11,99 €
Hochspannender Polit-Thriller, der vor dem Hintergrund der Kuba-Krise spielt und auf realen Ereignissen beruht
Moskau, 1962. Alexander Wassin ist der Top-Agentenjäger des KGB. Als es gilt, einen Maulwurf im Kreml aufzuspüren, kommt nur er dafür infrage. Während die Spannungen zwischen Chruschtschow und Kennedy zunehmen und die Kubakrise auf ihren Höhepunkt zusteuert, ahnt Wassin nicht, dass das Schicksal der Welt bald vom Erfolg seiner Mission abhängt - und von der Geduld des Kapitäns einer sowjetischen U-Boot-Flotte, der weit unter dem Meer auf die Befehle seiner Kommandanten wartet, zu denen er den Kontakt verloren hat.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 534
Hochspannender Polit-Thriller, der vor dem Hintergrund der Kuba-Krise spielt und auf realen Ereignissen beruht
Moskau, 1962. Alexander Wassin ist der Top-Agentenjäger des KGB. Als es gilt, einen Maulwurf im Kreml aufzuspüren, kommt nur er dafür infrage. Während die Spannungen zwischen Chruschtschow und Kennedy zunehmen und die Kubakrise auf ihren Höhepunkt zusteuert, ahnt Wassin nicht, dass das Schicksal der Welt bald vom Erfolg seiner Mission abhängt – und von der Geduld des Kapitäns einer sowjetischen U-Boot-Flotte, der weit unter dem Meer auf die Befehle seiner Kommandanten wartet, zu denen er den Kontakt verloren hat.
Owen Matthews ist Historiker, der auf osteuropäische und russische Geschichte und Politik spezialisiert ist. Darüber hinaus hat er als Korrespondent für diverse Zeitungen gearbeitet, darunter für The Sunday Times, The Daily Telegraph, The Guardian, The Observer, The Independent and The Spectator. Zwischen 2006 und 2012 war er der Leiter des Auslandsbüros in Moskau für The Newsweek.
Sein erster Roman Stalin’s Children (2008) war für mehrere renommierte Buchpreise nominiert und wurde in 28 Sprachen übersetzt. Er erschien 2014 unter dem Titel Winterkinder im List Verlag, ein russisches Familiendrama zur Zeit des Kalten Krieges. Mit Moskau Babylon erschien 2017 bei Ullstein sein zweiter Roman, ein Drama über die Erlebnisse eines Engländers im Moskau der 90er Jahre. Mit Black Sun hat er nun das Genre gewechselt und seinen ersten Thriller vorgelegt.
OWEN MATTHEWS
REDTRAITOR
Dem Verräter auf der Spur,die Zeit im Nacken
THRILLER
Übersetzung aus dem Englischen vonMichael Krug
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischen Originalausgabe:»Red Traitor«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2021 by Owen Matthews
Originalverlag: Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers,Penguin Random House UK
Published by arrangement with Susanna Lea Associates
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Diana Menschig, Viersen
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
Umschlagmotiv: © Arcangel/Stephan Mulcahey; © mikolajn/shutterstock; © shutterstock/Eugene Kuryashov; © shutterstock/Radomir; © shutterstock/Igor Vitkovskiy; © ninopavisic/shutterstock; © shutterstock/Megapixeles.es; © shutterstock/Jens Ackermann
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-1038-1
luebbe.de
lesejury.de
Für Xenia, Nikita und Teddy
Atme. Atme, Wassili. Kapitän Wassili Archipow kämpfte sich aus seinem Albtraum wie ein Ertrinkender an die Wasseroberfläche. Er schnappte nach Luft und zwang sich, die Augen zu öffnen. Fahles arktisches Sommersonnenlicht strömte durch die dünnen Vorhänge herein. Archipow beugte und streckte die Finger. Sie waren von der Umklammerung der feuchten, um seinen Körper gewickelten Laken verkrampft.
Langsam atmete er ein. Kein U-Boot-Gestank. Kein Geruch von ungewaschenen Männern und starkem Tabak, kein Geschmack von süßem Marine-Tee in seinem Mund. Kein Mief von geschmolzenem Lötzinn, Polymer-Dichtmasse, heißem Öl oder den Dämpfen von Batterien und Reaktorkühlmittel in der Nase. Kein unsichtbares Gift in der Luft.
Archipow lehnte sich zur Seite, tastete nach seiner Armbanduhr und betrachtete mit zusammengekniffenen Lidern das Leuchtzifferblatt. Sein Blick folgte dem Sekundenzeiger, der 05:15 Uhr entgegentickte. Genau ein Jahr und eine Stunde seit dem Reaktorunfall.
Eine gefühlte Ewigkeit, die seit jenem Grauen vergangen war, an das er sich nur noch teilweise erinnerte. Nur manchmal – mehr oder weniger jede Nacht, in der Archipow auf die ärztlich verordneten Schlaftabletten verzichtete – wähnte er sich mittendrin. Die Zeit sprang dann zurück und umklammerte ihn wie Seetang.
Es fühlte sich nie wie ein Albtraum an. Archipow hatte eher das Gefühl, in einer völlig realen Parallelwelt irgendwo jenseits des Schlafs aufzuwachen. An einem von Lärm, Panik und Geschrei beherrschten Ort. Einem vertrauten Ort voller Chaos, dampfender Hitze und Angst in Endlosschleife wie eine zerkratzte Schallplatte. In wachem Zustand konnte Archipow die Toten nicht sehen. Trotzdem wusste er, dass sie ständig präsent waren. Seine ruhelosen Toten waren immer da, litten ihre Qualen und standen bereit, um aufzutauchen und ihre Ansprüche zu stellen.
Die Uhr im Kontrollraum des U-Boots K-19 der Nordflotte war elektronisch gewesen. Sie hatte eher gesurrt als getickt, während die Zeiger sanft über die Minuten und Stunden glitten, Schicht um Schicht. Archipows Traum begann immer mit jenem letzten Moment der Ruhe. Mit dem futuristischen Geruch an Bord von K-19. Metallisch. Nach neuen Instrumenten in glatten, grün lackierten Stahlgehäusen voller Skalen, die wie tausend Augen leuchteten. Und mit der Stille des Boots: Statt des steten Stampfens eines Dieselmotors, das Kopfschmerzen verursachte, gab der nagelneue Kernreaktor von K-19 ein tiefes, kraftvolles Dröhnen von sich. Das neueste Raketen-U-Boot der sowjetischen Marine kreuzte neunzig Meter unter der Oberfläche des Nordatlantiks, sanft und leise wie ein Raumschiff.
Archipow versuchte in jedem Traum, den wandernden Sekundenzeiger mit Gedankenkraft zu bremsen. Er wusste immer, was kommen würde, konnte jedoch nicht sprechen, konnte seine Kameraden nicht warnen, die sich zu Beginn der Wache an jenem schicksalhaften Morgen des 4. Juli 1961 schläfrig auf ihren Posten niederließen.
Im Traum breitete sich eine leere Instrumententafel vor der Kommandostation aus. Archipow hatte gerade seinen Platz auf dem Kunstledersessel des Kapitäns eingenommen. Als diensthabender Offizier und Kommandant des Boots, während seine Vorgesetzten schliefen. Eine unvorstellbare Ehre und Verantwortung, wie der Politoffizier nicht müde wurde zu betonen. Vor ihm saß Postew, der für den Antrieb zuständige Leutnant. Der Mann lümmelte in makelloser Technikermontur auf seinem Platz und kämpfte gegen den Schlaf an.
Aufgepasst, Postew!, wollte Archipow brüllen. Wachen Sie auf! Aber sein Ich im Traum blieb unerbittlich stumm.
In wenigen Stunden würde Postews junges Gesicht scharlachrot sein, und die Haut würde sich schälen, als wäre sie verbrüht. Der Leutnant würde wie am Spieß schreien, und Archipow würde sein Bestes geben, um ihn festzuhalten, während die Sanitäter versuchten, durch die dicke Gummischicht seines Thermoanzugs zu schneiden, um ihm eine Morphiumspritze zu injizieren.
Wachen Sie auf!
Der Traum verlief immer in vertrauten Bahnen.
Die Leuchte der Gegensprechanlage zum Reaktorkontrollraum geht an. Rot. Ein Notfall.
Archipow greift sich das Telefon vom Kommunikationspult und drückt einen Schalter.
»Genosse? Sie sollten besser kommen. Schnell.« In der Stimme des Unteroffiziers schwingt Panik mit.
Archipow und Postew rennen in vollem Lauf zum Reaktorkontrollzentrum. Der Niedergang wird vom Licht der Notleuchten rot erhellt. Juri Postew beugt sich nach vorn, bis sich sein Gesicht nur noch Zentimeter von einer Anzeige mit der Aufschrift Reaktorkühlflüssigkeitsdruck entfernt befindet. Die heftig vibrierende Nadel steht fast bei null. Während Archipow hinsieht, senkt sie sich auf den Anschlag und hält inne.
Eine Sirene ertönt. Archipows Eingeweide ziehen sich zusammen. Ihm wird übel.
»Scheiße«, entfährt es Postew, als sein Blick zu einer weiteren Anzeige wandert. Fluchen an Bord ist strengstens untersagt. Vor allem für Offiziere. Postew schaut über die Schulter und zischt Archipow zu: »Wir haben den Kühlmitteldruck verloren. Beide Kühlmittelpumpen sind ausgefallen.«
Bevor Archipow antworten kann, erstrahlen auf dem gesamten Bedienfeld grellrote Warnleuchten. Eine große Tafel über den Bedienelementen blinkt auf und zeigt an: Reaktorschnellabschaltung. Der Reaktor schaltet sich automatisch ab. Nach und nach werden einige der Anzeigen grün.
»Hat es funktioniert?«, fragt Archipow.
Der Leutnant antwortet nicht sofort, sondern sucht mit dem Blick fluchend eine Anzeige nach der anderen ab.
»Postew! Ist der Reaktor abgeschaltet?«
Schließlich richtet sich der junge Offizier auf und zeigt mit totenbleichem Gesicht auf ein großes Skalenblatt mit der Aufschrift Kerntemperatur. »Steuerstäbe sind runtergefahren. Reaktor erfolgreich notabgeschaltet. Aber sehen Sie.«
Die Temperatur des Reaktors steigt spürbar an.
»Nachzerfallswärme. Der Kern wird bei geringer Leistung etwa hundert Stunden lang weitersieden, bis er irgendwann ausgebrannt ist. Ohne Kühlmittel wird er schmelzen. Und sich durch den Rumpf brennen.«
»Wie lange?«
In den vier Minuten, seit Archipow im Reaktorkontrollraum ist, hat sich die Anzeige von 250 auf 325 Grad Celsius bewegt und steigt weiter rasant an.
»Ich weiß es nicht, Genosse Kommandant. Ein paar Stunden vielleicht.«
Archipow hastet nach vorn zum Kommandodeck. Er bemüht sich, seiner Stimme einen lauten, festen Klang zu verleihen. In den Augen der Männer, die sich ihm zudrehen, dem ranghöchsten Offizier auf der Brücke, sieht er die eigene Angst widergespiegelt.
Jene Augen werden für immer auf ihn gerichtet bleiben.
In seinem unruhigen Schlaf wälzte sich Archipow rastlos auf der Matratze hin und her. Unter den geschlossenen Lidern zuckten die Augen. Seine Fäuste krallten sich in die Laken, als versuchte er verzweifelt, ihnen zu entkommen. Allerdings wickelten sie sich nur noch enger um ihn wie ein Leichentuch.
Unterhalb der Fenster von Oberst Oleg Morosows Wohnung breiteten sich die Oberflächen der Pionierteiche wie schwarze Spiegel aus. Ein trübes Grau erhellte allmählich den östlichen Himmel. Am Wasser jedoch wurde die Dunkelheit nur vom Scheinwerfer der ersten Straßenbahn des Tages aufgehellt, die rumpelnd durch die Malaja-Bronnaja-Straße fuhr. In den Wohnhäusern um den Park herum gingen ein, zwei Lichter an.
Morosows Uniformjacke hing über der Rückenlehne eines Stuhls. Auf dem Schreibtisch am Fenster stand eine Lampe aus Metall, geprägt mit Hammer und Sichel. Auf der Tischplatte lagen ein Exemplar der Zeitschrift Nowy mir sowie ein Stapel offizieller Berichte mit dem Stempel des sowjetischen Verteidigungsministeriums. Daneben befanden sich eine abgesägte Artilleriehülse aus Messing voller Zigarettenstummel und ein Benzinfeuerzeug der Wehrmacht aus Pressstahl. Auf einem Silbertablett unter der Lampe lag ein Zettel, nicht größer als Zigarettenpapier, mit winziger, kaum entzifferbarer Blockschrift.
Morosow saß im Licht einer Stehlampe auf dem Sofa und machte sich aus einem Buch auf seinem Schoß Notizen. Er arbeitete hochkonzentriert. Gelegentlich unterbrach ihn das Brummen des Fahrstuhls im Gebäude oder eine leise Regung aus dem Schlafzimmer. Die Geräusche ließen ihn jedes Mal innehalten und lauschen. Schließlich klappte er das Buch zu und las die angefertigten Notizen noch einmal durch.
Mit einem leisen Fluch durchquerte Morosow das Zimmer, knüllte das Papier zusammen und legte es in den Aschenbecher. Er entzündete das deutsche Feuerzeug und setzte sowohl seine Notizen als auch den winzigen Papierstreifen in Brand.
Nachdem beides zu Asche verbrannt war, beugte er sich über den Schreibtisch, öffnete das Fenster und flutete den Raum mit Morgenluft. Morosow trug nur ein Hemd zu einer Uniformhose. Mit der hereinwehenden Brise breitete sich Kälte im verrauchten Arbeitszimmer aus. Trotzdem setzte er sich, ohne auf den Luftzug zu achten, der durch die Unterlagen auf seinem Schreibtisch fuhr, hielt eine brennende Zigarette in der Hand und beobachtete, wie der Rauch in den anbrechenden Tag hinausströmte. Nach einer langen Weile zog er seine Uniformjacke an. Um die muskulösen Schultern saß sie noch gut, allerdings musste Morosow den Bauch einziehen, um sie zuzuknöpfen. Er ging in den Flur, wo er in ein Paar Stiefel schlüpfte und einen Regenmantel überstreifte. Leise, um seine schlafende Familie nicht zu wecken, schloss er die Eingangstür hinter sich.
Als Morosow das Gelände der Teiche überquerte, war er allein. Zumindest fast. Ein Straßenkehrer mit einem fadenscheinigen Reisigbesen arbeitete sich den Bürgersteig entlang. Auf der Jermolajewski-Straße führte ein älterer Mann einen drahtigen Terrier aus. Beim Münztelefon an der Ecke befand sich weit und breit niemand.
Der Oberst ergriff den schweren Bakelit-Hörer, steckte eine Zwei-Kopeken-Münze in den Schlitz und wählte. Er wartete, während es am anderen Ende der Leitung klingelte.
»Ja?« Eine schlaftrunkene Frauenstimme. »Ich höre.« Morosow zögerte und lauschte den leisen Atemgeräuschen seiner Gesprächspartnerin, bevor er das Wort ergriff. »Daria Wladimirowna? Entschuldigen Sie, dass ich so früh anrufe. Ich wollte Sie erwischen, bevor Sie zur Arbeit gehen.«
»Hier gibt es keine Daria Wladimirowna. Sie sind falsch verbunden.«
»Entschuldigung, Bürgerin.« Damit legte Morosow auf und eilte zurück nach Hause, bevor seine Frau und seine Tochter aufwachten.
Der Mann mit dem Hund spazierte gemächlich weiter. Aber statt noch eine Runde um die Teiche zu drehen, ging er direkt auf den Gartenring zu. Als er sich einer parkenden Wolga Limousine näherte, stieg ein vierschrötiger Mann auf der Beifahrerseite aus und gab den Platz frei. Er nahm die Hundeleine entgegen, während sich der ältere Mann ins Auto setzte.
Der Fahrer hielt ihm respektvoll den Hörer eines Funktelefons hin. »Genosse – die Leute von der Abhörzentrale. Sie sind in Bereitschaft.«
Der ältere Mann brummte bestätigend und sprach in den Hörer. »Hören Sie mich, mein Junge? Ich brauche eine Aufnahme vom Münztelefon an der Ecke Malaja-Bronnaja und Jermolajewski. Von einem Anruf heute um 05:48 Uhr. Bringen Sie das Band in mein Büro. In einer halben Stunde.«
Einen knappen Kilometer entfernt riss ein junger KGB-Leutnant im Keller des Telegrafenamts in der Gorki-Straße ein Blatt von einem Notizblock und lief einen unterirdischen Korridor entlang. Er eilte in einen niedrigen Raum, gefüllt mit mehreren Reihen signalgesteuerter Tonbandgeräte. Einige waren in Betrieb, die meisten nicht. Als er das richtige Gerät gefunden hatte, betätigte er den Stoppschalter und markierte die Stelle mit einem weißen Wachsstift. Dann drückte er die Rückspultaste und wartete, bis die Magnetbandrolle ganz zurückgelaufen war und das Ende durch die Luft flatterte. Der Offizier presste die Spule gegen die Brust und rannte aus dem Raum.
Eine frühmorgendliche Brise vom Meer weckte KGB-Major Vadim Kusnezow. Der süßliche Fäulnisgeruch von gerodetem Unterholz trieb darin. Das Rauschen des Winds durch die Bäume des Dschungels hörte sich wie eine Brandung an. Vögel und Insekten stimmten einen misstönenden Morgenchor an. Kusnezow strampelte das schweißgetränkte Baumwolllaken weg, tastete unter dem Bett nach seiner Thermoskanne und trank durstig einen Schluck kalten Zitronentee.
Auch nach fast neun Monaten in Kuba konnte er sich nicht an die brütende Hitze und die geradezu unanständige Fruchtbarkeit der Umgebung gewöhnen. Genauso wenig an den Rum. Im Gegensatz zu Wodka schmeckte er nicht, als würde er einem schlecht bekommen. Warm und süß rann er die Kehle hinunter und warnte nicht davor, wie brutal er sich am nächsten Morgen rächen würde. Süß, aber gefährlich. Genau wie Kuba selbst, meinte er oft im Scherz. Mehr oder weniger jede Nacht.
Kusnezow streckte sich nach oben, um den quietschenden Deckenventilator einzuschalten. Dann ließ er sich zurück auf seine Pritsche plumpsen. Das Wohnhaus der Staatssicherheit hatte man aus vorgefertigten Betonteilen neu gebaut, so planlos zusammengefügt wie jedes Gebäude in den Moskauer Vororten. Die Möbel stammten aus Rumänien, offenbar ein Geschenk der Geheimpolizei Securitate an ihre sozialistischen Brüder in der Karibik. Das Rotkiefernholz verzog sich bereits von der ständig feuchten Luft. Auf dem gesamten Militärstützpunkt gab es nur eine einzige Klimaanlage, ein klobiges Gerät von Carrier in der Villa des Plantagenbesitzers aus der Ära des Batista-Regimes, die mittlerweile als Offiziersmesse und Bar diente.
Die Bar. Kusnezow fuhr sich mit der verschwitzten Hand über das Gesicht und den Bart. Vergangene Nacht. Wessen Idee war die Abschiedsfeier gewesen? Nicht seine. Bestimmt die irgendeines Obersts der örtlichen Luftwaffe. Kusnezow erinnerte sich an Gitarren, an kubanische Revolutionslieder, die kratzig von einem Plattenspieler dudelten, an nebeldichten Zigarrenrauch, an eine neue Gruppe verdächtig hübscher Kellnerinnen. Hatte er sogar … getanzt? Einheimische Frauen galten als tabu für Kusnezow und seine Kollegen vom KGB. Also hatte er stattdessen zu viel getrunken. Wie üblich. Und vielleicht getanzt. Ein bisschen. Aber nur, um brüderliche Solidarität zu zeigen.
Kusnezows Koffer stand gepackt an der Tür. Nach einer Tagesfahrt in einer holpernden Wolga Limousine würde er rechtzeitig für den Abendflug in Havanna eintreffen. Morgen um diese Zeit würde er nach Zwischenstopps in Madrid und vielleicht Frankfurt in Moskau sein. Nach seiner Ankunft in Kuba war Kusnezow davon überrascht, wie sehr er seine Heimatstadt vermisste. Ihm fehlten die Solidität Moskaus, das gemächliche, stete Tempo der Stadt, der hartnäckige Mangel an Farben und Theatralik. Mittlerweile wunderte ihn vielmehr, wie sehr er nicht dorthin zurückkehren wollte, nicht mal für ein paar Wochen zu Unterredungen mit seinen Vorgesetzten in der Lubjanka. Kusnezow erinnerte sich an ein albernes Lied, das er die Männer der sowjetischen Luftwaffe hatte singen hören: »Es ist gut dort, wo wir nicht sind.« Er griff nach seiner Armbanduhr, ein sperriges Modell von Raketa, das er bei einer Wette von einem betrunkenen MiG-Piloten gewonnen hatte. Das Büro des Kommandeurs würde bald öffnen. Es wurde Zeit, die Fortschrittsberichte, die er in der vergangenen Woche fleißig für seine Vorgesetzten in Moskau getippt hatte, aus dem feuerfesten Safe zu holen.
Kusnezow gab die Hoffnung auf, noch einmal einzuschlafen, stand auf und zog sich an. Besonders stolz war er auf den beigen Tropenanzug aus Baumwolle, den er in einem Kommissionsgeschäft in Havanna erstanden hatte und der von Haspel in New Orleans stammte. Er sähe darin wie ein kapitalistischer Ausbeuter aus, hatten seine KGB-Kollegen scherzhaft gemeint. Denkbar ungeeignet für die Räumlichkeiten des Ausschusses für Staatssicherheit in Moskau. Und wenn schon. Kusnezow gefiel sein Anblick in dem Anzug. Er genoss es, wie ein Ausländer auszusehen. Während er das Hemd zuknöpfte, ließ er den Blick über den neu errichteten Stützpunkt wandern. Als er im vorangegangenen Winter angekommen war, hatten den Ort noch entwurzelte Baumstämme, Schlamm und Spurrillen voller zorniger, heimatloser Schlangen beherrscht. Mittlerweile wies das planierte Areal kreuz und quer verlaufende asphaltierte Straßen sowie Reihen von Hütten und Hangars in Fertigbauweise auf.
In der Ferne ragten in Tarnfarbe lackierte Umrisse einer Radarstation über den Baumwipfeln empor. Die Antenne wies wie ein lauschendes Ohr in Richtung der nördlichen Karibik – und zu den nur hundertvierzig Kilometer weit entfernten Vereinigten Staaten von Amerika.
Wassin erwachte verkatert. Sein Nacken schmerzte von einem Sonnenbrand, und er hatte sein Gesicht an der Sofapolsterung wund gerieben. Seine Frau Vera hatte das knallige Schlafsofa aus Ostdeutschland ausgesucht, das neueste und teuerste, das es gab. Aber der borstige Nylonplüsch quälte Wassin jede Nacht.
Veras Stimme drang mit dem sarkastischen hohen Ton, mit dem sie ihn immer weckte, aus der Küche. »Saschaaaaa? Telefon für dich. Die Kontora.«
Die Kontora – wörtlich das Büro. Außerdem ein nicht allzu respektvoller Spitzname für den KGB. Veras Blick folgte ihrem Ehemann, als er den Korridor entlangtaumelte und dabei gegen die Wände stolperte.
»Einen Moment«, sagte sie in den Hörer. »Der Genosse Oberst ist unterwegs. Er ist heute Morgen sehr beschäftigt.« Anstatt Wassin den Hörer zu reichen, legte sie ihn auf die Arbeitsplatte, als er die Hand danach ausstreckte. Dann drängte sie sich an ihm vorbei zum Badezimmer. Unterwegs zog sie sittsam den chinesischen Morgenmantel aus Seide zu.
»Wassin am Apparat.«
Es war die bissigste Sekretärin seines Vorgesetzten, General Orlow. Mit frostiger Förmlichkeit berief sie Wassin zu einer ungeplanten Besprechung in die Lubjanka. Er stammelte eine Zusage, spähte zur Küchenuhr und stieß einen leisen Fluch aus. Vierzig Minuten. Auf dem schicken neuen Herd köchelte ein unappetitliches Frühstück aus verbranntem Buchweizenbrei in der Pfanne. Keine Zeit. Er brauchte dringend eine Rasur und eine Dusche. Kaum war ihm der Gedanke in den Sinn gekommen, hörte er, wie Vera geräuschvoll die Badezimmertür verriegelte und das Wasser aufdrehte, als hätten es ihr seine Gehirnwellen befohlen.
»Vera? Kann ich kurz rein?« Stille. Irritiert klopfte Wassin an die Tür. »Ich muss mich für die Arbeit fertig machen.«
Das Wasser verstummte, und Vera schob den Riegel zurück. Sie bedachte ihren Ehemann mit einem entrüsteten Blick, bevor sie an ihm vorbei ins Schlafzimmer stakste und die Tür zuschlug.
Die schicke neue Wohnung der Wassins, die ganze drei Zimmer umfasste, lag an der Frunse-Uferstraße und bot eine Aussicht auf die von Apfelbäumen gesäumte Allee und die Moskwa. Sie lieferte die Bühne für die Tragikomödie von Wassins Familienleben, die sich jeden Morgen und Abend in trostlosen Variationen wiederholte. Vor neun Monaten war er ruhmreich von einem früheren Einsatz zurückgekehrt. Die Kontora hatte sein Leben so umgestaltet, dass es Wassins neuen Status als General Orlows bevorzugte Marionette widerspiegelte. Neue Wohnung, neues Auto, Beförderung – und wie durch Zauberei eine neue Ehefrau. Gewissermaßen. Denn irgendwie war Vera seit seiner Rückkehr wie ausgewechselt. Oder, um genauer zu sein, sie behandelte ihren Mann, als wäre er ein anderer geworden. Jemand, der wichtig war. Jemand, der gefährlich für sie sein konnte. Oberstleutnant Alexander Iljitsch Wassin vom Ausschuss für Staatssicherheit – ein Mann, den man besser respektierte. Und auf Abstand hielt.
Wassin und Vera hatten sich rasch in eine gestelzte häusliche Theatralik gefügt. Sie sprachen miteinander, als befänden sie sich vor einem unsichtbaren Publikum. Wenn sie überhaupt redeten. Veras respektvolle Zurückhaltung hatte sich bald abgenutzt und wurde von mürrischer, gekränkter Aufsässigkeit abgelöst. Ihr Leben war zu einer Schmierenkomödie unausgesprochener Vorwürfe geworden.
Auch Wassins vierzehnjähriger Sohn Nikita war in den Sog des geheimnisvollen neuen Ansehens seines Vaters geraten. Er wurde für das Elitelager der Jungen Pioniere in Artek angemeldet. Nikita verhielt sich seinem Vater gegenüber ebenfalls anders. Die gewohnte Zurückhaltung des Jungen wandelte sich in nervöse Ehrfurcht. Und der neue Respekt, dem ihm seine Mitschüler und Lehrer entgegenbrachten, hatte die Schüchternheit des armen Burschen nur noch verstärkt.
Weder zu Hause noch in dem klobigen kleinen Auto, ein Moskwitsch, den er zu seiner Beförderung erhalten hatte, oder in der neuen Holzdatscha im Dorf Wnukowo konnte Wassin die Macht von Generalleutnant Juri Orlow auch nur einen Moment vergessen. Er fühlte sich gefangen wie eine Libelle in einem Glas.
Ob es einem gefällt oder nicht, die Geschichte ist auf unserer Seite.
NIKITACHRUSCHTSCHOW,VORSITZENDERDESMINISTERRATSDERSOWJETUNION, 1956
Der sommerliche Sonnenschein fiel schräg durch die schweren Gardinen des Büros von General Orlow. Unangenehme Hitze und der penetrante Geruch von Bohnerwachs beherrschten den Raum. Wassin ließ den Blick über die am Tisch versammelten Kollegen wandern, die wie er spontan herbefohlen worden waren. Puschkow, der altgediente Resident des KGB, hatte im Dienst zweifelhafte Berühmtheit erlangt, indem er die Vergiftung ukrainischer Nationalisten und anderer Kollaborateure nach dem Krieg in Paris und Berlin organisiert hatte. Ignatenko, der pummelige Kommunikationsspezialist mit den permanenten Druckstellen an den schwabbeligen Schläfen, da er unzählige Stunden Kopfhörer trug. Wassins Elitetruppe von Spionjägern. Alle schienen auf ihren Stühlen zu schmelzen wie Eis auf einem heißen Bürgersteig.
Niemand sprach ein Wort.
Puschkow ergriff eine schmale Mappe mit der Aufschrift »STRENGGEHEIM« von einem ordentlichen Stapel und fächelte sich damit respektlos Luft zu. Laut polternd pflügte der Leiter ihrer Abteilung mit gerötetem Gesicht herein. Er wirkte gereizt, als hätten sie ihn warten lassen statt umgekehrt. Orlow nahm seinen Platz am Kopf des Tischs ein.
»Schultz hat etwas für uns«, brummte Orlow ohne jede Einleitung. Er ignorierte die Anwesenden und richtete die Aufmerksamkeit vielmehr auf die mitgebrachten Unterlagen, in denen er konzentriert zu lesen begann.
Wassin hätte es sich denken können. Boris Ignatjewitsch Schultz, leitender Beobachter von Wassins Überwachungsmannschaft. Außerdem: Wassins Ausbilder an der KGB-Schule. Außerdem: bester Observierungsfachmann der Branche. Typisch für Schultz, dass er nach all den fruchtlosen Monaten einen Durchbruch in seiner Nachtschicht erzielte. Und noch typischer für Schultz, dass er den Leiter der Abteilung für Sonderfälle – Orlow – angerufen hatte statt seinen direkten Vorgesetzten, nämlich Wassin.
Schultz war ein dürrer, krummer Mann mit leichenblassem Gesicht und einem gepflegt gestutzten Schnurrbart. Als er den Besprechungsraum betrat, zuckte er beim Anblick seiner Kollegen zusammen. Ganz so, als hätte er ein Klassenzimmer voller hoffnungsloser Anwärter vor sich, die er zu Spionen schmieden sollte. Ein junger Unteroffizier folgte ihm und trug ein sperriges Tonbandgerät. Während der Bursche den Apparat anschloss, pflanzte Schultz den schlaksigen Körper auf einen Stuhl neben Orlow. Dabei faltete er sich regelrecht zusammen wie ein Teleskop.
»Telefonzelle an der Straßenecke zur Malaja-Bronnaja.« Schultz’ Stimme klang näselnd und doch gebieterisch. »Heute Morgen. Kurz vor sechs. Hören wir es uns an.«
Er drehte den Regler, der das Gerät startete. Auf ein elektronisches Surren folgten die Laute der gewählten Nummer, bevor die Verbindung hergestellt wurde.
»Ja? … Ich höre.«
»Daria Wladimirowna? Entschuldigen Sie, dass ich so früh anrufe. Ich wollte Sie erwischen, bevor Sie zur Arbeit gehen.« Oberst Oleg Morosows Stimme war unverkennbar.
»Hier gibt es keine Daria Wladimirowna. Sie sind falsch verbunden.«
»Entschuldigung, Bürgerin.«
Schultz schaltete das Gerät aus und verzog das Gesicht zu etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte.
Wassins Herzschlag beschleunigte sich. »Kein Folgeanruf von Morosow, Boris Ignatjewitsch? Bei einer anderen Nummer?«
»Kein Folgeanruf, Oberst Wassin.« Schultz beäugte seinen ehemaligen Schüler über den Tisch hinweg mit einem kaum merklichen, anerkennenden Nicken. Wassin, vielleicht bist du kein völliger Idiot, besagte der Blick des alten Mannes.
Wassin machte weiter. »Unsere Zielperson steht im Morgengrauen auf, um von einer Telefonzelle aus einen einzigen Anruf an eine falsche Nummer zu tätigen. Eine Nummer, die er vermutlich noch nie von zu Hause aus angerufen hat. Eine Nummer …«
»Wer hat abgehoben?«, fiel Orlow ihm ins Wort. »Haben wir eine Adresse? Haben wir sie schon in Gewahrsam?«
Schultz verzog leicht das Gesicht, bevor er antwortete. »Genosse General. Unter der Nummer ist die Dmitri-Uljanow-Straße zweiundvierzig registriert. Hotel Ulaanbataar. Diese Leitung ist an der Laderampe der Küchen installiert. Aber …« Mit dem unbeugsamen Selbstbewusstsein älterer Menschen hob Schultz die Hand, bevor Orlow ihn unterbrechen konnte. »Um sechs Uhr morgens wimmelt es dort von Lieferanten. Laut dem Wachmann sind zwischen halb sechs und halb sieben mindestens acht Wagen angekommen, jeweils mit einem Fahrer und einem oder mehreren Ladehelfern. Viele Mitarbeiter der Küche und der Hotelverwaltung haben den Bereich passiert. Wir haben keine Zeugen gefunden, die jemanden an dem Telefon gesehen haben.«
»Ein unauffindbarer Kontakt. Eine Vertrauensperson.« Orlow faltete die Hände zusammen und spannte die Schultern an, als wappne er sich für einen Boxkampf. »Was bedeutet das, Schultz? Bitte sagen Sie es uns.«
»Wir haben ihn, General. Morosow hat seine Betreuer bei der CIA kontaktiert. Er hat sich aktiviert. Oder einen Kontakt bestätigt. In den vergangenen neun Monaten seiner Überwachung in Moskau ist ihm kein einziger Fehltritt unterlaufen. Wir vermuten, dass Morosow die Anweisung hatte, sich nicht aus seiner Tarnung zu wagen, bis er etwas Wichtiges zu berichten hat. Und jetzt …«
»Jetzt tun wir was? Oberst?« Orlows Kopf drehte sich Wassin zu. Die anderen Anwesenden folgten dem Beispiel des Generals, sahen Wassin gehorsam an und harrten seiner Antwort.
»Jetzt verhaften wir ihn, Genosse General.« Wassin setzte sich aufrechter hin.
»Nein, Wassin.«
Natürlich. Wassin hätte es besser wissen müssen. Es gab nie eine richtige Antwort auf die rhetorischen Fragen seines Vorgesetzten. »Entschuldigung, Genosse General. Zuerst müssen wir herausfinden, mit wem er zusammenarbeitet.«
»Richtig, Oberst Wassin. Wenn man Unkraut ausreißt, dann mit Stumpf und Stiel.«
Bei den Sicherheitskräften des ruhmreichen sowjetischen Vaterlands musste alles mit etwas anderem verbunden sein. Von einem Spion ausgehend verbarg sich eine Verbindung zum nächsten und von diesem aus die zu einem weiteren. Wie bei einer endlosen Abfolge von Matrjoschkas.
Nachdem die Kollegen gegangen waren, blieb Orlow bei Wassin zurück und machte keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen kauerte der General wie ein Giftpilz auf seinem Platz und starrte seinen Schützling über den Tisch hinweg an. In seinen Knopfaugen tänzelte kaum verhohlene Schadenfreude.
»Danket dem Herrn, unserem allmächtigen Gott, und preiset ihn.« Orlows Stimme ertönte als tiefes, eindringliches Zischen. Der General hatte einst für das Priesteramt studiert, wie sich Wassin erinnerte. Er achtete darauf, keine Miene zu verziehen.
»Der Direktor hat sich nach PLUTO erkundigt.«
PLUTO – der mutmaßliche Verräter im Herzen der sowjetischen Sicherheitsgemeinschaft. Orlows Besessenheit und Wassins täglicher Albtraum. Am Ende seines letzten Einsatzes in der geheimen Atomversuchsanlage Arsamas-16 hatte Wassin einen amerikanischen Spion erfunden. Der Fall war ein heilloses Chaos gewesen, und Wassin musste etliche Regeln beugen – und teilweise brechen –, um einen fehlgeleiteten Fanatiker davon abzuhalten, eine nukleare Vernichtung auszulösen. Er bereute nichts. Aber um mit heiler Haut davonzukommen, hatte Wassin aus dem Wahnsinnigen einen amerikanischen Spion gemacht. Damals hatte er es als geradezu elegant empfunden, einem Toten ein erfundenes Vergehen anzuhängen. Mehr noch, Wassin war ruhmreich daraus hervorgegangen. Als neuer führender Spionjäger der Abteilung für Sonderfälle.
Inzwischen war Wassins Bericht über den Spion ordnungsgemäß protokolliert worden. Was seine Fantasie zur offiziellen Tatsache erhoben hatte. Und Spione, ob real oder nicht, brauchten einen Betreuer. Deshalb war Wassin von General Orlow dazu auserkoren worden, PLUTO aufzuspüren. Er sollte den imaginären Spion mit einem realen in Verbindung bringen. Mit diesem unlösbaren Rätsel hatte Orlow seinen neuen Günstling beauftragt. Los, Wassin, stellen Sie die verdammten Zusammenhänge her. Viel Glück. Und so hatte Wassin in den letzten neun Monaten dieses Phantom gejagt, war Gerüchten nachgegangen und hatte nach dem kleinsten Hinweis darauf gesucht, dass Oberst Oleg Morosow tatsächlich der sagenumwobene PLUTO war.
»Jetzt kann ich dem Direktor endlich mitteilen, dass wir einen Durchbruch erzielt haben. Die Enttarnung von PLUTO wird uns zum nächsten Bindeglied führen. Wir finden heraus, welche Informationen er an die Amerikaner weitergibt. Wir finden heraus, wer ihm diese Informationen liefert. Aber am wichtigsten ist, dass wir herausfinden, wer Morosows Krysha ist. Haben Sie mich verstanden, Wassin?«
Krysha bedeutete wörtlich: Dach. Im Verbrecherjargon stand es für einen Beschützer. Wassin spürte, wie die Welt vor seinen Augen verschwamm. Ja. Er verstand haargenau, was Orlow meinte. Oder besser gesagt, wen. In Orlows Vorstellung führten die nächsten Glieder der Kette des Verrats immer weiter nach oben bis hinein in die höchsten Machtgefilde der Sowjetunion.
»Morosows Beschützer, Genosse General?« Wassins Mund war trocken geworden. »Ein ranghoher Offizier, mit dem er vielleicht privaten Umgang pflegt?«
»Ganz genau, Wassin. Vielleicht ist Morosow der Freund einer Familie. Vielleicht besucht er Grillfeiern in der Datscha irgendeines Bonzen. Oder nimmt an Jagdgesellschaften mit hohen Tieren teil. Ist Ihnen so jemand untergekommen, Wassin? Immerhin hat Ihr fachkundiges Auge Morosow seit geraumer Zeit unter Beobachtung.«
Er spürte, wie sich Orlows Blick in ihn bohrte. Oh ja – beide Männer wussten genau, wen Orlow im Sinn hatte. Oberst Morosows alten Kumpel, seinen Gastgeber bei Feiern in dessen Datscha und bei Jagdgesellschaften. Seinen persönlichen Freund und Mentor, seinen Vorgesetzten und Beschützer. Niemand Geringeren als General Iwan Serow, Leiter der Hauptnachrichtendirektion des Generalstabs der Roten Arbeiter- und Bauernarmee. Besser bekannt als Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije, Hauptverwaltung für Aufklärung, kurz GRU. Der militärische Geheimdienst und als Institution der Hauptrivale des KGB. Serow – Orlows großer bürokratischer Widersacher. Und aus Gründen, die Wassin nicht ansatzweise verstand, Orlows Erzfeind.
Wassin konnte die Logik seines Vorgesetzten deutlich nachvollziehen. Er wollte Morosow benutzen, um seinen Beschützer Serow dranzukriegen. Ihm vielleicht sogar einen Todesstoß zu versetzen. Was wäre es für ein Triumph für Orlow, den Leiter des Konkurrenzdienstes am Haken zu haben?
Vor einigen Monaten hatte Wassin einen neuen amerikanischen Film gesehen – im Rahmen einer geschlossenen Vorführung ausschließlich für Offiziere der Kontora, nicht für die Öffentlichkeit. Darin ging es um einen verrückten Kapitän zur See aus dem neunzehnten Jahrhundert, der ein Phantom in Gestalt eines weißen Wals durch die Weltmeere jagte. Orlow glich diesem Kapitän, die Abteilung für Sonderfälle seinem Schiff – und Wassin war sein glückloser Erster Offizier, dazu verdammt, seinem Kapitän und seiner Besessenheit bis ans Ende der Welt zu folgen.
»Wir haben eine solche Bekanntschaft beobachtet, Genosse. Wie Sie bereits wissen.« Wassins Stimme hatte sich zu einem Flüstern gesenkt. »Sie glauben, dass Genosse General Serow in die Machenschaften des Verräters Morosow verwickelt sein könnte?«
»Und wenn nicht verwickelt, dann deckt Serow seinen Freund vielleicht. Beides könnte plausibel sein. Lose Enden sind in unserer Branche nicht zulässig. Finden Sie einen Schuldigen, Wassin.«
Wassin nahm allen Mut zusammen und ergriff unter Orlows loderndem Blick das Wort. »Sie meinen, ich soll herausfinden, dass Serow schuldig ist, Genosse General?«
Einen Moment lang fürchtete Wassin, sein Vorgesetzter würde anschwellen und platzen wie ein überreifer Bovist. Aber nein. Stattdessen lehnte sich der stets unberechenbare Orlow zurück und hob schmunzelnd die Hände.
»Wir halten uns natürlich an die Beweise. Die Beweise unserer Augen und Ohren. Die Beweise in Morosows letztendlichem Geständnis. Wassin, Sie haben zwei lose Fäden, die es zu verknüpfen gilt. Einen am Anfang der Morosow-Geschichte, einen am Ende. Begonnen hat es mit Ihrer Geschichte über den Verräter in Arsamas …«
Etwas in Wassin krampfte sich jedes Mal zusammen, wenn Orlow davon sprach, dass der Spion von Arsamas »seine« Geschichte, »sein« Fall wäre. Es gab Augenblicke, da fragte sich Wassin, ob das alte Reptil vermutete, der Spionagevorwurf könnte nur ein Hirngespinst gewesen sein.
Aber sein Vorgesetzter fuhr seelenruhig fort und zählte die Punkte an der Hand ab. »Das wiederum hat zur Suche nach dem Betreuer Ihres Spions geführt. Sobald wir Morosow festgenagelt und bewiesen haben, dass er PLUTO ist, finden wir heraus, wer der Nächste ist. Mit wem er in Verbindung steht. Nach oben, nach unten, auf gleicher Ebene.«
Orlow stand auf, ging seitlich am Tisch entlang und legte Wassin vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. Die Stimme des Generals ertönte tief und leise in Wassins Ohr. »Sascha. Zwei lose Enden, ein Mann. Um Himmels willen, Wassin. Ich habe Ihnen gute Leute gegeben. Es ist an der Zeit, den verdammten Fall in trockene Tücher zu packen. Und zwar rasch.«
Hauptmann Wassili Archipow saß allein an einem leeren Tisch in der Ecke der Cafeteria des Verteidigungsministeriums. Seine Aktentasche lag flach vor ihm neben einer Tasse mit kubanischem Kaffee, die allmählich kalt wurde. Seine Hände ruhten auf der Tasche. Sie zitterten kaum. Er atmete tief durch.
Am anderen Ende des Raums erblickte er den alten Kameraden, auf den er gewartet hatte. Wie Archipow trug er die Uniform eines Marinekapitäns Ersten Ranges. Aber im Gegensatz zu Archipows Sonnenbrand hatte Timofei Swiagin leichenblasse Züge, und sowohl sein Kopf als auch sein Gesicht waren vollkommen unbehaart. Archipow stand auf. Die beiden Männer umarmten sich innig.
»Bruder! Wie zum Teufel geht’s dir, Tima?«
»Ging schon mal besser.«
»Was sagen die Ärzte?«
Swiagin zuckte mit den Schultern und sah seinem Freund einen ausgedehnten Moment lang in die Augen. »In Remission, verspricht man mir. Sicherheitshalber pumpt man mich trotzdem weiter mit Gift voll.«
In seinen Träumen sah Archipow seinen Freund jede Nacht. Timofei an seiner Station außerhalb des siedend heißen Dampfs aus dem schmelzenden Reaktorraum von K-19, sein Overall fettverschmiert, das Gesicht von der roten Notbeleuchtung schaurig erhellt. Der Gestank, eine Mischung von Schweißarbeiten und dem erstickenden Mief von ausgetretener Reaktorkühlflüssigkeit. Swiagins Stimme, zum Befehlston erhoben, um das panische Geplapper der Männer zum Schweigen zu bringen, die sich dabei abwechselten, die Schweißnähte des Notkühlsystems zu versiegeln. Ruhig, Kameraden, ruhig.
»Du siehst gut aus, Tima.«
»Wassili, du warst noch nie ein guter Lügner. Ich sehe beschissen aus. Was führt dich in unser Bürokratenbordell?«
»Bewertungsausschuss.«
»Hier in Moskau statt im Hauptquartier der Nordflotte? Dann muss er hochrangig besetzt gewesen sein. Wie ist es gelaufen?«
»Admirale. Glotow. Komarow. Hohe Tiere vom Verteidigungsministerium. Ein General der strategischen Raketentruppen.«
»Klingt, als wärst du für ein großes Kommando vorgesehen, mein Freund. Etwas Geheimes. Glückwunsch.«
»Drauf gespuckt.«
Swiagin drehte den Kopf zur linken Schulter und gab dreifach Spucklaute von sich. Schutz gegen Unglück. Selbst hochrangige sowjetische Marineoffiziere blieben im Herzen Seeleute – und damit so abergläubisch wie Bäuerinnen. »Darüber musst du doch glücklich sein, Wassili, oder? Ein schickes neues Kommando könnte ein Neustart sein. Und nichts Geringeres verdient ein Held und Veteran der K-19-Katastrophe, richtig?«
»Du bist der Held von K-19, Tima. Du hättest das neue Kommando bekommen sollen.«
»Mach dich nicht über einen Invaliden lustig. Du willst doch unbedingt zurück aufs Meer, oder?«
Archipow zuckte mit den Schultern und betrachtete schweigend seine Hände, während sein alter Bootskamerad ihn prüfend musterte.
»Wassili – mir kommen oben an meinem Schreibtisch Dinge zu Ohren. Ich lese Dinge. Du wirst nicht mit einem Atomantrieb unterwegs sein, falls dir das Kopfzerbrechen bereitet. Das kann ich dir versprechen. Nach dem Unfall … nach K-19 wird jedes Atom-U-Boot der Flotte überholt. Alle sind in die Stützpunkte zurückbeordert worden und bleiben dort. Sogar die neuesten Boote der Projekt-658-Klasse bekommen umgebaute Reaktoren. Ich habe gehört, sogar unser altes K-19 soll eines Tages wieder seetauglich sein. Aber nicht so bald. Also entspann dich. Bis mindestens nächstes Jahr dürfen nur die alten dieselelektrischen U-Boote hinaus auf Langstreckenpatrouillen. Lass dir das von jemandem gesagt sein, der es weiß. Darüber musst du dir also keine Sorgen machen … Weißt du noch, wie der verrückte usbekische Smutje den Reaktor genannt hat? ›Satan in der Blechdose‹.«
Archipow lächelte verschmitzt. Natürlich erinnerte er sich an den Smutje. Der Arzt an Bord von K-19 hatte ihm eine kräftige Dosis Diazepam in den Arm gejagt, um den Mann ruhigzustellen, weil er während des Unfalls einfach nicht zu schreien aufgehört hatte. Panik an Bord eines sinkenden U-Boots tausend Kilometer weit draußen im Nordatlantik konnte genauso tödlich sein wie der vernichtende Druck in den Tiefen.
»Wäre mir so oder so egal. Satan hin, Satan her, ein Boot bleibt ein Boot.«
Archipows Freund nickte sarkastisch. »Wie ich schon sagte, bist du ein schlechter Lügner, Wassili. Du hast gesagt, ein General der strategischen Raketentruppen war in deinem Ausschuss?«
»Ja. Was hatte es damit auf sich?«
»Wurde etwas über eine spezielle Waffe gesagt, die bei deiner neuen Mission eingesetzt werden soll?«
»Eine spezielle Waffe?«
Timofei stieß den Atem aus. »Vielleicht nur ein Gerücht. Noch kann ich dir nichts darüber sagen. Wie wär’s mit einem Cognac? Der Arzt sagt zwar, das sollte ich nicht – aber pfeif drauf, oder?«
Archipow beobachtete Swiagins kahlen Kopf, während sich der Mann den Weg zur Theke der Cafeteria bahnte. Er blickte wieder auf seine Hände hinab. Ruhiger.
Um halb elf verließ Morosow sein Wohnhaus und trat hinaus in die zunehmende Hitze des Moskauer Sommervormittags. Die Jacke trug er über eine Schulter geschlungen, in der anderen Hand hielt er eine Einkaufstasche aus Segeltuch. Ohne auf einen älteren Mann zu achten, der am Teich Enten fütterte, eilte Morosow in Richtung der U-Bahn-Station Majakowskaja. Eine junge Frau, die im Schaufenster einer Bäckerei ihr Make-up überprüfte, bemerkte ihn, rückte ihren Hut zurecht und setzte sich vor Morosow in Bewegung. Dreißig Meter dahinter marschierte ein schlaksiger Student im selben Tempo.
An der Station Belorusskaja trabte Morosow die Stufen zu dem breiten Korridor hinauf, der zu den Bahnsteigen der Kolzewaja-Linie führte. In bewährter Kontora-Manier nahmen die beiden Beschatter ihr Ziel unterwegs in die Zange. Morosow stieg in einen Zug nach Westen und verließ ihn an der Station Kiewskaja, wo er zur Linie Arbatsko-Pokrowskaja wechselte. Der junge KGB-Leutnant Michail Ljubimow, frisch von der Höheren Lehranstalt Dzierżyński des KGB, wo er Boris Schultz’ Ausbildung genossen hatte, wurde allmählich nervös. Durch den zweiten Umstieg wurde die nahe Observierung riskant – weil die Wahrscheinlichkeit stieg, dass die Zielperson vertraute Gesichter in zwei aufeinanderfolgenden Zügen bemerken würde. Ljubimow wagte einen Blick durch den Wagen zu seiner Partnerin Tanja Dulatowa, die im hintersten Winkel in Position gegangen war. Er befand sich zu weit weg, um Augenkontakt mit ihr herzustellen. Ein Fehler, einer hübschen jungen Frau die Verantwortung zu überlassen. Zu auffällig. Mittlerweile wusste die gesamte Mannschaft, dass der alte Bock Morosow ein aufmerksames Auge für die Damenwelt hatte.
Als sich an der Station Arbatskaja die Türen öffneten, stieg Morosow vor ihnen beiden aus. Tanja wollte unbedingt wieder vor die Zielperson gelangen, verfiel in Laufschritt und drängte sich mit einer Reihe gemurmelter Entschuldigungen zwischen den Pendlern hindurch. Ein weiterer Patzer. Ljubimow verwünschte seine Partnerin. Angestrengt versuchte er, Morosows kahlen Schädel dreißig Meter vor ihm nicht aus den Augen zu verlieren, als sich die Menge vor den Rolltreppen staute und verlangsamte.
»Lasst die Augen auf die Leute auf der Rolltreppe gerichtet, wenn sie in euer Sichtfeld geraten«, hatte der alte Schultz ihnen beigebracht. »Ihr könnt nicht durch die Hinterköpfe der Leute vor euch sehen, und wenn ihr noch so intensiv starrt. Die Augen nur auf die …«
»Auf die Rolltreppe, Genosse Oberst«, hatte die Klasse wiederholt. Aber Ljubimows Blick war nicht auf die Rolltreppe gerichtet. Sein Augenmerk galt dem Stahlgeländer, das die Passagierströme voneinander trennte. Er suchte nach einer Stelle, an der er sich darunter hindurchducken und vordrängeln könnte. Und so fand er sich von Angesicht zu Angesicht mit seiner Zielperson wieder, die zurück zu den Bahnsteigen wollte. Morosow hatte sich selbst unter dem Begrenzer hindurchgeduckt, seine Uniformmütze aufgesetzt, die Jacke angezogen und die Richtung gewechselt. Ein simpler, aber wirkungsvoller Trick, um Verfolger abzuschütteln.
Tanja musste mittlerweile fast oben an der Rolltreppe angekommen sein. Ljubimow war auf sich allein gestellt. Die Zielperson verlieren oder entdeckt werden? Ein kalkuliertes Risiko – und gefährlich. Er musste warten, bis sich Morosow außer Sichtweite befand, bevor er sich athletisch über das Stahlgeländer schwang und hinter dem Mann hereilte. Er hatte Glück. Morosow hatte gerade einen Zug verpasst. Sein junger Beschatter zwängte sich beinah neben ihm in den nächsten. Ljubimow blieb seinem Ziel auf den Fersen, erst zurück zur Station Kiewskaja, dann weiter zur Station Oktjabrskaja. Damit war der Mann viermal umgestiegen. Mittlerweile hatte Ljubimow die eigene Jacke ausgezogen und sich eine Sommermütze tief ins Gesicht gezogen. Er betete, dass der Oberst ihn noch nicht bemerkt hatte. Der junge Agent verspürte einen berauschenden, beinah Übelkeit erregenden Kick. Seine erste echte Verfolgungsjagd.
»Zeitungsstände sind unsere Freunde«, hatte Schultz mit seiner dünnen, näselnden Stimme erklärt. Wenn man nach Verfolgern Ausschau hielt, hatte er damit gemeint. Die allgegenwärtigen Kioske standen oft direkt gegenüber den Eingängen zu U-Bahn-Stationen, und ihre schrägen Fensterfronten boten ein hilfreiches Spiegelbild aller, die hinter einem auftauchten. Und tatsächlich, beim Verlassen der Station Oktjabrskaja verharrte Morosow am Kiosk. Geschlagene fünf Minuten lang tat er so, als würde er in einer Auswahl von Zeitschriften blättern. Damit zwang er Ljubimow, ungeschützt in Sichtweite eine riskante Position an einer nahen Haltestelle für Oberleitungsbusse einzunehmen. Der gerissene Mistkerl Morosow kannte jeden Trick im Gegenüberwachungshandbuch des KGB. Aber Ljubimow hielt sich vor Augen, dass sein eigener Lehrer – Schultz – das Buch praktisch geschrieben hatte.
Der junge Beschatter folgte Morosow in vorsichtigem Abstand, als der Mann den Weg zum Café Schokoladniza an der Ecke des Kaluschskaja-Platzes antrat. Wie immer war das Lokal berstend voll. Eine Schlange erwartungsvoller Gäste erstreckte sich durch die Tür bis nach draußen. Morosow ging unbekümmert daran vorbei, suchte den großen, mit Tischen gefüllten Raum ab und zwängte sich zwischen den Gästen hindurch zu einer jungen auffallend schönen Frau mit dunklen Haaren an einem Ecktisch. Sie trug die olivgrüne Uniform eines Leutnants der Armee und stand auf, als sich Morosow näherte. Sie salutierten nicht, umarmten sich nicht, schüttelten sich nicht die Hand. Ihre Körpersprache wirkte förmlich. Während Morosow mit dem langwierigen Unterfangen begann, einen Kellner zu ihrem Tisch zu winken, schlich sich Ljubimow draußen zu einer öffentlichen Telefonzelle. Ein kurzer Wink mit seinem roten KGB-Ausweis genügte, um den Mann darin sein Gespräch abrupt beenden und eingeschüchtert die Flucht antreten zu lassen. Ljubimows Anruf bei der Notrufnummer der Abteilung für Sonderfälle wurde beim ersten Klingeln durchgestellt.
»PLUTO hat Kontakt aufgenommen. Ersuche um Verstärkung für die Beschattung. Mit Fotograf. Zwei Autos. Höchste Dringlichkeit. Ich wiederhole, höchste Dringlichkeit.«
Der Überwachungsbericht lag innerhalb von zwei Stunden auf Wassins Schreibtisch. Schultz hatte den jungen Ljubimow gut ausgebildet, das musste Wassin zugeben. Und der Alte war innerhalb von acht Minuten nach dem Anruf seines Schülers persönlich mit einem Funkwagen vor Ort eingetroffen. Als Morosow und seine Kaffeebegleitung – getrennt, wie Wassin feststellte – in die verschmutzte Luft der belebten Kreuzung heraustraten, stand eine Kontora-Mannschaft in der Größe eines Opernchors für sie bereit.
Wassin zog eine körnige, vergrößerte Aufnahme des Kopfs der Frau heraus, blätterte in Ljubimows Notizen und forderte den Jungen mit einem Blick zu einer Erklärung auf. »Sie arbeitet in der Gogolewski-Allee dreizehn, Gebäude drei? Was ist dort?«
»Gebäude des Verteidigungsministeriums, Genosse Oberstleutnant. Ein Teil des Hauptquartiers des Generalstabs. Unlängst umfunktioniert, vermuten wir. War früher eine Abteilung des Beschaffungsamts der Armee. Aber man hat das alte Bezeichnungsschild an der Tür entfernt, Genosse Oberstleutnant.«
»Ein Büro des Aquariums?« Wassin benutzte den neuesten Jargon für die GRU. Der Begriff ging auf die unlängst gebaute Zentrale des sowjetischen Militärgeheimdiensts in Jassenewo zurück, einem Vorort von Moskau. Mit seiner Glasfassade erinnerte das Gebäude an ein riesiges Fischbecken.
»Ich bin mir nicht sicher, Genosse Oberstleutnant.«
»Überlassen Sie das mir. Wir lassen das von einer internen Quelle überprüfen. In der Zwischenzeit …« Wassin sah auf die Armbanduhr. »Wird diese Frau nach Hause verfolgt?«
Ljubimow nickte. Sie wussten beide, dass die Kontora keine Schwierigkeiten dabei haben würde, Morosows Kontaktfrau in dem Moment zu identifizieren, in dem sie ihren Schlüssel ins Schloss einer beliebigen Haustür in Moskau steckte.
Wassin entließ den jungen Offizier und griff zum Hörer, um einen dringenden Termin mit Orlow zu vereinbaren. Ausnahmsweise mal ein Glücksfall. Nachdem sich Morosow monatbelang wie ein sowjetischer Musterbürger verhalten hatte, handelte er endlich wie ein Spion.
Das Verteidigungsministerium beherbergte wie die Lubjanka eine Vielzahl von Cafeterien. Ein komplexer Kodex aus Status und Zweck regelte den Zugang. Orlows Kontakt beim Aquarium hatte sich die größte und allgemeinste ausgesucht, die sich im Untergeschoss befand.
»Wie erkenne ich diesen Major Tokarew?«, hatte sich Wassin bei Orlow erkundigt.
»Unverwechselbar. Ein alter Kavallerist. Schnurrbart. Keine Hände.«
Als es auf Mittag zuging, füllte sich der große Speisesaal nach und nach mit Gruppen von uniformierten jungen Männern. Auch mit einigen herausgeputzten Sekretärinnen, deren Handtaschen und Schals bunte Farbtupfer in einer einheitlich khakifarbenen, von Männern dominierten Welt bildeten. Wassin nippte an einem Becher mit schwachem Kaffee. Ein drahtiger Offizier in Reithose und hohen Stiefeln sah sich in der Cafeteria um. Er schien schon älter zu sein und hatte einen altmodischen, für Kavalleristen typischen Schnurrbart. Wassin gab ihm mit seinem Becher unscheinbar ein Zeichen, und der alte Offizier hob eine schwarz behandschuhte Hand zum Gruß. Wassin stand auf und schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand – die sich als Hartplastikprothese mit halb offenem Griff entpuppte. Tokarews andere Hand bestand ebenfalls aus Kunststoff.
Keine Hände.
»Smolensk, 1943. Wollte eine deutsche Handgranate aus einem Graben werfen. War nicht schnell genug. Jeder will danach fragen, also erspare ich den Leuten die Peinlichkeit. Sie müssen nichts sagen.« Tokarew setzte sich und verbarg die Plastikhände unter dem Tisch. Blasse Granatsplitternarben übersäten sein Gesicht wie Farbtupfer auf Lehm.
»General Orlow lässt grüßen.«
»Das glaub ich gern. Grüßen Sie ihn herzlich von mir zurück.«
»Sind Sie beide alte Freunde?«
»So könnte man es ausdrücken. Hat mir seinerzeit den Hintern gerettet. Ich wurde 1941 außerhalb von Moschaisk gefangen genommen, bin entkommen und dem SMERSch in die Hände gefallen. Sie wissen schon, die Spezialeinheit des Innenministeriums für die Ausrottung von Spionen. Damit beauftragt, faschistische Agenten ausfindig zu machen. Orlow hat entschieden, dass ich keiner war. Lange Geschichte. Hat mich zurück an die Front geschickt. Ihm verdanke ich, dass ich bei den Kriegsanstrengungen zur Hand gehen konnte. Und beide verlieren konnte. Gute Arbeit, Oberst. Nur eine Minute, und schon wissen Sie alles, was es über mich zu wissen gibt.«
Wassin ignorierte den Sarkasmus des alten Mannes und nickte. Orlow hat seinen Haken tief in dich geschlagen und dich zurückgeschickt. Wassin wusste, wie sich das anfühlte. »Sie müssen dankbar gewesen sein.«
»Ich muss unschuldig gewesen sein. Orlow hat gesagt, Sie brauchen Hilfe.«
Wassin sah sich um. »Wollen wir hier reden?«
»Neutraler Boden. Im Aquarium würden Sie auffallen. Ich würde bei der Kontora auffallen.«
»Ich muss eine Frau finden.«
»Cherchez la femme.«
»Sehr komisch. Eine Kollegin von Ihnen. Spanierin. Einzelheiten sind hier drin.« Wassin schob eine dünne Akte über den Tisch.
Tokarew ergriff sie nicht.
Wassin brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er es mit seinen steifen Prothesenhänden nicht konnte. Also öffnete Wassin die Akte und breitete die beiden maschinengeschriebenen Seiten vor dem Mann aus. Tokarew beugte sich vor und überflog das Dokument.
Sofia Rafaelowna Guzman, geboren am 16. März 1932 in Barcelona, Spanien. Wohnhaft in der UdSSR seit Februar 1938. Ledig. Aktuelle Wohnadresse: ein Komplex von Gemeinschaftswohnungen des Verteidigungsministeriums für alleinstehende Offiziere in der Malaja-Grusinskaja-Straße. Weiter war Wassins Mannschaft mit dem Durchforsten des städtischen Wohnungsregisters und der Akten der Kontora noch nicht gekommen.
»Sagen Sie, warum müssen Sie etwas über diese Spanierin wissen, diese Sofia Rafaelowna?«
»Spionageabwehroperation.«
Tokarew zog eine Augenbraue hoch – was Wassin als Aufforderung auffasste fortzufahren. »Wir haben einen möglichen feindlichen Agenten im Visier. Er redet mit der Frau. Sie müssen herausfinden, warum. Und wo sie arbeitet. Was sie macht. Worauf sie Zugriff hat.«
Tokarew schien zu überlegen, ob er nach weiteren Einzelheiten fragen sollte, entschied sich aber dagegen. »Das ist der Gefallen, den Orlow braucht? Ich werde sehen, was ich tun kann. Schreiben Sie mit.«
Wassin kramte ein Notizbuch heraus, und Tokarew diktierte ihm eine Reihe von Telefonnummern.
»Keine davon ist sicher. Jetzt schreiben Sie mir Ihre auf. In mein Notizbuch. Obere rechte Tasche.«
Wassin streckte sich vorsichtig über den Tisch und zog ein schwarzes Buch aus Tokarews Uniformtasche. Er schrieb feinsäuberlich seine Kontaktdaten hinein und steckte es zusammen mit dem Zettel mit den Angaben über Sofia zurück.
»Wie …«
»Wie ich ein Telefon benutze? Mich anziehe? Schreibe? Pisse? Mit ein bisschen Hilfe von Freunden. Ich freue mich schon darauf, Sie besser kennenzulernen. Vielleicht spiele ich sogar mal Klavier für Sie.«
Verlegen stand Wassin rasch auf. Er entschied sich, verhalten zu salutieren, statt einen Händedruck zu versuchen, dann trat er den Weg zum Ausgang an.
Drei Tage nach seinem Treffen mit Tokarew erhielt Wassin im Büro einen Brief mit dem Vermerk »PERSÖNLICH«. Es handelte sich um einen dieser vorgestempelten Faltbriefe, die man an Touristen verkaufte, verziert mit Ansichten der mittelalterlichen Kathedralen von Susdal. Darin standen nur drei Sätze.
»Liebster Genosse – herzliche kommunistische Grüße an Sie und unseren gemeinsamen Freund! Ich bin diese Woche in unserer sozialistischen Hauptstadt und erwarte Sie am Mittwoch zwischen 18:00 und 18:30 Uhr am Hintereingang des Gebäudes des Verteidigungsministeriums in der Frunsenskaja. Ich schüttle Ihnen kameradschaftlich die Hand. WT.«
Tokarew humpelte zu Wassins Moskwitsch, drückte den Türgriff mit einer geübten Hüftbewegung nach unten und stieg ein. »Hier.«
Die abgewetzte Lederaktentasche, die Tokarew in den Plastikhänden hielt, wies Zahnabdrücke an den Riemen auf. Wassin öffnete sie und holte eine schmale Akte heraus. Auch am Pappdeckel prangte der Abdruck menschlicher Zähne. Zart und nur an einer Ecke, dennoch unübersehbar. Tokarews Pendant eines Fingerabdrucks.
»Wollen Sie nur draufstarren?«
Eine Zusammenfassung der Personalakte von Sofia Guzman in überdimensioniertem Gekrakel, anscheinend von Tokarew geschrieben. Die Eltern – Rafael und Maria Guzman, beide Mitglieder der Kommunistischen Partei Spaniens. Aufgewachsen in einem Waisenhaus außerhalb von Moskau nach der Ankunft in der UdSSR 1938 im Alter von sechs Jahren. 1953 Abschluss mit Auszeichnung am Militärinstitut für Fremdsprachen in Moskau – der Schule der GRU für Mitarbeiter im Auslandsdienst. Arbeitete seither als Übersetzerin im Verteidigungsministerium. Beherrscht fließend Spanisch, Französisch und Russisch. Belobigung für vorbildlichen Dienst im Jahr 1960.
»Sie ist allein in die UdSSR gekommen? Als Waisenkind? Was ist aus ihren Eltern geworden?«
»Auf Einladung des Genossen Stalin haben viele spanische Kommunisten ihre Kinder in die UdSSR geschickt, um sie vor dem Bürgerkrieg zu bewahren. Tausende sind damals hergekommen. Die meisten sind nach Stalins Tod zurückgekehrt.«
»Also war sie gar keine Waise?«
Tokarew zuckte nur mit den Schultern. »Ob so oder so, inzwischen ist sie es wohl.«
Wassin blätterte um. Eine Liste der Einsätze von Sofia Guzman in verschiedenen Abteilungen, die sich mit spanischsprachigen Ländern beschäftigten. Der letzte Eintrag lag fast drei Monate zurück. »22. April 1962: Eingeteilt für Operation Anadyr nach Sicherheitsüberprüfung der Stufe III. Was ist …«
»Operation Anadyr? Gute Frage. In einem Wort: Kuba. In zwei Worten: groß und geheim. Sie hätten die Gesichter sehen sollen, als ich herumgefragt habe. Warum wollen Sie das wissen, Major? Wer hat über Anadyr gesprochen, Major? Die Botschaft war deutlich: Halt dich da verdammt noch mal raus. Ich kann Ihnen nur sagen, dass für Operation Anadyr damals im März ein eigenes Gebäude in der Nähe des Generalstabs in der Gogolewski-Allee abgestellt wurde. Dafür wurde eine ganze Abteilung aus dem Boden gestampft. Und ich kann Ihnen sagen, dass dafür Leute eingezogen werden, als wäre Erntezeit in der Kolchose. Mehrere Hundert Beamte. Alle im Aquarium, die Spanisch sprechen, haben ihren Marschbefehl bekommen. Und es dreht sich immer um Kuba, Kuba, Kuba. Was genau im brüderlich-sozialistischen Kuba vor sich geht, das dürfen Sie mich nicht fragen. Aber wenn Ihr Spion bei Sofia herumschnüffelt, dann wohl deshalb, weil er sich für Anadyr interessiert. Oder vielleicht steht er auch nur auf spanische Titten.«
Wassin faltete die Unterlagen zusammen und gab Tokarew die Aktentasche zurück. Der alte Major nickte und öffnete mit dem Ellbogen die Autotür.
»Tokarew …«
»Ich soll Ihnen Bescheid geben, falls ich noch etwas über Anadyr, Kuba oder Sofia höre? Ja, wiederhole, nein.«
Die Tür knallte zu.
Am Flusslandungssteg beim Estrada-Theater wimmelte es von Touristen. Wassin drängte sich durch eine Horde Männer mit Sonnenbrand und identischen Porkpie-Hüten und Frauen in knallbunten Sommerkleidern aus bedruckter Baumwolle. Auf einem Granitmäuerchen sichtete er Vadim Kusnezow, der sich irritiert mit einem breitkrempigen Panamahut Luft zufächelte und in seinem eleganten ausländischen Anzug wie ein Kapitalist in einem Zeichentrickfilm aussah.
»Vadim! Lust auf ein Eis?«
Kusnezow hüpfte von der niedrigen Mauer, strich die Hose glatt und heftete einen finsteren Blick auf Wassin. »Ah. Mein alter, hoch aufgestiegener Kamerad Alexander Wassin. Gerade, als ich dachte, ich hätte nicht genug Aufregung im Leben, klingelt das Telefon, und wer ist dran? Du! Irgendwie hast du herausgefunden, dass ich in Moskau bin und wo du mich finden kannst. Nur wahre Kameraden machen sich solche Mühe, um alte Freunde aufzuspüren. Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Hast mir gefehlt, Kusnezow. Anscheinend hatte ich Glück, dich hier in unserem ruhmreichen sozialistischen Vaterland zu erwischen. Wie sind die Tropen?«
»Die Tropen sind … tropisch. Ich nehme an, du willst meinen Dank für den Einsatz im verbrüderten Kuba, richtig?«
»Mein Freund – den Posten hast du dir verdient.«
Kusnezow verdrehte die Augen. »Wassin, habe ich je erwähnt, dass du Ärger bedeutest?«
»Kann mich nicht daran erinnern, nein. Komm jetzt – unser Boot legt in fünf Minuten ab.«
»Unser Boot?«
»Wir unternehmen eine Flusskreuzfahrt. Ich habe Fahrkarten.«
»Du verfrachtest mich auf einen verdammten Kahn, damit ich nicht wegrennen kann, wenn du mich um einen ruchlosen Gefallen bittest, was es auch sein mag. Liege ich richtig?«
Das Dampfhorn des schnittigen weißen Kreuzers ertönte. Grinsend zog Wassin seinen Kameraden im schnellen Schritt zum Landungssteg.
Die beiden Männer ließen sich auf Sitzen auf dem Oberdeck nieder. Eine Gruppe zentralasiatischer Arbeiterinnen, allesamt mit Kopftüchern, plapperte aufgeregt neben ihnen, als das Boot in die Strömung der Moskwa glitt und nach Osten in Richtung Kreml tuckerte.
»Erzählst du mir von deinem exotischen neuen Auftrag? Ich kann’s kaum erwarten, alles über dein schillerndes Leben in der Karibik zu erfahren.«
Kusnezow fuhr sich mit der Hand durch das lichter werdende Haar und stöhnte. »Da haben wir es wieder. Das Kreuzverhör nach dem Wer, Was, Warum, Wann und Wo, diesmal geleitet von Major Alexander Wassin.«
»Oberstleutnant für dich, Kumpel.«
»Noch besser. Jetzt stehst du auch noch im Rang über mir. Kannst du nicht einfach zur Seite rutschen und mich jetzt gleich in den Fluss springen lassen?«
»Lieber nicht. Wir müssen das Vaterland retten.«
»Schon wieder. Warum denke ich, dass ich es noch bereuen werde, heute hergekommen zu sein?«
»Wirst du nicht. Versprochen. Du willst mir also nichts über Kuba erzählen? Schon verstanden. Aber lass mich dir erklären, warum ich danach frage.«
»Soll ich nur mit ja oder ja antworten? Vergiss nicht, ich habe das schon mal mitgemacht.«
»Sehr komisch. Also hör zu. Ich leite eine Spionageabwehroperation. Wir vermuten, dass ein ranghoher Offizier beim Aquarium für die Amis spioniert. Er hat in Operation Anadyr herumgeschnüffelt. Tatsächlich glauben wir sogar, dass er jemanden innerhalb der Operation rekrutiert hat.«
Kusnezow drehte sich weg, als wollte er Wassins Worte mit seinem massigen Körper abblocken. »Herrschaftszeiten noch mal.« Als er sich schließlich wieder Wassin zuwandte, lag keine Heiterkeit mehr in Kusnezows Stimme »Warum schlägst du dann nicht Alarm?«, zischte er eindringlich. »Und benutzt offizielle Kanäle? Was hat das mit …«
»Mit dir zu tun? Ganz einfach. Wir können es nicht riskieren, den Mann zu enttarnen. Den genauen Grund kann ich dir nicht sagen, nur so viel: Wir vermuten, er könnte geschützt werden. Von einem noch ranghöheren Kollegen im Aquarium. Also kein Alarm. Noch nicht.«
»Nein, nein. Sag einfach nichts mehr. Ich gehe jetzt.«
Wassin legte den Arm fest um die Schultern seines alten Betreuers und drückte ihn auf die weiß gestrichene Bank. »Ich muss von jemand Vertrauenswürdigem, von einem Freund erfahren, was genau es mit Anadyr auf sich hat. Mit Kuba.«
»Dann such dir gefälligst einen Freund, der es dir sagen kann. Ich bin nicht dein Freund.« Kusnezows Blick wirkte feindselig.
»Hör zu, Vadim. Wenn ich diesen Mann nicht erwische, lande ich in einer Uranmine in Magadan. Und doch – du bist mein Freund. Du hast mir vertraut, hast mir schon mal geholfen. Im Moment muss ich wissen, worauf unser Spion aus ist. Welche Informationen er versucht, den Amerikanern zuzuspielen. Ich muss nämlich einen Köder auslegen. Und das kann ich im Blindflug nicht. Bitte. Das ist keine eigenwillige Mission, auf der ich im Alleingang bin. Es geht um die nationale Sicherheit. Ganz offiziell.«
Kusnezow zog eine Augenbraue hoch und hob eine Hand in Richtung eines Hochhauses an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße, das an eine Hochzeitstorte erinnerte. »Aha. Also ist das wohl auch ein offizielles Treffen, ja? In deinem neuen mobilen Büro?«
Wassin schaute weg, richtete den Blick auf die vorbeiziehenden Reihen neu gebauter Wohnblocks am gegenüberliegenden Ufer. »Vadim. Ich bitte dich. Zwing mich nicht …«
»Zur harten Tour? Wolltest du das sagen?« Kusnezows Züge verfinsterten sich. Wut malte sich auf sein Gesicht.
»Ja, alter Freund. Ganz genau. Vergiss nicht, dass ich für die Abteilung für Sonderfälle arbeite. Die Organisation, die dir den Posten in Kuba verschafft hat, wird von einem Monster geleitet. Einem verdammten Monster, Vadim. General Orlow wird mich in Stücke reißen. Und dich auch, wenn ich ihm sage, dass du nicht kooperierst. Also bitte. Hilf mir. Hilf dir selbst. Mach dir Orlow zum Freund.«
»Indem ich dir streng geheime Informationen gebe?«
»Wir stehen auf derselben Seite, Vadim.«
»Das sagst du andauernd. Das letzte Mal, bevor du einen sowjetischen Oberst der Luftstreitkräfte erschossen hast.«
»Der ein amerikanischer Spion war. Das hier ist noch schlimmer.« Wassins Hand hatte Kusnezows Schulter fest umklammert. Er löste den Griff.
Kusnezow atmete schwer aus. »Ich kann verstehen, warum man dich befördert hat, Wassin. Ich hatte vergessen, was für ein skrupelloser Arsch du sein kannst.«
»Ich arbeite für einen skrupellosen Arsch, Kusnezow. Ich bitte dich als Freund …«
»Lass das Gefasel von wegen Freund. Na schön. Du willst wissen, was es mit Kuba auf sich hat? Die sowjetische Regierung bereitet sich darauf vor, Atomraketen auf Kuba zu stationieren. Verdeckt. So. Zufrieden?«
»Wann? Jetzt?«
»Wir haben schon Tausende Spezialisten hingeschickt, um die Raketenabschussbasen vorzubereiten. Unsere Führung verhandelt gerade mit den Kubanern um die Erlaubnis für die Entsendung der Raketen. Deshalb kommt Raúl Castro diese Woche nach Moskau. Fidels Bruder.«
»Ich habe von Raúl Castro gehört. Aber warum tun wir das? Warum schicken wir Atomwaffen nach Kuba?«
»Warum? Das übersteigt meine Besoldungsklasse, Wassin. Ich weiß genauso wenig wie du.«
»Um Castro zu schützen?«
»Vielleicht. Die Amis haben schon einmal versucht, in Kuba einzumarschieren, falls du dich daran erinnerst. Ist nicht gut für sie ausgegangen. Sie haben einen Haufen hitzköpfiger Exilkubaner hingeschickt, die sich haben massakrieren lassen.«
»Und was meinst du, was die Amerikaner tun werden, wenn sie von den Raketen erfahren? Wieder einmarschieren? Schlimmeres?«
Kusnezows Stimme strotzte vor Sarkasmus. »Na ja, ich denke mal, der junge Präsident Kennedy wäre wohl nicht allzu erfreut. Über uns. Über Fidel. Am Ende könnte er sogar richtig wütend werden. Wieso fragst du? Hast du vor, es ihm zu sagen?«
»Was … wenn mein Spion es an die Amerikaner weitergibt? Bevor wir ihn verhaften?«
Kusnezow lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Wassin. Hör auf zu reden. Erzähl mir nichts mehr. Hör einfach auf.«
Eine Weile saßen die beiden Männer schweigend da. Die usbekischen Frauen hatten genug davon bekommen, den Möwen an der Reling Brotkrümel zuzuwerfen. Stattdessen schlenderten sie in kleinen Gruppen plaudernd über das Deck. An den Schleusen, die den Beginn des Moskwa-Wolga-Kanals kennzeichneten, bog das Schiff in den mittleren Kanal und steuerte die Anlegestelle Nordfluss an.