BLEEDING KANSAS - L. Roy Aiken - E-Book

BLEEDING KANSAS E-Book

L. Roy Aiken

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Beschreibung

Derek Grace ist gut in dem, was er tut. Irrsinnig gut! Und das, obwohl ihn die Jahre ohne Job etwas außer Form gebracht haben. Doch als die Toten nicht tot bleiben, sondern sich über die Lebenden hermachen, ergeben sich für Derek plötzlich ganz neue Perspektiven. Eine Karriere, wie geschaffen für einen Mann, der genug vom tatsächlichen American Way of Life gesehen hat. Einen Mann, der sich dringend abreagieren muss. Für Derek bedeutet das Ende der Zivilisation nur, vom Regen in die Traufe gekommen zu sein. Mit dem Unterschied, dass abgesehen von den blutgierigen Zombies eine echte Chance auf Freiheit und ein besseres Leben besteht. Zumindest, wenn er es schaffen sollte, sich 600 Meilen durch ein zombifiziertes Kansas zu kämpfen, zu seiner Familie. Natürlich vorausgesetzt, dass sie noch am Leben sind … Derek Samuel Grace, eben noch ein unbedeutender Niemand, entsteigt den blutbeschmierten Trümmern der Welt, um sich einen Namen zu machen: Derek Grace ist der Dead Silencer. Sie lieben gute Zombie-Romane? Dann lesen Sie auch: 900 MEILEN von S. Johnathan Davis und Z BURBIA von Jake Bible!

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Inhalte

Titel

Copyright

Impressum

MAYDAY

1

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CRASH

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BRENNE

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Der Autor

Leseprobe

Der LUZIFER Verlag

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com

Title: BLEEDING KANSAS. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2013. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

überarbeitete AusgabeOriginaltitel: BLEEDING KANSASCopyright Gesamtausgabe © 2024LUZIFER-VerlagAlle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael SchubertÜbersetzung: Torsten Scheib

ISBN E-Book: 978-3-943408-59-1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

MAYDAY

– 1 –

Das ist er also, der Tag, dem wir schon so lange entgegengefiebert haben – und er fängt nicht gut an. Claire wacht verschleimt und mit erhöhter Temperatur auf und ist zu kaputt, um mich zum Flughafen zu fahren. Viel mehr, außer einem: »Tut mir leid, hoffentlich geht’s dir bald wieder besser«, gibt’s da nicht zu sagen, ehe sie sich wieder ins Bett verkriecht.

Bevor ich mich versehe, wuchte ich mein Gepäck in den Kofferraum des Taxis, dessen Fahrer, wie sich herausgestellt, eigentlich auch hätte krank machen müssen. »Tja, tut mir leid, Mann, aber Sie wissen ja wie’s läuft«, rechtfertigt er sich. »Keine Arbeit, keine Kohle!«

»Wem sagen Sie das«, entgegne ich, während ich mich auf den Rücksitz fallen lasse.

»Airport, häh?« Der Taxifahrer schnäuzt sich und präsentiert daraufhin seine verklebte Hand. »Wo soll’s hingehen?«

»Kansas City.«

»Kansas City! Kansas City, here I …« Gott steh mir bei, er versucht allen Ernstes, diesen alten Song zu trällern. Zum Glück hält ihn ein Hustenanfall davon ab. Aus meiner Hosentasche angle ich mir ein Taschentuch und presse es gegen Mund und Nase.

Er schnieft vernehmlich, nachdem er sich wieder gefangen hat. »Und was gibt’s dort?«

»Ein Vorstellungsgespräch.«

»Echt jetzt? So weit weg vom Schuss? Hoffe, die zahlen auch entsprechend!«

»Oh ja.«

»Hört sich gut an! Ich wünschte, ich würde mal so einen Job abgreifen!«

»Ich auch.«

»Ha! Das hab ich gehört! Also – was haben Sie vorher die ganze Zeit gemacht?«

»War arbeitslos.«

»Oh. Nirgends was gekriegt?«

Ich muss erst seinen nächsten Hustenanfall abwarten, bevor ich antworten kann. »So ungefähr.«

»Da müssten Sie doch jetzt viel euphorischer wirken.«

»Mir geht viel durch den Kopf.«

»Oh.« Einem kurzen, bellenden Husten folgt ein lang gezogenes, gurgelndes Schnaufen. »Ja, es ist nicht einfach da draußen.«

»Yeah.«

»Wie lange waren Sie arbeitslos?«

»Lange genug.« Vier Jahre, aber wer zählt schon?

»Also ichmussleider arbeiten, verstehen Sie, was ich meine? Aber wenn ich zu Hause wäre, würde ich unter Garantie ver…« Der Fahrer leitet die nächste Runde Husten ein und sträubt sich bockend und zitternd mit seinem ganzen, hinter dem Lenkrad klemmenden Körper. Mehr kann er nicht tun, um weiterhin auf die vor uns liegende Straße zu blicken.

Quälend lange Sekunden später und nachdem ich mich schon gefragt hatte, ob er die rote Ampel über den Haufen fahren will, steigt er auf die Bremse. Allmählich und mit schlingerndem Heck kommt das Taxi quietschend zum Stillstand. »Wie wäre es mit einem Stück Kümmere-dich-um-deinen-eigenen-Scheiß zum drauf rumkauen?«, sage ich. »Wenn ich diesen Flug verpasse, wird mein Haus zwangsvollstreckt und nächsten Monat sitzt dann meine Familie auf der Straße! Wenn Sie’s nicht rechtzeitig zum Flughafen schaffen, suche ich mir eben einen anderen, der es kann!«

»Whoa, Mann, schon okay. Schon okay! Ich krieg’ das hin!«

»Kriegen Sie es auch hin, ohne mich vollzutexten wie eine alte Klatschbase? Können Sie einfach nur Ihr beschissenes Maul halten?«

»Hey, nicht frech werden! Wollte ja nur ein wenig Konversation betreiben!«

»Bringen Sie mich einfach nur zum Flughafen! Ich bin ohnehin schon spät dran!«

»Himmel, Mister, ich sagte doch schon, dass ich das hinkriege!«

Es wird grün und wir fahren weiter. Das ich so ungehalten gewesen bin, tut mir leid. Anständige Mittelständler sollten niemals vor ihren Untergebenen so eine Tonart anschlagen. Aber da ich eben ein einfacher Arbeiter mit altmodischen Ansichten bin, besteht mein Problem darin, dass ich niemanden als Untergebenen auffasse; so sehr er mir auch auf die Nerven gehen mag.

Zufrieden registriere ich, dass der Taxifahrer nun die Klappe hält, was im Gegenzug außerdem seine Hustenanfälle reduziert. Trotzdem bleibt das Taschentuch an Ort und Stelle, bis er die Parkzone vorm Flughafen angesteuert hat. Der Kofferraumdeckel springt auf, ich steige aus, atme gesegnete, keimfreie Luft und greife mir mein Gepäck.

Keine Ahnung, wie viel Trinkgeld so ein Taxifahrer bekommt. Ich kann mir ja kaum diese Fahrt leisten. Also kriegt er 15 Prozent. Ist mehr, als dieser geschwätzige Ansteckungsherd eigentlich verdient hätte.

Vielleicht kriege auch ich mehr, als ich verdient hätte.

»Alles klar?«, frage ich den Fahrer, bevor ich mich abwende.

»Hören Sie, ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagt er. »Ich weiß, wie nervös Sie sein müssen.«

»Yeah. Versuchen Sie, wieder gesund zu werden.«

Ich gehe davon aus, dass damit die Sache abgeschlossen ist, doch weit gefehlt. Der Weg zur fetten Dame hinterm Ticketschalter entpuppt sich als Spießrutenlauf, der mich an niesenden und bellenden Leuten vorbeiführt. Die Ticketfrau hat ein rotes Hitlerbärtchen unter ihrer Nase, weil sie selbige scheinbar zu oft mit ihren dreilagigen Taschentüchern geputzt hat.

Ich hätte nichts gegen eine Greifzange oder ein paar Latexhandschuhe, um damit meine Bordkarte in Empfang zu nehmen. Um Himmels Willen, ich kann es mir nicht leisten, krank zu werden und somit die beste Chance auf eine einträgliche Stelle seit Jahren entgehen zu lassen! Wahrscheinlich liegt es an der Jahreszeit. Als ich mich vom Schalter abwende, scheint jede Person in meinem Blickfeld an der einen oder anderen Form der ›Mayday Malaise‹ zu leiden. So verkündet es jedenfalls der Text hinter der Kabelnachrichten-Königin Stefani Dunham auf Fernsehschirmen überall am Flughafen.

»Hierbei scheint es sich um eineandersartigeForm des gewöhnlichen Grippevirus zu handeln«, sagt sie. »Von der Tatsache abgesehen, dass jeder Dritte davon betroffen zu sein scheint, bleibt man aber dennoch mehr oder weniger arbeits- und aufnahmefähig! Manche Stimmen behaupten natürlich, dass die gegenwärtige wirtschaftliche Lage Schuld daran ist, dass sich amerikanische Arbeitnehmer unter keinen Umständen krankschreiben lassen wollen.« Unsere Vorzeigecheerleaderin-Schrägstrich-Nachrichtensprecherin zieht eine Schnute, damit jeder weiß, was sie vonmanchenMenschen hält.

»Unabhängig von den Ursprüngen handelt es sich laut Medizinern um einen sogenannten Aerosolvirus, der sichfrei in unserer Luft bewegt!« Das Konterfei einer grauhaarigen Eminenz erscheint, der in einem vornehmen Büro irgendwelche kundige Erklärungen ablässt. Dann ist wieder Stefani dran: »Und hier sind wir auch nicht immun dagegen!« Theatralisch hüstelt sie in ein Taschentuch. »Das und eine laufende Nase! Ein großes Dankeschön gilt daher meinem Team von der Maske, das dafür sorgt, dass ich vorzeigbar bleibe! Hey, wir machen weiter – welche andere Wahl bleibt uns auch?«

Bei meinem irischen Glück wird dies genau jener Virus sein, den ich auch abkriegen werde. Claire hatte es ja schon gerade so bis ins Badezimmer geschafft und der bedauernswert-blöde Taxifahrer hatte ebenfalls massive Probleme. Ich rufe meinen Kontakt in Kansas City an. Nach einer halben Ewigkeit meldet sich Giselle. »Mr. Grace! Welchem Umstand verdanken wir die Ehre? Sind Sie noch in Colorado Springs? Am Flughafen, richtig?«

»Yeah, und zwar genau vorm Terminal. Ich wollte nur sicherstellen, dass das Bewerbungsgespräch nicht abgesagt wurde.«

»Warum sollte es?«

»Wegen der zurzeit grassierenden Grippe. Jeder scheint ja krank zu sein!«

Giselle lacht. »Ach, das! Zwar haben sich auch bei uns ein paar Leute krank gemeldet, aber davon lassen wir uns gewiss nicht aufhalten.Siesind aber nicht krank, oder?«

»Oh, nein, nein. Mir geht’s bestens. Ich war nur … besorgt.«

»Schön. Dann rufen Sie mich doch bitte an, wenn Sie in KC gelandet sind. Hoffentlich schaffen Sie es, bevor Rob zum Golfplatz aufbricht. Spielen Sie Golf?«

»Ist schon ein Weilchen her«, lüge ich. »Wenigstens werde ich ihn dann gut aussehen lassen.« Ich verachte Golf, ebenso die Sorte Menschen, die es spielen. Aber es ist deren Welt, zu der ich mir Einlass erschwindeln möchte. Weg vom Sklavenmarkt und hinein in das Reich der professionell Überbezahlten.

»Klingt, als würden Sie klarkommen. Und nochmals: Vergessen Sie nicht, mich nach der Landung anzurufen.«

»Werde ich. Vielen Dank, Giselle.«

»Und das Sie mir nicht krank werden!«

Genau. Sofern mich meine Frau nicht angesteckt hat oder der Taxifahrer oder die Ticketlady oder der halbe Flughafen – und nun verschwinde ich in einer engen Aluminiumröhre und darf rückgeführte Atemluft inhalieren, die voll ist mit den Keimen und Viren einer ganzen Woche.

Und frische Erreger gibt es außerdem. Die Sitze im Flugzeug sind gerade Mal zur Hälfte belegt und jeden zweiten Passagier scheint es erwischt zu haben. Die Flugbegleiterinnen hocken im vorderen Bereich und beim Heckschott auf ihren Klappsitzen, tragen Chirurgenmasken und schauen düster drein.

Ich muss nur die nächsten 24 Stunden gesund überstehen. 24 Stunden. Himmel, mehr verlange ich doch nicht.

Zum Glück dauert der Flug nicht lange. Danach finde ich mich auf einer, als Flughafen getarnten Tuberkulose-Station wieder und muss mich durch kondensierte Rotzwolken hindurchblinzeln, um an mein Gepäck zu kommen. Dann rufe ich Giselle an.

»Sie kennen den Weg, oder?«, fragt sie.

»Aber natürlich. Also bis gleich!«

Vorm Mietwagenstand suche ich in meinen Taschen nach den Wegbeschreibungen, die ich mir aus dem Internet ausgedruckt habe. »Ähm, hey«, wende ich mich an den Typ hinter dem Schalter. »Könnten Sie mir eine Wegbeschreibung ausdrucken? Ich hab meine leider zu Hause vergessen.«

»Wofür brauchen Sie die?«

»Um zu meinem Vorstellungsgespräch zu kommen.«

Er schaut mich leicht entsetzt an. Als hätte ich mich eingepisst.

»Ihr Fahrzeug hat GPS.«

»Oh.«

»Mann,ernsthaft?«

Nachdem ich raus zu meinem Wagen marschiert bin, drücke ich ein paar Mal auf die Zentralverriegelung am Schlüsselbund, um auch ganz sicher zu sein, dass dieser umwerfende schwarze SUV wirklich der meinige ist. Der Neuwagenduft ist berauschend. Nirgends eine Beule, und die Heckluke öffnet sich per Knopfdruck. Ich umrunde den Wagen, steige ein. Tür zuschlagen ist nicht. Ist wie beim Sicherheitsverschluss einer Tupperdose.

Sobald ich den Schlüssel umgedreht habe, bläst die Klimaanlage auf Hochtouren. Aus dem Radio ertönt Orchestermusik in brillantem Klangbild. Ich verringere die Lautstärke und gebe mir eine Minute, um mit dem GPS vertraut zu werden. Nicht, dass ich eine volle Minute benötige. Das Gerät ist sprachgesteuert.

Stadteinwärts herrscht eine entspannte Verkehrslage, die es mir ermöglicht, an meiner Atmung und Konzentration zu arbeiten. Das erste Telefongespräch mit Giselle hab ich vergeigt. Die Einstellung des Mietwagenverkäufers war auch sehr vielsagend. Im Grunde geht das Ganze bis zum Taxifahrer zurück. Hätte ich ihm die entsprechenden nonverbalen Hinweise gegeben, hätte er mich nicht mit seinem lästig-vertrauten Gerede geplagt.

Ich kann es mir nicht leisten, nett zu sein. Ich kann mich nicht jedes Mal sprachlos geben, wenn ich mit einem weiteren entzückenden, wenngleich entsetzlich teurem Spielzeug konfrontiert werde, das die Kurtisanengesellschaft als gegeben ansieht, als handle es sich um kaltes oder heißes Leitungswasser. Sollte irgendjemandem bei der Firma auffallen, dass ich kein Stammeszugehöriger bin – zum Beispiel, weil ich seit zehn Jahren den gleichen Wagen fahre, kein Smartphone besitze, etc. – wird man mich ohne Umwege wieder zurück in den stinkigen, abgestorbenen Teich zurückschmeißen, aus dem ich gekrochen bin. Man kriegt nicht einfach so einen Platz am Tisch der coolen Kids. Weder aus Mitgefühl, noch weil man so talentiert ist. Du kriegst ihn, wenn du schon immer ein cooles Kid gewesen bist, dann war der Platz schon vor deiner Geburt gesichert.

Daran muss ich denken, als ich aus dem Fahrtstuhl trete und durch die opulente Lobby schlendere, als würde sie mir gehören. Giselle habe ich zwar noch nie getroffen, trotzdem erkenne ich sie auf Anhieb: Eine akribisch geschniegelte Herrenhaus-Schönheit, die mit ihrer Hornbrille und dem navyblauen Einheitshosenanzug, für den garantiert zwei meiner Hypothekenzahlungen draufgegangen wären, einen auf heiße Bibliothekarin macht.

Sie adelt mich mit einem kinoreif perlweißen, viel zu breitem Grinsen: »Gott sei Dank klappt wenigstens etwas heute!«

»Darum bin ich hier«, sage ich; trocken, wie der Martini vom Chef.

»Als allererstes muss ich mich entschuldigen. Ich dachte, Rob würde heute reinkommen, aber – raten Sie mal!«

Ich hebe eine Augenbraue:Ich hoffe, es gibt einen triftigen Grund.

»Seit unserem Telefonat heute Morgen häufen sich die Krankmeldungen. Aber da Rob manchmal erst gegen 10 Uhr erscheint, hatte ich damit gerechnet, dass er Sie wenigstens willkommen heißen würde. Bis er vorhin anrief.«

»Meine Frau war auch krank, als ich heute früh gestartet bin. Von daher wundert’s mich nicht. Wer krank ist, ist krank – so viel steht fest. Und auf den Flughäfen hat es auch nicht besser ausgesehen.«

»Gewiss, Sir, aber trotzdem möchte ich michdafürentschuldigen! Im Ernst, damit habe ich nicht gerechnet! So vielen unserer Leute läuft die Nase und sie kommentrotzdemzur Arbeit. Und die … Auswirkungen bekommen Sie ja auch zu spüren.«

»Ja?«

»Wenn es Rob richtig schwer erwischt haben sollte, müssen wir das Vorstellungsgespräch wohl verschieben.«

»Wie lange wären Sie denn bereit, für meine Unterkunft aufzukommen?«

»Wie lange wären Sie denn bereit, hier zu bleiben?«

»Ich bin hergekommen, um mit Rob zu reden. Wenn es keine allzu großen Umstände macht, dann werde ich auf ihn warten.«

»Trotz Ihrer kranken Frau?«

»Unsere Kinder sind alt genug, sich um sie zu kümmern.«

Giselle knallt einen Briefumschlag auf den Empfangsschalter. »Da drin befindet sich ein Gutschein für ein wirklich ausgezeichnetes Steakhaus im Power and Light District. Außerdem weitere Coupons für Restaurants in unmittelbarer Nähe zu Ihrem Hotel. Somit wären das morgige Frühstück und der Lunch schon mal gesichert. Rufen Sie mich morgen gleich an, nachdem Sie ausgecheckt haben. Dann gibt es entweder einen zweiten Umschlag oder ein Flugzeugticket.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab, als ich den Umschlag in meiner Jackentasche verschwinden lasse.

»Ich hoffe, Sie sind ein guter Esser.«

»Keine Sorge. Danke, Giselle.«

»Schon okay. Wir sprechen uns dann morgen.«

»Jede Wette.« Ich drehe mich um und verlasse die Lobby. Zum Glück ist der Fahrstuhl leer, als ich einen lauten Stoßseufzer von mir gebe.

– 2 –

Eigentlich will ich gar nicht anrufen. Nach den Wochen, Monaten, Jahren monotoner Tatenlosigkeit tagein, tagaus befinde ich mich endlich wieder unter den Lebenden. Ich sitze nicht mehr vor meinem Laptop in meinem winzigen Kellerbüro und verliere den Verstand, während meine Frau vor ihrem PC im Nebenzimmer Däumchen dreht. Endlich passiert was!

Trotzdem: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Nachdem ich also das wohl großspurigste Frühstück meines gesamten Lebens hinter mich gebracht habe – saftiges Spinatomelette, zubereitet in einem überteuerten Yuppie-Bistro, um das ich normalerweise einen weiten Bogen gemacht hätte, wäre nicht der Coupon gewesen – rufe ich zu Hause an. Mein Sohn Jack geht ran. Wie sich herausstellt, hat Claire das Bett seit gestern morgen nicht verlassen. Momentan scheint sie zu schlafen.

Angeblich sollen die Schulen so lange geschlossen bleiben, bis sich alles wieder normalisiert hat. Ungeachtet dessen ist Jack ohnedies zu Hause geblieben. »Wir haben gestern gar nichts gemacht, Dad. Gar nichts. Komplette Zeitverschwendung.«

»Hier auch«, sage ich. »Was soll ich sagen? Sieh' von Zeit zu Zeit nach deiner Mom und werd' mir nicht auch noch krank.«

»Ach, komm schon, Dad! Meinst du nicht, dass es mich dann schon längst erwischt hätte? Kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich gestern angeschnäuzt und angehustet worden bin. Der reinste Rotzregen! Und so lange der Scheiß nicht abgeklungen ist, werde ich hier bleiben.« Er stockt. »Tut mir leid, Dad. Es ist nur … ich will nicht darüber nachdenken. Das ist alles so merkwürdig.«

»Das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Was treibt eigentlich Sibyl?«

»Muss heute arbeiten. Danke für die Erinnerung. Ich muss ihr sagen, dass sie mir auf dem Heimweg ein paar Sachen mitbringen muss.«

Ich schärfe ihm ein, dass er tun muss, was nötig ist, mich auf dem Laufenden halten soll, solche Sachen – dann lege ich auf. Vom Bistro aus ist der Firmenhauptsitz bequem zu Fuß erreichbar. Nachdem ich meine Schulden beglichen und die Parkuhr zusätzlich nachgefüllt habe, schlendere ich die Straße hinab zum Treffpunkt, den ich mit Giselle vereinbart habe. Andere Passanten kreuzen meinen Weg, wenngleich bedeutend weniger, als man im Herzen von Kansas City vermutet hätte.

»Sie können von Glück sagen, dass sich Ihre Kinder um Ihre Frau kümmern«, begrüßt mich Giselle. »Meine Mutter hat nur noch mich und ich muss arbeiten.«

»Wenn es nicht anders gegangen wäre, wäre ich jetzt auch zu Hause«, sage ich. »Und, wie geht es Rob?«

»Ich denke, ihn hat es nicht ganz so schlimm erwischt. Wenn es ihm richtig mies ginge, hätte er wohl kaum angerufen. Er denkt, dass er bis Freitag wieder auf dem Damm sein wird. In der Zwischenzeit sollen Sie sich auf unsere Kosten eine schöne Zeit in der Stadt machen. Wie gefällt sie Ihnen bisher?«

»Gegen ein paar Hausbesichtigungen hätte ich nichts einzuwenden.«

»Fantastisch! Wenn es das ist, was Sie unternehmen möchten – ich hätte da ein paar Flyer und Visitenkarten von lokalen Immobilienmaklern.«

Ist es. Himmel, irgendwie muss ich ja die Zeit bis Freitag überbrücken – sofern es Rob bis dahin auch wirklich besser geht.

In der Zwischenzeit, eine Notiz an mich selbst: Werde nicht krank. Wäre echt toll, wenn sich Rob bis Freitag erholt hätte und dafür ich schlapp zum Vorstellungsgespräch erscheinen würde.

Drauf geschissen. Ganz gleich, wie mein Zustand auch sein wird: Ich werde dieses Gespräch nicht platzen lassen.

Unterdessen bemerke ich, wie wenig eigentlich los ist. Zumindest scheinen die paar Passanten halbwegs gesund zu sein. Vielleicht hatte Jack Recht, und alle, die bis jetzt noch nicht krank sind, werden es wohl auch nicht mehr werden.

Am Abend steuere ich das Steakhaus im Power and Light District an. Dort ist es so ruhig, dass der Manager die Zeit findet, mit den Gästen über Gott und die Welt zu plaudern. Ihnen händigt er auch Gratis-Coupons aus, die sie an ihre kranken und daheim gebliebenen Freunde und Verwandte verteilen können. Kostenlose Desserts. Den Gesprächen entnehme ich, dass die meisten nur hier sind, weil sie das dauernde Husten und Niesen nicht mehr ertragen haben, geschweige denn etwas dagegen tun konnten.

Wenn ich mir die im Restaurant verstreuten Paare so ansehe, muss ich an einen alten Witz denken: Sie sind verheiratet, aber nicht miteinander. Das soll kein Urteil sein. Nach dem Horror der letzten vier Jahre, in denen ich immer wieder den gleichen stumpfsinnigen Tag durchlebt habe, sehne ich mich nicht nur nach einer neuen Stadt. Wenn es nach mir ginge, würde ich einfach hier bleiben. Käme auch der Firma billiger. Ich würde mir ein Häuschen suchen und nach und nach – so wie die Gehaltschecks rein kämen – neue Möbel kaufen. Da Sybil bereits volljährig ist und Jack wohl zu mir ziehen würde, wäre das Thema Unterhaltszahlung auch vom Tisch.

Nicht, dass ich Claire oder mich selbst hasse, den Mann im besten mittleren Alter, und mich auf einmal die Gier nach jungem Frischfleisch gepackt hätte. Diese Wir-zwei-gegen-den-Rest-der-Welt-Gesinnung ist halt einfach abgelaufen. Weiter nichts. Nachdem wir uns in den letzten vier Jahren tagtäglich gegenseitig auf die Füße getreten waren, sind wir erledigt. Außerdem denke ich, dass sie nach 22 Jahren dankbar sein wird, mich nicht mehr ertragen zu müssen. Sie weiß es eben nur noch nicht.

Mein heutiger Bierkonsum ist beträchtlicher als mir lieb ist.

Die Rückfahrt zum Hotel kommt mir wie ein Trip durch eine Geisterstadt vor. Nicht ein einziger Cop ist zu sehen. Klar, es ist Mittwochabend und noch dazu ist jeder krank.

Als ich mit dem Fahrstuhl rauf zu meinem Zimmer fahre, ruft Claire an.

»Du hörst dich schon besser an«, bemerke ich.

»Ich fühle mich wie im Auge eines Wirbelsturms«, sagt sie. »Lange mache ich’s nicht mehr, glaub ich.«

Meine Frau, die Drama-Queen. Himmel. »Soll ich nach Hause kommen?«

»Nein, nein! Wir brauchen diesen Job! Wie läuft es eigentlich? Hattest du schon dein Vorstellungsgespräch?«

»Nein. Wie sich herausstellte, ist der Firmenchef auch krank geworden.«

»Oh nein!«

»Offenbar hat es ihn aber nicht ganz so übel erwischt wie dich. Oder seine eigene Auge-des-Wirbelsturms-Phase steht ihm noch bevor. Aber ganz ehrlich, lass dich nicht von der Krankheit so runter ziehen und fertig machen. Trink viel Wasser und iss was. Wer weiß, vielleicht liegt das Schlimmste schon hinter dir.«

»Hoffentlich hast du Recht.«

»Natürlich hab ich das. Nehme es dir nicht zu sehr zu Herzen. Wir werden das schon überstehen.«

»Weiß ich doch. Das haben wir schon immer.« Eine Pause. »Ich liebe dich, Schatz.«

»Ich liebe dich auch, Claire.«

Und nachdem ich das Gleichgewicht wiederhergestellt habe, schlendere ich zu meinem Zimmer und komme mir wie das Arschloch vor, das ich auch tatsächlich bin.

»Ganz ehrlich, ich weiß nicht so recht, was ich mit Ihnen anstellen soll«, verkündet Claire am nächsten Tag. »Eigentlich wollte ich Ihnen einen Rückflug buchen, aber sämtliche Flüge nach Colorado Springs sind gecancelt worden.«

»Wie steht’s mit Denver?«

»Daran hab ich auch schon gedacht. Der früheste Flug nach Denver wäre am kommenden Montag. Aber selbst dafür gibt es keine Garantie. So viele Leute sind entweder selbst indisponiert oder müssen sich um erkrankte Familienangehörige kümmern – das macht es unmöglich, eine Prognose zu wagen.«

»Unwichtig«, sage ich. »Ich nehme den Flug.«

»Oh, keine Sorge, die Buchung habe ich bereits veranlasst. Aber wie gesagt, ohne Garantie. Rob hörte sich vorhin am Telefon auch ziemlich übel an. Und meiner Mutter geht es ebenfalls schlecht. Seit wann ist Ihre Frau krank?«

»Seit Dienstag«, antworte ich. »Sie ist damit aufgewacht.«

»So war es auch bei meiner Mutter. Gott, man könnte meinen, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen! Und jetzt heißt es auch noch, dass die Krankenhäuser aus allen Nähten platzen; vom Personalnotstand ganz zu schweigen!«

»Ich könnte auch mit dem Mietwagen nach Colorado Springs fahren.«

»Großer Gott, aber dann wären Sie den ganzen Tag unterwegs!«

»Damit würde ich schon fertig.«

»Zuvor müsste ich es mir aber absegnen lassen; tut mir leid. Was wohl aufgrund unseres Personalmangels ein Weilchen dauern kann. Ich würde mich gegen 17.00 Uhr bei Ihnen melden, einverstanden?«

Ich bin einverstanden und bitte darum, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Viel unternehmen kann man nicht. Selbst das Kansas City Museum ist geschlossen. Also schlage ich die Zeit tot, indem ich durch die Gegend gondle und dabei den hiesigen Radiosendern lausche. Laut den DJs hat es alle erwischt. Trinkt viel Flüssigkeit, schlaft es weg! In der Zwischenzeit gibt’s ein bisschen ›Peace of Mind‹ von Boston …

Schlussendlich lande ich wieder an der Bar im Steakhouse.

Das Personal ist gut aufgelegt und redselig; fraglos, weil sie mir dankbar sein können, schließlich bin ich der einzige Gast. Als Abschiedsgeschenk gibt’s sogar einen großen Krug Gezapftes. Just als ich aus der Tür schlendere, fällt mir ein, dass mich Giselle eigentlich hätte anrufen sollen. Ich überprüfe die Mailbox meines Telefons. Keine Nachrichten. Auch keine verpassten Anrufe.

Scheiße.

Dann versuche ich’s bei Claire. Das Freizeichen ertönt eine ganze Weile, bevor die Voicemail anspringt; eine Bestätigung, dass sie die Gebühren bezahlt hat. Ich hinterlasse ein paar Worte, sage ihr, dass ich sie liebe und bald wieder zu Hause sein werde.

– 3 –

Es ist wohl volle Absicht, dass jeder Laut von draußen an den Fenstern meiner neumodischen Suite abprallt und ebendiese unnatürliche Stille mich aus dem Schlaf reißt. Es ist halb 7 Uhr morgens und nicht ein Schulbus röhrt durch die Straßen. Es gibt keine Kehrmaschinen und auch keinen, am Bürgersteig unablässig zischenden und polternden Müllwagen. Keine Pendler, die zu ihren um Punkt 7 Uhr beginnenden Schichten unterwegs sind. Keine Taxis, keine Jogger oder Leute, die mit ihren Hunden Gassi gehen.

Ich schalte den Fernseher ein. Stefani Dunham von den Cable Morning News berichtet von der ungewöhnlichen Ruhe im Nahen Osten, die wahrscheinlich der Grippe geschuldet ist, die die Welt im Sturm erobert hat.

Ihre Stimme hört sich seltsam monoton an, als sie die Aufzeichnung von einem Reh kommentiert, das durch eine automatische Glastür in einen Supermarkt stolziert. Irgendwann in der vergangenen Nacht muss ihr Cheerleadergehabe den Geist aufgegeben haben. Den Jungs und Mädels von der Maske scheint es ähnlich ergangen zu sein. Trotzdem sieht sie großartig aus. Das schnell zurechtgekämmte Haar und die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugen von einer Menschlichkeit, die ich bei einer Frau in dieser Position niemals erwartet hätte.

Mein Handy piept. Endlich …

Wir haben Mum ins Krankenhaus gefahren, aber es war überfüllt. Ihr geht es sehr schlecht. Bald weiß ich nicht mehr weiter. Muss jetzt zur Arbeit. Hoffentlich geht es dir gut und du kommst bald nach Hause.

Laut dem Zeitstempel ist der Anruf schon mehrere Stunden alt. Und erst jetzt hat er mich erreicht.

Die Topmeldung des Morgens ist laut Stefani Dunham die landesweite Unterversorgung der Grippeopfer. Die Krankenhäuser sind überfüllt, doch da etwa 30 bis 50 Prozent der Belegschaften auch indisponiert sind, kann eine ausreichende Versorgung nicht gewährleistet werden. Wegen fehlender Techniker für die Server und Sendeanlagen ist in manchen Gegenden das Telefonnetz zusammengebrochen. Außerdem haben vor zwei Nächten heftige Unwetter das Stromnetz in Georgia und Teilen Carolinas lahm gelegt. Und so wird es wohl vorerst bleiben, da es zu wenige gesunde Mitarbeiter gibt beziehungsweise diese sich um ihre bettlägerigen Nächsten kümmern müssen.

»Und während wir auf eine allgemeine Entspannung warten«, fährt Stefani fort, »stellte sich in der Zwischenzeit heraus, dass sich der Zustand mancher Erkrankter sogar noch verschlimmert hat. Jedoch trifft dies nur auf einen gewissen Prozentsatz zu und gilt keinesfalls als erwiesen. Es ist nicht unsere Aufgabe, Gerüchte zu streuen. Natürlich werden wir Sie weiterhin auf dem allerneuesten Stand halten.« Gerade, als die Werbung eingeblendet wird, hustet sie in ein Taschentuch.

Für gewöhnlich hätte es zum Schluss noch ein paar dicke Ausrufezeichen geben müssen. Schließlich – selbstredend – ist Stefani! Dunham! Von den Cable! Morning! News! mit Leib und Seele Berichterstatterin!

Ich fahre meinen Laptop hoch. Noch komme ich ins Internet, allerdings bauen sich die Seiten sehr langsam auf. Ob der britischeGuardianoder des Kremls höchsteigeneRussia Today: sie alle machen sich über den Begriff ›Mayday Malaise‹ lustig, »wie die Krankheit von Seiten der amerikanischen Nachrichtenmedien leichtfertig und unpassend getauft wurde.« (Die Deutschen sind außerdem besonders erbost über »die ausbleibende Reaktion von Seiten der Vereinigten Staaten.«)

Laut den ausländischen Nachrichtenagenturen handelt es sich übrigens um keine virale, sondern um eine bakterielle Krankheit – die noch dazu resistent gegen Antibiotika ist.Russia TodayundPolitiken DKverweisen auf Anspielungen, wonach der Ursprung ein pharmazeutisches Unternehmen sei, das die Krankheit mit eigens für diesen Zweck entwickelten (und patentierten) Gegenmitteln ausrotten würde. Aber natürlich gibt es keine stichhaltigen Beweise.

Oh, und außerdem gibt es da noch eine Sache, die von der heimischen Nachrichtenblase geflissentlich übergangen wird:

Es kann sehr schnell enden.

Es kann aber auch sehr langsam enden.

Es kann ganz einfach ablaufen – ungefähr so, wie es bei unserer Ms. Dunham der Fall zu sein scheint – bevor es, aus heiterem Himmel, knüppelhart kommt. Oder gleich knüppelhart und mit einem knüppelharten Abgang inklusive.

Bei manchen scheint eine Remission einzutreten. Wie bei Claire. Der entsprechende Artikel verwendet sogar ihren Auge-des-Wirbelsturms-Vergleich. »Und wie bei der anderen Seite des Augenwalls, wird die zweite Runde des Wirbelsturms sogar noch hinterhältiger werden.«

Ganz gleich wie man es dreht und wendet:Keiner wird sich davon erholen.Deshalb haben die Engländer, diese Meister in Sachen Galgenhumor, der Krankheit den TitelFinal Fluverpasst. Finale Grippe. Weil’s deine allerletzte Krankheit sein wird.

Ich hole mein Handy hervor und wähle Claires Mobilnummer. Nichts. Bekam ich Sibyls Nachricht schon mit einiger Verzögerung, so scheint das Netz nun konstant zusammengebrochen zu sein. Also Festnetz. Freizeichen, Klicken. Drei, vier Mal versuche ich es mit beiden Netzen.

»Die Remissionen mögen temporär sein, dafür sind die Rückfälle von brutaler – manche sagen gnädiger – Kurzlebigkeit. Wie die betroffenen Patienten.« Mir kommt Sybils SMS in den Sinn. Claire.

Claire …

Plötzlich muss ich an unser erstes Thanksgiving denken. Wir saßen auf einer Steppdecke, die sie auf dem Boden unseres unmöblierten Apartments ausgebreitet hatte. Weihnachten mit ihren Eltern, Weihnachten ohne sie, dafür mit einer strahlenden und glücklichen Sybil, der Jack später folgen sollte.

Mir fällt ein, wie ich morgens über ihre Grußkarten stolperte, die sie für mich im Haus zurückgelassen hatte. Einfach so, ohne Grund. Nur ein Zeichen, wie ›dankbar‹ sie war, mich zu haben. Wozu? Schon immer wollte ich ihr einen langen Brief zum Muttertag schreiben; wollte sie auf die vielen Dinge aufmerksam machen, die unser beider Leben so viel besser machten als die der meisten Menschen mit ›verfügbarem‹ Einkommen. Wie solche Geschichten enden, wissen wir wohl alle, oder?

Ich klappe meinen Laptop zu und schaue zum Fernseher rüber. Noch immer liest Stefani von ihrem Teleprompter ab. Kein Schniefen, kein Husten. Sie scheint sich in der Remissionsphase zu befinden.

Die logischen Konsequenzen, die ihr unweigerlich bevorstehen, sind faszinierend: Was bringt eine millionenschwere Diva wie Stefani Dunham, Königin der Kabelnachrichten, dazu, sich vor einer Kamera zu platzieren, emotionslos von ihrem Teleprompter abzulesen und so zu tun, als hätte sie ihre ganz persönliche zweiminütige Warnung schlichtweg überhört?

Meine feucht-heiße Mitleidsparty verwandelt sich in kalten, tristen Terror. Hier ist was im Gange. Etwas von der Sorte, gegen das der einzelne Bürger nichts unternehmen kann, außer so schnell wie möglich nach Hause zu den Kindern zu fahren und sich auf das Schlimmste vorzubereiten.

Ich konnte es mir nicht leisten, Claire zum Abschied einen Kuss zu geben. Genau so wenig wie ich sie jetzt, nachdem sie von uns gegangen ist, betrauern darf. Sybil und Jack verlassen sich darauf, dass ich weiß, was zu tun ist – und bei ihnen bin, wenn es getan werden muss. Wenn ich auf der Stelle losfahre, könnte ich mit der Abenddämmerung Colorado Springs erreicht haben. Sofern ich mich nicht ans Tempolimit halte. Was kein Problem sein dürfte. Andererseits, wenn ich einen Unfall baue, war’s das. Hoffentlich bin ich dann auf der Stelle tot …

Also werde ich einfach keinen Unfall bauen. Schließlich muss ich nach Hause! Aber mich einfach aus dem Staub machen, ohne vorher ein letztes Mal die Firma angerufen zu haben, ist nicht drin. Wenigstens, damit ich weiß, wer für was aufkommt. Bis 8 Uhr muss ich warten.

Ich dusche, ziehe mich an und packe schnell meine Sachen ein. Dann nehme ich das Treppenhaus am nördlichen Flurende. Fünfzehn Stockwerke liegen vor mir. Der Aufwand lindert meine Unruhe. Wichtiger noch – so gelange ich ungesehen zum Nebeneingang des Parkhauses. Hab nämlich keine Lust, von den Angestellten begafft zu werden, während ich fluchtartig meine Sachen zum Wage schaffe.

Es ist doch bloß ein dämliches Bewerbungsgespräch! Du kriegst das hin!

Ich umrunde das Hotel. Es ist so still, dass ich beinahe glaube, hören zu können, wie sich die schwülen Sonnenstrahlen gegen den Beton drücken. Unendliche Erleichterung überkommt mich, nachdem ich durch den Vordereingang marschiert bin und kühle klimatisierte Luft zu spüren bekomme.

Auf meine noch an die Sonne gewöhnten Augen, wirkt der Restaurantbereich stockdunkel. »Tut mir leid«, verkündet das Mädchen hinterm Empfang. »Unser komplettes Küchenpersonal ist indisponiert.«

»Huh.« Nicht, dass mich das sonderlich überraschen würde.

»Dabei sind sie nicht alle krank! Schließlich fängt sich nur jeder Dritte die Krankheit ein, richtig?«

»Schätze, der Rest ist daheim und kümmert sich um die eigenen Leute«, sage ich.

»Muss schön sein. Leider nicht für mich. Geh' ich nicht arbeiten, gibt’s kein Geld! Weiß Gott, wiedieseLeute ihren Unterhalt zusammenkriegen!«

»Schön, aber hat denn wenigstens irgendjemand Donuts organisiert und einen anständigen Kaffee aufgesetzt?«

»Danke für die Blumen. Denn um genau zu sein, bin ich das gewesen! Hätten Sie gerne was?«

»Nur wenn’s keine allzu großen Umstände macht.«

»Oh, nicht doch! Sie können sich nicht vorstellen, wie schön es ist, endlich mal wieder mit jemandem reden zu können!«

Von Angie erfahre ich daraufhin, dass ungefähr ein Dutzend Erkrankter eingecheckt haben, da sämtliche Fluggesellschaften – auf Befehl der Homeland Security und der Transportsicherheitsbehörde – strikte Order haben, potenziell Befallene nicht mehr an Bord ihrer Maschinen zu lassen.

»Das ist ungefähr so, als würde man das Scheunentor schließen, nachdem die Pferde bereits ausgerissen sind«, findet Angie.

Eine sehr bleiche und nervös umherblickende Dame, deren HOTELLEITERIN-Schild deutlich hervorsticht, stößt zu uns. »Mir gefällt es auch nicht, meinen kleinen Jungen in seinem Zustand allein zu lassen, aber die Show muss ja schließlich weitergehen, richtig?«

»Machen Sie sich wegen mir aber um Himmels Willen bloß keine Umstände.«

»Oh! Tschuldigung!Entschuldigung!So war es nicht gemeint! Es ist nur, dass dieser Tag sehr hart für mich werden wird. Wir haben kein verfügbares Küchenpersonal und jetzt auch niemanden, der die Zimmer reinigt! Daran wird sich wohl auch in den nächsten Tagen nicht viel ändern, weshalb ich mich dafür bei Ihnen entschuldigen möchte!«

»Schon gut. Hören Sie, ich werde mich gleich auf die Suche nach was Essbarem machen. Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben und – viel Glück!«

»Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie einen Laden entdeckt haben, der geöffnet hat«, sagt Angie.

Ich nicke, winke zum Abschied und mache mich auf den Weg in die stille Innenstadt.

– 4 –

Je mehr ich darüber nachdenke, desto sinnloser erscheint es. Die Handymasten sind vollautomatisch ausgelegt. Das nahezu wartungsfreie Festnetzsystem hängt an Generatoren. Selbst wenn alle Netze mit redseligen Überlebenden belegt wären, würde man mindestens einen Wählton zu hören kriegen. Oder ein Freizeichen vom anderen Ende der Leitung. Stattdessen – heiße Luft.

Andererseits, wenn mir meine vier Jahre Zeitarbeit als sporadischer ›Kundenbetreuer‹ etwas beigebracht haben, dann, dass unsere moderne Gesellschaft bestenfalls von Isolierband und guten Vorsätzen zusammengehalten wird. Und da wäre ja auch noch die simple Tatsache, dass zu viele Leute entweder krank sind oder sich um Betroffene kümmern müssen und daher weder eine grundlegende Instandhaltung noch verlässliche Reparaturarbeiten möglich sind.

Ich brauch was zum Frühstücken, um meinen Hunger zu stillen und die Zeit bis 8 Uhr totzuschlagen. Ich bin bereits drei Blocks vom Hotel entfernt, als mir das GEÖFFNET-Schild ins Auge fällt. Ohne die rote Ampel zu beachten, überquere ich die Straße.

Auf halbem Weg zur anderen Straßenseite bleibe ich stehen und gestatte mir einen 360-Grad-Schwenk. Bis auf den Straßenköter, der am Bordstein schnüffelt, und ein paar Waschbären, die gerade einen Mülleimer durchforsten, ist weit und breit niemand zu sehen. Keine Menschenseele.

Das Diner hat eine Glasfront. Die Tür steht offen. Hinter dem Tresen steht ein Typ und winkt mich herein. Gott stehe mir bei. Bestimmt werde ich es bereuen.

»Nur zu Ihrer Information«, verkündet er, als ich mich dem Tresen nähere, »wir sind meilenweit der einzige Laden, der geöffnet hat.«

»Das bedeutet? Muss ich ab sofort einen Hunderter für eine Tasse Kaffee hinblättern oder was?«

»Wenn Sie bereit wären, so viel zu zahlen?«

»Bestimmt nicht.«

»Warten Sie, warten Sie! Jetzt machen Sie sich doch keinen Kopf!« Ich drehe mich wieder um. »Die Kartenleser funktionieren ja höchstwahrscheinlich auch nicht mehr.«

»Eigentlich wollte ich damit zahlen«, verkünde ich und zücke einen meiner Coupons.

»Whoa!«, entfährt es dem anderen. »Das zahlendie? Also dann, keine falsche Bescheidenheit! Geben Sie mir nur ein paar Minuten, bis ich alles angeworfen habe.«

Meine Geduld wird knapp zehn Minuten später mit einem randvollen Teller belohnt: Rührei, Bacon, Röstkartoffeln, Maisgrütze. Ein zweiter, kleinerer Teller ist mit Brötchen, Bratensoße und mehreren Marmeladensorten belegt. Der Koch/Inhaber hat sich in seine Küche zurückgezogen, wofür ich ihm sehr dankbar bin.

»Ich bezweifle, dass ihr Jungs heute zu vielen Abschlüssen kommt«, bemerkt er, als er später die Teller abräumt und mich dabei beobachtet, wie ich es noch mal mit dem Handy versuche.

Ich lausche dem Klingeln-Klicken. Die Bemerkung des Mannes erscheint mir seltsam, bis mir klar wird, dass ich ja einen Anzug trage. »Uns wird schon eine Lösung einfallen«, murmle ich und drücke die Beenden-Taste.

»Für meine Tochter wird sie dann zu spät kommen«, sagt mein Gegenüber.

»Bitte?«

»Heute Morgen. Sie … sie bekam keine Luft.«

»Seit wann war sie krank?«

»Samstagabend ging’s ihr noch pudelwohl, als wir sie ins Bett gebracht haben! Am Sonntag wachte sie dann mit einer laufenden Nase und Husten auf, ging aber trotzdem mit in die Kirche – was ist schon dabei. Gestern wurde es dann richtig übel, aber so läuft es manchmal, richtig? Man wird krank, dann erwischt einen die volle Dröhnung … und sie …« Er kneift die Augen zusammen und fängt kurzzeitig zu zittern an, bevor er sie wieder aufschlägt. Sein Blick starrt ins Leere, als er fortfährt: »Sie kriegte keine Luft.«

Ich erhebe mich von meinem Hocker. »Meine Frau ging am Samstag kerngesund ins Bett«, erzähle ich ihm. »Sonntagmorgen fühlte sie sich ein bisschen schlapp. Und gestern früh war sie schon zu krank, um mich zum Flughafen zu fahren. Sie ist es, die ich nicht ans verdammte Telefon kriege, weil alle anderen auch sterben und der ganze Scheiß auseinander bricht.«

»Tut mir leid«, sagt mein Gegenüber. »Ich musste es einfach loswerden. Muss schwer für Sie sein, die Entfernung – und Hilflosigkeit …«

Ich nehme einen tiefen Atemzug und umschließe damit meinen Zorn auf diesen Idioten. »Stellen Sie sich folgende Frage«, wispere ich. »Würde Ihre Tochter es akzeptieren, wenn Sie sie einfach aufgeben würden?«

»Nein. Nein, natürlich nicht.«

»Gut. Und was ist mit Ihrer Frau? Sollten sie beide sich nicht um die Bestattung kümmern?«

»Schauen Sie sich um! Denken Sie ernsthaft, dass auch nur ein Bestattungsunternehmen geöffnet hat?«

Scheiße. Daran hab ich nicht gedacht.

»Und was sollen wir dann mit unseren … Verstorbenen machen?«

»Es hieß … der Mann sagte, wir sollen sie bestmöglich säubern und auf die Ankündigung warten.«

»Ankündigung?«

»Sie holen die Leichen ab. Es werden … Massenbegräbnisse stattfinden. In den Stadtparks. Sogar einen Gottesdienst wird’s geben.«

»Hm. Unter solchen Umständen werden die Leichen für gewöhnlich verbrannt.«

»Nein! Nein! Die Massengräber sind nur vorläufige Lösungen, bis man die Toten in individuelle Parzellen verlegt; bei ihren Angehörigen. Wenn sich die Lage wieder normalisiert hat!«

Normalisiert. Klar doch. Ich unterzeichne den Coupon und schiebe ihn über den Tresen. Als der andere ihn in der Registrierkasse verschwinden lässt, wird er von einem Heulkrampf gepackt. »Ihr Verlust tut mir leid«, sage ich, wende mich ab, gehe durch die offen stehende Tür und suche mit Riesenschritten das Weite.

Wieder zurück im Hotel, muss ich feststellen, dass die Managerin bereits nach Hause gefahren ist. Da Angies Familie in einem anderen Bundesstaat lebt und sie sonst nichts Besseres zu tun hat, hält sie die Stellung. Dennoch ist sie verunsichert, weil sie von ihrer Vorgesetzten einfach im Regen stehengelassen wurde. Immerhin gestattet sie mir, vom Festnetztelefon des Empfangs nach Hause zu telefonieren. Erst Frei-, dann Klingelzeichen. Klick. Freizeichen. Das war’s. Ich versuche es weitere drei, dann schließlich ein allerletztes Mal, um auchganz sicher zu sein, bevor ich es endgültig aufgebe.

»Schon komisch«, sagt Angie. »Bei den Ortsgesprächen gab’s keine Schwierigkeiten.«

Mir fällt nur eine Person ein, mit der ich ein solches Gespräch führen könnte: Giselle. Sofern sie da ist. Sei’s drum – was ich jetzt brauche ist jemand, mit dem ich mich von Angesicht zu Angesicht unterhalten und von dem ich eventuell ein paar neue Erkenntnisse gewinnen kann. Ich danke Angie und wende mich den rückwärtigen Lobbytüren zu, die zum Parkhaus führen.

»Wohin wollen Sie?«, ruft Angie mir nach.

»Muss noch eine Sache überprüfen«, antworte ich.

»Sie kommen doch zurück, oder?«

»Natürlich!«

»Bitte gehen Sie nicht, ohne mir vorher Besch- … ohne sich vorher ausgecheckt zu haben, okay?«

Ich muss grinsen. »Würde mir im Traum nicht einfallen, Angie.«

»Im Ernst. Sie müssen zurückkommen.«

»Wird nicht lange dauern.«

Ihr Gesichtsausdruck trägt Sorge, sodass ich mich wegen meiner Lüge noch mieser fühle. Aber sollte außer Angie sonst noch jemand die Stellung halten, kann er oder sie ihr gerne mitteilen, dass ich mit dem Mietwagen losgefahren bin; Richtung Highway.Tut mir leid, dass du dich ängstigst, Angie. Aber 600 Meilen entfernt gibt es zwei weitere, ebenfalls sehr verängstigte Menschen, die meine Hilfe noch dringender brauchen. Und 600 Meilen sind eine höllisch lange Strecke …

Beinahe entgeht mir der andere Wagen auf der Straße. Er prescht so dermaßen schnell über die I-70 – hätte ich geblinzelt, wäre er fort gewesen. Warp Faktor Scheiß-auf-die-Bullen. Die schiere Unverfrorenheit dieses Typen lässt mich schmunzeln. Bis mir die Bedeutung des Ganzen klar wird und sich ein flaues Gefühl in meiner Magengegend ausbreitet.

Auf meiner Ebene des Parkhauses stehen drei weitere Wagen. Der Ausgang ist nicht verschlossen. Mit dem Fahrstuhl fahre ich rauf ins entsprechende Stockwerk. Atme, atme …

Die Lobby liegt im Dunkeln, als ich dort ankomme.

»Wer – was?«, kann ich Giselle hören, als ich aus den Schatten trete. »Sie sind noch immer hier?«

Wie bei Stefani Dunham hat auch bei meiner heißen Bibliothekarin ein Alterungsprozess eingesetzt, der sie über Nacht mindestens 10 Jahre älter werden ließ. Schweiß glitzert auf ihren bleichen, nicht mehr ganz so apfelförmigen Wangen unterhalb der Brillenränder. »Freut mich auch, Sie zu sehen, Giselle.«

»Oh! Ich bin – hören Sie, hier sind nur noch Don, Chris und ich. Wir machen die letzten Abschlüsse.«

»Letzte? Heißt dass, ihr macht den Laden dicht?«

»Für wie lange weiß ich nicht, aber so lauteten die Anweisungen vom Vorstand. Sämtliche Geschäftsvorgänge sind bis auf weiteres abzuschließen und abzuspeichern. Danach sind die Netzwerke ausgefallen. Nicht mal die Telefone funktionieren noch. Wobei es mir schleierhaft ist, wie man uns jetzt das ›Weitere‹ mitteilen will.«

Verschaffte mir die Karre auf der Interstate vorhin ein flaues Magengefühl, so sorgt der Anblick des mit Bildern und Nippes beladenen Kartons hinter Giselles Theke dafür, dass mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird. »Ganz recht«, sagt sie. »Jetzt sind wir alle arbeitslos.« Vernehmlich zieht sie die Nase hoch und stemmt sich auf. »Hören Sie, ohne kurz angebunden erscheinen zu wollen, aber …« Unvermittelt hält mir Giselle ein Bündel Coupons unter die Nase. »Greifen Sie zu! Verlassen Sie die Stadt, so lange Sie noch können! Nehmen Sie einfach den Mietwagen und fahren Sie los!«

»Haben Sie sich das auch absegnen lassen? Ich hatte gestern den ganzen Tag auf Ihren Anruf gewartet.«

Giselle verharrt. Viel länger halte ich ihr Bibliothekarinnenprofil nicht mehr aus. »Ich weiß ja nicht, woher Sie Ihre Informationen bekommen«, sagt sie. »Aber seitgesternsterben die Menschen in Scharen. Einschließlich meiner Mutter. Schon klar, dass Sie meiner Entschuldigungen überdrüssig sind, aber darum war ichindisponiert.«

Ein »Natürlich« ist alles, was ich rausbringe.

»Und gewiss wünschen sich Ihre Kinder, dass Sie sie beim Begräbnis ihrer Mutter unterstützen. Meine Mutter wird übrigens heute Abend begraben. Sie wird von zuhause abgeholt und danach in irgendein Massengrab geworfen. Als befänden wir uns mitten in der Dritten Welt!«

Sie schließt die Augen. Gottlob muss ich den Anblick nur einen kurzen Moment ertragen, ehe ein rotblonder Jüngling in der offenen Tür hinter Giselle erscheint. »Sind Sie der Typ aus Colorado Springs? Der mit dem Bewerbungsgespräch bei Rob?«

»Der bin ich.«

»Rob ist verschieden. seine Frau hat heut' morgen angerufen.«

»Oh.«

»Tut mir leid«, bemerkt Giselle mit kränklicher Stimme. »Ich hätte es wohl erwähnen sollen.«

»War ja klar …«, murmle ich, aber nicht an Giselle gerichtet. Scheinbar ist praktisch jeder in den letzten 24 Stunden tot umgekippt.

Was bedeutet, dass Claire …

Der Rotblonde hebt die Schultern. »Keine Ahnung, ob Sie in jüngster Zeit Radio gehört haben, allerdings wird es wohl eine ganze Weile dauern, bis Sie wieder nach Hause können. Die amtierenden Gouverneure von Kansas und Missouri haben die Nationalgarden aktiviert. Staatsgrenzen wurden geschlossen und Großstädte abgeriegelt, um Plünderungen zu vermeiden. Jeder, der keinen offiziellen Posten bekleidet, hat umgehend die Innenstadt zu verlassen und soll zuhause bleiben.«

»Scheiße!«

»Wir rufen Sie an, sobald hier alles wieder läuft«, verspricht Giselle.

»Hören Sie, Giselle. Es tut mir leid. Vielen Dank für die …«

»Nein! Nein … keine Ursache. Ernsthaft. Ich werde Sie anrufen. Wir werden für jeden, der uns bereitwillig unterstützen möchte, mehr als dankbar sein. Alles Gute.« Ihr Lächeln wirkt aufgesetzt. Gott segne ihr Herz, das offenbar noch niemals gebrochen wurde, für den Aufwand, in ihrem emotionellen Vokabular nach einem Ausdruck zu forsten, der zumindest ansatzweise Mitgefühl ausdrückt.

»Wir müssen los«, verkündet der Jüngling. »Wir alle. Sofort.«

»Ihnen auch alles Gute.« Ich schnappe mir die Coupons und gehe zum Aufzug.

Als sich die Türen schließen, realisiere ich, dass ich noch immer ohne festes Gehalt dastehe. Somit ist meine Familie zur Obdachlosigkeit verdammt. Inmitten einer beschissenen Seuche.

Ist es von Bedeutung? Wird sich jemand daran stören, dass wir noch immer nicht unsere Hypothekenrate bezahlt haben? Gut möglich, dass Giselle doch Recht hatte und mir nicht bloß was vorgemacht hat. Vielleicht hatte sie das mit ›Unterstützung‹ gemeint. Das sie nach dem Verlust von so vielen Mitarbeitern händeringend neue, kompetente und willige Leute suchen und einstellen werden, sobald sich der Rauch verzogen hat …

Gerade, als ich auf die Straße schwenken möchte, schneidet mir ein Humvee vom Militär den Weg ab. Knallharte Bastarde in Tarnuniformen und mit M4-Gewehren umstellen mich. Ich lasse das Fenster runter.

»Grund Ihres Ausflugs«, bellt jemand mit Staff Sergeant-Streifen auf seinen Schulterklappen.

»Ich musste noch eine Kleinigkeit mit ein paar Leuten in der Firma besprechen«, antworte ich. »Und jetzt bin ich auf dem Rückweg zu meinem Hotel.«

»Sie sind aufdirektem Rückwegzu Ihrem Hotel.«

»Jawohl, hab' verstanden.«

Ein Second Lieutenant taucht auf, raunt dem Sergeant was ins Ohr und zieht dann wieder von dannen.

»Wenn Sie in Ihrem Hotel sind«, verkündet der Sergeant, »dann bleiben Sie auch dort. In dreißig Minuten riegeln wir diesen Straßenzug ab. Sollten Sie dann keinen triftigen Grund haben, sich im Freien aufhalten, werden Sie erschossen. Verstanden?«

»Hab ich«, entgegne ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Vielen Dank, Sergeant.«

Die Auffahrten werden patrouilliert. Höchstwahrscheinlich haben sich die Truppen schon entlang der kompletten Interstate verteilt. Nicht alle Sergeants und Second Lieutenants werden meinen Anzug und den noblen SUV berücksichtigen. Also lasse ich mir von meinem GPS eine alternative Route zum Hotel anzeigen und arbeite mich durch die Innenstadt.

– 5 –

Mein Herz wird schwer, als das Hotelgebäude in Sichtweite kommt. Mein Luxusgefängnis. Ich hatte auf den Anblick einer weitgehend freien Interstate spekuliert und bin stattdessen hier; auf striktem Befehl der Nationalgarde. Und wer wird dafür aufkommen? Was, wenn mich Giselle bereits ausgecheckt hat?

Gott allein weiß, wie es in Colorado Springs aussehen muss. Ist vielleicht ganz gut, dass ich ahnungslos bin, schließlich kann ich keinen Scheiß gegen was-auch-immer machen …

Gottverdammt, nicht gerade jetzt. Eins nach dem anderen.

Das Parkhaus ist praktisch verwaist. Ich stelle den Wagen direkt neben dem Ausgang ab. Meine Sachen trage ich außer Reichweite der Rezeption zu den Aufzügen.

Wieder zurück im Zimmer, lade ich meine Koffer ab und gehe ins Badezimmer, wasche mein Gesicht. Mache mich frisch, nachdem ich zu lange einem schwül-feuchten Kansas City-Morgen ausgesetzt war. Schließlich beuge ich mich über die Klimaanlage im Fenster und zweckentfremde sie als Trockner für meine durchgeschwitzten Sachen.

Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, in etwas Bequemeres zu schlüpfen – bis mir wieder die Gardisten einfallen. Man hatte nicht nach meinem Ausweis gefragt. Die hätten mich auch stundenlang ausquetschen können: Warum ich hier bin und nicht in Colorado, für welchen Job ich vorspreche und warum ich mich zur Hölle noch immer hier aufhalte, nachdem der Geschäftsführer meines potenziellen neuen Arbeitgebers das Zeitliche gesegnet hat und so weiter. Sicher mag der Tonfall des Sergeants leidlich zuvorkommend geklungen haben, doch letzten Endes waren es mein Anzug, die Nobelkarosse und mein distanziertes, gedankenverlorenes Auftreten, die mir den Rückweg zum Hotel ermöglicht hatten. Ich bin zwar nicht auf freier Straße, aber wenigstens hab ich hier ein Badezimmer, eine Klimaanlage und weitaus mehr Bewegungsfreiheit als mir die Gardisten je zugesprochen hätten.

Immer noch besser als eine Kugel im Schädel.

Mit dem Fusselroller fahre ich über meine Klamotten, gefolgt von ein paar Atmungsübungen, bevor ich mich zum Aufzug aufmache.

Angies Gesicht fängt zu strahlen an, als ich heraustrete.