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Ein bewegender Coming-of-Age-Roman über Freundschaft, Liebe und Verlust in den 1970er-Jahren. Als der 15-jährige Morten Schumacher, genannt Motte, einen Anruf bekommt, ist in seinem Leben nichts mehr, wie es einmal war. Sein bester Freund Bogi ist plötzlich schwer erkrankt. Doch das ist nur eine der herzzerreißenden Erschütterungen dieses Jahres, die Mottes Welt komplett auf den Kopf stellen. Kurz danach fährt Jacqueline Schmiedebach vom Einstein-Gymnasium auf einem Hollandrad an ihm vorbei und eine neue Herausforderung nimmt ihren Lauf. Zwischen der Möglichkeit des Todes und der Chance auf die erste Liebe spitzen sich die Ereignisse immer weiter zu und stellen Motte vor unbekannte, schmerzhafte Entscheidungen. Doch zum richtigen Zeitpunkt sind die richtigen Leute an seiner Seite, während er den Geschehnissen mutig ins Gesicht schaut – mit scharfem Blick und trockenem Witz. In »Blackbird« erzählt Bestsellerautor Matthias Brandt einfühlsam vom Erwachsenwerden in einer Zeit des Umbruchs. Ein zeitloser Roman über die Kraft von Freundschaft, Familie und Liebe, der lange nachhallt.
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Seitenzahl: 317
Matthias Brandt
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Matthias Brandt
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Inhaltsverzeichnis
– Mitte August –
Warum ging eigentlich keiner ans Telefon?
Hier oben in meinem Zimmer pochten die Bässe, trotzdem hörte ich es im Erdgeschoss immer wieder klingeln. Unter dem roten, rissigen Lackleder, auf dem ich mich fläzte, rieselte und knirschte es. In der linken Naht war ein kleines Loch, aus dem immer, wenn ich mich auf den Sitzsack fallen ließ, einige der kleinen Styroporkügelchen herausgeschossen kamen, mit denen er gefüllt war. Ich feuchtete meinen Zeigefinger mit Spucke an, sammelte ein paar Kügelchen auf und schnippte sie durch die Gegend. Das dritte blieb an der Zimmerdecke kleben, endlich.
Nach dem elften Klingeln sprang ich dann doch auf. Vielleicht war das ja Bogi, der anrief. Ich rannte die Treppe runter und ging, obwohl es zu dem Apparat im Flur kürzer gewesen wäre, zu dem im Wohnzimmer. Also das, was bis vor Kurzem noch unser Wohnzimmer gewesen war.
Jetzt standen hier nur noch lauter halb gepackte Kartons rum. Mein Vater zog mit seiner neuen Freundin in irgendein Nest, in dem ich noch nicht mal tot überm Zaun hätte hängen wollen. Es war nicht wirklich am Arsch der Welt, aber man konnte ihn von da aus schon sehen. »Meine Lebensgefährtin«, hatte er ein bisschen verlegen gesagt, als wir uns in seinem Zimmer gegenübergestanden hatten, und ich hatte nur gedacht, dass ich dieses Wort nicht gerne für jemanden benutzen würde, in den ich verliebt war. Einen besseren Vorschlag hatte ich allerdings auch nicht. Woher auch? Ich war fünfzehn und gerade in niemanden verliebt. Also nicht so wie mein Vater in diese Claudia.
Meine Mutter und ich wussten noch nicht, wo wir demnächst wohnen würden.
Auf dem Weg zum Telefon kam ich am halb nackten Nymphensittich vorbei. »Kackfresse«, zischte ich ihm zu und hoffte, er würde es irgendwann mal nachplappern. Anstatt mich immer nur anzuglotzen und sich die Federn auszurupfen.
Ich nahm den Hörer ab und sagte nichts.
Machte ich grundsätzlich nicht. Der Anrufer hatte ja schließlich unsere Nummer gewählt. Dann sollte der jetzt gefälligst mal erklären, wer er war und was er wollte.
»Äh, Schnellstieg.«
»Was?«
»Schnellstieg. Herr Schumacher?«, sagte der Anrufer.
»Nee. Hier ist Morten.«
»Ach, ja, hallo. Morten, ach du bist das. Hier – ist der Dieter.«
»Was?«
»Herr Schnellstieg. Dieter Schnellstieg. Der Vater von Manfred. Bogi.«
»Ach so. Ja. Hallo.«
»Ja, genau. Hallo Motte.«
»Hallo.«
Das hatte jetzt ein bisschen gedauert, bis ichs kapiert hatte. Bei ihm aber auch.
Bogis Vater war dran.
Mit dem hatte ich noch nie telefoniert.
Wenn ich Bogi angerufen hatte, war er entweder selbst drangegangen, weil er schon auf meinen Anruf gewartet hatte, oder Anette, seine dämliche Schwester, oder seine Mutter. Aber nie sein Vater.
Bogi war mein bester Freund und hieß eigentlich Manfred Schnellstieg. Das sagte aber außer den Lehrern keiner. Manchmal vielleicht noch seine Eltern.
Bogi hieß so, seit Udo Mönch uns vor ein paar Jahren in der großen Pause gefragt hatte, ob wir gestern Abend auch den Film mit Manfred Bogart gesehen hätten.
»Hä?«
»Na, den Film!«, hatte Udo gesagt.
»Wie hieß der noch? Kassaplancka! Mit dem Manfred Bogart!«
Wir hatten uns krankgelacht, und Udo Mönch, dieser Vollhorst, war stinksauer abgezogen.
»Wollt ihr mich verarschen? Was soll das denn für’n Name sein, Hampfree?«, hatte er im Weggehen gekräht.
Seitdem war also Manfred Schnellstieg nur noch Bogi genannt worden. Noch einen Manfred gab es auf der Schule nämlich nicht. Da konnte er sich bei seinen Eltern bedanken, für seinen tollen Vornamen. Also echt, Leute. Manfred. Wahnsinn.
Eigentlich hätte ja Udo Mönch nach der Nummer einen Spitznamen kriegen müssen. Und zwar nicht so einen netten wie Bogi, sondern Dummklumpen oder Flachzange, aber der Typ war wirklich so blöd, dass einem zu dem überhaupt nichts einfiel, noch nicht mal das.
Was wollte Bogis Vater eigentlich von mir? Gabs Ärger, weil er den Amselfelder gefunden hatte, den Bogi im Garten versteckt hatte? Jetzt am Wochenende war unsere Turnierfahrt, für die wir uns im Kaisers vor ein paar Tagen zwei Flaschen Rotwein geholt hatten. Einen Ausweis wollten die im Supermarkt nicht sehen, obwohl die uns ja kannten und wussten, dass wir das Zeug noch nicht kaufen durften. Amselfelder, Jugo-Wein, war der zweitbilligste gewesen. Der noch billigere war aber aus Brombeeren, und Bogi hatte mal gehört, von dem bekäme man Dünnpfiff, deshalb hatten wir lieber die Finger davon gelassen.
»Besonders bekömmlich« hatte auf der Amselfelderflasche gestanden, und »ohne Stiele und Stengel gekeltert«. Ich konnte mir, wenn ich ehrlich war, unter bekömmlich nichts vorstellen. Irgendwas für alte Leute anscheinend. Überhaupt: Wein aus Stengeln? Wahrscheinlich bedeutete »bekömmlich« auch einfach, dass man davon nicht gleich im Strahl kotzte, sondern erst später.
»Der haut total rein, der Blackbirdfielder.« Bogi hatte in letzter Zeit dieses Englischding, und ich hatte gedacht: Jaja, alles klar, Bogi, woher willst’n das wissen, wenn wir das auf der Fahrt zum allerersten Mal ausprobieren wollen?
Während wir telefonierten, stellte ich mir vor, wie Herr Schnellstieg jetzt bei sich zu Hause an dem alten Apparat in der Diele stand. Wie er sich verdrehte auf seinen beigen Cordschlappen mit der zahnfleischfarbenen Sohle. Das mit der Zahnfleischfarbe konnte ich beweisen, weil Bogi und ich mal im Badezimmer der Schnellstiegs den Hausschuh von Bogis Vater zum Vergleich neben das Gebiss seiner toten Oma gehalten hatten, das da noch rumgelegen hatte. Mal sah ich Bogis Vater jetzt ganz deutlich vor mir, dann wieder nur verschwommen. Wie wenn man durch die Milchglasscheiben der beiden Schwingtüren guckte, die bei den Schnellstiegs den Windfang hinter der Haustür von der Diele trennten. Jedenfalls war es, wenn man in das Haus kam, erst mal so, als ob alle hinter der Scheibe Geister wären, gar keine echten Menschen, oder als ob sie im Nebel stünden. Erst später, wenn man zu ihnen reingegangen war, bekamen sie eine klare Form, und man konnte sie voneinander unterscheiden.
»Ist was mit der Turnierfahrt?«, fragte ich.
»Nein. Pass mal auf. Der Manfred, der, äh, Bogi musste leider ins Krankenhaus. Der kann nicht mit.«
Sogar die Schnellstiegs nannten ihren eigenen Sohn mittlerweile Bogi.
Wieso denn Krankenhaus? Der war doch gestern noch in der Schule gewesen. »Bis morgen«, hatten wir uns verabschiedet. Und heute war Samstag, wir sollten nachher zu dem Fußballturnier fahren. Ich verstand kein Wort.
»Bist du noch da?«, fragte Herr Schnellstieg.
»Ja.«
»Ja. Die, äh, haben da beim Manfred was gefunden, was sie jetzt mal untersuchen müssen. Weil, wenn das … Deshalb ist der jetzt in der Klinik. Im Sankt Joseph.«
»Ah, Sankt Joseph«, wiederholte ich, als ob ich mich mit Krankenhäusern auskennen würde.
»Mhm …«, räusperte sich Bogis Vater. »Petra! Kannst du mal kommen?«, rief er dann, »ich geb dir mal Manfreds Mutter, ja?«
»Hallo, Motte?« Jetzt war Bogis Mutter dran. Ich schluchzte. Wahnsinn, jetzt ging diese Flennerei wieder los. Passierte mir in letzter Zeit dauernd, ohne dass ich wusste, warum. Einfach so, ohne Stiele und Stengel gekeltert.
»Ja, pass auf, Motte, du musst wirklich nicht weinen. Der Manfred war doch gestern Nachmittag beim Arzt, wegen der Impfung. Und da hat man was gefunden, wo sie jetzt im Krankenhaus mal nachgucken wollen. Aber wahrscheinlich ist es gar nichts.«
Ich zog den Rotz hoch und sagte nichts. Frau Schnellstieg auch nicht. Wir atmeten eine Weile in unsere Telefonhörer. Bogis Opa hatte mal erzählt, die Nazis hätten gewollt, dass man statt Telefonhörer Fernsprechhantel sagte. Und dass der Telefonhörer sowieso gar nicht Telefonhörer hieße, sondern Handapparat. Die hatten Probleme.
Dann weinte Bogis Mutter plötzlich auch, obwohl sie mir doch vor fünf Sekunden noch gesagt hatte, das müsse nicht sein. Ganz leise nur, aber ich merkte es. Wenn der andere nicht zeigen will, dass er heult, hört man das Schniefen erst recht.
Was denn jetzt? Wir heulten, und ich wusste noch nicht mal, weswegen genau. Die Ärzte sollten besser mal nachgucken, hatte sie gesagt. Aha. Irgendwann legte ich einfach auf.
Ich ging die Treppe hoch und in mein Zimmer zurück. Jetzt hat sich gerade alles verändert, dachte ich. Nee, dachte ich nicht. Keine Ahnung, was ich wirklich dachte. Vielleicht fragte ich mich auch nur, ob auf dem Sitzsack immer noch mein Abdruck zu sehen war.
Bevor ich die Tür schloss, stoppte ich kurz. Hinter mir hatte ich was gehört. »Coco!«
Der Nymphensittich. So ein Idiot. Coco am Arsch.
Inhaltsverzeichnis
– Mitte September –
Ich fuhr mit dem Siebzehner bis zum Bahnhof, stieg da in die Vier, am Museum raus, und von hier aus waren es dann zu Fuß nur noch fünf Minuten bis zur Klinik.
Seit ein paar Tagen merkte man, dass es wieder früher dunkel wurde. In einer Woche wäre mein sechzehnter Geburtstag und in drei Monaten Weihnachten.
Den Besuchstermin hatte ich mit Bogis Mutter ausgemacht. Die anderen würden später auch noch kommen, um Bogi Hallo zu sagen. Also Walki, Detlef Walkenhorst, und Jan Borowka auch. Wir könnten aber nicht so lange bleiben, hatte Frau Schnellstieg gesagt, weil Bogi wegen der Behandlung jetzt so schnell müde werden würde.
Komisch war das. Bogi, mit dem ich seit Jahren fast jeden Tag verbracht hatte, war von einem Moment auf den anderen weg gewesen. Ich konnte mich eigentlich nicht daran erinnern, wie wir uns angefreundet hatten. Eines Tages war er einfach da gewesen in meinem Leben, und ich in seinem, und von dem Moment an hatte das keiner von uns jemals infrage gestellt. Und jetzt konnte ich auf einmal nicht mehr mit ihm reden und bekam nur noch so komische Nachrichten von seiner Mutter ausgerichtet. Dass er sich über meine Grüße sehr gefreut hätte, so was.
Wie das klang.
Bei unserem letzten Gespräch, bevor er in die Klinik gekommen war, hatten wir übers … – okay, was solls, wir hatten übers Furzen geredet. Genauer gesagt übers Fürze-Anzünden. Bogi kannte sich damit ziemlich gut aus, ernsthaft.
Er wusste zum Beispiel, dass Methanfürze gut brannten, Kohlendioxidfürze, das waren die, wenn man zum Beispiel zu viel Cola getrunken hatte, aber nicht.
Solche Sachen. Wir hatten ja nicht gewusst, dass es für lange Zeit unser letztes richtiges Gespräch sein würde. Dann hätten wir uns natürlich ein anderes Thema ausgesucht. Den Satz des Pythagoras. Hypotenusen. Katheten. Weiß der Geier. Aber so? Bogi hatte jedenfalls gerade irgendwo gelesen, dass man seine Fürze auf keinen Fall anzünden sollte, weil es einen Rückstoß geben konnte und man dann explodierte, oder so. Er hatte das schon das eine oder andere Mal gemacht, also Anzünden, nicht Explodieren, und sich nun im Nachhinein erschreckt. Andererseits, im Krankenhaus lag er ja jetzt trotzdem, dachte ich. Blöder Gedanke, aber da kann man ja nichts gegen machen, wenn einem so was durchs Hirn geistert.
Jedenfalls war das ein Hobby von Bogi, hatte ich mir ja nicht ausgedacht. Er redete nun mal gerne drüber. Und tat es auch oft. Furzen jetzt, nicht Reden. Reden auch, aber eben nicht ganz so gerne wie Furzen.
Okay, ist jetzt auch mal gut damit.
Ich musste erst mal über die Kaiserallee rüber, was gar nicht so einfach war, weil ich keine Lust hatte, bis zur Fußgängerampel zu latschen. Die rasten hier alle lang wie nichts Gutes. Das Tempo machte die Leute verrückt. Die bretterten mit hundert Sachen durch die Stadt und hielten sich deswegen für die Größten.
Sogar wenn sie, keine Ahnung, Hausmeister am Brahms-Gymnasium waren wie Herr Schaff. Und der war nun eindeutig nicht der Größte, das konnte ich sogar beweisen. Herr Schaff hatte sich neulich einen Ledergürtel gekauft, auf dessen breiter Schnalle »Chef!« gestanden hatte. Das musste man ja auch erst mal bringen: in den Laden gehen, den Gürtel sehen und denken, wow, super Gürtel, und dann zur Verkäuferin hin und sagen: Genau diesen Gürtel mit dieser abgefahrenen Schnalle will ich haben. Das ist die Gürtelschnalle, die mir von den, was weiß ich, hundertsieben hier am allerbesten gefällt. Noch viel besser als die mit Peace oder War oder was weiß ich. Aber, Achtung, mit dieser Gürtelschnalle war Schaff dann auch noch gleich in seiner Kellerwerkstatt verschwunden und hatte mit dem Lötkolben oder dem Schweißgerät, ich hatte keine Ahnung, was man dafür brauchte, ein großes S vor den Chef gebastelt, und hinten aus dem Ausrufezeichen ein zweites f, was nur halb gut gelungen war. Sodass man da jetzt »SCheff« lesen konnte, wenn man sich ein bisschen Mühe gab. Also noch nicht mal »SChaff«. Ziemlich trostlose Sache das Ganze. Eigentlich guckte man aber sowieso nur knapp über seinen Hosenstall und rätselte rum, was da geschrieben stand.
Aber, wichtige Frage, warum um alles in der Welt war mir das eigentlich peinlich? Konnte mir das mal einer erklären? Ihm selbst, Schaff, war es das nämlich ganz offensichtlich nicht, der stolzierte mit vorgeschobenem Becken durch die Gänge vom Brahms.
Die Antwort: Den Idioten war nie was peinlich. Schlagersängern übrigens auch nicht, wenn wir schon mal dabei sind. Das konnte man nur werden, wenn einem überhaupt nichts peinlich war. Sonst würde das ja gar nicht gehen. Sich wie diese Knalltüten bei dem Labersack Dieter Thomas Heck hinzustellen und so einen Dreck zu singen. Vor all den Leuten. Obwohl, andererseits, lustig wars schon auch.
Oder, dachte ich, Dietmar Rosin aus der Zwölften zum Beispiel. Der hatte sich während der Kursfahrt nach London tätowieren lassen, sich aber vorher mit dem Tätowierer besoffen. Und jetzt stand auf seinem rechten Oberarm »Led Zelepin«. Kein Wunder, dass der mit einundzwanzig immer noch in der Zwölften war. Walki hatte übrigens gesagt, der Rosin bekäme schon eine Glatze. In der Zwölften! Ernsthaft.
Egal, der Schulhausmeister Karl-Heinz Schaff raste jetzt vielleicht auch gerade in seinem schimmeligen Ford Taunus hier lang, während ich immer noch versuchte, auf die andere Seite der Kaiserallee zu kommen.
Noch was: Unsere Biolehrerin Frau Strobel hatte mal kurz vor den Ferien, ausgerechnet als Schaff mit seinem neuen Gürtel bei uns die Tagessensation gewesen war, im Unterricht einen Film über das Nacktschwanzgürteltier gezeigt.
»Von männlichen Tieren ist als einzige Lautäußerung ein schweinartiges Quieken bekannt«, sagte der Sprecher im Film. Frau Strobel konzentrierte sich, als der Projektor ratterte, auf ihre Handarbeit, Makramee oder wie der Quatsch hieß. Die hatte den Film ja schon hundertvierunddreißigmal oder so gesehen.
Und Schaff tauchte genau in diesem Moment zu dem Text leibhaftig draußen vor den Fenstern auf und trug große Laubhaufen zusammen, in die ich mit Walki, Jan und den anderen dann, wenn er weg war, reintrat, um das ganze Zeug wieder dahin zu verteilen, wo Schaff es hergeholt hatte. Das war lange, bevor er seinen bescheuerten Laubbläser bekommen hatte. Egal, wir schmissen uns in dem blöden Bioraum jedenfalls weg vor Lachen, und Frau Strobel verstand nicht, was an dem Film so komisch sein sollte.
Warum mir der Mist ausgerechnet jetzt einfiel, als ich hier über die Straße rüberwollte, verstehe, wer will. Kraut und Rüben. Wahrscheinlich war ich einfach ein bisschen aufgeregt, weil ich Bogi gleich zum ersten Mal wiedersehen würde, seit er in die Klinik gekommen war, und ich wollte mich ablenken.
Irgendwie kam ich am Ende doch noch über die Kaiserallee rüber. Zur Straße hin war das Krankenhausgelände mit einer langen roten Backsteinmauer abgegrenzt. Nach einer Weile kam rechts die Pforte.
Ich schaute den Pförtner an und wartete erst mal ab, ob er mich was fragen wollte.
Den Ausweis sehen oder so, keine Ahnung, wie das hier lief.
Aber der Pförtner nickte nur stumm.
Seine beleuchtete Loge sah aus wie ein Aquarium. Herr Gallenkamp, unser Physiklehrer, hatte eins, von dem er dauernd erzählte, mit Prachtguppys drin.
Er sagte: »Brachtgubbis.«
Wir fragten ihn immer danach, weil er, solange er von seinen Fischen reden konnte, keinen Unterricht machte.
Ich hatte in Physik eine Zwei in mündlicher Beteiligung, obwohl ich, ungelogen, kein einziges Wort von dem Scheiß verstand. Alles nur, weil ich mich ständig nach den Brachtgubbis von Herrn Gallenkamp erkundigte.
Ich ging auf den Eingang des Hauptgebäudes zu. Ein großes altes Haus, aus den gleichen verwitterten Backsteinen gebaut wie die Mauer zur Straße hin.
Hinter vielen Fenstern brannte schon Licht, obwohl es erst vier Uhr nachmittags war.
Wahrscheinlich ließen die ihre Neonröhren einfach Tag und Nacht brennen, damit nur keiner auf die Idee kam, sich hier womöglich eine Sekunde lang nicht krank zu fühlen.
Vor dem Eingang stand ein Rettungswagen, aus dem gerade jemand, der auf einer Trage lag, rausgeschoben wurde.
Ich guckte nicht so genau hin, weil ich keine Lust auf Blut hatte. Aus der Trage klappten jetzt laut scheppernd vier Metallbeine raus, die unten noch kleine Räder dran hatten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das so toll war für den, der da drauflag.
Der eine Sanitäter trug ein Haarnetz und war bestimmt ein Zivi, ein Drückeberger, wie Kragler, unser Sportlehrer, gesagt hätte.
Mittwochs in der ersten und zweiten war immer Doppelstunde Sport. Bei Oberstudienrat Horst Kragler.
»So, Freunde, Körperschule!«, brüllte er, und wir mussten uns dann erst mal in einer Reihe nebeneinander aufstellen und diesen ganzen Militärscheiß machen. Über Hindernisse springen, unter anderen durchkriechen, Seile hochklettern, das ganze Programm.
»Hopp, hopp, hopp, Männer, keine Müdigkeit vorschützen!« Dann mussten wir die kleinen Lederbälle werfen, als seien es Handgranaten. Sagte Kragler nicht, verstanden wir aber auch so.
War man seiner Meinung nach zu langsam, holte Kragler sein kleines rotes Notizbuch raus und kritzelte irgendwas rein.
»Schumacher nicht nahkampftauglich«, oder was weiß ich. War mir auch egal, ehrlich gesagt.
Michael Habel schaffte es mal am Seil gerade noch so bis nach oben. Er war, um nicht lange drum herumzureden, ziemlich fett. Es war sowieso keine gute Idee, ihn da hochklettern zu lassen, auch wenn er es natürlich versuchte. Am Ende hatte er jedenfalls keine Kraft mehr, rutschte aus vier oder fünf Metern Höhe ab und riss sich dabei an beiden Händen die ganze Haut weg. Er lag unten rum und schrie wie am Spieß, in beiden Handflächen war das rohe Fleisch zu sehen, der Boden war ganz blutig, und ein Krankenwagen musste kommen. Michael Habel hatte sich auch das Bein gebrochen, da hatte auch die alberne Matte nichts genützt. Der Knochen guckte vorne am Schienbein raus, ganz gelb, ohne Quatsch jetzt. Sogar die Sanis machten große Augen, als sie den Habel da so liegen sahen. Kragler stand dabei und tat so, als könne er sich gar nicht erklären, wie das passiert war.
Nach ein paar Wochen saß Michael Habel zwar wieder im Unterricht, aber mit immer noch bandagierten Händen und Gipsbein, und guckte noch dämlicher aus der Wäsche als vorher. Wenn er überhaupt mal was sagte, dann ging es nur darum, wie viele Platten und Schrauben er jetzt im Bein hatte. So genau wollten wirs aber gar nicht wissen. Aufs Klo musste immer einer mitgehen und ihm die Hosen runterziehen. Ernsthaft. Lieber wäre ich aus dem Fenster gesprungen.
Kragler hatte wohl ausnahmsweise mal Ärger gekriegt und hielt sich in der nächsten Zeit ziemlich zurück, murmelte aber noch öfter unverständlich vor sich hin als früher.
Wir hatten ihn übrigens auch in Erdkunde. Ich sah zu, dass ich so oft wie möglich mit Bogi zusammen Kartendienst hatte, sodass wir am Anfang der Stunde wenigstens ein paar Minuten Unterricht verpassten.
Er begrüßte uns dann jedes Mal mit: »Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit, Schumacher.«
»Tut uns leid, war so viel los im Kartenraum, Herr Kragler«, sagte ich, bevor wir »Das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937« an den Ständer klemmten und abrollten. Kragler wollte unbedingt wieder nach Schlesien zurück, wenn ich das richtig verstanden hatte. Oder Schlesien sollte zu ihm kommen. Zu uns, keine Ahnung. Kragler wollte es sich wiederholen, mit unserer Hilfe. Weil es wohl eine tolle Sache war, also Schlesien jetzt. Ich wusste ehrlich gesagt noch nicht mal, wo das lag.
Schlesien war für Kragler das, was für Herrn Gallenkamp die Brachtgubbis waren. Ob Kragler vielleicht dachte, wir seien deswegen öfter mal nicht bei der Sache, weil uns Schlesien so sehr fehlte? Egal, jedenfalls wollte ich auf keinen Fall nach Schlesien. Und dass Schlesien sich auf den Weg zu mir machte, war ja auch unwahrscheinlich. Und selbst wenn Schlesien irgendwann hierherkäme, wäre ich dann schon längst weg, weil ich rechtzeitig von hier nach Berlin verschwinden würde. Wegen der Scheißbundeswehr und so.
Die fassten einem da bei der Musterung an die Eier. Ehrlich. Hatte Ludger, der große Bruder von Detlef Walkenhorst, erzählt. Der Arzt hätte ihm gesagt, er solle die Unterhose runterziehen – »Heben Sie mal Ihr Glied an« –, dann hätte er ihm an den Sack gefasst und befohlen, er solle husten. Hätte Ludger dann gemacht, hust, hust.
Der Arzt: »Eins, zwei, alles da.«
Man glaubt es nicht.
Walki und ich hatten am Boden gelegen, als Ludger uns das erzählt hatte.
Andererseits, irgendwie auch nicht überraschend, wenn man sich diese Bundeswehrtypen ansah. Denen war alles zuzutrauen. Udo Mönchs Vater zum Beispiel war beim Bund, Offizier oder so. Udo erzählte immer rum, dass er sich nach der Schule erst mal für zwölf Jahre bei denen verpflichten würde. Zwölf Jahre! Zwölf! Er hatte mit ein paar anderen Spacken einen Verein gegründet. Die schrieben das jetzt auch überall drauf:
»Bundeswehr-Fanclub-Brahms-Gymnasium!« Wie dämlich musste man eigentlich sein? Dabei hatte Udo Mönch Schiss, dass sie ihn beim Bund später gar nicht erst nehmen würden, wegen seinem Scheuermann.
Jedenfalls stand ich hier immer noch vor dem Krankenhaus rum, und die Zivis hoben jemanden aus dem Rettungswagen und schoben die Trage dann auf einem Rollwagen in die Klinik rein. Ob Bogi hier auch so angekommen war?
»Wilhelm Verderblich, Krankenwagenbau«, las ich auf einem kleinen Schild hinten auf dem Auto, als ich vorbeiging.
Super Name.
Als ich drin war und mich umguckte, fragte mich eine Krankenschwester, wohin ich wolle, und ich sagte ihr, zu Bo…, zu Manfred Schnellstieg. Sie guckte nach und meinte, den gäbe es hier nicht. Aber dann stellte sich raus, dass das hier die Notaufnahme war und ich nach nebenan zum Haupteingang musste.
Okay, noch ein Pförtner hinter Glas. Ich beugte mich zu der Klappe aus durchlöchertem, vergilbtem Plastik runter und sagte, dass ich zu Bo…, zu Manfred Schnellstieg wolle. Der Pförtner guckte in einem Buch nach. Sah aus wie ein Klassenbuch.
»Mpfmmpfmmpfmomommpf?«, hörte ich aus der Pförtnerkabine.
»Wie bitte?«
Meine Mutter hatte behauptet, dass man mit »Wie bitte?« weiter käme als mit »Hä?«.
»Mompfmommpfpfmpf.«
Stimmte aber nicht, wie es aussah.
Also ließ ich die dämliche Höflichkeit einfach wieder weg:
»Hä?«
»MOMPFMMMPFPFPFPFMMOMP!«
Es war zwecklos, ich zuckte mit den Schultern.
Der Pförtner schrieb dann auf einen Zettel: 3. Stock rechts, Station 3b, und reichte ihn mir durch das Sprechloch, das er hierfür jetzt endlich mal aufmachte.
»Da. Dritter Stock rechts. 3b.«
Ja, das stand ja auch auf dem Zettel, das hätte er dann auch gleich so sagen und die blöde Klappe aufm… – egal.
Ich verstand den Pförtner jetzt sehr gut, wollte auf der Geschichte aber nicht weiter rumreiten. Das würde ja zu nichts führen.
»Danke«, sagte ich und ging.
In die oberen Stockwerke führte eine große Treppe, und rechts davon waren auch noch Fahrstühle, von denen ich normalerweise einen genommen hätte. Ich war nicht besonders wild darauf, die drei Stockwerke hochzulatschen, wenn es einen Lift gab. Leider war ich grundsätzlich ziemlich faul. Aber dann hatte ich plötzlich Angst, mit einem Verletzten zusammen im Aufzug stecken zu bleiben, der da drin ein Blutbad anrichten würde, wie Michael Habel damals in der Turnhalle.
Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal, Augen stur geradeaus gerichtet. Auf keinen Fall, dachte ich die ganze Zeit, wollte ich einer von denen hier sein. Und weil die, die hierhergehörten, alle so langsam waren, bewegte ich mich möglichst schnell.
Dann stand ich außer Atem vor der Tür zur Station und versuchte, ein bisschen runterzukommen.
Ich steigerte mich in diese Situationen immer ziemlich rein. Genau genommen war es Schwachsinn, dass ich so ein Tamtam machte. Schließlich war es ja Bogi, der hierbleiben musste. Und nicht ich.
Die Glastür war mit Comicbildchen beklebt, Kinderstation.
Bogi war über ein Jahr jünger als ich und hatte, als er noch richtig klug gewesen war, die Sechste übersprungen.
Seitdem waren wir in derselben Klasse. Vor etwas über einem Jahr, mit dreizehn, war dann übrigens Bogis Gehirn verloren gegangen, und er war ohne es aus den Sommerferien zurückgekommen. Tatsache. Es war wohl irgendwo in den Fluten des Mittelmeers vor Formentera verschollen, einfach so. Jedenfalls war Bogi wegen seines Alters jetzt hier gelandet und nicht auf der Erwachsenenstation.
Über Donald Ducks Schnabel war der Klingelknopf. Eine Schwester kam und öffnete mir. Sie war ziemlich hübsch.
»Schw. Merle« stand auf dem Schild an ihrem Kittel.
»Ist der, äh, Manfred Schnellstieg da?« Ich wusste, dass das so ziemlich die dämlichste Frage war, die ich hier stellen konnte.
»Der Bogi? Ist in der Giraffe.«
Die sagten hier also auch schon Bogi.
»Äh, bitte?«
»In der Giraffe. Da sind so Tiersymbole auf den Türen. Findest du schon.«
Weg war sie, auf ihren quietschenden Sandalen.
Ich ging den Flur entlang und entdeckte die Figuren auf den Türen, Schildkröte, Maus, hinten links war dann endlich die Giraffe.
Die Tür von Bogis Zimmer war zu, ich klopfte vorsichtig, legte mein Ohr an das kalte Holz und hörte von drinnen erst nichts und dann, als ich noch mal klopfte, leise ein »Ja?«.
Er saß im Schneidersitz auf dem Bett.
Wie lange ich ihn nicht mehr gesehen hatte.
Bogi wirkte total verändert. Er hatte nicht plötzlich eine Glatze bekommen, oder was wegen der Behandlung noch für Scheiß passieren konnte. Meine Mutter hatte mir da sonst was erzählt. Es war nichts Äußerliches. Sondern … wie konnte man das jetzt sagen? Als ob er, obwohl er noch gar nicht lange hier war, schon hierhergehörte und nicht mehr zu unserer Welt, zu meiner. So was durfte ich natürlich nicht denken, das war doch das Gegenteil von dem, was alle mir eingetrichtert hatten, Bogis Mutter, meine Mutter. Dass Bogi gerade jetzt unbedingt das Gefühl brauchte, einer von uns zu sein und so. Dass das ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses sei.
Aber wie sollte das bitte schön gehen, das mit dem Dazugehören, wenn er den ganzen Tag über im Frotteepyjama in dem bekackten Giraffenzimmer rumlag, während wir draußen gerade unsere Welt umkrempelten? Das erklärte einem natürlich keiner.
Das nächste Problem war, dass ich gerade ziemlich aggressiv wurde wegen dem ganzen Scheiß hier. Ausgerechnet jetzt kam das wieder hoch, wo ich Bogi endlich wiedersah. Aber das brodelte ja schon die ganze Zeit in mir, eigentlich seit ich nach der Heulerei am Telefon und dem ersten Schreck wieder auf meinem Sitzsack gesessen und die Musik noch lauter aufgedreht hatte, um über das nachdenken zu können, was Bogis Eltern mir am Telefon erzählt hatten. Ich wartete immer darauf, traurig zu werden, weil ich dachte, dass man das von mir erwartete, aber wenn ich ehrlich war, war ich vielleicht nur zehn Prozent der Zeit traurig und den Rest eben sauer. Sogar auf Bogi selbst. Idiotischerweise, schon klar. Aber der sollte mal aufhören mit dem Scheiß, irgendwas unternehmen. Gesund werden. Das war doch kein Zustand mit dieser komischen Krankheit, deren Name klang, als sei es gar keine. Wenigstens keine schlimme. Wie hörte sich das denn an, Non-Hodgkin-Lymphom? Doch so, als ob es keine Krankheit sei, oder? Bestimmt wäre es besser gewesen, es hätte Hodgkin-Non-Lymphom geheißen. Besonders für Bogi.
Aber eigentlich war ich sauer auf ihn, weil ich mein altes Leben wiederhaben wollte, inklusive ihm, Bogi. Ich fand einfach, dass ich auch ohne den Mist schon genug um die Ohren hatte, keine Ahnung, hatte ich mir ja nicht ausgesucht, dass ich das jetzt dachte. Die Gedanken klopfen doch nicht an und fragen erst mal um Erlaubnis, bevor sie reinkommen. Die sind auf einmal da.
Bogis Mutter hatte mir das genau erklärt mit der Krankheit, dass es irgendwas mit den Lymphdrüsen zu tun hatte, und ich hatte ihr auch die meiste Zeit zugehört. Was nicht so einfach war, ehrlich gesagt. Aber dass es Krebs war und man an dem Scheiß sterben konnte, dass es sogar ganz schön wahrscheinlich war, dass man das tat, damit rückte sie erst raus, als ich viermal nachgefragt hatte.
»Na du?«, sagte ich und grinste Bogi an.
Ich hatte das Gefühl, er brauchte ein bisschen, um mich zu erkennen.
Dann, in dem Moment, in dem wir uns in die Augen schauten, fröstelte es mich, ohne dass ich wusste, warum. Ich freute mich total, ihn zu sehen, und wollte gleichzeitig nur noch wegrennen. Schnell schaute ich den räudigen Teddybär auf Bogis Bett an.
Wahrscheinlich gibts für die wirklich wichtigen Dinge, die man fühlt, keine Worte. Jedenfalls nicht die richtigen. Man tut eigentlich immer nur so, als ob. Weil man sich alles zurechtquatschen muss. Damit die Welt nicht stehen bleibt und es irgendwie weitergeht.
Vor Kurzem war alles für mich noch einfacher zu verstehen gewesen. Wenn ich zum Beispiel über etwas wütend gewesen war, war ich es total und hundertprozentig, bis irgendwann eben das nächste Gefühl auftauchte.
Und das war dann meistens das komplette Gegenteil von Wut gewesen. Ich hatte mich im nächsten Moment gefreut oder war total albern geworden, kein Problem. Mal hatte sich das schnell abgewechselt, mal länger gedauert, aber es war immer ein Nacheinander gewesen. Und eines Tages, ohne dass ich gemerkt hatte, wie, war das Nacheinander weg gewesen und alles in mir gleichzeitig passiert. Alle Gefühle schossen kreuz und quer in mir rum und waren nicht mehr auseinanderzuhalten. Auf einmal war ich gleichzeitig froh und traurig. Ich lachte mich schlapp, obwohl ich eigentlich alles zum Kotzen fand. Ich hatte mich in … verliebt, keine Ahnung, geht ja keinen was an, und hatte sie gleichzeitig gehasst. Und noch nicht mal gewusst, wofür. Na ja, wahrscheinlich dafür, dass ich in sie verliebt war. Eigentlich war das total anstrengend und gar nicht auszuhalten, aber ich hatte aufgehört, mich dagegen zu wehren und darauf zu warten, dass es vorbeiging, weil ich ahnte, dass das sinnlos war, weil es für immer so bleiben würde.
Und jetzt stand ich also hier bei Bogi im Zimmer.
Ich ging zu ihm hin, und wir umarmten uns. Aber nicht richtig, sondern irgendwie eckig. Wir nahmen uns in den Arm, ohne dass der Rest des Körpers mitmachte. Ich glaube, ich hatte einfach Angst, ihm wehzutun, und Bogi merkte das.
»Motte. Na?«, sagte Bogi.
Bogi nannte mich Motte. Alle anderen eigentlich auch.
Dann war erst mal Stille. Wars das schon? Mehr fiel uns zu unserem Wiedersehen nicht ein? Während wir uns umarmten, hatte ich über meine linke Schulter noch mal auf den alten, räudigen Teddy geschaut, den ich aus Bogis Zimmer zu Hause kannte.
Aber ich hatte immer gedacht, der hätte da mehr so als Witz rumgelegen. War aber nicht so. Der Teddy war ernst gemeint. Und das machte mich jetzt fertig, dass der Bär Bogi anscheinend wirklich tröstete. Lucky hieß er. Hatte schon Bogis Mutter gehört, als die klein gewesen war.
Weil mir wirklich nichts anderes einfiel, sagte ich schließlich: »Bayern hat drei zu zwei gespielt.«
Bogi war Fan von denen. Ohne Scheiß. Bei den Schnellstiegs war das genetisch. Als er erst ein paar Tage auf der Welt gewesen war, hatte er schon Manfred geheißen und war evangelisch und Mitglied bei Bayern München gewesen. Das waren ja immerhin schon mal drei Sachen, die das Leben in ganz bestimmte Bahnen lenkten, oder? Im Großen und Ganzen war für Bogi nach kaum einer Woche schon klar gewesen, wohin die Reise ging.
Ricarda Hummel aus unserer Grundschule zum Beispiel hatte keine Arme. Oder nur so kleine Stummel mit Fingern dran, und zwar nicht zehn, sondern weniger. Ist ja auch egal, ich hatte die nicht gezählt. Ja, schon klar, man konnte das jetzt nicht damit vergleichen, dass einer Manfred hieß. Ich meine ja nur. Alle taten immer so, als könnte aus uns sonst was werden, wenn wir uns nur genug anstrengten. Als läge alles immer nur an uns selbst. Aber das war Blödsinn.
Jedenfalls hatten wir immer so tun sollen, als wäre es nichts Ungewöhnliches, wenn Ricarda an ihrem Tisch gesessen und mit den Füßen was aufgeschrieben hatte.
Dabei wäre es doch eigentlich normaler gewesen, sich mit ihr einfach mal darüber zu unterhalten, wie sie das hinkriegte. Sie zum Beispiel zu fragen, wie sie das Bein überhaupt so hochbekam und den Stift hielt und so.
Das war ja immerhin was, was die anderen nicht konnten. Meine Schrift war zum Beispiel schon unlesbar, wenn ich mit der Hand schrieb. Meine Fußschrift hätte ich erst gar nicht sehen wollen. Egal. Aber nein, wir sollten so tun, als sei es normal, seinen Aufsatz mit den Füßen zu schreiben. Verlogene Scheiße, wenn man mich fragt.
Worum es mir geht, ist Folgendes: Ricarda Hummels Mutter konnte ja nichts dafür, dass sie damals nicht wusste, dass sie diese Schlaftabletten nicht hätte nehmen sollen. Aber seinen Sohn, kaum dass er die erste Windel vollgeschissen hatte, Manfred zu nennen, gleich zum Taufen in die Kirche zu schleppen und ihn dann auch noch bei den blöden Bayern anzumelden, das machte man ja mit voller Absicht.
Ich dachte mir das nicht aus, es gab Beweise. Fotos von Bogi als Säugling mit rot-weißem Käppi hingen bei den Schnellstiegs in der Diele. Man konnte nur hoffen, dass er sich nicht einfach damit abfand. Aber sonst waren seine Eltern echt in Ordnung. Nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht.
Bogi könnte sich übrigens später mal im Rathaus umbenennen lassen. Hatte ich in der Zeitung gelesen. Also nicht nur Bogi natürlich, sondern jeder. Ich auch, wenn ich jetzt statt Morten, was weiß ich, Ludolf hätte heißen wollen. So, Leute, jetzt will ich hier mal einen Riesenapplaus für Ludolf Schumacher am Schlagzeug hören! Bogi musste also nicht immer ein Manfred bleiben. Obwohl, wenn man ihn freiwillig hätte entscheiden lassen, wie er hätte heißen wollen, wäre dabei wahrscheinlich was noch Schlimmeres rausgekommen. Bogi war nicht gerade geschmackssicher. So hatte meine Mutter das jedenfalls mal gesagt, als meine Eltern ihn eingeladen hatten, mit uns ins Restaurant zu kommen, und er sich dafür schick gemacht hatte, sprich, in seinem Ballonseidentrainingsanzug aufgekreuzt war. Je länger ich über den Kram mit der Namensänderung nachdachte, fand ich: Am besten, man ließ einfach alles so, wie es war.
Bogi und ich saßen also auf diesem Scheiß-Krankenhausbett und merkten, dass wir gerade wenig miteinander anfangen konnten. Ziemlich traurig war das.
»Ja, ja. Drei zu zwei. Super, oder? Mein Vater bringt mir jetzt immer den Kicker mit«, sagte Bogi schließlich.
»Ah, echt?«
Wir schwiegen wieder. Es ging nicht weiter.
»Und, wie gehts dir so?«, fragte ich.
Das war jetzt genau die Scheißfrage, die ich wirklich nicht hatte stellen wollen. Noch vorhin in der U-Bahn hatte ich mir das geschworen. Was sollte er denn darauf antworten?
»Och. Ganz okay eigentlich. Die sagen, dass ich Weihnachten wahrscheinlich erst mal wieder rauskann«, sagte Bogi dann aber doch.
»Echt? Ist doch super.«
In der Pause, die jetzt entstand, schaute ich aus dem Fenster in den Baum, der bis hier oben reichte und sogar noch ein Stockwerk höher. Buche oder Eiche, keine Ahnung, irgend so was, ich konnte die Dinger nicht auseinanderhalten. Zwischen den Ästen hüpfte eine Amsel herum, ein Regenwurm guckte aus ihrem Schnabel und wand sich. Wahrscheinlich hatte die hier ihr Nest. Obwohl, es war Herbst, brauchten die da Nester? Andererseits, schließlich mussten Vögel ja auch im Herbst irgendwo schlafen. Was weiß denn ich? Für einen Moment sah es so aus, als ob die Amsel mich durchs Fenster anschaute.
»Was heißtn Eiche auf Englisch?«
»Oak«, sagte Bogi.
»Und Amsel?«
»Blackbird.«
»Echt jetzt? So wie das Lied?«, fragte ich.
»Mhm.«
Dann war wieder Schweigen.
Ich fand mich selbst zum Kotzen, weil es meine Aufgabe gewesen wäre, uns beiden das hier gesprächsmäßig zu erleichtern, Bogis war es jedenfalls nicht. Das Problem, oder besser, eines meiner Probleme, war aber neuerdings folgendes: Die Wörter und Gedanken in meinem Kopf wurden immer mehr, aber immer weniger davon kamen am Ende als verständlicher Satz heraus. Das war wie in dem Film, den wir vor den Ferien in Erdkunde gesehen hatten, also nicht in dem Nacktschwanzgürteltierfilm, sondern dem anderen. Das Zeug eben, das wir immer zu sehen bekamen, wenn die Lehrer uns noch irgendwie für ein paar Stunden beschäftigen mussten, egal womit. Am Ende des Schuljahrs trugen die eigentlich nur noch den Super-8-Projektor von einer Klasse in die andere, wenn man ehrlich war.
Egal, ich meine jedenfalls den Film, wo sie die ganzen Bäume gefällt und in den Fluss geschmissen hatten, die dann zum Sägewerk schwimmen sollten. »Wie entsteht Papier?«, hieß der, glaube ich. Irgendwann klappte das aber nicht mehr, es waren so viele gewesen, die Bäume, dass sie den Fluss verstopften, und deshalb gabs eine riesige Überschwemmung und noch anderen Kack. Kein einziger Baum kam bis zum Sägewerk, bis irgendein Schlaumeier aus der Stadt mit Tonnen von Dynamit anrückte und die Sache wieder zum Laufen brachte.
Und so wie in dem Fluss sah es jetzt in meiner Birne aus. Nur, dass weit und breit keiner mit einer Ladung Sprengstoff zu sehen war.
Zum Glück klopfte es irgendwann, und Walki guckte rein. Also, erst nur seine Haare und kurz danach auch der Rest.
Afro nennt man die Frisur, glaube ich. Aber Afro ist ja irgendwie auch bescheuert, wenn einer rote Locken hat und ansonsten weiß ist wie Quark, von den Sommersprossen mal abgesehen. Kalkfresse hatte ihn mal einer genannt, was nicht so nett gewesen war. Walki war im letzten Jahr unheimlich schnell gewachsen und fast einen Meter neunzig groß. Er zog jetzt immer den Kopf ein, wenn er durch eine Tür ging. Das war dann aber auch wieder ein bisschen übertrieben.
»Na, du Behindi! Hehehe, ein Vollhorst ist das, der Bogi! Hängt der hier im Krankenhaus rum!«
Das war nicht Walkis Stimme, sondern die von Jan Borowka, der hinter ihm rumkrähte. Wegen Walkis Wachstumsschub im letzten Jahr war Jan mittlerweile einen Kopf kleiner, und man konnte ihn hinter Walki nicht sehen. Die beiden kamen rein und gaben Bogi die Hand. Die machtens richtig, dachte ich. Irgendwie komisch, das mit dem Handschlag, aber letztlich auch eine reelle Sache. Würde ich mir auch angewöhnen. Jan klopfte auch im Vorbeigehen gerne dreimal mit den Knöcheln auf den Tisch, das war mir dann doch irgendwie zu viel.
»Boginski, mein Freund«, sagte Jan und schaute Bogi während des Händedrucks fest in die Augen.