert ist. Aber nichts darüber, warum.«

Kusnezow schob seine inzwischen leere Schale von sich, stand auf, um das Fenster einen Spalt zu öffnen, und zündete sich eine Zigarette an.

»Richtig, das Warum. Das ist die große Frage, Genosse Wassin.« Er spielte mit einem stählernen Aschenbecher auf dem Tisch. »Wir sind hier in Arsamas nicht sonderlich an Außenstehende gewöhnt. Welchem Umstand verdanken wir das Vergnügen?«

Wassin tauchte langsam den Löffel in die Suppe und kostete sie schweigend. Dann: »Gute Suppe.«

»Wir wollen schließlich nicht, dass Sie verhungern, Genosse.«

Wassin aß schweigend weiter.

»Gibt es einen Grund, warum ich nicht hätte herkommen sollen, Genosse Kusnezow?«

»Verzeihen Sie. Die Personalabteilung hat uns mitgeteilt, dass Sie erst kürzlich zur Staatssicherheit gewechselt sind, und zwar von …«

»Von der Moskauer Kriminalpolizei. Mordkommission. Das ist richtig.«

»Mord?«

»Beunruhigt Sie das, Genosse?«

»Nun ja. Sie wissen über Arsamas Bescheid. Etwas an dem Wort ›Mord‹ macht uns hier nervös. Und für gewöhnlich überlässt es die Lubjanka uns selbst, uns um unsere Angelegenheiten zu kümmern.«

»Eigentlich weiß ich über Arsamas nicht Bescheid.«

»Man hat Ihnen in Moskau nichts erzählt?«

»Gehen Sie davon aus.«

Kusnezow atmete Rauch aus.

K A P I T E L  Z W E I

Sonntag, 22. Oktober 1961Acht Tage vor dem Test

I

Früh am nächsten Morgen stellte Wassin den Mantelkragen auf, um sich gegen den Regen und den Nebel zu schützen, der durch die breite Allee vor Kusnezows Wohngebäude trieb. Dichte, langsam dahinziehende, niedrige Wolken bedeckten den Himmel. Das träge Wetter des tiefsten Russlands, wo die Jahreszeiten behäbig, aber unaufhaltsam wie ein Tross Dampfwalzen aufeinanderfolgten. Der Herbst war eine triefende Zeit, in der es süßlich nach Verfall roch und man an versteckten Orten die Geräusche von plätscherndem oder rinnendem Wasser hörte.

Mit einem widerwilligen Röcheln erwachte der Geländewagen zum Leben. Kusnezow ließ den Motor aufjaulen, um Wassins Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Kommen Sie, alter Freund. Hohe Tiere warten auf Sie.«

Kusnezow setzte ihn vor dem KGB-Hauptquartier von Arsamas ab, einem klobigen, modernen Gebäudeblock, den eine Tannenreihe von der Straße abschirmte. Auf dem Vorhof stand eine Büste von Feliks Dzierżyński, dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei. Das Bronzegesicht glänzte im Regen.

In der Eingangshalle trugen Sekretärinnen mit auf dem Marmorboden klickenden Absätzen Akten hin und her. Die Kontora arbeitete Tag und Nacht, sogar an Sonn- und Feiertagen. Ein Wachmann vermerkte Wassins Namen penibel in einem Register. Dieser Ort roch genau wie sein Moskauer Büro, durchdringend nach Bodenpolitur und nassen Mänteln. Irgendwo klackten emsig, aber vollkommen asynchron zwei Schreibmaschinen. Ein Telefon klingelte endlos.

General Saizews Sekretärin besaß butterblond gefärbtes Haar und ein Gesicht, das aussah, als hätten ständige Lügen es entstellt.

»Der General wurde aufgehalten«, erklärte sie ihm aalglatt. »Sie werden warten müssen.«

»Sehr gut. Bitte teilen Sie dem Genossen General mit, dass ich die Gelegenheit für einen Besuch in der Kantine nutze. Ist bestimmt unten, richtig?«

Missbilligende Fältchen zogen Furchen in das Make-up der Sekretärin.

»Ah! Und die neueste Ausgabe von Krokodil! Darf ich?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, griff sich Wassin die beliebteste satirische Zeitschrift der Sowjetunion von einem niedrigen Tisch. Er streifte seinen nassen Regenmantel ab und hängte ihn triefend auf den Kleiderständer des Generals. Anschließend begab er sich auf die Suche nach Kaffee.

Da die Frühstückszeit dem Ende zuging, war die Kantine im Untergeschoss fast menschenleer. Wassin kaufte sich ein Stück Gebäck und eine Tasse hervorragenden, frisch gemahlenen kubanischen Kaffee. Er ließ sich damit an einem Tisch nieder und begann, die Zeitschrift durchzublättern. Der übliche Unsinn: Karikaturen betrunkener Arbeiter, komische Gedichte über nörgelnde Schwiegermütter, prosaische Zeichnungen über die Reize und Absurditäten des Landlebens. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie ein großer Offizier in makellos gebügelter Uniform und mit Adjutantenabzeichen den Speisesaal betrat. Der Mann sah sich um, sah ihn und stakste durch den Raum wie ein Aufziehspielzeug.

»Genosse Major Wassin.«

Es war keine Frage. Schwerfällig ließ sich der Offizier ihm gegenüber nieder.

»Ich bin Major Oleg Jefremow, General Saizews Adjutant.«

Der eindringliche Blick des Offiziers wanderte langsam über Wassins Gesicht. Aufmerksam betrachtete er die Brille, die weichen Hände und zuletzt Wassins Augen, die dieser Musterung unverfroren standhielten.

»Der General erwartet Sie. Wenn Sie mir bitte folgen.«

In seiner knappen Uniformjacke sah General Saizew aus wie ein Landarbeiter aus der Zeit vor der Revolution, der sich in seinen unbequemen Sonntagsanzug gezwängt hatte. Sein Hals war breiter als sein Gesicht. Mit narbigen, auf dem Tisch zu Fäusten geballten Pranken saß er da wie ein Oger, drauf und dran, einen Eindringling zu verschlingen, der sich in sein Königreich verirrt hatte. Zum Beispiel einen dieser an der Universität ausgebildeten Warmduscher, die seit Stalins Tod in den Dienst eingetreten waren. Wassin kannte Saizews Typ. Ein Staatssicherheitsoffizier der alten Schule, der sich seine Sterne in blutverschmierten Hinrichtungskellern verdient hatte. Ein Mann, der den Geruch frischen Todes eingeatmet hatte.

»Der Kontrolleur der Regierung ist gekommen, um uns zu überprüfen.«

Saizew sprach mit einem behäbigen Provinzakzent und schien mit seiner Äußerung Wassin reizen zu wollen wie ein trotziges Kind.

»Nein, Genosse. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass Ihre Arbeit nicht von höchster Qualität ist.«

»Man hat mir erzählt, dass Sie gestern am späten Abend persönlich an Professor Adamow herangetreten sind. Nur hatten Sie da Ihre Ausweispapiere den örtlichen Behörden noch nicht vorgelegt. Also mir.«

Bedächtig nickte Wassin. Er betrachtete Saizews Gesicht eines Fleischers, die Hände, die mit den Fingerknöcheln knackten.

»Dafür entschuldige ich mich, General. Meine Ausweis­papiere habe ich dabei.«

Wassin zog einen Packen Papier aus seiner Uniformtasche hervor und streckte die Dokumente dem General hin. Saizew nahm sie nicht entgegen.

»Hören Sie mir gut zu. In dieser Stadt herrscht ein spezielles Regime. Es gibt Verfahren, die …«

»General«, fiel Wassin ihm ins Wort. »Bei allem Respekt, meine Befehle sind äußerst klar und deutlich.«

Saizews Gesicht lief dunkelrot an.

»Meine Ermittler sind bereits zu einem Ergebnis gekommen.« Die Stimme des Generals klang ungefähr so einfühlsam wie ein Gummiknüppel. »Die Beweise zeigen unmissverständlich, dass sich Fjodor Petrow selbst getötet hat. Die Ermittlungen sind beendet. Wir reichen den Bericht so ein, wie er ist. Sie kommen zu spät.«

Wassin mimte geschickt den Unterwürfigen.

»Ja, Genosse General.« Das hatte er alles schon erlebt. Dem Rang nach war er diesem Mann untergeben. Aber aufgrund der Behörde, die er repräsentierte, stand er … außerhalb. Etwas, worauf man mit Feingefühl hinweisen musste. Anfangs zumindest. »Aber ich bin von den zuständigen Behörden damit beauftragt worden, eine unabhängige Prüfung der Beweise vorzunehmen. Und Sie möchten natürlich nicht, dass ich meine Befehle missachte. Wie Sie wissen, pflegt der Vater des Verstorbenen enge persönliche Beziehungen mit etlichen Mitgliedern des Politbüros.«

Saizew gab ein Schweinsgrunzen von sich.

»Prüfen Sie ruhig, wenn es sein muss. Wir haben eindeutige Beweise zusammengetragen. Aber es ist Ihnen nicht gestattet, an die Hauptzeugen heranzutreten oder sie zu belästigen. Sie wurden bereits zu meiner Zufriedenheit befragt. Ist das klar?«

»Eindeutige Beweise, Genosse General?«

»Ja, eindeutige. Petrow ist an einer Thallium-Vergiftung gestorben. Das ist ein radioaktives Schwermetall. Er hat Thallium in seinem Labor benutzt. Und für jedes entnommene Milligramm unterschrieben. Aber er hat nicht jedes entnommene Milligramm bei der Arbeit benutzt. Die Aufzeichnungen belegen es. Eine beträchtliche Menge Thallium fehlt. Rund zweitausend Milligramm sind unauffindbar. Ist das eindeutig genug für Sie, Major?«

»Darf ich mir die Aufzeichnungen ansehen, General?«

Saizews ohnehin bereits finstere Miene wurde noch galliger. Er wandte sich an seinen Adjutanten.

»Jefremow? Der Mann aus Moskau glaubt mir nicht. Bringen Sie mir unsere Abschrift der Laborakten.«

Jefremow rümpfte die Nase, als hätte er einen üblen Geruch wahrgenommen, dann gehorchte er. Während er damit beschäftigt war, einen großen Stahltresor im hinteren Bereich von Saizews Büro zu öffnen, griff sich der General einen Papierstapel aus dem Posteingangskorb, fing an, die Schriftstücke zu lesen, und ignorierte Wassin demonstrativ.

»Genosse General? Der Bericht, den Sie wollten.«

Saizew griff sich den grauen Aktenordner aus der zierlichen Hand seines Assistenten. Dabei knickte der Kartoneinband unter den dicken Fingern des hochrangigen Militärs.

»Richtig. Wassin. Hier. Sehen Sie sich alles an. Jede Thallium-Probe, für die Petrow im vergangenen Monat unterschrieben hat. Links ist jedes Gramm verzeichnet, das er für seine Tests benutzt hat. Die unauffindbare Menge ist rot hervorgehoben. Ein Team von fünf Mann hat drei Tage lang sämtliche Akten durchforstet, um diese Informationen zusammenzutragen. Begonnen wurde damit unmittelbar nach dem Obduktionsbericht, fertiggestellt wurde die Arbeit vergangene Nacht.«

Wassin überflog die Spalten mit Zahlen, Daten, Beträgen. Die Angaben sagten ihm nichts. Was Saizew gewusst hatte.

»Darf ich das behalten?«

»Dürfen Sie nicht. Wie Sie sehen, ist das Dokument mit ›Streng geheim‹ gekennzeichnet.«

»Und die Abschriften der Zeugenbefragungen?«

»Die werden zu gegebener Zeit in der Registratur archiviert. Die Fallakte wird gerade erst zusammengestellt. Ganz nach unseren Verfahren. Sobald sie fertig ist, können Sie die Akte lesen. Und dem Bericht zustimmen.«

»Und die Leiche?«

Saizew schnaubte.

»Sicher verwahrt in einer Leichenhalle.«

»Wann kann ich sie sehen?«

»Nie. Zu radioaktiv. Die Strahlung löst Gewebe wie Zucker in Tee auf. Hat man mir zumindest gesagt.«

»Und Petrows Wohnung?«

»Dasselbe. Versiegelt.«

Stirnrunzelnd schaute Wassin zu Boden.

»Also wenn ich das richtig verstanden habe, General, kann ich gar nichts unternehmen? Dann bleibt mir wohl nur, ein Telegramm nach Moskau zu schicken und mitzuteilen, dass ich davon abgehalten werde, die Anweisungen des Politbüros auszuführen. Auch gut. Ich wünsche noch einen schönen Tag, Genossen. Ich vermute, Moskau wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

Damit legte Wassin seine Legitimationsdokumente auf Saizews Schreibtisch ab, salutierte zackig und machte auf dem Absatz kehrt, ohne darauf zu warten, dass er entlassen wurde.

»Warten Sie!«

Die Stimme des Generals war zu einem tiefen Knurren gesunken.

»Major. Erledigen Sie einfach Ihre Arbeit und verschwinden Sie von hier. Jefremow, Sie können unseren Gast zur Leichenhalle bringen. Er hätte gern eine Kostprobe von unserer Arsamas-Strahlung. Begleiten Sie ihn am besten sofort hin.«

Jefremow salutierte seinerseits und stakste aus dem Raum. Im Vorbeigehen bedachte er Wassin mit einem verächtlichen Blick. Wassin und Saizew blieben allein zurück.

»Danke, Genosse General. Ich werde meine Arbeit erledigen.«

»Sie haben zwei Tage, Wassin. Zwei.«

Oder was?

Wassin war so klug, die Frage nicht zu stellen.

II

Wassin und Jefremow marschierten die Engels-Allee hinunter, ohne miteinander zu sprechen. Ein feiner Nieselregen hüllte die Stadt in einen Schleier aus umhertreibendem Grau. Sie gelangten auf den nach Lenin benannten Hauptplatz. An eine Seite grenzte ein steiles Flussufer. In einiger Entfernung befand sich eine bewaldete Insel, von der ein hoher Glockenturm und Zwiebelkuppeln eines ehemaligen Klosters aufragten, das bisher noch nicht abgerissen worden war. Links davon erhob sich der arrogant-moderne Block des Kinos Moskau, dessen Fassade aus einer weit geschwungenen verspiegelten Glasfläche bestand. In der Vorhalle des Kinos kämpfte schummriges Licht von Kronleuchtern gegen das morgendliche Zwielicht. Die einzigen Farben auf dem Platz stammten aus den Schaufenstern des Kaufhauses Univermag. Im Vorbeigehen begutachtete Wassin beiläufig die ausgestellten Waren. Tschechische Schuhe und deutsche Mäntel. Ein großer Stapel Königskrabben in Dosen. In Moskau hätte ein solches Angebot eine Menschenmenge angelockt. Hier hingegen wirkten die Bürger gleichgültig gegenüber den fantastischen Luxusgütern, die sich in den Schaufenstern türmten.

Und die Menschen selbst: Wie sie sich bewegten, hatte etwas Beunruhigendes an sich. Auf diesem außergewöhnlichen Planeten namens Arsamas gab es keine Aufläufe mürrischer Hausfrauen, die sich rempelnd zu Objekten ihrer Begierde drängten, sei es zu einer abfahrenden Straßenbahn oder zu einem frischen Hühnchen. Die Menschen in der Stadt schlenderten vielmehr umher wie Statisten in einem Film. Zudem waren sie auch so gut gekleidet wie Schauspieler, sogar die Arbeiter mit ihren gestreiften Matrosenunterhemden und Blaumännern. Eine Modellstadt voller Modellbürger.

An einer Straßenkreuzung stand ein Verkehrspolizist und schien auf Verkehr zu hoffen, den er regeln könnte. Es kam keiner. Jefremow bog in die Kurtschatow-Straße. Sie passierten ein Restaurant mit roten Veloursvorhängen, einen Frisiersalon, aus dem der penetrante Veilchenduft von Haarspray wehte, und Lebensmittelläden mit ihren staatlichen Sowjetschildern: FLEISCH. FISCH. Eine elektrische Straßenbahn, das neue polnische Modell, das erst unlängst in Moskau Einzug gehalten hatte, rumpelte auf frisch verlegten Schienen vorüber. Das Zentralkrankenhaus von Arsamas stand etwas von der Straße zurückversetzt, ein langer, grauer Klotz.

Am Eingang zum Krankenhaus blieb Wassin stehen, um sich eine Orbita anzuzünden. Jefremow wartete, zündete sich jedoch selbst keine Zigarette an. Wassin wusste, wie ratsam es war, die Nasenhöhlen zu betäuben. Er kannte den widerlichen Mief in den Leichenschauhäusern zu Beginn der meisten seiner Fälle nur allzu gut. Er erinnerte sich zum Beispiel an einen stinkenden Keller in Taschkent, aus dem irgendein Parteibonze die Kühlanlage für seine Datscha abtransportieren lassen hatte. Oder an ein Beinhaus in Rostow am Don, wo sich die Leichen in grotesken Haufen wie die bizarre Parodie einer Orgie getürmt hatten. Aber als Jefremow und er die Treppe ins Untergeschoss des Krankenhauses hinabstiegen, füllten sich Wassins Nasenlöcher nur mit dem sauberen, sterilen Geruch von Formaldehyd und Desinfektionsmittel. Ein Arzt in einem gestärkten Laborkittel trat rückwärts in den Gang. Beim Anblick der beiden Offiziere blieb er unvermittelt stehen.

»Guten Morgen … Genossen.«

Ihre Uniformen. Schwarze Offiziersstiefel, blaue Hose, Gürtel und Schulterstücke, die verräterischen grünen KGB-Paspeln an den Mützen und Schulterklappen. Damals, als Wassin noch in seiner alten, dunkelblauen, zerknitterten und abgewetzten Polizeiuniform gearbeitet hatte, da hatten die Menschen bei seinem Anblick die Augen verdreht. Die meisten Sowjetbürger betrachteten gewöhnliche Polizeibeamte als Stümper, als mit Gürteln zugeschnürte Drecksäcke. Der verbreitetste Spitzname für die Polizei lautete Musor, »Müll«. Seit seinem Wechsel zum KGB schraken die Menschen bei seinem Anblick vor ihm zurück. Genoss er das? Wassin musterte den Arzt von oben bis unten. Ein Teil von ihm schon. Um einen Offizier der Staatssicherheit krümmte sich die Welt. Es schien wie ein physikalisches Gesetz zu sein, wie Radiowellen, die sich in einem Magnetfeld verbiegen. Die Welt krümmte sich also – nur in der Regel nicht in die Richtung der Wahrheit.

»Genosse Doktor Andrejew.«

»Major …«

»Jefremow. Ich habe einen gewissen Major Wassin von der Staatssicherheit dabei, Abteilung für Sonderfälle in Moskau. Er ist hier, um über den tragischen Unfall von Fjodor Petrow zu diskutieren.«

»Ah.« Dr. Andrejews Züge entspannten sich ein wenig. »Natürlich.«

Die Menschen fürchteten die Uniform immer noch. Zeig mir den Mann, und ich zeige dir das Verbrechen, hatte das Motto der alten KGB-Garde aus der Stalin-Generation gelautet. Sicher, das Land hatte mittlerweile ein anderes Oberhaupt und steuerte in eine andere Zukunft. Offiziell hatte man die alten Tage des Staatsterrors, der willkürlichen Verhaftungslisten und der Regionalquoten für Hinrichtungen über Bord geworfen. Zumindest wollte Wassin das glauben. Ungeachtet dessen hielt sich der Angstreflex hartnäckig wie der Schmerz einer alten Narbe.

»Möchten Sie, dass Ihr Besucher den Pathologiebericht zu sehen bekommt, Major?«

Wassin ergriff das Wort.

»Und den Leichnam.«

Andrejew zögerte.

»Sind Ihnen die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen … und das Risiko bekannt?«

Wassin nickte verkniffen. Niemals Unwissenheit zugeben. Andrejew schaute nervös zu Jefremow, der mit gequälter Grimasse zustimmte.

»Bitte, machen Sie ruhig. Unser Besucher aus Moskau scheint sehr übereifrig zu sein. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, warte ich draußen.«

»Also gut. Ich rufe mein Personal.«

»Ist das Risiko … ungewöhnlich hoch?«

»Ja, Genosse Major. Sie werden es im Pathologiebericht sehen. Tests haben gezeigt, dass der junge Petrow genug Thallium im Körper hat, um eine ganze Stadt zu vergiften.«

Die raue Baumwolle des zu großen Overalls scheuerte in Wassins Schritt und ließ ihn o-beinig gehen. Vor seinem Gesicht trug er eine gewölbte Maske, die von innen mit Atemluft beschlug. Andrejew ging steifbeinig in einen glänzend weiß gefliesten Raum voraus, den eine gleißend helle Operationslampe erleuchtete. Zwei ebenfalls wie Kosmonauten gekleidete Sanitäter rollten einen tristen Metallsarg auf einer Transportliege herein. Sie hatten Mühe, den Deckel anzuheben, der sich Stück für Stück öffnete.

»Blei«, rief Andrejew, um sich durch das gummierte Segeltuchmaterial seiner Maske Gehör zu verschaffen. »Blei! Absorbiert Strahlung.«

Im Sarg lag ein Ertrunkener. Zumindest war das Wassins erster Eindruck. Das Gesicht war aufgedunsen, die Haut blass und fleckig. Sowohl die Augen als auch der Mund standen weit offen. Petrows Haar war büschelweise ausgefallen, auch im Sarg hatte er noch etliche Strähnen verloren. Die Zähne des jungen Mannes wirkten ebenfalls locker und waren von geronnenem Blut überzogen. An Petrows Schultern und Brust zeichneten sich Kratzspuren wie von Fingernägeln ab. Wassin zeigte mit einer behandschuhten Hand fragend darauf. Der Arzt deutete daraufhin an, sich den Overall vom Leib zu reißen.

»Selbst zugefügt. Er hat seine Kleidung zerfetzt.«

Der Tote hatte mit dem attraktiven jungen Mann auf dem Foto in Petrows Akte nichts mehr gemeinsam. Das Opfer im Sarg sah aus wie … Wassin suchte nach dem richtigen Wort für eine Beschreibung. Explodiert. Petrows Körper schien aufgeplatzt zu sein wie eine zu lang gekochte Wurst.

Ungewöhnlich fand er, dass der Rumpf unversehrt zu sein schien. Wassin deutete über dem Bauch mit Gesten ein Aufschneiden und Zunähen an. Andrejew schwenkte verneinend einen Finger.

»Keine Autopsie, Major. Zu gefährlich«, ertönten seine gedämpften Worte.

Die Toten erwiesen sich oft als Wassins beste Informanten. Die meisten seiner Ermittlerkollegen bevorzugten lebende Zeugen, die sie einschüchtern und terrorisieren konnten. Aber Wassin wusste, dass Tote sehr wohl Geschichten erzählen konnten. Und im Gegensatz zu den Lebenden logen sie selten. Petrows Leichnam jedoch würde seine Geheimnisse mit ins Grab nehmen.

»Zumachen.« Wassin wedelte mit den Händen. »Zumachen.«

Der Pathologe senkte ein schwarzes Bakelit-Gerät an die Stelle neben dem Kopf des Leichnams – anscheinend ein Geigerzähler zur Messung der Strahlung. Die Nadel sprang jäh auf maximalen Anschlag und verharrte dort. Andrejew drehte einige Regler, wodurch sich die Anzeigenadel letztlich senkte. Er las den endgültigen Wert ab. Dann tauchten die Sanitäter wieder auf, versiegelten den Sarg mit raschen Bewegungen und beraubten Petrows hellblaue Augen zum letzten Mal des Lichts.

Wassin und Andrejew verließen den Raum nacheinander durch eine andere Tür als jene, durch die sie eingetreten waren. Drei mit Raumfahreranzügen vermummte Gestalten erwarteten sie, gerüstet mit Hochdrucksprühpistolen. Sie bearbeiteten Andrejew und Wassin kurzerhand aus jeder Richtung mit heißem Wasser. Zwei sprühten, während der dritte sie kräftig mit einem langstieligen Besen abschrubbte. Dann halfen die weißen Gestalten Wassin und Andrejew, ihre Schutzkleidung abzulegen, und verwiesen sie, als sie triefend in Unterwäsche vor ihnen standen, in einen Duschraum. Obwohl um ihre Körper heißer Wasserdampf aufstieg, stellte Wassin fest, dass er zitterte.

»Ich hoffe, Sie finden unsere Verfahren gründlich.«

»Und ich hoffe, Sie haben das nicht nur meinetwegen veranstaltet, Doktor.«

»Wir nehmen Strahlung in Arsamas äußerst ernst.«

»Es besteht kein Zweifel an der Todesursache?«

»Keiner. Die Symptome sind überaus deutlich. Petrow hat irgendwann vergangenen Montag eine hochgradig radioaktive Substanz zu sich genommen. Eine einfache Analyse seines Erbrochenen hat das Vorhandensein von Thallium bestätigt. Gewebeproben haben gezeigt, dass er ungefähr zweitausend Milligramm konsumiert hat. Zwei Gramm. Schon rund ein Viertel Milligramm wäre tödlich. Er hat also genug zu sich genommen, um achttausend Menschen zu töten. Bestimmt verstehen Sie jetzt, warum wir ihn nicht aufschneiden wollen.«

»Und der Ursprung des Thalliums? Wer hat Zugriff darauf?«

Andrejew wandte sich dem Ermittler zu.

»Hunderte Menschen. Die ganze Stadt ist rund um radioaktives Material errichtet. Und um dessen Verwendung.«

Der Arzt zog seinen Hosenträger hoch und schlüpfte in seinen weißen Laborkittel.

»Hatte Petrow Zugriff?«

»Natürlich. Er hat im Institut gearbeitet. Aber nach Einzelheiten müssten Sie seine Laborgehilfen fragen. Ich könnte mir denken, dass im Labor ein Protokoll geführt wird.«

»Und Sie, Doktor: Was für ein Gefühl haben Sie bei der Todesursache?«

»Ich habe keine Gefühle anzubieten, Genosse Major. Nur Beobachtungen und Feststellungen. Eine solche Feststellung ist, dass Männer, die mit chemischen Stoffen wie Thallium arbeiten, Profis sind. Sie alle wissen um die Gefahren.«

Im Augenblick bedauerte Wassin die Uniform. Pathologen hatten oft gute Ahnungen, die sie in der Regel wie zärtliche Worte nach dem Beischlaf bei einer gemeinsamen Zigarette nach einer Autopsiebesprechung preisgaben. Hier jedoch, in der hell erleuchteten Sterilität des Untergeschosses dieses Krankenhauses, gab es keine düsteren Winkel, in denen Vertrauen entstehen konnte.

»Sieht es für Sie wie ein Selbstmord aus?«

Andrejew bedachte Wassin mit einem langen Blick.

»Genosse. Die Wissenschaftler hier leben in einer Wolke. Aber die Wolke ist klein und schwebt sehr hoch. Und manchmal ist die Wolke überfüllt. Dann fallen Leute hinunter.«

»Oder springen?«

»Das herauszufinden, Genosse, fällt in Ihre Zuständigkeit, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.«

Andrejew schüttelte Wassin die Hand und ließ ihn im Umkleideraum stehen. An einer Glasscheibe in der Labortür erschien Jefremows Gesicht, der ungeduldig hereinspähte, um herauszufinden, was Wassin so lange aufhielt.

III

Vor dem Krankenhaus sog Wassin gierig an einer weiteren Zigarette.

»Warum haben Sie sich die Leiche nicht mit uns angesehen, Jefremow? Sie kommen mir nicht wie der zimperliche Typ vor.«

Der Adjutant, der die Hände tief in den Taschen seines Regenmantels vergraben hatte, nickte nur.

»Wie lange wollen Sie noch den harten Schweigsamen mimen, Jefremow?«

Sein Begleiter lächelte frostig.

»Langweilt Sie Arsamas bereits, Major? Brauchen Sie Unterhaltung?«

»Ich brauche Informationen.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, wie Petrow gestorben ist.«

»Das …«

»Steht in der Akte. Natürlich. Aber mein Gedächtnis ist fürchterlich. Helfen Sie mir auf die Sprünge.«

»Petrow wurde tot in seiner Wohnung gefunden. Gestorben an einer Thallium-Vergiftung.«

»Und was hat er in den letzten Stunden seines Lebens gemacht?«

»Gesehen wurde Petrow zuletzt beim Abendessen mit Kollegen.«

»Welchen Kollegen?«

»Er hat mit Professor Adamow und dessen Frau bei ihnen zu Hause gegessen. Sie haben berichtet, Petrow habe müde gewirkt, davon abgesehen jedoch normal.«

»War sonst noch jemand bei dem Essen dabei?«

»Ein Oberst aus dem technischen Bereich. Pawel Korin.«

»Und wie lange hat das Thallium gebraucht, um Petrow umzubringen? Irgendeine Ahnung, wann er es zu sich genommen hat? Oder wie?«

»Es wird ein paar Stunden gedauert haben. Er hat es selbst eingenommen.«

»Vermuten Sie. Hat ihn nach dem Abendessen jemand in seiner Wohnung besucht?«

»Nein.«

»Gibt es in seinem Gebäude einen Pförtner? Einen Wachmann?«

»Der hat geschlafen. Steht in seiner Zeugenaussage.«

»Also besteht keine Möglichkeit herauszufinden, ob in jener Nacht jemand gekommen oder gegangen ist?«

Jefremow seufzte müde.

»Petrow hat sich selbst das Leben genommen, Wassin. Das machen die Menschen in der Regel allein.«

»Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen? Können wir in seine Wohnung?«

»Ihr Gedächtnis ist wirklich fürchterlich, Major. General Saizew hat Ihnen bereits gesagt, dass es unmöglich ist. Zu radioaktiv.«

»Dasselbe hat er über die Leiche gesagt. Und hier sind wir jetzt.«

»Sie können sich gern die Ermittlungsfotos ansehen.«

»Das werde ich. Aber haben Sie die Wohnung selbst gesehen?«

Über Jefremows frostige Züge huschte ein Anflug von Emotion.

»Zufällig habe ich das.«

»Und was genau haben Sie gesehen?«

»Blut und radioaktive …« Jefremow schien nach einem feineren Wort zu suchen, jedoch letztlich seinem ersten Impuls zu folgen. »Radioaktive Kotze. Überall.«

»Und wo war Petrow?«

Kurz rang Jefremow mit sich, hin- und hergerissen zwischen Misstrauen und dem Verlangen zu reden.

»Kommen Sie, alter Freund. Wir stehen doch auf derselben Seite.«

»Petrow war in seine Laken verheddert. Er hatte sie in Fetzen gerissen. Und das Kissen hatte er mit den Zähnen in seine Einzelteile zerlegt. Sogar an der Wand war Blut.«

»Klingt nach einer ziemlich grausigen Art zu sterben.«

Unwillkürlich schauderte Jefremow, und er schwieg eine Weile.

»Vielleicht hat er es so verdient.«

»Es verdient?«

Jefremow beschwor ein weiteres frostiges Lächeln herauf.

»Richtig. Genug geplaudert.« Der Ton des Adjutanten wurde zackig und dienstlich. Er zupfte seine Uniformjacke zurecht und sah auf die Armbanduhr. »Inzwischen sollte man in der Registratur für Sie bereit sein. Begraben wir Sie in Papierkram.«

»Bevor Sie mich begraben …«

Argwöhnisch verengte Jefremow die Augen.

»Ich muss ein Telegramm schicken. Intern und sicher. An meinen Vorgesetzten.«

Sicher bedeutete natürlich, dass es Saizew unverzüglich zu Gesicht bekommen würde.

»Ein Telegramm?«

»Es ist an der Zeit, sich in Moskau zu melden. Standardverfahren. Mein Vorgesetzter bleibt gern zeitnah auf dem Laufenden. Außer natürlich, Sie haben etwas dagegen.«

»Natürlich nicht.«

Wassin wusste, dass wahrscheinlich nur fünf schlichte Worte ausreichen würden. ERBITTEUMGEHENDESGESPRÄCHMITADAMOW. Wenn er in seinem Jahr bei der Abteilung für Sonderfälle etwas gelernt hatte, dann, dass General Orlow die schier übernatürliche Gabe besaß, einige der mächtigsten Männer der UdSSR nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Der Teufel sollte General Saizew holen. Wassin vermutete, dass innerhalb weniger Stunden eine befehlsgewohnte Stimme den Professor telefonisch anweisen würde, sich Zeit zu nehmen. Unverzüglich.

IV

Petrows Akte lag schwer auf Wassins Schoß. Beim Foto des toten Wissenschaftlers handelte es sich um ein professionelles Studioportrait. Das Gesicht lag in dramatischen Halbschatten wie bei einem Star von MosFilm. Petrow stellte sein gutes Aussehen ungezwungen mit einem verhaltenen Lächeln auf den Lippen zur Schau. Ein Gesicht wie aus einer Zeitschrift: gewelltes helles Haar, große blaue Augen, fein geschnittene Kieferpartie. Ein Gesicht, das mit Sicherheit niemand geschlagen hatte. Die Augen wirkten bereit, sich jederzeit zu einem Ausdruck aufrichtiger Hingabe zusammenzukneifen. Das Gesicht eines Liebhabers.

Saizew und seine Männer hatten gründlich gearbeitet. Die Akte enthielt Petrows vollständige persönliche Daten: vierzig Seiten mit Referenzen und regelmäßigen Überprüfungen in jedem der sechs Jahre, die er in Arsamas verbracht hatte. Parteiversammlungen, an denen er teilgenommen hatte, bezahlte Gebühren, formelle Berichte von Parteireferenten. Und aus der Zeit davor die Aufzeichnungen des Kommunistischen Jugendverbands über ihn, sowie ein Haufen Empfehlungsschreiben von seinen Betreuern an Hochschulen. Die Briefköpfe strotzten nur so vor roten Sternen und Lorbeerkränzen.

Wassins geübtem Auge entging nicht, was fehlte. In der Akte gab es keine Denunziationen von Kollegen oder warnende Anmerkungen von Vorgesetzten, keine abgehörten Anrufe, keine abgefangene Post. Nichts von den üblichen Bruchstücken des Büroklatschs oder unbedeutenden Ressentiments, die normalerweise ihren Weg zur Kontora fanden. Anscheinend besaß der KGB in den höheren Kreisen der Zitadelle keine Augen und Ohren. Aus der Sicht der Kontora befand sich das Institut hermetisch abgeriegelt hinter einer hohen, durchgehenden Mauer des Schweigens.

Die meisten Befragungen von Petrows Kollegen in den Tagen nach seinem Tod hatte Major Jefremow geleitet. Die Abschriften lasen sich wie der vertraute Beamtenjargon und waren überwiegend eine Ansammlung von Belanglosigkeiten. Ein Zeuge jedoch stach heraus: Dr. Wladimir Axelrod, Petrows Laborkollege und laut eigener Aussage persönlicher Freund.

JEFREMOWO. P. (MAJOR, GUGB/AZ16): Genosse Doktor Axelrod, bitte geben Sie Ihre Einschätzung des Geisteszustands des Verstorbenen in seinen letzten Tagen zu Protokoll.

AXELRODW. M.: Meiner Einschätzung nach hat Dr. PETROW keine Verhaltensweisen gezeigt, die man als ungewöhnlich beschreiben könnte.

F: Wie oft haben es die Umstände zugelassen, dass Sie sich ein Bild von der Stimmung und den Verhaltensweisen des Verstorbenen machen konnten?

AXELRODW. M.: Wir haben uns täglich gesehen, wenn wir am selben Projekt gearbeitet haben. In den letzten Tagen seines Lebens war das der Fall. Außerdem hatten wir regelmäßig gesellschaftlichen Umgang mit anderen Genossen vom Institut.

Wassin rieb sich die Augen und fluchte innerlich. Die Förmlichkeit solcher Aufzeichnungen trieb ihn regelmäßig zur Weißglut, weil sie einerseits jedes Leben aus den Worten quetschte und andererseits jeden Befragten in eine vorgezeichnete Rolle drängte, entweder die des reuigen Verbrechers oder die des hilfsbereiten Bürgers.

F: Wissen Sie von beruflichen oder persönlichen Umständen, die einen ungewöhnlich gestressten oder gestörten Gemütszustand beim Genossen PETROW verursacht haben könnten?

AXELRODW. M.: Wir alle sind durch die Dringlichkeit und Bedeutung von Projekt RDS-220 beruflichem Stress ausgesetzt.

Auf der mit kräftigem Anschlag in dreifacher Ausfertigung getippten Seite wirkten der Ermittler und sein Befragter wie Amateurschauspieler, die Zeilen aus einem altertümlichen Stück aufsagten. Und doch war von allen Kollegen Petrows nur Axelrod zu einer zweiten Befragung geholt worden, diesmal mit General Saizew höchstpersönlich. Der Ton der nächsten Befragung klang entschieden härter. Saizew wusste haargenau, was er von seinem Befragten brauchte.

SAIZEWO. W. (M-GGUGB/AZ16): Sind Ihnen Personen bekannt, die subversive Einflüsse in Dr. PETROWS Leben gebracht haben könnten?

AXELRODW. M.: Ich weiß von keinen solchen subversiven Einflüssen.

F: Er war bekannt dafür, ausländische Werke nihilistischer Natur zu lesen. Wer hat PETROW derart psychisch ungesundes Material nahegelegt?

AXELRODW. M.: Ich weiß nichts über Dr. PETROWS literarische Einflüsse. Aber er hat seine Bücher auf dieselbe Weise wie wir alle erhalten. Als Sondersendung von der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften, von unseren Instituten oder von unseren Familien. Höchstwahrscheinlich hat PETROWS Vater ihm diese Bücher geschickt. Ich schlage vor, Sie fragen den Genossen Akademiker. Soweit ich weiß, ist er ein Mann vielschichtiger Interessen.

Wassin erkannte auf Anhieb, dass Axelrods Versuch, bei einem Mann wie Saizew einen Scherz einzustreuen, ein Fehler gewesen war. Er sah förmlich vor sich, wie der General vor Empörung über die Unverschämtheit hochrot anliefen.

F: Beantworten Sie die Frage. Haben Sie ihn mit subversiver oder ausländischer Literatur versorgt?

AXELRODW. M.: Im Juli dieses Jahres habe ich dem Verstorbenen eine Ausgabe von DASSEINUNDDASNICHTS von SCHONPOLSATRE (Schreibung??) geliehen, einem fortschrittlichen französischen Denker.

F: Und wovon handelt dieses Buch?

AXELRODW. M.: Es ist ein philosophisches Werk der existenzialistischen Schule. Der Autor hält fest, dass die Existenz einer Person ihrer Essenz vorausgeht. Er versucht zu beweisen, dass es freien Willen gibt.

F: Wurde dieses Buch von den zuständigen Behörden für sowjetische Leser genehmigt?

AXELRODW. M.: Soweit ich weiß, ist es kein verbotenes Buch.

F: Beantworten Sie die Frage. Wurde es für die allgemeine Lektüre genehmigt?

AXELRODW. M.: Nein.

F: Weil der Inhalt subversiv oder sowjetfeindlich ist?

AXELRODW. M.: Ich kann mich nicht dazu äußern, was für die allgemeine Lektüre genehmigt ist und was nicht oder warum. In Arsamas haben wir das Privileg des unbeschränkten Zugriffs auf ausländische Zeitschriften und Literatur, weil wir dieses Material für unsere wissenschaftliche Arbeit brauchen.

Ein beherzter Konter. Aber schon lange, bevor es Axelrod offenbar erkannt hatte, konnte Wassins Ermittlerauge zwischen den Zeilen herauslesen, wohin Saizews Befragung so zuverlässig führte wie ein Traktor, der eine Furche pflügt.

F: Hat PETROW viele zugriffsbeschränkte ausländische Werke gelesen?

AXELRODW. M.: Niemand von uns hatte viel Zeit, um zum Vergnügen zu lesen.

F: Bestätigen Sie ungeachtet dessen, dass er interessiert an derlei ausländischen Philosophien war? Dass er darüber gelesen hat, wenn er konnte?

AXELRODW. M.: Er war interessiert daran.

F: Demnach stand er unter dem Einfluss dieses Franzosen, SATRE (Schreibung?)?

AXELRODW. M.: In gewisser Weise, ja.

F: Und würden Sie bestätigen, dass sich PETROWS gesellschaftliche Aktivitäten in den Wochen vor seinem Tod drastisch verringert haben?

AXELRODW. M.: Wir alle mussten unsere privaten Aktivitäten durch das RDS-220-Programm drastisch zurückschrauben.

F: Aber Sie bestätigen das in PETROWS Fall?

AXELRODW. M.: Ja.

F: Können Sie auch bestätigen, dass er Anzeichen von Stress erkennen ließ? Hat er unregelmäßig geschlafen?

AXELRODW. M.: Das könnte man im Augenblick über uns alle sagen.

Wassin blätterte weiter. Saizew hatte jeden Teil seiner Theorie so sorgfältig vorbereitet wie ein Billardprofi, der seine Kugeln für einen Trickstoß in Stellung bringt. Im weiteren Verlauf versenkte er eine Kugel nach der anderen.

F: Genosse Doktor. Sie haben es eindeutig versäumt, die Anzeichen geistigen Verfalls bei Ihrem Kameraden in den Tagen und Wochen vor seinem Tod zu bemerken. Empfinden Sie darüber Bedauern?

AXELRODW. M.: Wir haben natürlich alle Entsetzen und Bedauern über Dr. PETROWS Tod empfunden.

F: Haben Sie persönliches Bedauern empfunden?

AXELRODW. M.: Ich habe Bedauern empfunden.

F: Sie haben bestätigt, dass der Verstorbene unter erheblich erhöhtem Arbeitsdruck gestanden hat. Sie haben außerdem ausgesagt, dass sein Schlafmuster unregelmäßig wurde und sein sozialer Umgang zurückging. Leugnen oder bestätigen Sie diese Aussagen?

AXELRODW. M.: Ich bestätige sie.

F: Außerdem haben Sie ausgesagt, dass PETROW die Gewohnheit hatte, sich mit ausländischer philosophischer Literatur nihilistischer Prägung zu befassen, die als nicht geeignet für die allgemeine sowjetische Öffentlichkeit eingestuft ist. Sie haben ausgesagt, dass er zumindest einen Teil dieses Materials von Ihnen hatte. Leugnen oder bestätigen Sie das?

AXELRODW. M.: Ich bestätige es.

F: Akzeptieren Sie die Formulierung, dass Sie in Ihrem kommunistischen Eifer bei einer Arbeit von entscheidender Bedeutung für das Vaterland einige Schwierigkeiten übersehen haben, die Genosse PETROW im Privatleben hatte?

AXELRODW. M.: Ich akzeptiere sie.

(Unterschrift) AXELRODW. M.

(Unterschrift/Befragung durchgeführt von) Major General SAIZEWO. W.

(Unterschrift/Befragung bezeugt von) Major JEFREMOWO. P.

Wassin wusste, dass er Saizews Abschlussbericht nicht zu lesen brauchte. Die Theorie des Generals zeichnete sich deutlich in Axelrods Befragung ab. Nach offizieller Auffassung des KGB war Petrow durch eine tödliche Kombination von beruflicher Überlastung und französischem Existenzialismus dazu getrieben worden, das Achttausendfache einer tödlichen Dosis Thallium zu sich zu nehmen.

V

Wassin streckte sich müde an seinem Schreibtisch in der Registratur der Kontora. Draußen vor den Fenstern schwand allmählich das Licht vom grauen Himmel. Er schloss die Akten und legte seine Notizen zu einem ordentlichen Stapel zurecht. Wassin war hungrig. Aber als er Jefremow sichtete, der mit einer Miene wie eine Gewitterwolke durch die Doppeltür hereinstapfte, wusste er sofort, dass die Kantine warten musste.

»Wassin?«

»Das bin immer noch ich.«

»Hören Sie, ich weiß nicht, was für ein Spiel Sie treiben oder wen Ihre Leute angerufen haben, aber …«

»Ist der Professor bereit für mich? Sind Sie gekommen, um mir das zu sagen? Sehr freundlich.«

Schwungvoll stand Wassin auf, faltete seine Unterlagen zusammen, verstaute sie in eine Tasche seiner Uniformjacke und lächelte über Jefremows sichtliches Unbehagen. Eine durchaus vertraute Situation: der örtliche, für einen Fall zuständige Beamte, der voll Unmut feststellen muss, dass er nicht Herr im eigenen Haus ist. Mit Blumen hatte Wassin ohnehin nicht gerechnet. Es schadet nie, die aufgeblasenen Wichte ein wenig wachzurütteln. Den Rat hatte Wassin einst von Orlow erhalten. Sie müssen begreifen, wer das Sagen hat. Womit Orlow sich selbst gemeint hatte.

Ein Wolga der Kontora erwartete sie. Der Fahrer wendete unbekümmert über den Mittelstreifen und raste mit dem Wagen durch die dunkler werdende Stadt in Richtung der Wohnung des Professors.

VI

Die Adamows lebten in einem hübschen Gebäude aus der Zeit vor der Revolution mit Blick auf das Kloster jenseits des Flusses. Die Fassade zierten Karyatide und Nymphen aus Gips, deren ursprüngliche Üppigkeit durch dicke Schichten sowjetischer Farbe erschlafft wirkte. Aus dem Kabuff des Pförtners in der Eingangshalle spähte nur ein zorniges Auge hervor, das sich jedoch mit einem Blick auf Wassins und Jefremows Uniformen zufriedengab. Als sie die Steinstufen hinaufstiegen, fiel Wassin auf, dass der übliche, in Wohngebäuden vorherrschende Lärm fehlte: keine zu laut aufgedrehten Radios oder erhobenen Stimmen, kein Kindergeschrei, keine zuknallenden Türen.

Im ersten Stock betätigte Jefremow einen Klingelzug aus Messing. Nach einer langen Pause schwang die schwere Tür auf. Zuerst dachte Wassin, ein Junge hätte sie geöffnet. Tatsächlich jedoch handelte es sich um eine junge Frau mit hellem, kurzem Haar. Sie trug eine karierte, modisch kurz geschnittene Hose und einen weiten Pullover. Ihre Augen standen weit auseinander, ihr Körper besaß den langen, schmalen Rumpf eines geschmeidigen Wiesels. Sie strahlte eine frostige Eleganz aus.

Die junge Frau lehnte den Kopf gegen die Tür und hielt den Griff mit beiden Händen fest. Sie sagte kein Wort, doch sie hatte ein schier übernatürliches Strahlen in den Augen.

»Entschuldigen Sie die Störung. Ich … glaube, ich habe einen Termin mit Professor Adamow.« Wassin geriet angesichts der Intensität des Blicks der Frau ein wenig ins Stammeln. »Major Alexander Wassin.«

»Einen Moment«, sagte sie mit Flüsterstimme. Mit unsicher schwankenden Schritten durchquerte sie die breite Diele, ließ die beiden KGB-Männer an der offenen Tür stehen. Wassin hörte Gemurmel, gefolgt von Adamows Stimme.

»Kommen Sie rein.«

Adamow saß am Kopf eines Esstischs aus dunklem Holz, den Stühle mit hohen Rücken- und geschnitzten Armlehnen umgaben. Die junge Frau nahm ihren Platz an der Seite des Professors ein. Eine elegante, altmodische Lampe über dem Tisch beleuchtete leere Teller und die Hände der beiden, ihre Gesichter jedoch blieben in Schatten gehüllt. Adamow betrachtete seine Besucher mit unverhohlener Abscheu.

»Genossen Majore. Nehmen Sie Platz.«

Wassin entschied sich für den Stuhl links von Adamow, wodurch Jefremow nichts anderes übrigblieb, als sich mit dem anderen Ende des Tisches zu begnügen. Wassin beschlich das Gefühl, er wäre in eine Art Verhörszene eines historischen Films geraten. Im schummrigen Licht wirkte Adamows Gesicht wie das einer Leiche. Neben ihm saß erhaben und regungslos die junge Frau, als würde sie für ein Portrait posieren.

»Professor Adamow, danke, dass Sie mich empfangen. Mir wurde außerdem erklärt, dass Ihre Arbeit von größter nationaler Bedeutung ist.«

»Ich protestiere gegen diese Verschwendung meiner Zeit, vor allem an diesem kritischen Wendepunkt für das Schicksal unserer Nation. Aber wenn ich einen Anruf von einem Mitglied des Politbüros erhalte, bleibt mir keine andere Wahl, als mich zu fügen. Also. Rasch. Fjodor Petrow.«

»Richtig. Ist Ihnen in seinen letzten Tagen irgendetwas an seinem Verhalten merkwürdig vorgekommen? Sind Ihnen irgendwelche Anzeichen von Verzweiflung aufgefallen?«

»Mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Darüber habe ich bereits mit Ihrem Kollegen gesprochen. Mit ihm.«

Adamow deutete über den Tisch auf Jefremow, als zeigte er auf ein lebloses Objekt.

»Ich habe Ihre Aussage gelesen. Könnten Sie mir vielleicht Ihre Beziehung zu Petrow beschreiben?«

»Petrow war einer meiner vielversprechendsten Assistenten. Er hatte einen scharfen Verstand. Unsere Beziehung war rundum korrekt und professionell. Man wird ihn vermissen.«

»Also war Petrow allgemein beliebt?«

Eine Pause.

»Alle haben Fedja geliebt.« Die junge Frau streckte sich und beugte sich ins Licht. Ihre leise Stimme lallte ein wenig. »Alle … haben … Fedja Petrow … geliebt. Vor allem mein Mann.«

Die Spannung knisterte wie ein elektrischer Funke den Tisch entlang. Die Frau war jung genug, um die Tochter des Professors zu sein. Wassin beobachtete, wie sich ein verhaltenes, verkniffenes Lächeln in ihre Züge stahl. An einem Auge verschmierte der Mascara. Aus der Küche ertönte das schrille Pfeifen eines siedenden Kessels.

»Maria.« Adamow sprach zu ihr mit strenger Stimme wie zu einem Kind. »Würdest du uns bitte Tee bringen?«

Abrupt stand die Frau auf und stakste aus dem Raum.

Langsam wandte sich Adamow wieder Wassin zu.

»Fahren Sie fort.«

»Wie lange haben Sie Petrow gekannt?«

»Haben Sie schon mit dem Vater des Jungen gesprochen? Unserem geschätzten Genossen Akademiker Arkadi Wassiljewitsch Petrow?«

»Das habe ich, Genosse Professor. Ich habe mich vor zwei Tagen in Moskau mit ihm unterhalten.«

Wassin dachte an den älteren Petrow zurück, wie er vor wenigen Tagen zusammengesunken und weinend unter dem triefenden Dachvorsprung seiner Datscha gesessen hatte. Ein fülliger Mann, gezeichnet von Kummer.

»Dann hat Ihnen Arkadi Wassiljewitsch ja zweifellos gesagt, dass wir uns schon lange kennen. Sogar, seit Fjodor ein Junge war.« Ein leichtes Zittern schlich sich in Adamows Stimme. »Wissen Sie, sein Vater und ich waren früher Kollegen. Damals in den Dreißigerjahren. In den heldenhaften Tagen.«

Seine Stimme klang trocken wie Papier, das man aus einem staubigen Regal holt.

»Verstehen Sie sich immer noch gut mit Akademiker Petrow?«

»Sehr gut sogar.«

»Und sein Sohn Fjodor Arkadjewitsch ist wann hergekommen, um für Sie zu arbeiten?«

»1955. Was Sie bestimmt den Akten entnehmen können. Bitte, Major, ersparen wir uns die Pro-forma-Fragen.«

Maria kehrte mit einem Tablett voller klirrendem Porzellan zurück. Es schien ihre gesamte Konzentration zu erfordern, drei Tassen des schwachen Tees einzuschenken. Überaus förmlich reichte sie die Tassen Wassin, Jefremow und Adamow, bevor sie schweigend zu ihrem Platz zurückkehrte.

»Erzählen Sie mir von den Sicherheitsverfahren in Ihren Labors.«

»Sprechen Sie mit Dr. Wladimir Axelrod, wenn Sie unbedingt müssen. Er kennt die technischen Aspekte der Arbeit, die er mit Petrow verrichtet hat. Er wird morgen auf seinem Posten sein.«

»Der Pathologe hat Zweifel zum Ausdruck gebracht, dass Dr. Petrow eine so große Dosis versehentlich erhalten haben könnte. Nicht im Labor.«

»Ich schließe mich seiner Meinung an.«

»Aber wenn die Einschätzung des Arztes zutreffend ist und es keine versehentliche Vergiftung war …«

»Dann hat der arme Teufel gewusst, was er getan hat.«

»Oder jemand hat es ihm verabreicht«, sagte Wassin.

In Adamows Zügen zeigte sich keine Regung.

»Wollen Sie damit sagen, jemand in dieser Stadt könnte ein Mörder sein?«

»Ich will damit sagen, jemand in Ihrem Labor könnte ein Mörder sein.«

»Der Heizer sieht überall Kohle.« Adamow gab das alte russische Sprichwort mit gleichgültiger Stimme zum Besten. »Ich kann mir vorstellen, dass ein Ermittler überall Mord sieht. Ich hoffe, Sie irren sich. Tatsache aber ist, Genosse Major, dass angesichts der Arbeit, die wir im Labor verrichten, niemand Zeit hat, sich mit Ihrer Theorie auseinanderzusetzen. Projekt RDS-220 ist zu wichtig, um beeinträchtigt zu werden. In acht Tagen wird die stärkste Bombe detonieren, die unsere Welt je erlebt hat. Das ist alles, was Sie wissen müssen. Lassen Sie es mich noch deutlicher ausdrücken: Objektiv gesehen kann ich es mir nicht leisten, mich auch nur einen verfluchten Scheißdreck darum zu scheren, wie Petrow gestorben ist.«

Adamow betonte präzise jedes Wort. Aus dem Mund des sonst so förmlichen Professors klang die vulgäre Ausdrucksweise so ungeheuerlich, als hätte er einen Eimer Exkremente auf das weiße Tischtuch gekippt. Verblüfft schwieg Wassin.

»Das ist nicht respektlos gemeint, Major«, fuhr Adamow ungerührt fort. »Ich halte es durchaus für möglich, dass Sie ein intelligenter junger Mann sind. Anzeichen dafür sind vorhanden. Jedenfalls sind Sie höflich, was bei vielen Ihrer Kollegen nicht der Fall ist. Aber bitte: Reichen Sie Ihren Bericht ein. Lassen Sie uns in Ruhe arbeiten.«

»Professor, mir liegt etwas daran herauszufinden, was mit Petrow passiert ist.«

Adamow nippte an seinem Tee. Eine lange Weile saßen die vier schweigend da. Wassin spürte Jefremows aufgestaute Wut, die der Mann ausstrahlte wie ein heißer Ofen, doch er weigerte sich, seinem Kollegen in die Augen zu sehen.

»Warum?« Abrupt durchschnitt Marias Stimme die Stille im Raum, wenngleich ein wenig undeutlich. »Warum liegt Ihnen etwas daran, Genosse Major?«

Wassin konnte ihr Gesicht kaum erkennen, da es im Schatten lag. Konnte diese junge Frau wirklich die Ehefrau des Professors sein?

»Genossin … Adamowa? Weil wir nicht mit Lügen leben können.«

»Ich verstehe«, sagte Adamow. »Sie sind ein Verfechter von Generalsekretär Chruschtschows schöner neuer Welt. Das Ende des Personenkults um den Genossen Stalin. Ein neuer Himmel, eine neue Erde. Sehr löblich.«

Maria ließ ein leises Schnauben vernehmen.

»Kann es sein, dass wir diesen Tag tatsächlich erleben?«, sagte sie gedehnt. »Ein Offizier der Staatssicherheit, der uns etwas über Wahrheit erzählt.«

»Mascha. Das reicht.«

Erneut beugte sie sich vor ins Licht. Wassin hatte schon betrunkenen Übermut erlebt. Aber Maria Adamowa war anders. Ihre grünen Augen leuchteten übernatürlich intensiv. Sie holte Luft, setzte an etwas zu sagen, aber ihr Ehemann kam ihr zuvor.

»Ich denke, wir sind alle müde.«

»Eine letzte Frage, Professor. Wann haben Sie den Verstorbenen zum letzten Mal gesehen?«

Adamow leerte seine Teetasse, bevor er antwortete.

»Jetzt treiben Sie Spielchen, Major. Die Antwort kennen Sie bereits. Wir haben Petrow an dem Abend gesehen, bevor er krank wurde. Er ist zum Abendessen mit Oberst Korin hergekommen. Wir haben wie üblich über das Projekt gesprochen. Es ist nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Korin ist um zehn gegangen, um einen Flug nach Norden zu erreichen, nach Olenja. Petrow ist noch etwas länger geblieben. Wir haben einige technische Belange erörtert. Er hat müde, aber entschlossen gewirkt. Wie wir alle. Jetzt müssen Sie uns entschuldigen. Maria Wladimirowna begleitet Sie hinaus.«

Wassin stand auf und schüttelte Adamows papiertrockene Hand. Maria führte sie zur Tür. Dabei bewegte sie sich so träge, als wäre sie von unsäglicher Müdigkeit geplagt.

»Danke für Ihre Zeit, Genossin Adamowa.«

Langsam wanderte Marias Blick über Wassins Züge.

»Was für ein Glück, dass wir von ehrlichen Männern bewacht werden.«

Die Tür schloss sich mit einem schweren Rumpeln hinter Wassin.

VII