Diagnostisches Fallverstehen bei jungen geflüchteten Menschen - Lisa Große - E-Book

Diagnostisches Fallverstehen bei jungen geflüchteten Menschen E-Book

Lisa Große

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Beschreibung

Viele junge Menschen, die vor Bedrohung, Verfolgung, Gewalt, Krieg und Perspektivlosigkeit fliehen, haben vor und während der Flucht potentiell traumatische Situationen erlebt. In Deutschland angekommen sind sie mit Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen des Akkulturationsprozesses konfrontiert. Reichen personelle und informelle Ressourcen nicht aus, die Aufgaben zu bewältigen, wird professionelle Unterstützung notwendig. Für die fundierte Interventionsplanung und Begründung fachlicher (Nicht-)Intervention ist Soziale Diagnostik eine wichtige Basis. Hier knüpft das Ziel des Forschungsprojektes "TraM" (1919-2022, gefördert vom BMBF) an. Das Ergebnis ist ein Best-practice-Modell für Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Das vorliegende Buch zeigt die theoretische Rahmung auf und stellt die empirischen Ergebnisse der Erstellung und formativen Evaluation des zielgruppenspezifischen Diagnostikmodells auf dem Weg dorthin dar. Anliegen des Buches ist, auf Basis der Ergebnisse und deren Entstehung zur Diskussion und Weiterentwicklung Sozialer Diagnostik in Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit beizutragen.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Minderjährige geflüchtete Menschen

1.1 Begriffsklärung und rechtliche Einordnung

1.2 Entwicklung und Trauma

1.3 Ankommen in Deutschland: Herausforderungen und Potenziale

1.4 Psychosoziale Unterstützungssysteme

Bedarfe junger geflüchteter Menschen in der Ankommensphase – Untersuchungsdesign und Ergebnisse

2.1 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen des ersten Untersuchungsteils

2.2 Fallvignetten

2.2.1 Ava

2.2.2 Eminem

2.2.3 Laytho

2.2.4 Mansour

2.3 Gesamtvergleich der Interviews mit den jungen Menschen

2.3.1 Vorgeschichte und Flucht

2.3.2 Lebensbewältigung

2.3.3 Institutionelle gesellschaftliche Unterstützung und Hindernisse

2.3.4 Diskriminierung und Exklusion

2.3.5 Soziale Unterstützung

2.3.6 Professionelle Unterstützung

2.4 Diskussion

2.4.1 Fachwissen und Trauma – wie Beziehungssensibilität Voraussetzungen für gemeinsames Verstehen

2.4.2 Einfluss von Aufenthalt, Sprache und Diskriminierung

2.4.3 Soziale und professionelle Unterstützungsprozesse

Psychosoziale Diagnostik für junge geflüchtete Menschen – Entwicklung und Begründung eines Rahmenmodells

3.1 Diagnostik und Soziale Arbeit

3.2 Grundhaltungen und Grundorientierungen einer psychosozialen Diagnostik mit jungen geflüchteten Menschen

3.3 Prägende Debatten und Verortung des psychosozialen Diagnostikmodells für junge geflüchtete Menschen

3.4 „Diagnostisches Fallverstehen“ als Integrationsmodell

Psychosoziale Diagnostik in Zusammenarbeit mit jungen geflüchteten Menschen: Untersuchungsdesign und Ergebnisse der formativen Evaluation

4.1 Implementierung, Fragestellung und methodisches Vorgehen der Evaluation

4.2 Ergebnisse der Interviews mit den jungen Menschen

4.2.1 Vorgehen innerhalb des diagnostischen Prozesses

4.2.2 Einflussfaktoren auf den diagnostischen Prozess

4.2.3 Veränderungen durch den diagnostischen Prozess

4.3 Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen mit den Fachkräften

4.3.1 Grundlegende Überlegungen zur Haltung bei diagnostischen Prozessen

4.3.2 Konkretes Vorgehen und inhaltliche Dimensionen

4.3.3 Institutionelle Voraussetzungen des psychosozialen Diagnostikmodells: Erkenntnisse aus der Implementierung

4.3.4 Zusammenarbeit im Team

Beschreibung des Ergebnismodells an einem Fallbeispiel

5.1 „Diagnostisches Fallverstehen“ mit jungen geflüchteten Menschen

5.1.1 Haltung

5.1.2 Komplexitätsherstellung und Komplexitätsreduktion: Anpassungen der diagnostischen Bereiche

5.2 Fallkonstellation aus der Praxis: Aslan - der Wunsch nach verstehen und verstanden werden

5.2.1 „Diagnostisches Fallverstehen“ - Komplexitätsherstellung

5.2.2 Komplexitätsreduktion – Koordinaten psychosozialer Diagnostik und Interventionsplanung

Schluss und Fazit

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Einleitung

Weltweit waren 2020 über 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR, 2021). Für 2022 geht die UNHCR von über 100 Millionen Menschen aus (UNHCR, 2022b), die vor Verfolgung, Gewalt, Krieg, Zerstörung und Perspektivlosigkeit geflohen sind und noch fliehen. Auch wir in Deutschland erleben aufgrund der aktuellen Situation einen starken Anstieg von ankommenden Menschen, welche besondere Unterstützung benötigen. Minderjährige und junge geflüchtete Menschen stellen dabei eine besonders vulnerable Gruppe dar: Neben der Bewältigung des Ankommensprozesses und dem Erleben von potenziell traumatischen Erlebnissen haben sie zudem Entwicklungsaufgaben zu bewerkstelligen. Unbegleitete junge geflüchtete Menschen verlieren durch die Flucht zudem nicht nur ihr weiteres unterstützendes Netzwerk im Herkunftsland, sondern sind, angekommen in Deutschland, ohne eine erwachsene schützende Person mit diesen Aufgaben konfrontiert. Psychosozial tätige Fachkräfte, sei es in der Kinder- und Jugendhilfe oder im Fluchtbereich, übernehmen daher eine verantwortungsvolle Aufgabe. Sie tragen wesentlich dazu bei, die komplexen Herausforderungen und Hindernisse unter Anbetracht vorhandener Ressourcen zu bewältigen.

Um passende Interventionen planen zu können, benötigt es eine umfassende psychosoziale Diagnostik. Aufgabe (psycho-) sozialer Diagnostik ist es, die eben beschriebene und darüberhinausgehende Komplexität abzubilden, sie aber auch zu strukturieren, um auf dieser Basis (Nicht-) Intervention fachlich zu begründen (Pantuček-Eisenbacher, 2019). Zudem soll Diagnostik den Dialog zwischen Fachkraft und Klient:innen unterstützen, vor allem aber auch Selbst- und Fremdverstehensprozesse initiieren: Auf Fragen wie: „Welche Herausforderungen und Möglichkeiten meiner Biografie prägen meine aktuelle Situation? Wie ist meine aktuelle Situation und wie wirkt sie sich auf meine Ziele aus?“ soll eine Antwort gefunden werden können. Diagnostik hatte dennoch in der Sozialen Arbeit über lange Zeit hinweg einen schlechten Ruf. Die menschenverachtende Anwendung im Nationalsozialismus ließ die bis dahin sehr fruchtbare Diskussion um soziale Diagnostik erstarren. Die anschließende Kritik an diagnostischen Vorgehensweisen war daher sinnvoll und bedeutsam. Aktuell jedoch hat die Debatte um eine neue Ausgestaltung diagnostischer Prozesse und den Einsatz von diagnostischen Instrumenten Früchte getragen und ist nicht mehr aus der Praxis wie Wissenschaft der Sozialen Arbeit wegzudenken. Aus den vielfältigen Möglichkeiten sozialer Diagnostik hat sich, vor allem im Bereich der Klinischen Sozialarbeit, die psychosoziale Diagnostik entwickelt: Sie nimmt nochmals im Speziellen die Wechselwirkung von Individuum und Umwelt auf Basis des bifokalen Ansatzes von Gesundheit und Krankheit in den Blick. Da auch das nachstehende Modell die Schnittstelle zwischen psychischen, sozialen, physischen und alltagssituativen Dimensionen besonders gut auszuleuchten vermag, wird im Rahmen des Projektberichts vor allem der Begriff der psychosozialen Diagnostik verwendet.

Obwohl sich die Zielgruppe der jungen geflüchteten Menschen durch Spezifika von anderen Klient:innengruppen der Sozialen Arbeit unterscheidet, sind gezielt für diese Gruppe entwickelte Verfahren sozialer Diagnostik bisher rar (vgl. jedoch z. B. das Inklusionschart IC_flü, BAfF, 2014). Mit dem Ziel, junge geflüchtete Menschen adäquat zu unterstützen, startete im September 2019 das Verbundforschungsprojekt TraM (Traumatisiere minderjährige geflüchtete verstehen und unterstützen, Laufzeit 09/2019-12/2022), gefördert vom BMBF (Forschung an Fachhochschulen). Ziel des Projektes, angesiedelt an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, war, ein zielgruppenspezifisches psychosoziales Diagnostikmodell zu entwickeln. Dieses Modell sollte zu Ende der Projektlaufzeit einsatzbereit für die psychosoziale Praxis vorliegen, um dort auf Basis von umfassenden Informationen der Person und der Umwelt, biografisch aber auch aktuell, adäquate und fachlich begründete Interventionen planen zu können. Hauptaugenmerk lag auf der Unterstützung psychosozialer Praxis, daher kooperierten die Forschungsmitarbeitenden über die gesamte Projektlaufzeit sehr eng mit Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und des Fluchtbereichs. Auf Basis der Ergebnisse qualitativer Forschung wurde auf diese Weise das in Kapitel 5 beschriebene zielgruppenspezifische Modell erstellt und formativ evaluiert.

Der vorliegende Projektbericht zeigt in den ersten beiden Kapiteln die spezifische Situation junger geflüchteter Menschen auf. Hierfür werden im ersten Kapitel Kernbegriffe und rechtliche Rahmenbedingungen erläutert. Anschließend wird der Vulnerabilität der jungen Menschen auf drei Ebenen Rechnung getragen: Junge geflüchtete Menschen sind zu vordererst junge Menschen, die Entwicklungsaufgaben zu meistern haben. Zudem wird Trauma im Rahmen von Flucht kontextualisiert und daran anschließend die mit dem Ankommensprozess verbundenen Stressoren und Möglichkeiten aufgezeigt. Die theoretische Rahmung schließt mit zentralen Aspekten zur psychosozialen Versorgung ab. Im zweiten Kapitel wird die aktuelle Situation junger Geflüchteter empirisch skizziert und damit die Ausgangsbasis des hier vorgestellten psychosozialen Diagnostikmodell verdeutlicht. Nach der Erläuterung des empirischen Vorgehens folgt die Darstellung fünf ausgewählter Einzelfälle junger geflüchtete Menschen sowie deren Gesamtvergleich und die Diskussion. Diese geben Aufschluss über die Notwendigkeiten und Aspekte, die mit dem zielgruppenspezifischen Diagnostikmodell sowie dem Diagnostik-Prozess ausgeleuchtet werden müssen.

Anschließend werden Grundlagen (psycho-) sozialer Diagnostik erörtert. Hierfür wird zunächst soziale Diagnostik (und deren Entwicklung) innerhalb der Sozialen Arbeit beleuchtet sowie Grundorientierungen und Grunddebatten für die psychosoziale Diagnostik mit jungen geflüchteten Menschen dargestellt. Aufbauend auf diesen Überlegungen wird das Rahmenmodell des „Diagnostisches Fallverstehen“, welches als Grundlage für das weitere Vorgehen ausgewählt wurde, skizziert. Das Modell wurde anschließend in den kooperierenden Praxiseinrichtungen implementiert und über weitere Interviews mit jungen Geflüchteten und Gruppendiskussionen mit Fachkräften formativ evaluiert. Die qualitativen Ergebnisse aus den Einzelinterviews mit jungen geflüchteten Menschen und den Gruppendiskussionen mit den Fachkräften werden in Kapitel 4 dargestellt.

Das Ergebnis in Form des zielgruppenspezifischen Diagnostikmodells wird in Kapitel 5 präsentiert. Zunächst werden die, auf Basis der zuvor geschilderten Ergebnisse, vorgenommen Veränderungen am Rahmenmodell des „Diagnostischen Fallverstehens“ verdeutlicht. Zur besseren Nachvollziehbarkeit wird das adaptierte Modell anhand eines dafür konzipierten Falls „Aslan“ ausführlich beschrieben. Abschließend zeigt das Fazit auf, wie sich das zielgruppenspezifische Diagnostikmodell gut in die Praxis implementieren lässt. Auch wird erneut Bezug darauf genommen, welche Bedeutung psychosoziale Diagnostik in der Fallkonstruktion und -rekonstruktion von Sozialarbeiter:innen zukommt. Der Verweis auf die Nutzung eines Booklets für die Anwendung in der Praxis soll zudem helfen, dass Fachkräfte vor Ort eine lebendige und anschauliche Anregung für das praktische Handeln vorfinden.

Danksagung

Unser besonderer Dank gehört an erster Stelle den jungen Menschen, die den Mut und das Interesse aufgebracht haben, uns Wissenschaftler:innen in mitunter auch sehr langen Interviews einen tiefen Einblick darüber zu geben, was ihnen vor, während und nach der Flucht begegnet ist, was schwierig war, wer sie aber auch unterstützt hat. Auch möchten wir uns besonders bei den jungen Menschen bedanken, die das Zutrauen gezeigt haben, mit den psychosozialen Fachkräften unser Modell auszuprobieren, uns aber auch abschließend wichtige Hinweise zur notwendigen Anpassung zu geben.

Unser Dank gilt aber auch in besonderer Weise den beteiligten Fachkräften: Der vorliegende Abschlussbericht des Forschungsprojektes TraM – ein zielgruppenspezifisches Diagnostikmodell – konnte nur so in dieser Form entstehen, weil Praktiker:innen einerseits und Wissenschaftler:innen andererseits in engem Austausch über die gesamte Projektlaufzeit ihr Vorgehen abgestimmt und gemeinsam reflektiert haben. Die enge Kooperation zwischen Praxis und Wissenschaft Sozialer Arbeit war daher Ausgangsüberlegung und Grundlage des Gelingens. Dies ermöglichte uns Wissenschaftler:innen, einen wichtigen Einblick in die Lebenswelt der jungen Menschen und in die Gelingensfaktoren wie Herausforderungen der professionellen Unterstützung zu erhalten. Für die Fachkräfte bedeutet dies nicht selten, bei bereits knappen Ressourcen im Arbeitsalltag noch weitere Aufgaben zu übernehmen. Trotz dieses Mehraufwandes erlebten wir alle Beteiligten zu jedem Zeitpunkt hoch engagiert und zugewandt zu diesem Forschungsvorhaben. Besonders beeindruckt und berührt haben uns dabei das hohe Engagement gegenüber ihren Klient:innen, den jungen geflüchteten Menschen.

Nicht zuletzt sei unseren wertgeschätzten Kolleg:innen Mohammed Jouni, Dorothea Zimmermann und Conny M. Bredereck gedankt! Mit ihren wichtigen Anregungen und Kritikpunkten konnten wir „über den Tellerrand“ hinaus unsere Arbeit reflektieren und vorantreiben.

Herzlichen Dank allen Beteiligten für ihr großes Engagement – ohne all das wäre das Projekt in diesem Maße nicht geglückt.

Lisa Große und Silke Birgitta Gahleitner

Berlin, November 2022

1 Minderjährige geflüchtete Menschen

1.1 Begriffsklärung und rechtliche Einordnung

Unter Migration wird verstanden, wenn Personen „für einen längeren oder unbegrenzten Zeitraum einen früheren Wohnort verlassen haben und in der Gegenwart in einem anderen Land als ihrem Herkunftsland leben" (Hamburger, 2018, S. 19). Unterteilt werden können migrierende Menschen auf Basis der Motivation zur Migration. Im vorliegenden Projekt bestehen die Gründe vor allem in Flucht vor Krieg, Naturkatastrophen, sozioökonomischer Perspektivlosigkeit wie Armut und Arbeitslosigkeit, aber auch vor persönlicher, politischer wie religiöser Verfolgung. „Mit dem Flüchtlingsbegriff [wird] politisch und rechtlich zwischen legitimen und illegitimen Gründen für Migration unterschieden, und dies in einer Weise, die keineswegs unproblematisch ist“ (Scherr & Inan, 2017, S. 131; Erg. v. Verf.). Die Unterscheidung zwischen freiwilligem und erzwungenem Verlassen des Herkunftslandes – zu Letzterem werden geflüchtete Menschen gezählt – wird der Komplexität der Realität zwar oft nicht gerecht, hat jedoch erhebliche Auswirkungen auf die rechtliche Stellung im nationalen und internationalen Kontext. „Migrationsprozesse … sind das Ergebnis einer komplexen Verschränkung von strukturellen Zwängen mit der individuellen und kollektiven Handlungsmächtigkeit (agency)“ (Scherr & Inan, 2017, S. 138).

Laut dem UNHCR (2022a) waren bis Ende 2021 rund 89,3 Millionen Menschen auf der Flucht, 42% davon waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Unter minderjährig begleiteten geflüchteten Menschen werden Menschen unter 18 Jahren verstanden, die mit einer sorgeberechtigten oder verwandten erwachsenen Person einreisen. Bei unbegleitet minderjährigen Geflüchteten sind je nach Kontext verschiedene Begriffe gebräuchlich wie unbegleitet minderjährige „Ausländer:innen“ (UmAs), unbegleitete minderjährige „Flüchtlinge“ (umFs), unbegleitete Minderjährige (uMs), unaccompanied minors oder separated children (González Méndez de Vigo, 2017; Gravelmann, 2017). Im vorliegenden Bericht wird vor allem von jungen geflüchteten Menschen gesprochen. Somit soll einerseits die Ursache der Einreise – nämlich Flucht aus verschiedenen existenzbedrohenden Gründen aus ihrem Herkunftsland – kenntlich gemacht werden, andererseits wird die Fluchtgeschichte so als lediglich eine Facette des Lebens der jungen Menschen deutlich.

Rechte und Vereinbarungen zum Schutz geflüchteter Menschen gibt es sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene. Unter den internationalen Schutzvereinbarungen ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) der Vereinten Nationen von 1951 – als Reaktion auf die Weltkriege – zum Schutz politischer Verfolgter zu nennen (Scherr & Inan, 2017; Scherr & Scherschel, 2019, S. 74). Auf europäischer Ebene schützt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) alle Menschen, die sich in der EU befinden, und von Folter oder unmenschlicher Behandlung bedroht oder betroffen sind (Artikel 3). In den für alle europäischen Staaten bindenden Verfahrensregeln werden Minderjährige zu der Gruppe der besonders schutzbedürftigen Personen gezählt. Das Kindeswohl soll in jedem Verfahrensschritt geschützt werden (Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, 2013). Auch die UN-Kinderrechtskonvention (Artikel 22, Abs. 1 und 2 KRK), berücksichtigt den Schutz von geflüchteten Kindern und Jugendlichen, wird bisher aber nur unzureichend umgesetzt (Wapler, 2017). Die Zuwanderungspolitik fokussiert die Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung bestimmter Personengruppen. So gelten z. T. sich widersprechende Regelungen, die einerseits der Abschreckung dienen, andererseits integrationsfördernd wirken sollen und um Kindeswohl und Schutz bemüht sind (Gravelmann, 2017; Hamburger, 2018). Im deutschen Asylrecht existieren verschiedene Formen von Aufenthaltstiteln, die auf Grundlage verschiedener Schutzstatus zugesprochen werden und u. a. durch gesellschaftliche Diskurse wie die Darstellung der Fluchtgeschichte beeinflusst werden (Scherr & Scherschel, 2019). Neben dem Flüchtlingsstatus existiert subsidiärer Schutz (§4 Abs. 1 AsylG), ein Schutzstatus, der gewährt wird, wenn im Herkunftsland von staatlicher oder nichtstaatlicher Seite ernsthafter Schaden droht, allerdings nicht aufgrund der Kategorien der Genfer Flüchtlingskonvention. Ein Abschiebungsverbot wird dann erlassen, wenn im Herkunftsland eine Versorgung der Person nicht gesichert ist (bspw. bei schwerer Erkrankung oder Minderjährigkeit). Von den 2021 gestellten Asylanträgen wurden 60,1% abgelehnt (Statista, 2022). Die rechtlichen Einteilungen gehen mit verschiedenen Berechtigungen u. a. bzgl. des Aufenthaltsstatus, Zugang zum Arbeitsmarkt und Familiennachzug einher (Frings, 2018; Öndül, 2018). Zusätzlich zu den asylbezogenen Gesetzbüchern gilt für alle Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrem Rechtsstatus das Achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII) bzgl. des Kindeswohls: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§1 Abs. 1 SGB VIII). Macsenaere und Kolleg:innen (2018) können jedoch aufzeigen, welche (negativen) Auswirkungen bspw. ein unsicherer Aufenthaltstitel auf die Kinder- und Jugendhilfe hat: „Die Effektstärken [der stationären Kinder- und Jugendhilfe], nehmen von Duldung über Gestattung zu Erlaubnis jeweils spürbar zu“ (S. 92; Erg. v. Verf.).

1.2 Entwicklung und Trauma

Junge geflüchtete Menschen sind in erster Linie sich in der Entwicklung befindliche Menschen (Berthold, 2014). So haben die meisten Jugendlichen mit Fluchthintergrund konsistentere Vorstellungen von der Zukunft als Jugendliche ohne Fluchterfahrung (Huber & Lechner, 2019): Sie wollen ein „normales Leben führen", legen Wert auf „Familie, Freundschaften und Bildung" (ebd., S. 176). Die meisten unbegleitet minderjährig geflüchteten Jugendlichen sind zwischen 14 und 17 Jahren, sie stehen damit auch vor den Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz (Hansbauer & Alt, 2017; Schäfer, 2017). Adoleszenz stellt, insbesondere in westlichen Zusammenhängen, einen „psychosozialen Möglichkeitsraum für die psychischen, kognitiven und sozialen Separations-, Entwicklungs- und Integrationsprozesse“ dar (Kuhn & King, 2021, S. 1304). Diese Prozesse benötigen personelle und soziale Ressourcen, um sie gelingend zu gestalten (Gahleitner & Hahn, 2012). Die typische Bewegung zwischen Anlehnung und Ablösung trifft jedoch auf eine sich rapide entwickelnde Selbständigkeit – bei jungen geflüchteten Menschen verstärkt durch den Verlust von sicherheitsgebenden Kontakten und der Konfrontation mit postmigrantischem Stress. Bedürfnisse im Rahmen der anstehenden Entwicklungsschritte haben so wenig Raum. Adam (2009, S. 145) spricht vom „doppelten Übergang“, da neben den Entwicklungsaufgaben auch Akkulturationsprozesse bewältigt werden müssen. Hinzu kommt, dass das Verantwortungsgefühl (bspw. für die noch in Gefahr lebende Familie) den Ablöseprozess erheblich beeinträchtigt (ebd.). Der Übergangsprozess zu einem Ankommen in Deutschland geschieht zudem „vor dem Hintergrund eigener biografischer Selbstkonstruktionen und Sinnorientierung“ (Hanses & Homfeldt, 2009, S. 150; siehe zum professionellen Umgang damit: Kapitel 1.5).

Junge Menschen, die nach Deutschland kommen, können unterschiedlichen Belastungen vor, während und nach der Flucht ausgesetzt sein. Neben postmigrantischen Stressoren sind sie häufig auch potentiell traumatischen Situationen ausgesetzt: Wie eine Befragung des BumF (Karpenstein & Rohleder, 2021) zeigt, betrifft dies je nach Geschlecht zwischen 62% und 75% der unbegleiteten minderjährigen geflüchteten Menschen (siehe auch Herrmann et al., 2018; Witt et al., 2015). Trauma, verstanden als „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“ (Fischer & Riedesser, 2020, S. 88) zeigt auf, dass das Ereignis (bspw. das Gewalterleben) die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Bewältigung drastisch übersteigt. Das Ausmaß der Traumatisierung hängt dabei nicht nur von der Art des traumatischen Ereignisses ab, sondern explizit auch von den individuellen Schutz- und Risikofaktoren und dem Entwicklungsstand zum Zeitpunkt des traumatischen Erlebnisses. Auch bisherige Bindungs- und Beziehungserfahrungen haben großen Einfluss auf die Fähigkeit zur angemessenen Bewältigung (Maercker et al., 2016). Bindungserfahrungen sind Erfahrungen zu Bezugspersonen aus der (frühen) Kindheit. Sie wirken sich in Form von Bindungsrepräsentationen auf Beziehungsanforderungen, - möglichkeiten und -erwartungen in aktuellen Situationen aus. In diesem Zusammenhang wird deutlich, warum manche jungen geflüchteten Menschen an frühe positive Erfahrungen anknüpfen können und Hilfeprozesse eher gelingen, andere aber eher misstrauisch reagieren (Gahleitner, 2017, 2020).

Adam (2009) weist darauf hin, dass „entstehende psychopathologische Phänomene1 bei Kindern … auch nach Traumatisierungen als multimodales und multikausales Geschehen interpretiert werden müssen. … Grundsätzlich müssen [daher] bei der Beurteilung des Traumas eines Jugendlichen der Stand seiner kognitiven, affektiven, psychosexuellen und sozialen Entwicklung sowie angeborene oder erworbene körperliche Einschränkungen bzw. Ressourcen in die Analyse einbezogen werden“ (S. 141143, Erg. v. Verf.). Um die Prozesshaftigkeit des Traumas zu verdeutlichen, bietet sich auf dieser Basis das Konzept des sequenziellen Belastungserlebens nach Keilson (1979/2005) und dessen Ausdifferenzierung an ( Übersicht bei Kühn & Bialek, 2017). Die erste Sequenz umfasst den Beginn der Bedrohung und Gewalt, die zweite Sequenz die Verfolgung und die Flucht selbst. Von besonderer Bedeutung für psychosoziale Fachkräfte im Aufnahmeland ist die dritte Sequenz: Keilson (1979/2005) konnte zeigen, dass das Ausmaß der Traumatisierung insbesondere von der Zeit nach der Verfolgung und Flucht und mit der Rückkehr in gesicherte Verhältnisse abhängt. Wirkte die Umgebung unterstützend, konnte der Intensität der Traumatisierung nachhaltig entgegengewirkt werden. Gleichzeitig kann diese Phase besonders stressreich sein (u. a. unsicherer Aufenthalt und Einsamkeit, BAfF, 2017; Lechner & Huber, 2017, siehe Kapitel 1.3).

Aus trauma- und bindungstheoretischer Sicht ist die Vermittlung von Sicherheit und Einbindung in ein gutes soziales Netzwerk dringend geboten (Hargasser, 2016). Sicherheit drückt sich in Faktoren wie Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Bildung und Sprachförderung, Kontaktmöglichkeiten zur Herkunftsfamilie, aber auch in konstanten Bezugspersonen aus (Bundesregierung, 2017). Gelungene Vertrauens- und Beziehungsprozesse ermöglichen, dem Misstrauen aus bisherigen zwischenmenschlichen Verletzungen entgegenzutreten, sich zu öffnen, Unterstützungsbedarf zu artikulieren und über diese Sicherheit, Herausforderungen zu bewältigen. Über Vertrauenspersonen können „access points“ (Giddens, 1995) entstehen, die zu weiteren Möglichkeiten professioneller, persönlicher und sozialer Netzwerke führen (Gahleitner, 2017, 2020; Kupfer, 2015; Nestmann, 2010). Ein vertrauensvoller Kontakt ermöglicht zudem, sich mit seinen verletzten Seiten und verletzlichen (traumatischen) Aspekten gegenüber anderen zu öffnen. Gleichzeitig gilt es zu bedenken: „Nicht jeder junge Flüchtling hat ein Trauma, nicht jedes Trauma muss behandelt werden und nicht jeder Flüchtling will auf sein Trauma als identitätsstiftendes und alles überschattendes Merkmal reduziert werden" wie Dittmann und Müller (2013, S. 265) beschreiben. Für jene aber, bei denen erlebte traumatische Situationen zu erheblichen Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Gesundheit führen, ist es notwendig, ein fachkompetentes Gegenüber zu erleben, was Geschehenes und Aktuelles mittels Traumasensibilität und Fachwissen kontextualisiert (bspw. durch Psychoedukation) und adäquate Interventionen fokussiert (siehe Kapitel 1.5).

1.3 Ankommen in Deutschland: Herausforderungen und Potenziale

Lechner und Huber (2017) beschreiben, dass es kaum möglich ist, junge geflüchtete Menschen als einheitliche Gruppe zu beschreiben. Dennoch lassen sich in der Forschung zielgruppenspezifische Aspekte auffinden: So äußerten bspw. 2/3 der in einer Studie des BAMF befragten begleiteten jungen geflüchteten Menschen, dass sie die Menschen aus ihrem Herkunftsland sehr vermissen (de Paiva Lareiro, 2019b). Andererseits sind die Bestrebungen groß, in dem neuen Land Fuß zu fassen – beruflich und sozial – und sich zugehörig zu fühlen (Lechner & Huber, 2017). Ziele, wie schnell in Ausbildung zu kommen, stoßen allerdings auch auf Stigmatisierungserfahrungen und aufenthaltsrechtliche Hürden mit starkem Einfluss auf das Wohlbefinden (Sukale et al., 2016). Lechner und Huber (2017, S. 117) beschreiben ein Abwägen der Notwendigkeit „zwischen der bisherigen Positionierung, Routinen und Verhaltensweisen und neuen Erwartungen durch die Aufnahmegesellschaft … . Gleichzeitig lebten viele befragte Jugendliche in der Unsicherheit, ob sie in Deutschland bleiben können und sich ihre Anstrengungen langfristig lohnen.“

Viele Zugänge und Teilhabemöglichkeiten sind an den Aufenthaltstitel gekoppelt. Der Stressor Asylverfahren ist in seiner zentralen Bedeutung für das Erleben geflüchteter Menschen in der Literatur unbestritten (Brandmaier & Ahrndt, 2012; Wenk-Ansohn & Schock, 2008a). So trägt ein unsicherer Aufenthaltsstatus und damit einhergehende Ängste zur Aufrechterhaltung psychiatrischer Krankheitsbilder bei und untergräbt das für die Genesung traumareaktiver Störungen essentiell notwendige Gefühl von Sicherheit (Steel et al., 2009). In der Untersuchung von Sourander (1998) von unbegleitet minderjährig geflüchteten Menschen in Finnland wird deutlich, dass der unsichere Aufenthaltsstatus Angst- und Belastungserleben, wie Bauch- und Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und zirkadiane Rhythmusstörungen befördert. Im Asylprozess selbst werden zudem die behördlichen Mitarbeiter:innen als wenig empathisch, der Entscheidungsfindungsprozess als intransparent erlebt. Zudem bestehen unzureichende Zugänge zu (übersetzten) Informationen – ein Gefühl der Überforderung geht damit einher (Lechner & Huber, 2017; Sourander, 1998). „Daher wünschten sie sich die Möglichkeit, ihre Situation und ihre Probleme mit einer erwachsenen Person, der sie vertrauen können, zu besprechen“ (Hargasser, 2016, S. 117).

Sprache und vor allem fehlende Deutschkenntnisse sind sehr bedeutsam für junge geflüchtete Menschen: Sie haben starken Einfluss auf Teilhabemöglichkeiten (Eichholz et al., 2021). So spielt Sprache eine zentrale Rolle bspw. bei alltäglichen Erledigungen (z. B. Arzt- und Schulbesuche), bei der Teilhabe am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt (de Paiva Lareiro, 2019a; Steuber, 2019), aber auch in der täglichen Kontaktgestaltung. Der Wunsch nach schnellem Deutscherwerb ist hoch. Gleichzeitig fehlt es an Räumen für die kompetent beherrschte Muttersprache (Plutzar, 2016). Zudem kommt es bei fehlenden Sprachkenntnissen zu Diskriminierungen, Herausforderungen und Missverständnissen (BMFSFJ, 2017). Aber auch mit Fachkräften in Kontakt zu kommen, ihnen mitzuteilen, welcher Bedarf aktuell besteht, wird grundlegend durch Sprache ermöglicht oder verwehrt: Junge Menschen mit fehlenden (englischen oder) deutschen Sprachkenntnissen erleben im Alltag viele Hürden. Sprachbarrieren haben daher Auswirkungen auf die Qualität der Beratung und Behandlung durch Missverständnisse, Fehlbeurteilungen, die zu einer niedrigen Zufriedenheit der Klient:innen führen können (Morina, 2019, S. 111). Unterstützend kann hier Sprach- und Kulturmittlung sein. Fehlende Erfahrungen der Fachkräfte beim Einsatz mit Sprachmittler:innen, fehlende Vor- und Nachgespräche2 sowie eine unzureichende Ausbildung von Sprachmittler:innen können indes negative Folgen haben (Lechner & Huber, 2017; Morina, 2019).

In Deutschland angekommen dauert es im Schnitt 7,1 Monate, bis Jugendliche einen Schulplatz erhalten und den Schulbesuch fortsetzen können (Maurice & Will, 2021). Eine lange Zeit in Anbetracht dessen, dass Schule neben der Sprach- und Wissensvermittlung auch ein sozialer Ort mit Gleichaltrigen und Tagesstruktur darstellt (Lechner & Huber, 2017). Je nach Organisation der Bundesländer besuchen geflüchtete junge Menschen zunächst eine Sonderklasse (z. B. Willkommensklassen) in der der Fokus auf Deutschlernen liegt. Diese Klassen können an unterschiedlichen Schulformen angegliedert sein. Wie schnell die Jugendlichen in eine Regelklasse wechseln, in welche Klassenstufe und an welcher Schulform diese ist, ist sowohl vom Wissensstand und Deutschkenntnissen der Jugendlichen als auch von strukturellen Gegebenheiten des Bundeslandes abhängig. Mit Unterstützung (bspw. durch Ehrenamtliche o. a.) kann das Finden von adäquaten entwicklungsfördernden Strukturen ermöglicht werden (Lechner & Huber, 2017).

Die Qualität und Art der Wohnverhältnisse ist abhängig vom begleiteten und unbegleiteten Ankommen, dem Bundesland und der Aufenthaltsdauer. Insbesondere in Not- und Gemeinschaftsunterkünften, als auch Erstaufnahmeeinrichtungen, in welchen begleitete Kinder und Jugendliche mit ihren Familien untergebracht werden, ist die Unterbringung prekär (Lechner & Huber, 2017): Mangelnde Rückzugsmöglichkeiten, wenig Privatsphäre, sehr geringe Gestaltungsmöglichkeiten, Fehlen von geschlechtergetrennten Sanitärräumen, mangelnder Schutz für Minderjährige, Frauen, LGBTQIA*, Menschen mit Behinderung oder andere vulnerable Personengruppen vor Gewalt von Mitbewohner:innen, Personal oder Dritten (Baier & Siegert, 2018; Rabe, 2018; UNICEF & Deutsches Institut für Menschenrechte, 2020). Erst u. a. mit Erhalt des Schutzstatus endet die Verpflichtung in Gemeinschaftsunterkünften zu wohnen (§ 47 Abs. 1 AsylG) (Baier & Siegert, 2018). Wie schnell ein eigener Wohnraum gefunden werden kann, ist jedoch abhängig vom Wohnungsmarkt. Hinzu kommen strukturelle Rassismen. Minderjährigen geflüchteten Menschen stehen grundlegend alle Hilfen des SGB VIII offen. Alle unbegleiteten Jugendlichen werden in einem einheitlichen Verfahren Jugendhilfeeinrichtungen zugeteilt (§ 42b SGB VIII).

Soziale Kontakte tragen zum Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen bei. Deren Fehlen macht sie erheblich verletzlich (Gerarts et al., 2016). Nach de Paiva Lareiro (2019b) kommen 87 % der Minderjährigen mit einem oder beiden Elternteilen nach Deutschland. Für begleitete und unbegleitete minderjährige geflüchtete Menschen spielt die Familie die größte und wichtigste Rolle: Sie bietet Halt, Sicherheit und Orientierung (Gerarts et al., 2016; Lechner & Huber, 2017). Wird jedoch nicht nur die Kernfamilie betrachtet, können auch z. B. in Deutschland lebende Tanten und Onkel wichtige Bezugspersonen sein (Lechner & Huber, 2017). Neben der Unterstützung kommt es jedoch auch zu Konflikten aufgrund der oftmals unsicheren Aufenthaltssituation und der beengten Wohnsituation. Besteht kein oder nur wenig Kontakt mit der Familie, sind die Belastungen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete hoch (Lechner & Huber, 2017). Durch die Flucht verlieren minderjährige geflüchtete Menschen auch den engen Kontakt zu Freund:innen im Herkunftsland, bleiben jedoch auch zum Teil in Kontakt durch digitale Medien (Gerarts et al., 2016; Lechner & Huber, 2017). Gleichzeitig gewinnen „soziale Beziehungen vor Ort an Bedeutung“ (Lechner & Huber, 2017, S. 76). Während unbegleitete minderjährige geflüchtete Menschen durch die stationäre Kinder- und Jugendhilfe schneller in Kontakt kommen (Lechner & Huber, 2017), erschweren neben den sprachlichen Barrieren auch zeitliche Ressourcen, fehlende räumliche Rückzugsmöglichkeiten und häufige Ortswechsel den begleiteten Minderjährigen, Kontakt zu Peers zu knüpfen und zu intensivieren (Berthold, 2014; Lechner & Huber, 2017). Freundschaften zu deutschen Jugendlichen können als „Geste des Ankommens“ gedeutet werden (Gerarts et al., 2016, S. 46). Dennoch: Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte haben überwiegend Freundschaften mit Personen, die ebenfalls eine Migrationsgeschichte haben. Interethnische Freundschaften bilden also eher eine Seltenheit (de Paiva Lareiro, 2019b; Jähnert, 2020).

In einer Überblicksarbeit konnten Diekmann und Fereidooni (2019) zeigen, dass geflüchtete Menschen ein hohes Risiko haben, von rassistischen Diskriminierungen betroffen zu sein. Diskriminierung wird als „Verwendung von kategorialen, das heißt vermeintlich eindeutigen und trennscharfen Unterscheidungen zur Herstellung, Begründung und Rechtfertigung von Ungleichbehandlung mit der Folge gesellschaftlicher Benachteiligungen verstanden" (Scherr, 2016). Diese Benachteiligung kann sehr unterschiedlich begründet sein (ebd.). Rassismus wiederum wird als „ein Diskriminierungsmuster und Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse" (Auma, 2017) verstanden. Über kulturelle (vgl. Neorassismus) oder äußerliche Merkmale erfahren bestimmte Gruppen Zuordnungen, Zuschreibungen und Abwertungen (ebd.; Rommelspacher & Wachendorfer, 2008), auch befördert durch mediale Darstellungen (Arndt, 2001; Butterwegge & Hentges, 2006).

Die Diskriminierungsformen – individuell, institutionell, strukturell bzw. gesellschaftlich – gehen dabei z. T. ineinander über. Individuelle Diskriminierung bezeichnet dabei die Herabsetzungspraktiken zwischen den einzelnen Menschen. Diese können auch ohne bewusste Absicht in Form von sogenannten Mikroaggressionen geschehen: abwertende Blicke, Ungleichbehandlung, Nichtbeachtung, Unterstellungen, Ausgrenzungen (Diekmann & Fereidooni, 2019; Lechner & Huber, 2017). Die Herabsetzungen für sich scheinen wenig massiv, in ihrer Kumulation entfalten diese allerdings eine permanente Atmosphäre der Abwertung und Festigung von Vorurteilen sowie der vermeintlichen Überlegenheit (Pierce, 1974). Rassistisches Verhalten kann sich bis hin zu Körperverletzung und Totschlag steigern. Institutionelle Diskriminierung erfolgt v.a. auf der Basis von Verordnungen, Regeln und Gesetzen von Organisationen bzw. staatlicherseits und hängt nicht von der rassistischen Einstellung einzelner Personen ab (Diekmann & Fereidooni, 2019; Gomolla, 2017).