Bleib dran, bleib dran! - Lisa Große - E-Book

Bleib dran, bleib dran! E-Book

Lisa Große

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Beschreibung

Junge Menschen, die einen Teil ihrer Entwicklung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe verbracht haben und den Übergang in ein selbstständiges Leben ohne stationäre Hilfe bewältigen, werden Care Leaver:innen bezeichnet. Der Übergangsprozess in ein selbstständiges Leben ist mit vielen Herausforderungen verbunden - zumal die Selbstständigkeit von jungen Menschen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe vergleichsweise früh erwartet wird. Für den Übergang benötigen die jungen Menschen daher nicht nur individuelle, sondern auch soziale Ressourcen. Im Gegensatz zu anderen jungen Menschen, können viele Care Leaver:innen diesen Prozess jedoch nicht mit der Rückversicherung ihrer Herkunftsfamilie und umfangreichem sozialem Rückhalt bewältigen. Was also können die Hilfen zur Erziehung für eine gelingende Übergangsgestaltung bewirken? Und was müssen vor allem die Fachkräfte leisten, damit ein Übergang in das selbständige Leben gelingt? Vor diesem Hintergrund haben der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe (BVkE) und das Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) das Kooperationsprojekt "Care Leaver - stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit"durchgeführt. Zentrale Projektergebnisse insbesondere aus dem quantitativen Teil der Untersuchung wurden bereits in der gleichnamigen Buchpublikation dargestellt. In der vorliegenden Veröffentlichung liegt der Schwerpunkt daher auf den qualitativen Ergebnissen: Care Leaver:innen haben in Einzelinterviews sehr einprägsame Einblicke in ihre persönlichen Lebensverläufe innerhalb der stationären Hilfe zur Erziehung wie auch der Zeit des Übergangs gegeben. Ihre Biografien machen zunächst deutlich, welch' beeindruckende Überlebenskräfte und Ressourcen junge Menschen an den Tag legen, um schwierige Lebenslagen zu meistern. Sie zeigen aber auch auf, wie bedeutsam sich psychosoziale Unterstützung - im richtigen Moment - für sie aus dem (Jugendhilfe-)Umfeld gestalten kann.

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Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung

Theoretischer Hintergrund

1.1 Hilfen zur Erziehung – Rechtsgrundlagen

1.1.1 Hilfen für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII)

1.1.2 Hilfen für junge Volljährige

1.2 Studien zum Thema Care Leaver:innen

1.2.1 Unterstützungsangebote im Übergang

1.2.2 Biografische Herausforderungen durch Fremdunterbringung

1.2.3 Die Bedeutung von Entwicklungserfahrungen im sozialen Umfeld

1.2.4 Regionale Disparitäten bei der Bewilligung der Hilfe über das 18. Lebensjahr hinaus

Zielstellungen der Studie

Forschungsdesign der Studie

3.1 Design des quantitativen Studienteils

3.1.1 Erhebungsdesign

3.1.2 Feldzugang

3.1.3 Untersuchungsstichprobe

3.1.4 Statistische Analyseverfahren

3.2 Design des qualitativen Studienteils

Quantitative Ergebnisse

4.1 Lebenssituation der Care Leaver:innen bei Abschluss der stationären Hilfe

4.1.1 Alter bei Hilfeende

4.1.2 Schulische/berufliche Ausbildung

4.1.3 Grundbefähigungen und Verwirklichungsmöglichkeiten (Capabilities)

4.1.4 Vorbereitende Maßnahmen für die Zeit nach Beendigung der stationären Hilfe

4.1.5 Planungen für die Zeit nach Beendigung der stationären Hilfe

4.2 Lebenssituation der Care Leaver:innen nach Abschluss der stationären Hilfe

4.2.1 Wohnort der jungen Menschen nach Beendigung der stationären Hilfe

4.2.2 Kontakte zur ehemaligen durchführenden Einrichtung der stationären Hilfe

4.2.3 Krisen

4.2.4 Ambulante Betreuung nach Beendigung der stationären Hilfe

4.2.5 Effektivität der ambulanten Nachbetreuung

4.3 Wirkfaktoren für eine gelingende Nachhaltigkeit stationärer Hilfen zur Erziehung

4.3.1 Qualität und Vielfalt der Übergangsvorbereitung

4.3.2 Qualität von Beziehungs- bzw. Bindungsgestaltung

4.3.3 Hilfeeffektivität – insbesondere Grund- bzw. Handlungsbefähigung

4.3.4 Art der Hilfebeendigung und Abschiedsgestaltung sowie partizipative Zukunftsplanung

4.3.5 Qualifizierte und bedarfsorientierte Nachbetreuung

4.3.6 Zusammenfassung

Ergebnisse aus den Interviews

5.1 Fünf Einzelfalldarstellungen

5.1.1 Jalea Jakobs: „Habe da schon auch noch das Gefühl, ein Stück weit zu Hause zu sein.“

5.1.2 Alex Albrecht: „Die haben mich gemacht, wie ich jetzt so bin!“

5.1.3 Ben Bastug: „Du gehörst jetzt nicht zu uns“

5.1.4 Denis Daskalow: „Ich glaube, das ist irgendwie vor allem Überleben sozusagen“

5.1.5 Carla Cordts: „Ich will, dass mir endlich mal jemand zuhört, dass mir endlich jemand hilft. Aber keiner fühlt sich verantwortlich“

5.2 Überblick über die Ergebnisse aller geführten Interviews

5.2.1 Jugendhilfeverlauf

5.2.2 Professionelle Unterstützung als Care Leaver:in

5.2.3 Beziehung(en), gesellschaftliche Teilhabe und soziale Unterstützung

5.2.4 Gesamtbewertung und Wünsche der Care Leaver:innen

Schlussfolgerungen für die Kinder- und Jugendhilfe

6.1 Die jeweilige Qualität der Kinder- und Jugendhilfe vor dem Verlassen des Jugendhilfesystems zeigt Wirkung

6.2 Professionelle Unterstützung im Care Leaver:innen-Zeitraum zählt

6.3 Soziale Netzwerke flankieren den Prozess des Care Leaving

6.4 Resümee und Ausblick

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Zur Einführung

Leaving Care – Was bedeutet der Begriff überhaupt? Übersetzt bedeutet Leaving Care „Betreuung verlassen”, was zunächst nichts Negatives impliziert. Betreuung verlassen beinhaltet vielleicht sogar auch, dass keine Betreuung mehr benötigt wird aufgrund von erlernter Selbständigkeit. In der Fachwelt werden junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufgewachsen sind, als Care Leaver:innen bezeichnet. Auch dies ist zunächst nicht weiter negativ zu betrachten. Allerdings wissen wir aus vielen Studien und aus der Praxisforschung, dass die jungen Menschen, die in den Hilfen zur Erziehung aufgewachsen sind, meist viel früher (ungewollt) ein eigenständiges Leben führen (müssen). Als Definition beziehen wir uns auf Thomas (2015, S. 20):

„Care Leaver sind junge Menschen (Jugendliche oder junge Erwachsene), die sich in stationärer Erziehungshilfe (Wohngruppen, Erziehungsstellen, Pflegefamilien oder anderen Betreuungssettings) befinden, und deren Übergang in ein eigenständiges Leben unmittelbar bevorsteht bzw. bereits erfolgt ist.“

In den letzten Jahren wird der Thematik und damit der einhergehenden Problemstellung der Care Leaver:innen, nicht zuletzt durch die SGB VIII-Novellierung im Jahr 2019, zunehmend Beachtung geschenkt. Junge Volljährige in den Hilfen zur Erziehung rücken in den Fokus der Fachdiskussion. Netzwerke für junge Volljährige werden gegründet und die Ehemaligenarbeit gewinnt an Bedeutung. Auch die Frage nach der langfristigen Wirksamkeit der stationären Jugendhilfe spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Dabei wird u. a. die Frage diskutiert, was unter Qualität in der Erziehungshilfe verstanden wird (Kress, 2012, S. 4) und was eine gute Übergangsgestaltung ausmacht. In den letzten Jahren befassten sich mehrere Forschungsprojekte (Klein & Macsenaere, 2020; Thomas, 2015) mit dieser Fragestellung.

Bereits der 14. Kinder- und Jugendhilfebericht setzt sich mit dem Thema der Lebenslagen der jungen Erwachsenen und der daraus entstehenden „öffentlichen Verantwortung für die Bewältigung der Lebenslagen“ (Wiesner, 2014, S. 5) auseinander (ebd.). Die in der Übergangsforschung entwickelte These lautet, dass es sich beim Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter weder um eine verlängerte Jugendphase noch um die Veränderung des Erwachsenenalters handelt. Vielmehr ist dieser Übergang als eigene Lebensphase zu betrachten (Wiesner, 2014). Die Übergänge in das Erwachsenenalter haben sich in den letzten Jahren durch die Verlängerung von Ausbildungs- bzw. Bildungswegen sowie durch die Entkoppelung von Bildung und Beschäftigung zudem individualisiert (BMFSFJ, 2014). Die Sachverständigen stellten sich auf diese Veränderung hin die Frage, ob die Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe auf Grundlage des SGB VIII im Hinblick auf die Risiken und Bedürfnisse der jungen Erwachsenen in diesem Übergang in ein selbständiges Leben gegeben ist. Es steht die Frage im Raum, ob die Kinder- und Jugendhilfe sich zu früh aus dieser Verantwortung zieht und somit einfach anderen Leistungssystemen die Verantwortung für die jungen Erwachsenen überlässt (ebd.).

Die meisten Care Leaver:innen kehren nach der Erziehungshilfe nicht in ihre Herkunftsfamilie zurück: Sie beginnen ein eigenverantwortliches Leben. Der sehr frühe Übergang aus den stationären Hilfen, meistens mit wenig sozialem Rückhalt und wenig materiellen Ressourcen, stellt eine große biografische Herausforderung für die jungen Menschen dar. Care Leaver:innen werden deutlich schneller eigenständig, die Option einer Rückkehr in die Herkunftsfamilie oder in ein betreutes Setting ist häufig nicht möglich. Der Umzug in die erste eigene Wohnung hat meist essenzielle Auswirkungen, Care Leaver:innen sind z. B. häufiger von Wohnungslosigkeit betroffen. Untersuchungen der letzten dreißig Jahre haben gezeigt, dass Care Leaver:innen besonders vulnerabel im Hinblick auf Faktoren wie persönliche Entwicklung, soziale Unterstützung und materielle Ausstattung sind. Auch schlechtere Bildungschancen sowie der Übergang in eine Ausbildung oder in einen Beruf (im Gegensatz zu den Peers, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen) zeichnen die Fragilität der Care Leaver:innen aus (Thomas, 2015). Internationale Studien belegen, dass Care Leaver:innen zu dem Personenkreis zählen, der am meisten von sozialer Ausgrenzung bedroht ist (Mendes, Johnson, & Moslehuddin, 2011). „Diese Ausgangslage macht es für junge Erwachsene aus der stationären Erziehungshilfe deutlich schwieriger, eigenständig zu sein“ (Thomas, 2015, S. 20).

Im Vergleich zu ihren Peers wird von den jungen Erwachsenen aus der stationären Hilfe eine deutlich frühere Selbständigkeit erwartet. Die meisten Care Leaver:innen können nach ihrem Auszug weder auf ein gesichertes soziales oder familiäres Netzwerk zurückgreifen noch auf materielle und immaterielle Unterstützung hoffen. Die altersgleiche Bevölkerung lebt meist noch bis Mitte zwanzig im elterlichen Haushalt, da beispielsweise die Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist. Diese verlängerte Jugendphase der sogenannten „Normalbevölkerung“ zeigt, dass der angesteuerte Zeitpunkt des Hilfeendes für junge Erwachsene in den Erziehungshilfen demgegenüber nicht angemessen ist. Das durchschnittliche Alter bei Abschluss eines Ausbildungsvertrages liegt im Jahr 2010 bei 20,0 Jahren. Die Beendigung der meisten Hilfen ist deutlich früher (Nüsken, 2015).

Was also können die Hilfen zur Erziehung hier bewirken? Und was müssen vor allem die Fachkräfte leisten, damit ein Übergang in das selbständige Leben gelingt? Auch die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für den Auszug ist hierbei relevant. In anderen Ländern ist das Thema schon länger im Fokus: So ist es in Norwegen völlig „normal“, dass die jungen Erwachsenen bis zum 25. Lebensjahr von der Jugendhilfe begleitet werden. Hier müssen die jungen Menschen zeigen, dass sie „alleine leben“ können. Auch wenn die Fallzahlen der Hilfen zur Erziehung in den letzten Jahren gestiegen sind, ist die Weiterbewilligung der Hilfe stark abhängig vom gewährenden Jugendamt, man spricht hier von regionalen Disparitäten (Nüsken, 2008).

Durch die Neuerungen im SGB VIII durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz wird versucht, dieser Problematik entgegenzuwirken und im Rahmen der Bewilligung der Hilfe über das 18. Lebensjahr hinaus von einem „soll“ zu einem „muss“ überzugehen. Nicht selten wird und wurde in der Vergangenheit eine Hilfe abgelehnt, weil der junge Mensch das 18. Lebensjahr erreicht hat (ebd.). In der wissenschaftlichen Begleitung der SGB VIII-Reform (Feist-Ortmanns & Macsenaere, 2020) äußerte sich ein Care Leaver hierzu wie folgt:

„Am Ende haben wir sozusagen die Hilfe verlängern können, aber sozusagen dieser Kampf alle Vierteljahre und dann gerade in so einer Situation, wo man dann das Abi fertig hat, sich das Studium aussuchen muss, das war schon so eine Zeitspanne von zwei, drei Monaten, wo ich wirklich nicht wusste, was passiert. ... Ich glaube, da ist Verbesserungsbedarf, dass man den Jugendlichen die Sicherheit gibt, dass das kein Problem wird.“

Nur 21 % der befragten jungen Menschen gaben an, dass sie sich nach Hilfeende gut auf ein eigenständiges Leben vorbereitet fühlen. Die psychische Belastungssituation in der Adaptionsphase nehmen die jungen Menschen als besonders belastend wahr (ebd.).

Vor diesem Hintergrund haben der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe (BVkE) und das Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) das Kooperationsprojekt „Care Leaver – stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit“ durchgeführt. Zentrale Projektergebnisse insbesondere aus dem quantitativen Teil der Untersuchung wurden bereits in der gleichnamigen Buchpublikation dargestellt.1 In der vorliegenden Veröffentlichung liegt der Schwerpunkt der Ergebnisdarstellung auf den innerhalb des Projekts per Interview dokumentierten Einzelfallverläufen, die hochinteressante und sehr einprägsame Einblicke in persönliche Lebensverläufe von Care Leaver:innen sowohl für die Zeit des Übergangs als auch für die Zeit nach Beendigung ihrer stationären Hilfe zur Erziehung liefern. Die Lebensverläufe machen deutlich, welch' beeindruckende Überlebenskräfte und Ressourcen junge Menschen an den Tag legen, um schwierige Lebenslagen zu meistern, aber auch, wie bedeutsam sich psychosoziale Unterstützung für sie im richtigen Moment aus dem (Jugendhilfe-)Umfeld gestalten kann.

Dresden, Mainz und Berlin – Lisa Große, Nadine Schildt, Joachim Klein und Silke Birgitta Gahleitner

1 Klein, J., Macsenaere, M., & Hiller, S. (2021). Care Leaver – stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit. Freiburg: Lambertus.

1 Theoretischer Hintergrund

1.1 Hilfen zur Erziehung – Rechtsgrundlagen

„Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ § 1 SGB VIII

(BMFSFJ, 2014)

Die gesetzlichen Grundlagen der stationären Erziehungshilfen sind im Sozialgesetzbuch Acht (SGB VIII) – Kinder- und Jugendhilfe – in der Fassung vom 05.10.2021 geregelt. Die Aufgabe der Jugendhilfe besteht in der Förderung, Entwicklung und in der Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (Springer Gabler, 2017). Das natürliche Recht der Eltern ist die Pflege und Erziehung der Kinder, die Jugendhilfe soll zur Verwirklichung „des Rechts auf Förderung der Entwicklung und Erziehung beitragen“ (Springer Gabler, 2017, S. 2). Leistungen der Jugendhilfe können ambulant, teilstationär oder stationär sein. Im SGB VIII, vierter Abschnitt, erster Unterabschnitt ist die Hilfe zur Erziehung benannt. Im Nachfolgenden werden die Rechtsgrundlagen sowie aktuelle Zahlen aus der Kinder- und Jugendhilfestatistik angeführt.

Mehr als 40.000 junge Menschen leben in einer stationären Einrichtung der Erziehungshilfe, davon haben knapp 7.000 junge Menschen das 18. Lebensjahr vollendet (Statistisches Bundesamt, 2017). Zwischen dem 18. Lebensjahr und dem 19. Lebensjahr sinkt die Quote der Inanspruchnahme rapide (ebd.; Klein, Macsenaere & Hiller, 2021). Dadurch wird erkennbar, dass die Hilfen für diese Altersgruppe deutlich weniger häufig realisiert werden als in anderen Altersgruppen. Auch wenn im Vergleich zu den anderen Altersgruppen die wenigsten Hilfen auf junge Volljährige entfallen, heißt das aber nicht, dass die Kinder- und Jugendhilfe ihrem Auftrag mit dieser Altersgruppe grundsätzlich nicht nachkommt (Nüsken, 2015).

Die Abbildung 1 zeigt die gewährten Hilfen im Jahr 2008 und im Jahr 2015 für junge Volljährige. Wie man der Abbildung entnehmen kann, ist die Gewährung von Hilfen zur Erziehung im Gesamten stark angestiegen (um 27,7 Punkte). Der Anstieg der ambulanten Hilfen (plus 17,5 Punkte) ist dabei noch höher als der Anstieg der stationären Hilfen (plus 10,2 Punkte) (Mühlmann & Fendrich, 2017).

Abbildung 1: Gewährungspraxis von Leistungen für junge Volljährige 2008 und 2015 (Quelle: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, 2017; Datenbasis 2015; eigene Darstellung)

Der im Vergleich zu den anderen Altersklassen erhebliche Abfall bewilligter Hilfen nach Vollendung des 18. Lebensjahres ist allerdings ein deutliches Indiz für die bestehende Problematik in der Gewährungspraxis von Hilfen für junge Volljährige in Deutschland (Sievers, Thomas, & Zeller, 2014; Klein, Macsenaere, & Hiller, 2021).

1.1.1 Hilfen für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII)

Der § 41 SGB VIII wurde in den letzten Jahrzehnten mehrfach verändert bzw. angepasst. So wurde im Jahr 1974 die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters der Hilfe für junge Volljährige vom Gesetzgeber beschlossen. Noch während des Jugendwohlfahrtsgesetzes wurde die geplante Entscheidung, die Volljährigkeit vom 21. auf das 18. Lebensjahr vorzuverlegen, rechtspolitisch beschlossen. Damit war zwangsläufig die frühere Beendigung der Erziehungshilfe verbunden. War eine schulische und berufliche Ausbildung noch nicht abgeschlossen, so konnte eine Fortsetzung der Hilfe zur Erziehung beantragt werden (§ 6 Abs. 3, § 75 a JWG zit. in Wiesner, 2014).

Im Jahr 1990 war die Verbesserung der Hilfen für junge Volljährige erneut Schwerpunkt der Jugendhilferechtsreform. Das Jugendwohlfahrtsgesetz (§ 6 Abs. 3, § 75 a RJWG) wurde am 1. Januar 1991 durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz im SGB VIII abgelöst. Folgende gesetzliche Änderungen für junge Volljährige ergaben sich daraus:

Die Hilfe für junge Volljährige wird auch nach dem 18. Lebensjahr gewährt. Im RJWG war diese nur als Fortsetzungshilfe konstruiert.

Die Gewährung der Hilfe hängt nicht von der laufenden Ausbildungsmaßnahme ab.

Im RJWG war davon die Rede, dass die Hilfe gewährt werden „kann“. Im § 41 „soll“ die Hilfe gewährt werden und ist somit zu einem „sog. Regelrechtsanspruch“ geworden (Wiesner u. a. 2011 SGB VIII, § 41 Rn. 25 zit. in ebd.).

Ablehnungen von Anträgen auf Leistungen, die nach dem 18. Lebensjahr gestellt werden und nicht auf den individuellen Hilfebedarf eingehen, werden vom Verwaltungsgericht aufgehoben, da sie rechtswidrig sind. Nach dem Erreichen des 21. Lebensjahres kann die Hilfe für junge Volljährige nicht mehr begonnen werden. Der Antrag kann auch noch zwei Monate vor der Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt werden (BayVGH v. 11.02.1994, 12 CE 93, 3053 zit. in Wiesner, 2014). In begründeten Einzelfällen kann die Hilfe über die Vollendung des 21. Lebensjahres fortgeführt werden. Im Unterschied zu § 26 SGB VIII enthält der § 41 SGB VIII einen Absatz zur Nachbetreuung der jungen Volljährigen (§ 41 Abs. 3). Dieser sollte ursprünglich die bisher geleistete Hilfe sichern und den Übergang von der stationären Hilfe in ein selbständiges Leben erleichtern. Die Nachbetreuung erhält eine zentrale Bedeutung, wenn es um reibungslose Übergänge in andere Hilfesysteme geht. Wiesner (2014) fordert, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine Lotsenfunktion übernehmen. Diese können die Beratung sowie Organisation im Hinblick auf Anschlussmaßnahmen für die jungen Erwachsenen nutzen (ebd.).

Die Sachverständigenkommission zum 14. Kinder- und Jugendhilfebericht stellte allerdings fest, dass die Inanspruchnahme der Hilfen für junge Volljährige im landesweiten sowie interkommunalen Vergleich gravierende Differenzen aufweist. Sie identifiziert unterschiedliche Faktoren, die auf die Entscheidungen in der Praxis Einfluss nehmen:

Finanzielle (sogenannte fiskalische) Motive

Unterschiedliche Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster der Fachkräfte sowie ein fehlender fachlich-konzeptioneller Rahmen für die spezifischen Entwicklungsaufgaben dieser Altersgruppe (BMFSFJ, 2013 zit. in Wiesner, 2014).

1.1.2 Hilfen für junge Volljährige

Bisherige Bewilligungspraxis und damit einhergehende Herausforderungen

Innerhalb der Erziehungshilfe gab es vor dem Hintergrund der früheren gesetzlichen Regelungen für Care Leaver:innen einige im Zusammenhang mit der dargestellten Bewilligungspraxis stehende, spezifische Herausforderungen: Im Übergang in andere Hilfesysteme gab es z. B. kein ausgearbeitetes Fall- und Übergangsmanagement, welches die Übergangsbegleitung in ein selbständiges Leben sicherte. Ob der Übergang aus der stationären Hilfe gelang, oblag somit der örtlichen Hilfekultur und dem Engagement einzelner Personen sowie den regionalen Kooperations- und Übergangsstrukturen (Sievers, Thomas, & Zeller, 2014).

Im Rahmen des § 41 SGB VIII gab es einige Umsetzungsschwierigkeiten. Wiesner (2014) führt zwei Gründe an, die sich in der Vergangenheit als Hürden für die Inanspruchnahme der Hilfe erwiesen haben. Zum einen nennt er den „Einwand mangelnder Erfolgsaussicht der zu gewährenden Hilfe“, zum anderen den „Einwand fehlender Mitwirkungsbereitschaft seitens der jungen Menschen“ (ebd., S. 13). Dass diese Argumentation juristisch eigentlich nicht haltbar ist, wird aus der Zahl der gerichtlichen Entscheidungen deutlich: Junge Menschen sind durch die gerichtliche Kontrolle doch noch zu ihrem Recht gekommen, ihre Hilfe genehmigt zu bekommen. Die anderen zu Unrecht abgelehnten Leistungen nach § 41 SGB VIII, welche nicht vor Gericht ausgetragen wurden, lassen erahnen, dass die Zahl deutlich höher liegt (ebd.).

Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu eine Grundsatzentscheidung getroffen: „Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, daß [sic] eine Hilfe nach § 41 SGB VIII nicht voraussetzt, daß [sic] der junge Volljährige bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres seine Verselbständigung erreicht hat, sondern daß [sic] es genügt, wenn die Hilfe eine erkennbare Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung und Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung erwarten läßt [sic] … Sie ist also nicht notwendig auf einen bestimmten Entwicklungsabschluß [sic] gerichtet, sondern auch schon auf einen Fortschritt im Entwicklungsprozeß [sic] bezogen“ (Urteil vom 23. September 1999, BVerwG 5 C 26.98 zit. in Wiesner, 2014, S. 14).

Die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtes beziehen sich bis heute auf diesen Grundsatz (ebd.).

Die Mitwirkung der jungen Erwachsenen ist „eine generelle Voraussetzung bei der Gewährung persönlicher Hilfen und kein Spezifikum der Hilfe für junge Volljährige“ (Wiesner, 2015, S. 15). Die Leistungsvoraussetzung für die Gewährung einer Hilfe nach § 41 Abs. 1 SGB VIII ist demzufolge eine grundsätzliche Bereitschaft der betroffenen jungen Menschen zur Beteiligung und ein Interesse, am Hilfeplanverfahren mitzuwirken. Die Lebenssituation von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist allerdings häufig von begrenztem Durchhaltevermögen gekennzeichnet sowie von der Neigung, Unterstützungsangebote abzulehnen oder Hilfeprozesse abzubrechen. Gerade bei diesen oft komplizierten und desinteressierten jungen Menschen sollte es eine letzte Möglichkeit geben, eine gesellschaftliche Integration auszuprobieren und nicht vorschnell eine Beendigung der Hilfe anzustreben. Wiesner plädiert an die Fachkräfte, „einen angemessenen Mittelweg [zu] beschreiten zwischen einer distanzierten Position, die von dem jungen Menschen den ständigen Nachweis der Mitwirkungsbereitschaft erwartet, und einer bevormundenden und aufdrängenden Pädagogik, die abweichende Lebensentwürfe nicht tolerieren will“ (Wiesner u. a. 2011 SGB VIII § 41 Rn. 24 zit. in Wiesner, 2014, S. 15).

Neuregelungen im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) – § 41 SGB VIII Durch die oben beschriebenen Änderungen im Rahmen der SGB VIII-Reform wurden nun neue Rahmenbedingungen geschaffen.

Im Jahr 2021 erfolgte erneut eine Gesetzesnovellierung. Der ursprüngliche § 41 SGB VIII bis zum Jahr 2021 las sich wie folgt:

„§ 41 Hilfe für junge Volljährige, Nachbetreuung

(1) Einem jungen Volljährigen soll Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden.

(2) Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten § 27 Absatz 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt.

(3) Der junge Volljährige soll auch nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbständigung im notwendigen Umfang beraten und unterstützt werden (SGB VIII)“ (BMFSFJ, 2014).

Mit der Umsetzung des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Jahr 2021 zeigt sich eine deutliche Verbesserung für junge Volljährige. Junge Volljährige erhalten demnach, anders als zuvor, „geeignete und notwendige Hilfe (…), wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet“ (§ 41 Abs. 1 SGB VIII). Der Absatz 3 § 41 wurde komplett gestrichen und stattdessen durch folgenden Satz ersetzt: „Soll eine Hilfe nach dieser Vorschrift nicht fortgesetzt oder beendet werden, prüft der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ab einem Jahr vor dem hierfür im Hilfeplan vorgesehenen Zeitpunkt, ob im Hinblick auf den Bedarf des jungen Menschen ein Zuständigkeitsübergang auf andere Sozialleistungsträger in Betracht kommt: § 36 b gilt entsprechend”. Der § 36 b ist ebenfalls neu. Hier besagt der Absatz 1, dass „zur Sicherstellung der Kontinuität und Bedarfsgerechtigkeit der Leistungsgewährung” (§ 36 b SGB VIII) die öffentlichen Stellen im Rahmen des Hilfeplanverfahrens gemeinsame Vereinbarungen des Zuständigkeitsübergang treffen sollen. Auch die Aufgabe, welche Leistungen nach dem Zuständigkeitsübergang dem Bedarf des jungen Menschen entsprechen, kommt der öffentlichen Jugendhilfe und anderen öffentlichen Stellen (Sozialleistungsträger, Rehabilitationsträger) zu.

Das Wort „Nachbetreuung“ in der Überschrift des § 41 SGB VIII wurde gänzlich gestrichen, stattdessen wurde der § 41 a eingeführt:

㤠41 a Nachbetreuung

(1) Junge Volljährige werden innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbständigung im notwendigen Umfang und in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form beraten und unterstützt.

(2) Der angemessene Zeitraum sowie der notwendige Umfang der Beratung und Unterstützung nach Beendigung der Hilfe sollen in dem Hilfeplan nach § 36 Absatz 2 Satz 2, der die Beendigung der Hilfe nach § 41 feststellt, dokumentiert und regelmäßig überprüft werden. Hierzu soll der Träger der öffentlichen Jugendhilfe in regelmäßigen Abständen Kontakt zu dem jungen Volljährigen aufnehmen.” (SGB VIII)

Die neue Gesetzesgrundlage stellt eine wesentliche Verbesserung der Hilfen für junge Volljährige dar. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, inwieweit sich die Bewilligungspraxis für die Care Leaver:innen tatsächlich verbessert.

1.2 Studien zum Thema Care Leaver:innen

In einigen anderen Ländern ist die Gruppe der Care Leaver:innen und damit die Gestaltung der Übergänge von den stationären Hilfen in ein eigenständiges Leben stärker im Fokus als in Deutschland, nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch in der Fachpraxis und in der sozialpolitischen Diskussion. Daraus ergibt sich, dass dort deutlich mehr Studien zu dieser Thematik vorliegen. In den letzten Jahren nahmen aber auch die Studien im deutschsprachigen Raum zu und die damit einhergehenden Problemstellungen wurden genauer untersucht. Ziel der Studien war es, zu verstehen, was genau benötigt wird, um gelingende Übergänge zu gestalten, um die Nachhaltigkeit der Jugendhilfe zu gewährleisten und welche Herausforderungen (retrospektiv aus Sicht der Care Leaver:innen) nach der Hilfe gegeben sind.

1.2.1 Unterstützungsangebote im Übergang

In der Studie „Entkoppelt vom System” (Mögling, Tillmann, & Reißig, 2015) lag der Schwerpunkt auf der „Erfassung der Erfahrungen mit Exclusions- und Entkopplungsprozessen sowie ihrer Bedarfslagen für eine gelingende Verselbständigung” (ebd., S. 13). Die Studie kam zu den Schlussfolgerungen, dass das Ausmaß „entkoppelter Jugendlicher” in Deutschland kaum messbar bzw. bekannt sei. Mit den qualitativ erhobenen Daten der Studie lassen sich dennoch Ansatzpunkte identifizieren, die zu positiven Lebensverläufen der jungen Menschen führen: Die jungen Menschen, die vor dem Erreichen des 18. Lebensjahres präventive Unterstützungsangebote erhalten haben, wiesen deutlich positivere Lebensverläufe auf. Darüber hinaus zeigt sich, dass es einer langfristigen Unterstützung über das 18. Lebensjahr hinaus bedarf, um den damit einhergehenden behördlichen Anforderungen gerecht zu werden und nicht in die Überforderung zu gelangen (ebd.).

Die Studie „Einrichtung einer nachstationären Anlaufstelle zur Betreuung von Care Leavern” (Faltermaier & Schäfer, 2018) analysierte die Bedarfe der jungen Menschen im Übergang in ein selbständiges Wohnen, Arbeiten und Leben unter Einbezug der Perspektive der jungen Menschen, die die Jugendhilfe bereits verlassen haben, und pädagogischer Fachkräfte. Die Alltagsorganisation nach der Hilfe wurde von den Befragten als relativ „gut” eingeschätzt, im Gegensatz zum Umgang mit Finanzen und rechtlichen Angelegenheiten. Die Folgen könnten hier Verschuldung und Insolvenzen sein. Aber auch mit der Verarbeitung von Alltagskrisen und unvorhersehbaren (negativen) Ereignissen kommen die Care Leaver:innen nach ihrem Auszug aus der Jugendhilfe nur schwer zurecht. Die Autoren zeigen auf, dass sich ohne ein geregeltes Unterstützungsangebot nach der Hilfe (nachhaltige) Krisen bei den Care Leaver:innen entwickeln können. Hier sollten individuelle Konzepte entstehen, um diesem entgegenzuwirken (Faltermaier & Schäfer, 2018).

Auch die Studie „It’s All Rights 4u after Care – Care Leaver verstehen, unterstützen, eine Stimme geben!” (Sievers & Thomas, 2016) fokussierte sich auf die Übergangserfahrung aus Sicht von Care Leaver:innen, aber auch auf die damit einhergehenden strukturellen Aspekte des Übergangs. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, „dass die Existenzsicherung im Übergang nach der stationären Jugendhilfe häufig nicht gewährleistet ist, dass berufliche Perspektive unklar und ein unterstützendes privates Netzwerk oft ein entscheidendes ‚Glück‘, aber keineswegs bei allen gegeben ist” (Sievers & Thomas, 2016, S. 23). Auch die finanziellen und rechtlichen Unterstützungsangebote für Care Leaver:innen fehlen und sind noch nicht für diese Zielgruppe aufgearbeitet, obwohl der Bedarf hier groß ist (Sievers & Thomas, 2016).

Die vorangegangene Studie „Nach der stationären Erziehungshilfe – Care Leaver in Deutschland” (Sievers et al., 2014) nahm die Erfahrungen in der Ausgestaltung der Hilfen aus Sicht der Fachkräfte in den Blick. Ziel der Studie war es, gelingende Formen der Ablösung und damit einhergehende Konzepte zu erarbeiten. Auch diese Studie kam zu dem Ergebnis, dass kein ausreichendes Fall- und Übergangsmanagement in den Einrichtungen zur Verfügung steht und die (gute) Übergangsbegleitung sowie anschlussfähige Unterstützungsangebote am Engagement einzelner Personen festzumachen seien. Die Fachkräfte in den Interviews postulierten, dass zum Gelingen des Übergangs aus der stationären Jugendhilfe eine intensive Kooperation zwischen den unterschiedlichen Leistungsbereichen unerlässlich ist. Aber auch die Kontaktpflege zu Ehemaligen sei ein wichtiger Faktor, um überhaupt die Nachhaltigkeit der Hilfe zu sehen und ggf. weitere Unterstützungsmöglichkeiten anbieten zu können (ebd.)

Zusammenfassend ergeben sich aus diesen beiden Projekten die folgenden grundlegenden Erkenntnisse:

Was brauchen Care Leaver:innen? Was ist gute Praxis?

Nicht mehrere Übergangsprozesse parallel einleiten!

Orte des Zurückkommens schaffen!

Partizipation im Sinne von Selbstverantwortung und Selbstbestimmung fördern!

Bildung als Aufgabe der Erziehungshilfe besser verwirklichen!

Übergänge

mit

Care Leaver:innen und anderen Beteiligten planen und begleiten!

Netzwerke stärken/Gruppenangebote erweitern!

Abschiede vorbereiten und Abschiednehmen lernen!

Stärkung der Rechte von Care Leaver:innen: Advocacy

Rechte von Care Leaver:innen stärken!

Infrastruktur für Hilfen aus einer Hand verbessern!

Reversible und flexible Übergänge aus Erziehungshilfen ermöglichen!

Bindungen ermöglichen und erhalten: Ehemaligenarbeit und Patenschaften institutionalisieren!

Abbildung 2: Erkenntnisse aus bisherigen Care Leaver:innen-Projekten (eigene Darstellung in Anlehnung an IGFH, 2017)

Auch Studien aus Großbritannien und Australien befassten sich mit einer entsprechenden Fragestellung und kamen zu ähnlichen Erkenntnissen. Dort zeigte sich zunächst, dass die Vorbereitung des Übergangs einen großen Stellenwert hat, vor allem in Bezug auf das psychosoziale Wohlbefinden und die alltagspraktische Lebensbewältigung. Die Ermöglichung eines flexiblen Übergangs sowie eine professionelle Nachbetreuung können Erfolge der Nachhaltigkeit der stationären Hilfe sein (Mendes et al., 2011 zit. in Sievers et al., 2016).

Die schottische Studie von Stein (2006) belegt die Gefahr, dass Care Leaver:innen nach dem Übergang der stationären Erziehungshilfe in die Wohnungslosigkeit geraten. Darüber hinaus zeigen Studien aus Australien bzw. der USA, dass eine stabile und zufriedenstellende Wohnsituation als eine Schlüsselkategorie für den gelingenden Übergang gedeutet werden kann (Johnson & Mendes, 2014). Viele Herausforderungen entstehen mit dem Umzug in eine eigene Wohnung und dem Ende der stationären Erziehungshilfe. Das Gefühl, nach der stationären Hilfe nicht genügend Unterstützung zu erhalten sowie unsichere Wohnverhältnisse zu haben, trägt wesentlich dazu bei, den positiven Verlauf des Übergangs zu gefährden. Laut Thomas (2015) ist somit eine verlässliche Begleitung auch nach dem Umzug in eine eigene Wohnung ein wichtiger Faktor, um einen gelingenden Übergang zu ermöglichen (ebd.). Wade und Dixon (2006) zeigen in ihrer Studie auf, dass „die Sicherstellung eines stabilisierenden (Wohn-)Umfelds während der Hilfe das Gelingen des Übergangs wahrscheinlicher macht” (Severin et al., 2016). Der positive Verlauf des Übergangs kann durch unsichere Wohnverhältnisse und durch das Gefühl, nicht genug Unterstützung zu erhalten, beeinträchtigt werden (Cashmore & Paxman, 2006).

1.2.2 Biografische Herausforderungen durch Fremdunterbringung