Bleib oder stirb! - Olav Esters - E-Book
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Bleib oder stirb! E-Book

Olav Esters

5,0

Beschreibung

Auf einer Vernissage lernt Sebastian den ältesten von drei Brüdern eines Essener Kosmetikkonzerns kennen. Er und seine Frau scheinen ein perfektes Leben zu führen, bis der Manager zwei Tage später in seinem Haus tot aufgefunden wird. Schnell stellt sich heraus, dass sich der Unternehmer in seinem Berufsleben viele Feinde gemacht hat. Neben seinen beiden Brüdern, die der Manager bei einem Firmenverkauf übergehen wollte, konnte der Betriebsrat die Kündigung seiner Ehefrau nicht verzeihen und erpresste eine Liebhaberin das Opfer mit einer Schwangerschaft. Am rätselhaftesten aber ist die Nachricht auf der anonymen Postkarte, die Sebastian in den Unterlagen des Mordopfers findet: ´Denk an den Winter! Lass alles, wie es ist.´ Sebastian und sein Team ermitteln in allen Richtungen, als auch der zweite Bruder ermordet aufgefunden wird, der ein ganz anderes Leben führte als sein Bruder. Sebastian und sein Team finden heraus, dass der Grund der Morde in der Vergangenheit der Familie liegt. Doch der Täter ist untergetaucht und will den letzten der drei Brüder auf dem anstehenden Firmenjubiläum auch noch beseitigen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Währenddessen wird Sebastian von seiner Großmutter gebeten, für die Sicherheit eines englischen Gastes zu sorgen. Nur dank seiner Freunde Mike und Atze kann er beiden Aufgaben gerecht werden. Wenn der Gast sich nur mal an die Spielregeln halten würde... Ein spannender Krimi aus dem Herzen Nordrhein-Westfalens. Geschrieben wie das moderne Ruhrgebiet: Intelligent, ehrlich, herzlich.

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Disclaimer

Alle Personen und Orte sind frei ausgedacht. Ähnlichkeiten mit wirklichen oder lebenden Personen sind rein zufällig, aber auch eine Liebeserklärung an eine der spannendsten Regionen der Welt: Nordrhein-Westfalen

Gegen das Vergessen.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

0.1

0.2

0.3

TEIL 1

1.1

1.2

1.3

1.4

TEIL 2

2.1

2.2

2.3

2.4

2.5

2.6

2.7

2.8

TEIL 3

3.1

3.2

3.3

3.4

3.5

3.6

3.7

3.8

3.9

3.10

3.11

3.12

3.13

TEIL 4

4.1

4.2

4.3

4.4

4.5

4.6

4.7

4.8

4.9

4.10

TEIL 5

5.1

5.2

5.3

5.4

5.5

5.6

5.7

5.8

5.9

5.10

5.11

TEIL 6

6.1

6.2

6.3

6.4

6.5

TEIL 7

7.1

7.2

7.3

7.4

7.5

7.6

7.7

7.8

7.9

7.10

7.11

TEIL 8

8.1

8.2

8.3

8.4

8.5

8.6

8.7

TEIL 9

9.1

9.2

9.3

9.4

9.5

9.6

9.7

9.8

9.9

9.10

9.11

TEIL 10

10.1

10.2

10.3

10.4

10.5

10.6

TEIL 11

11.1

11.2

11.3

11.4

11.5

TEIL 12

12.1

12.2

12.3

12.4

12.5

12.6

12.7

12.8

EPILOG

PROLOG

0.1

Sonntag, 30. Mai 2021

Der eierschalenfarbene Toyota-Prius fuhr in Schrittgeschwindigkeit die gepflasterte Einfahrt hoch und hielt vor dem gläsernen Eingang. Das St. Mariä-Altenheim in Berlin-Charlottenburg war ein moderner Funktionalbau, der mit seinen vielen liebevollen Accessoires eine angenehme Atmosphäre verströmte.

Sebastian beglich das Entgelt und stieg aus dem alten Taxi aus. Mit Sorge blickte er in den Himmel, ob er für die wenigen Meter seinen Regenschirm benötigen würde. Der Mai war in diesem Jahr zu kalt und zu nass. Ein Tiefdruckgebiet über Nordeuropa wollte den Hochdruckgebieten keinen Platz machen. Sebastian zog den Reißverschluss seiner dunklen Wolljacke hoch und lief mit seinem kleinen Rucksack zügig dem zweiflügeligen Zentraleingang entgegen. Den heutigen Termin hatte er seinem Freund Andreas Schmidt, genannt Atze, zu verdanken. Atze war ein IT-Experte, der für Sebastian Ermittlungen und Nachforschungen übernahm. In mühevoller Recherche hatte Atze herausgefunden, dass in diesem Altenheim der ehemalige Vorgesetzte von Sebastians verstorbenem Vater lebte. Rainer von Plaunheim arbeitete bis zu seinem Tod 1989 als freier politischer Journalist für die Berliner Tageszeitung. Chef vom Dienst war damals Heinz Prowarczyk, genannt ´Der General´. Über viele Jahre leitete der heute Einundachtzigjährige das politische Ressort und war Rainer von Plaunheims direkter Vorgesetzte.

Sebastian konnte sich erinnern, als Kind diesem Heinz Prowarczyk schon mal begegnet zu sein. In den Achtzigerjahren war Heinz Prowarczyk immer mal wieder Gast im Berliner Einfamilienhaus. Sebastian erinnerte sich an einen beeindruckend großen Mann mit schaufelartigen Händen und kantigem Gesicht, der bei jedem Besuch Spielzeug oder Süßigkeiten für die vier Kinder mitbrachte. Nach dem Verschwinden seiner Schwester Eva wurden die Besuche seltener. Das letzte Mal hatte er ihn auf der Beerdigung seiner Eltern gesehen. Seitdem war der Kontakt abgebrochen.

Vor einer Woche informierte Atze Sebastian darüber, dass er eben diesen Chef vom Dienst in einem Berliner Altenheim ausfindig gemacht hatte. Sofort vereinbarte Sebastian einen Besuchstermin bei dem ehemaligen Journalisten; nicht wissend, ob ihn ein bettlägeriger, seniler oder dementer Mann erwartete, der vielleicht keine große Hilfe mehr sein konnte.

Sebastian betrat den Eingangsbereich des Altenheimes und wurde umgehend von einem süßlichen Duft nach Lavendel begrüßt. Eine mollige, ältere Dame mit wirrem, naturgrauem Haar nahm ihn in Empfang.

„Herzlich willkommen im Seniorenstift St. Mariä. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“, fragte sie freundlich.

„Guten Tag. Mein Name ist Sebastian von Plaunheim. Ich habe einen Termin bei Herrn Heinz Prowarczyk.“

„Mit dem General?“, fragte die Dame neugierig und schaute kurz in einem ihrer vielen Ordner nach. „Sind Sie ein Verwandter von Herrn Prowarczyk?“, fragte die Dame, ohne den Kopf zu heben, als wenn dies eine Bedingung für den Besuch wäre.

„Das nicht, aber ich bin Polizist“, entgegnete Sebastian, ohne seinen Ausweis zu zeigen. „Es handelt sich um einen alten Fall, bei dem uns Herr Prowarczyk als Zeuge hilfreich sein kann“, machte er es für die Empfangsdame unerträglich interessant. Die Frau schaute ihn an und er las in ihren grünen Augen, dass sie ihre Neugier nur noch schwer im Zaun halten konnte.

„Um diese Uhrzeit ist Herr Prowarczyk immer im Gemeinschaftsraum. Wenn Sie hier warten wollen. Ich werde ihn kurz holen.“ Bevor sie sich auf den Weg machen konnte, wurde Sebastian aus einem der abzweigenden Flure gerufen.

„Du musst der junge Basti sein!“, rief ein Mann im Rollstuhl und schob sich mit dem linken Bein dem Empfang entgegen.

„Herr Prowarczyk: Schalten Sie ihr Hörgerät ein! Dann schreien Sie nicht so“, maßregelte ihn die Empfangsdame.

Sebastian schaute sich den Rollstuhlfahrer näher an. Vor Sebastian saß ein alter Mann mit dünnem grauen Haar in bequemen Cordhosen und Filz-Pantoffeln. Die stattliche Erscheinung, die ihn als junger Spross beeindruckt hatte, war in seinen Grundzügen noch zu erkennen. Auch im Rollstuhl sitzend konnte man erkennen, dass der Mann einen Meter neunzig maß. Das Gesicht war älter, der Bauchansatz deutlicher, die Hände faltenreicher, die Haut pigmentierter, aber die Grundzüge seines Wesens waren immer noch dieselben. Vor allem Sprachduktus und Stimmlage hatten sich nur unwesentlich verändert.

„Mein Gott, bist du groß geworden. Ich erinnere mich noch an dich, als du auf dem Boden mit den Autos gespielt hast. Du siehst deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Aber die Augen hast du von deiner Mutter. Eine hübsche Frau“, sinnierte der alte Mann und streckte Sebastian seine linke Hand entgegen. „Schlaganfall. Rechte Seite ist komplett gelähmt. Aber mein Gehirn funktioniert noch tadellos“, erklärte der Mann. „Ich hoffe, ist ok, dass ich dich duze.“

„Klar“ antwortete Sebastian.

Dann schloss der General seinen Vortrag mit einem Befehl: „Wir gehen in die Cafeteria. Da können wir ungestört reden und bekommen einen guten Kaffee und ein leckeres Stück Kuchen.“

„Denken Sie an Ihren Blutdruck“, gab die Empfangsdame einen gut gemeinten Rat noch mit auf dem Weg, als sich der General schon auf den Weg in die Cafeteria schob.

Die große Cafeteria lag am Ende des Ganges und bot einen beeindruckenden Blick über den angrenzten Garten. Am Horizont konnte Sebastian sogar den Berliner Fernsehturm mit seiner berühmten Aussichtskugel erblicken.

An diesem frühen Morgen war die Cafeteria weitestgehend leer. Nach der ersten anstrengenden Schicht motivierten sich ein paar Pfleger und Pflegerinnen mit einem heißen Kaffee für die nächsten Arbeitsstunden. Als einzige Externe saßen zwei Handwerker in einer Ecke und vertilgten Mettbrötchen. Ansonsten waren nur wenige Besucher zum zweiten Frühstück eingetroffen.

„Du kommst wegen des Verschwindens deiner Schwester. Wie hieß sie noch mal?“

„Eva“

„Genau. Mein Gott. Was für eine Tragik. Hat man sie, … du weißt schon?“ Er traute sich nicht, die Möglichkeiten auszusprechen.

„Nein, ihre Leiche wurden noch nicht gefunden“, antwortete Sebastian.

„Schrecklich. Das Verschwinden deiner Schwester hat deinen Vater damals sehr mitgenommen. Deine Mutter natürlich auch. Ich denke, das ist der größte Horror, den man sich als Eltern vorstellen kann, dass die eigene Tochter nicht nach Hause kommt. Und dann drei Jahre später der schlimme Autounfall. Wie sagte der große Fußball-Philosoph Andy Brehme: Hast du Scheiße am Schuh, hast du Scheiße am Schuh.“

Der alte Mann zog einen Stuhl rabiat beiseite und stellt seinen Rolli unter den quadratischen Esstisch. „Nimm Platz“, forderte er Sebastian auf und schrie der Dame hinter der Theke zu: „Ingrid, du geiles Luder, bring uns mal zwei Tassen Kaffee und zwei Stücke deiner leckeren Himbeersahnetorte.“

„Heinz, du alter geiler Bock, wenn du nicht so einen netten Besuch hättest, könntest du dir den Kuchen irgendwo hinstecken“, antwortete die Dame umgehend.

„Ingrid ist eine ganz wunderbare Konditorin“, entgegnete der alte Mann anerkennend, ohne weiter auf die Konversation einzugehen. Dann wechselte er das Thema. „Was machst du heute beruflich? Dein Freund am Telefon sagte, du bist bei der Kriminalpolizei in Essen?“

„Ja, ich bin Kommissar bei der Essener Polizei. Seit dem frühen Tod unserer Eltern leben wir ja bei unseren Großeltern in Düsseldorf. Constanze hat geheiratet und drei Kinder bekommen. Vincent ist wieder nach Berlin zurückgekehrt und ist heute Staatssekretär im Finanzministerium“, erklärte Sebastian die soziale Entwicklung aller drei Geschwister.

„Ich erinnere mich. Deine Großeltern besaßen ein großes Schloss in Düsseldorf. Rainer arbeitete oft von dort aus. Wie geht es ihnen?“

„Mein Großvater ist vor einigen Monaten verstorben.“

„Mein Beileid. Irgendwann erwischt es uns alle“, meinte Heinz Prowarczyk lapidar, während Ingrid mit zwei Bechern Kaffee und zwei Stücken Himbeertorte an den Tisch kam.

„Danke Süße, du bist meine Beste“, antwortete der alte Mann zärtlich.

„Ich bin auch deine Einzige. Alle anderen wollen mit einem verschrobenen alten Mann nichts zu tun haben“, reagierte die Frau und verließ wieder den Tisch.

„Und warum ist der alte Fall nun wieder für dich interessant?“, wandte sich der Mann mit einem Stück Kuchen im Mund Sebastian zu.

„In den letzten Wochen haben sich neue Ermittlungsergebnisse ergeben. Wir haben neue Spuren entdeckt und ich möchte den Fall noch einmal aufrollen.“

„Nach dem Gespräch mit deinem Kollegen habe ich meine Tochter gebeten, alle alten Unterlagen zum Fall hier ins Heim zu bringen. Hier im offenen Vollzug ist viel zu wenig Platz für meine ganzen Dokumente.“

Heinz Prowarczyk zog eine Kladde aus der Seitentasche seines Rollis und legte diese in die Mitte des Tisches. „Die meisten Unterlagen habe ich von deinem Vater erhalten. Er hat mich damals regelmäßig über seine Nachforschungen informiert. Du kannst alles mitnehmen. Auf meiner letzten Reise hat mein Hemd eh keine Taschen mehr.“, erklärte der ehemalige Chef vom Dienst.

„Können Sie mit eigenen Worten noch einmal zusammenfassen, was mein Vater in seinen letzten Recherchen so erfahren hat?“, fragte Sebastian.

„Das Verschwinden deiner Schwester hat damals für viel Aufregung gesorgt. Trotzdem hat die Polizei die Ermittlungen nach wenigen Wochen eingestellt. Es fehlte eine Leiche, Zeugen und ein Motiv. Damals war die Berliner Polizei unterbesetzt und hatte viel Arbeit mit Drogendelikten und Beschaffungskriminalität. Lies dir dazu einfach mal das Buch von Christiane F. `Wir Kinder vom Bahnhof Zoo´ durch. Da wird das trostlose Berlin der Achtzigerjahre sehr gut beschrieben. Egal in welche Richtung du fuhrst, am Ende standest du immer vor einer Mauer. Das hat die Leute bekloppt gemacht.“

„Unsere Kindheit verlief viel harmonischer“, korrigierte Sebastian unabsichtlich.

„Ihr wart ja auch noch klein. Aber für die Berliner Polizei war diese verdammte Drogenszene viel Arbeit. Da hatte man wenig Zeit für ein verschwundenes zehnjähriges Mädchen ohne Leiche. Außerdem gingen alle davon aus, dass es irgendwann wieder auftauchen würde. Über die Mauer konnte man es nicht werfen und mitnehmen ging auch nicht. Was in Berlin geschah, blieb in Berlin, sagten meine Mitarbeiter immer.“

Der alte Mann war jetzt wieder voll in seinem Element.

„Dein Vater übernahm dann selbst die Recherche. Ihm war die Arbeit der damaligen Polizei zu oberflächlich. Ich erinnere mich daran, dass er alle Zeugen noch einmal befragte. Immer in seiner Rolle als Journalist. Damit erhielt er viel mehr Informationen als die damals verhassten Bullen.“

„Ich kann mich erinnern, dass er irgendwann zu Hause von einer neuen Spur berichtete. Allerdings war ich zu klein, um das zu verstehen“, fügte Sebastian hinzu.

„Es gab einen Zeugen, der an dem Tag des Verschwindens in der Nähe vom Böklerpark einen roten Mercedes gesehen haben wollte. Der Zeuge erinnerte sich auch an einen Mann im Auto, der Fotos von dem Spielplatz knipste. Er hielt es für unwichtig, weil der Wagen relativ weit vom Spielplatz entfernt stand. Aber Rainer hielt die Aussage für wertvoll.“

„Rote Mercedes gab es damals sicher sehr viele. Konnte er sich an das Modell oder Kennzeichen erinnern?“

„Leider nein. Er behauptete damals nur, dass es sich um ein Berliner Kennzeichen handelte. Mehr wusste der Zeuge nicht mehr. Aber der Mann konnte sich an eine andere wichtige Tatsache erinnern: Der Wagen hatte auf der Beifahrerseite den hinteren Kotflügel und Scheinwerfer defekt. Er muss damit wohl irgendwo gegen gefahren sein. Damals gab es noch keine Vollkasko-Versicherungen wie heute. Wenn da einer eine Beule hatte, die das Fahren nicht beeinträchtigte, dann ließ man es dabei. Da wurde nicht sofort rumgeheult und die nächste Werkstatt aufgesucht. Das kostete alles Geld, das man nicht hatte“, belehrte ihn der alte Mann.

„Einen roten Mercedes mit Berliner Kennzeichen und einem kaputten rechten hinteren Kotflügel und Scheinwerfer. Das war alles?“, fragte Sebastian etwas enttäuscht.

„Nicht ganz. Dein Vater stellte dann noch die kühne These auf, dass es sich um einen Serientäter handeln müsse. Dazu stellte er einige private Recherchen an. Ich erinnere mich daran, dass er mir erzählte, dass er bei der Polizei einen Informanten gefunden hatte, welcher die These stützte. Ich glaube, deine Eltern wollten sich an dem Tag des Unfalls sogar mit dem Zeugen treffen. Ob sie diesen Informanten noch getroffen haben, weiß ich nicht mehr – du isst ja gar nicht dein Stück Torte auf. Schmeckt sie dir nicht?“

„Danke, aber mir ist es noch zu früh für Torte.“

„Dann übernehme ich die Aufgabe. Wir können Ingrid nicht enttäuschen und den Kuchen zurückgeben. Wie sieht das denn aus?“, fragte er obligatorisch, tauschte leeren gegen vollen Teller und aß weiter.

Viel mehr konnte ihm der Rentner nicht erzählen. Sebastian plauschte noch ein paar Minuten über Belangloses und alte Zeiten, bevor er sich aus dem Altenheim verabschiedete.

´Der General´, wie er genannt wurde, begleitete Sebastian noch zur Tür.

„Ich hoffe, du findest das Dreckschwein endlich. Wenn dein Vater sich etwas vorgenommen hatte, dann war er nicht mehr aufzuhalten. Der hat sich an dem Thema festgebissen wie ein Terrier! Vielleicht hast du diese Eigenschaft von ihm geerbt. Dann bin ich mir sicher, du wirst ihn finden. Gib nie auf mein Junge; Deine Eltern und deine Schwester – Gott hab sie selig – haben die Anstrengungen verdient.“

Zum Abschied schüttelte Sebastian dem alten Mann noch einmal herzlich die Hand, nicht wissend, ob sie sich lebend wiedersehen würden.

Als Sebastian das Altenheim St. Mariä verließ, um an der Straße auf das bestellte Taxi zu warten, klingelte sein Mobiltelefon. Sein Vorgesetzter Claudius Carl, von seinen Mitarbeitern liebevoll ´Carl der Große´ genannt, teilte Sebastian mit, dass er sich nächsten Freitag zur Gesundheitsprüfung und Schießübung bei der Polizei einfinden müsse. Irgendwann dachte Sebastian bei sich, ging jeder Krankenschein mal zu Ende.

0.2

Essen, NRW, etwa zur gleichen Zeit

Seit Boris Davitadze mit Leonard die Vereinbarung getroffen hatte, weiterhin für die Organisation tätig zu sein, veränderte sich sein Leben vollständig. Seine Schwester Wanja blieb in Sofia und baute sich dort eine neue Existenz auf. Sie arbeitete jetzt in einem kleinen Kiosk als Verkaufshilfe. Er selbst wurde zwar wegen Brandstiftung und schwerer Körperverletzung in zwei Fällen von der Essener Polizei gesucht, trotzdem forderte die Organisation ihn auf, sich im Ruhrgebiet eine neue Bleibe zu suchen.

Seine letzte Unterkunft in dem abgelegenen Haus eines Freundes erledigte sich in dem Moment, als sich dieser eines Nachts zu Tode soff. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei das einsame Anwesen im Wald durchsuchte und den Leichnam seines Freundes und dann vielleicht seine Fingerabdrücke entdeckte. Auch die Wohnung in Köln, die er lange Zeit mit seiner Schwester Wanja bewohnte, war unbrauchbar geworden. Würde er dorthin zurückkehren, käme irgendein freundlicher Nachbar auf die Idee, die Polizei zu rufen. In diesem Fall wäre es konsequenter und auch effektiver, wenn er sich direkt stellen würde. Nein, er brauchte eine neue Unterkunft, von der aus er operieren konnte.

Er entschied sich, in Essen zu bleiben, da die Organisation hier ihren zentralen Standort hatte. Aufgrund seiner bulgarischen Wurzeln kamen für ihn nur Stadtteile infrage, in denen der Anteil an Bewohnern mit Migrationshintergrund so hoch war, dass er als Migrant nicht auffiel. Seine bevorzugten Stadtviertel waren daher Altenessen, Katernberg, Kray oder Altendorf. Auch Frohnhausen oder das Nordviertel fielen in die engere Auswahl.

Nach vielen Besichtigungen erhielt eine Wohnung den Zuschlag, deren Lage Boris ein Lächeln auf sein sonst ernstes Gesicht zauberte. Boris fand eine möblierte fünfzig Quadratmeterwohnung auf der Germarkenstraße im Stadtteil Holsterhausen. Er erinnerte sich ein altes bulgarisches Sprichwort: „Wo große Trommeln dröhnen, sind kleine nicht zu hören.“ Seine Bleibe lag in direkter Nähe zum Essener Polizeipräsidium. Damit würde niemand rechnen. Die Polizei vermutete ihn sicher in Bulgarien, Köln oder in einer anderen Großstadt. Das er aber in direkter Nachbarschaft zum Essener Polizeipräsidiums wohnte, konnte sich keiner der Herren Kommissare vorstellen.

Die Germarkenstraße führte von der Hobeisenstraße bis zur Holsterhausener Straße und sprühte voller Leben. Hier gab es ein ausgeprägtes Stadtteilleben mit vielen kleinen Geschäften. Vom Augenoptiker über Lebensmittelläden bis zum Zahnarzt fand Boris alles vor, was er für das tägliche Leben benötigte – außer einen Parkplatz. Deshalb parkte er seinen neuen gebrauchten Mitsubishi Pajero meist am unteren Ende der Savignystraße, die unter großen Buchen im Mittelbereich kostenlose Parkmöglichkeiten bot. Polizei und Ordnungsamt ließen sich in diesem Stadtteil selten blicken, wohnten hier doch mehrheitlich Familien mit Kindern, deren Eltern abends zu erschöpft waren, um gegen das Gesetz zu verstoßen.

Der muslimische Hauseigentümer verlangte von Boris für die möblierte Wohnung nur eine Kopie seines gefälschten Personalausweises und vier Monatsmieten Kaution in bar. Weitere Fragen stellte er nicht. Boris beglich den Betrag noch am selben Tag und erhielt umgehend den Schlüssel zu seinem neuen Reich. Das große Mehrfamilienhaus war international besetzt, sodass er als Osteuropäer nicht auffiel. Neben zwei türkischstämmigen Familien gab es eine kurdische, eine syrische, eine nigerianische, eine indische und eine aus der Ukraine. Neben all diesen Nationalitäten fühlte sich Boris auf einmal sehr europäisch, geradezu deutsch.

Boris schloss die Tür hinter sich zu und genoss die neue Stille. Dann brühte er sich in der kleinen Küche einen Instant-Kaffee mit drei Löffeln Zucker auf und blickte von seinem Wohnzimmerfenster hinunter auf die blühende Einkaufsstraße. Er liebte dieses sprühende Leben. Vor seinem Fenster war es nie langweilig, immer passierte auf der Straße etwas. Genau die richtige Ablenkung, die er in der neuen Einsamkeit benötigte.

Seit dem letzten Treffen vor fünf Wochen hatte sich die Organisation verändert. Viele neue Leute waren hinzugekommen. Aus der kleinen Gruppe formierte sich eine verzweigte Organisation, die neue Ziele verfolgte. Bis jetzt kannte Boris seine Rolle in der Gruppe noch nicht. Er spürte aber, dass die Ruhe vor dem Sturm nicht mehr lange Bestand haben würde.

Heute Morgen fand er einen kleinen Zettel hinter seinem Scheibenwischer. In einem ´toten Briefkasten´ sollte Boris ein kleines Päckchen finden. Boris untersuchte das Päckchen nach Sprengfallen, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Vorsichtig schnitt er das Packband auf und öffnete die oberen Klappen. In dem Päckchen lagen ein Motorola-Mobiltelefon und ein kleiner Zettel. Auf dem Papier stand in Versalien geschrieben: RUF AN!

In dem Mobiltelefon war nur eine Rufnummer eingespeichert. Boris kannte das Prozedere schon aus seiner Arbeit für die Gruppe Leonard. Der ´Boss´, wie ihn jetzt alle nannten, wollte alles so sicher wie möglich haben. Jedes Gruppenmitglied erhielt ein altes Mobiltelefon mit Prepaid-Anschluss. In jedem Mobiltelefon waren nur die Nummern eingespeichert, die derjenige als Kontakt führen durfte. Entdeckte die Polizei das Mobiltelefon bei einer Kontrolle, konnte die Gruppe schnell die Telefonnummern wechseln. Er nahm das Telefon aus dem Karton, klappte es auf und wählte die eingespeicherte Rufnummer. Dreimal klingelte es auf der anderen Seite, dann nahm eine junge Frauenstimme ab.

„Das wurde aber auch Zeit!“, bekam Boris sofort eine Ansage.

„Hallo. Hier ist Boris“, antwortete Boris vorsichtig.

„Keine Namen du Idiot. Machst du das zum ersten Mal?“, meinte die junge Frau vorwurfsvoll. „Der Boss hat viel von dir erzählt. Du scheinst bei ihm ein Stein im Brett zu haben. Im Moment kann ich noch nicht erkennen, warum.“

Der ´Stein im Brett´ waren wohl mehr ´Festplatten im Geheimversteck´, dachte Boris und antwortete kurz: „Das freut mich“.

„Was hältst du von einem Treffen? Ein Blick sagt mehr als tausend Worte.“

„Ok. Wann und wo?“

„In dreißig Minuten in der großen Cafeteria an der Uni“, antwortete sie direkt. „Weißt du, wo die ist?“

„Ja. Denke schon.“

„Gebäude T01. T steht für Tannengrün. Direkt an der Mensa.“

„Wie erkenne ich dich?“, fragte Boris noch schnell.

„Auf meinem Tisch liegen eine Banane, ein Apfel und eine Birne. Ansonsten werde ich dich finden. Bis gleich.“ Sie legte auf.

Boris zog sich an, suchte seinen Wagen und fuhr über die Holsterhausener Straße zur B224 und dann nördlich in Richtung Universität. Er parkte seinen Wagen etwas außerhalb am Reckhammerweg und ging die letzten Meter zu Fuß. Boris stellte fest, dass jedes Gebäude eine andere Farbe besaß. Da gab es ein gelbes, ein rotes, ein blaues und ein grünes Gebäude. Er hatte nie eine Universität besucht und wusste daher nicht, ob dieses Farbkonzept bei allen Hochschulen gleich war. Das grüne Gebäude lag an der südlichen Seite des Gebäudekomplexes und war anscheinend eine zentrale Anlaufstelle, die um die Mittagszeit gut besucht war.

Als Boris den Eingang der Cafeteria betrat, war er von den vielen Menschen im Innenraum einfach nur erschlagen. Die Cafeteria hatte eine Grundfläche von geschätzten vierhundert Quadratmetern und bot mehreren Hundert Personen Sitzgelegenheiten. Im Moment waren fast alle Tische und Stühle von jungen Menschen besetzt. Er war überfordert, wie er in dieser Menge seine neue Ansprechpartnerin erkennen sollte. So schlich er durch die engen Gänge und hielt nach einem Tisch mit drei Obstsorten Ausschau. Nach kurzer Zeit erblickte er zum ersten Mal das Arrangement und wollte schon Platz nehmen, als er überrascht feststellte, dass an dem Tisch nur junge Männer saßen. Keine Spur einer Frau. Er ging weiter und fand wieder einen Tisch, auf denen Banane, Birne und Apfel gut sichtbar platziert waren. An diesem Tisch saß ein älterer Herr, der ein Fachbuch über Stochastik las.

Boris nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte den Mann, ob neben ihm noch eine junge Frau sitzen würde, welche das Obst dort vergessen hatte.

„Nein, das gehört mir nicht, das hat eine Studentin hier liegen gelassen“, meinte der Mann und wandte sich wieder seiner Fachliteratur zu.

Boris ging die Gänge weiter, als sein Mobiltelefon klingelte.

„Hey Blindfisch. Ich sitze direkt vor dir. Rote Haare.“ Boris schaute nach vorne und suchte mit seinen Augen die volle Cafeteria ab. Mit dem Rücken zur Wand saß eine junge Frau mit roten Haaren an einem kleinen Tisch. Demonstrativ legte sie in diesem Moment eine Banane und eine Birne auf den Tisch und biss genüsslich in einen roten Apfel.

Boris nahm an dem Tisch Platz.

„Soso. Du bist Boris.“, stellte sie fest.

„Und du bist mein neuer Kontakt“, antwortete er.

Boris schaute sich die junge Frau genauer an. Sie war rund einen Meter siebzig groß und von schlanker Statur. Sie hatte ein kantiges Gesicht mit gleichmäßigen Zügen. Ihre braunen Augen wurden durch dunkle Lidstriche vergrößert. Piercings in den Augenbrauen und Ohrmuscheln unterstützten ihre knallrot gefärbten Haare bei der Provokation. Beide Ohrläppchen wurden durch Ringe, sogenannte Tunnel, vergrößert. Sie trug eine schwarze Lederkombi und neben ihr auf dem Boden lag ein dunkler Integralhelm mit einem ´Fuck you´ Aufkleber. An Hals und Händen erkannte Boris Tattoos und Schriftzeichen, die darauf hinwiesen, dass sie die Welt verabscheute. Dennoch vermittelte sie ihm auf Anhieb ein vertrauensvolles und sympathisches Gefühl.

„In den nächsten Wochen arbeiten wir zusammen“, erklärte die junge Frau. „Damit das klar ist: Fummeln und Anpacken ist nicht. Wenn du mich anmachst, trete ich dir in die Eier, bis sie dir zum Hals wieder rauskommen.“

„OK“, antwortete Boris kurz.

„Und private Fragen sind Tabu.“

Private Dinge hatten Boris noch nie interessiert. „Wie soll ich dich nennen?“

„Zara.“, antwortete die junge Frau. „Wir gehen wie folgt vor: Ich halte den Kontakt zur Organisation und sage dir, was zu tun ist. Du führst die Sachen aus, ohne Fragen zu stellen. Hast du verstanden?“

„Ich denke schon.“

„Dann erhalten wir unser Geld und in wenigen Wochen geht wieder jeder seinen Weg.“

„Was ist unsere Aufgabe?“, fragte Boris.

„Wir spielen Postbote.“

0.3

Marineo, Sizilien. Etwa zur gleichen Zeit

Der Empfang nach der Beerdigung war genauso anstrengend wie das heiße Wetter an diesem Tag. Neunundzwanzig Grad Celsius wurden von Cumuluswolken begleitet. Ein schöner Tag zum Sterben, aber auch ein schöner Tag, um beerdigt zu werden. Francesco hätte sich diesen Tag ausgesucht, hätte er noch mitreden können.

Gefühlt war ganz Sizilien in die terrakottafarbene Villa gereist, um Francescos Sohn Vincenco und seiner Familie ihr Beileid auszudrücken. Menschen, die Vincenco noch nie gesehen hatte, nahmen ihn trauernd in den Arm.

Vor wenigen Wochen war der ´Padre´, wie Vincencos Vater hier auf Sizilien genannt wurde, am helllichten Tag in seiner eigenen Villa von einem Auftragskiller erschossen worden. Obwohl sein Vater alt und gebrechlich gewesen war und seine Zeit auch ohne die drei 9mm Kugeln bald abgelaufen wäre, war dies ein Affront gegen die Familie Pergolini und damit gegen Vincenzo selbst.

Ein Trauergast nach dem anderen kondolierten, indem sie ihn drückten, küssten und vor Anteilnahme weinten. Mitleid, das oft ehrlich, aber oft auch geheuchelt war. Denn eines war auch klar: Der plötzliche Tod des Familienoberhaupts kam einigen Familienmitgliedern sehr gelegen. Seinem Vater fiel es immer schwerer, die verschiedenen Stämme unter einen Hut zu bekommen. Je schwächer der Padre wurde, desto stärker wurden die Kräfte, die ihre eigenen Machtansprüche stellten. Eine Herausforderung, um die sich Vincenzo nun kümmern musste.

Vincenzo kam der Tod seines Vaters aus mehreren Gründen ungelegen. Nicht nur, weil er mit dem Tod seines Vaters eine starke Bezugsperson verlor, auf die er sich immer verlassen konnte. Sondern auch, weil er in Duisburg einige Projekte hatte, die er vorher gerne noch beendet hätte. Zwar hatten sie mit ihren italienischen Pizzerien im Ruhrgebiet eine Geldwäsche-Organisation aufgebaut, die reibungslos funktionierte. Aber seine Ex-Frau Charlene hatte sich in einen Polizisten verliebt, welcher in Vincenzo die Eifersucht hochkochen ließ. Obwohl schon seit über einem Jahr geschieden, fiel es ihm schwer, diesen Umstand zu akzeptieren. Ein Vincenzo verließ seine Frauen, aber Frauen verließen nicht einen Vincenzo. Und nun musste er Hals über Kopf nach Sizilien reisen, um die Geschäfte der Famiglia weiterzuführen. Das Schicksal kam manchmal echt ungelegen.

All das ging Vincenzo durch den Kopf, als sein Cousin auf ihn zukam. Guido war ein hagerer, einen Meter achtzig großer Italiener mit kurzen schwarzen Haaren. Sein kantiges Gesicht konnte und wollte die sizilianische Herkunft nicht leugnen. Guido und Vincenzo kannten sich schon ewig. Als Kinder spielten sie gemeinsam im Hof, während ihre Väter im Wohnzimmer die Geschäfte besprachen. Je älter sie wurden, desto mehr Aufgaben übernahmen beide in der Organisation. Heute sorgte Guido für die reibungslose Einfuhr von unversteuerten Zigaretten in die Europäische Union.

Auch von Deutschland aus bekam Vincenzo mit, dass es in letzter Zeit zwischen seinem und Guidos Familienzweig immer mehr Streit gab. Der ´Padre´ hielt Guidos Vater für einen gefährlichen und egoistischen Mann, bei dem er aufpassen musste, dass er die Geschäfte nicht in Gefahr brachte. Guidos Familie fühlte sich von Vincenzos Familie nicht ernst genommen. Über viele Jahre konnten sie diesen Zwist im Zaune halten, bis er vor einigen Wochen eskalierte. Wie so oft war der Anlass nichtig. Es ging um eine größere Lieferung Steroide, welche Guidos Familie angeboten wurde. Guidos Vater fand die Idee super, ein neues Geschäftsfeld aufzumachen und in den illegalen Markt für Dopingartikel einzusteigen. Der Padre war dagegen, weil er sich auf die Kerngeschäfte der Famiglia konzentrieren wollte und in dem neuen, ihnen unbekannten Markt ein Risiko sah. Finanziell war das Geschäft interessant, aber am Ende ging es um das Prinzip. Nach dem gewaltsamen Tod des Padre war das Rennen jetzt wieder offen.

Guido umarmte seinen Cousin und drückte ihn fest an sich. Dann gab er ihm je einen Kuss auf die rechte und linke Wange.

„Mein Herz blutet, wenn ich daran denke, was deinem Vater und meinem Patenonkel angetan wurde. Wir müssen die Verantwortlichen finden und seinen Tod rächen. Das sind wir ihm schuldig.“, meinte Guido mit Tränen in den Augen.

„Mein Herz weint auch.“

„Ich habe immer gesagt, dein Vater sollte mehr in seine Sicherheit investieren. Ich habe ihm immer wieder angeboten, Wachen abzustellen. Dass die Überwachungskamera nicht aufzeichnete, hielt ich immer für falsch. Ich hätte das gerne für euch organisiert.“

„Du weißt, dass mein Vater dagegen war. Er hatte Angst, dass die Aufnahmen der Carabinieri in die Hände fallen könnten.“

„Ich habe mich mal umgehört“, meinte Guido verschwörerisch. „Enzo und Maria haben an diesem Tag Besuch von Charlie erhalten. Sie war bei ihnen im Chiosco. Ungefähr eine Stunde vor dem hinterhältigen Mord an deinem Vater.“

„Ich hörte davon. Sie wollte, dass mein Vater mich aus Deutschland abzieht“, meinte Vincenzo, ohne näher darauf einzugehen.

„Das hat sie erreicht. Vielleicht hat der deutsche Polizist etwas damit zu tun?“

„Vielleicht. Auf jeden Fall werden mir beide das büßen.“

„Auch wenn wir manchmal unterschiedliche Auffassungen haben, sind wir doch aus dem gleichen Fleisch und Blut. Wenn du meine Hilfe benötigst, sag einfach Bescheid. Dein Schicksal ist auch mein Schicksal.“ Guido nahm Vincenzo noch einmal fest in seine Arme und gab ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. Der Tod des geliebten Familienoberhaupts nahm ihn sehr mit.

TEIL 1

1.1

Freitag, 18. Juni

Sebastians Herz raste. Die dunkle Straße vor ihm wirkte wie ein schwarzes Loch, in dem jede Herzlichkeit und Liebe verschwand. Übrig blieb nur Eiseskälte und Angst. Angst, sein Leben im Dienst zu verlieren. Angst, nicht den flüchtigen Täter, sondern einen unschuldigen Passanten zu erschießen. Angst zu versagen und die falsche Entscheidung zu treffen.

Wie an einer Perlenschnur reihten sich die kleinen Einfamilienhäuser auf beiden Seiten auf. Nur wenige Häuserecken wurden in der Straße durch Laternen erleuchtet. Bäume und Sträucher machten die Straße teilweise uneinsehbar. Ein ideales Versteck für flüchtige Täter.

Sebastian fühlte in seinem Kopf den dunklen Schlag seines Herzens, das unablässig Blut in seinen angespannten Körper pumpte. Ganz langsam schritt er mit gezogener Waffe voran, die Sinne bis aufs Letzte geschärft. Hier irgendwo hatte sich der Täter mit seiner Waffe versteckt. Bereit, sofort auf jeden Polizisten zu schießen, der ihm zu nahekam.

Immer wieder sicherte sich Sebastian rechts und links ab, während er vorsichtig die Straße durchschritt. Da! Auf der linken Seite kam eine Gestalt zwischen zwei Häusern hervor. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. Als sie Sebastian erblickte, verschwand sie wieder so schnell, wie sie erschienen war. Sebastian merkte, dass sein Puls die zweihundert Schläge pro Minute bald erreichen würde. Im Moment hatte er die Vitalwerte eines Spitzensportlers im Endkampf um die Weltmeisterschaft, als auf einmal auf der rechten Seite eine weitere Person hinter einem Baum hervorkam. Nur ein alter Mann, der zu dieser späten Stunde seinen Hund Gassi führte. Dann passierte es! Direkt dahinter sprang ein Mann mit einer Gesichtsmaske aus dem Gebüsch. In der Hand hielt er eine Pistole und feuerte unvermittelt in Richtung des Kommissars. Sebastian erwiderte das Feuer, aber der Täter versteckte sofort wieder im Dickicht, als auf der gegenüberliegenden Seite eine weitere Gestalt in einem Eingang erschien. In der Hand hielt sie eine pistolenähnliche Waffe. Sebastian wirbelte nach links und wollte schon abdrücken, als er erkannte, dass es sich um einen Handwerker mit einem Akkuschrauber handelte.

Plötzlich zerschnitt ein langer Hupton die dunkle Stille der Nacht. Langsam entspannte sich Sebastian. Ein grelles Neonlicht erleuchtete jetzt die Szene und ließ Location und Personen in Sekundenbruchteilen auf einer Leinwand verschwinden.

Ein älterer Mann mit vollem grauem Haar und über Jahren hart erarbeitetem Bauch kam Sebastian in Polizeiuniform entgegen. Schnell nahm er ihm die Waffe ab.

„Gut gemacht, Herr von Plaunheim. Hätte wetten können, Sie würden uns noch den Handwerker erschießen, dabei sind die doch so schwer zu bekommen.“

„Das war ganz schön knapp.“

„So sollte es sein“, erklärte der ältere Polizist ironisch und führte weiter aus: „Herzlichen Glückwunsch. Ihre Schießübung ist erfolgreich abgeschlossen. Wenn ihre Gesundheitsprüfung beim polizeiärztlichen Dienst auch erfolgreich verlief, dürfen Sie bald wieder für Recht und Ordnung sorgen.“

„Herzlichen Dank.“

„Sie sind im KK 11 oder?“

„Ja, ich bin Leiter der Mordkommission.“

„Da ist es im Moment recht ruhig, wie ich erfahren habe. Mein Schwager arbeitet im KK 13 für Raub und Erpressung und berichtet immer mal wieder von spannenden Fällen. Im Moment hat er nicht viel zu melden.“

„Hoffen wir mal, dass es so bleibt.“

„Ich sende die Ergebnisse per E-Mail an Ihren Vorgesetzten. Wie lange waren Sie jetzt krankgeschrieben?“

„Fünf Wochen“, antwortete Sebastian.

„Muss auch mal sein. Vor allem bei dem, was Sie erlebt haben. Wann geht es wieder los?“

„Montagmorgen.“

„Dann grüßen Sie mir mal den Kollegen Bosbach. Sagen Sie ihm, er soll mal wieder beim Tischtennis vorbeischauen. Der Betriebssport sucht immer talentierte Kollegen“, meinte der erfahrene Kollege und verabschiedete sich mit einem festen Handschlag in das Wochenende.

Sebastian packte Helm und Jacke ein und verließ den Schießstand der Essener Polizei. Auf dem Weg zu seinem neuen Motorrad klingelte sein Mobiltelefon. Charlene rief an.

„Hey Charlie“, meinte Sebastian.

„Hallo Basti. Alles in Ordnung bei dir?“, fragte sie freundlich.

„Ja, war noch kurz auf dem Schießstand. Ich bin jetzt auf dem Nachhauseweg.“

„Du denkst an die Vernissage heute Abend?“, führte Charlene angespannt aus. „Es wäre schön, wenn du pünktlich sein könntest. Es kommen auch Kunden von deinen Bildern.“

„Ich ziehe mich zu Hause noch um und dann komme ich rüber“, erklärte Sebastian, als er seine dunkelgrüne BMW R12 Roadster erreichte.

„Denk dran, wir sind jetzt in der Lindengalerie“, bemerkte Charlene und legte schon wieder auf.

Seit dem Fall Leonard war bei Charlene viel passiert. Die damalige Polizeiaktion hatte ihre junge Galerie schnell berühmt gemacht. Am Anfang konnte sie sich vor Publicity nicht mehr retten. Sie war allen regionalen Zeitungen ein Bericht wert, wurde zu Talkshows eingeladen und von vielen Künstlern gefragt, ob sie deren Objekte in ihren Verkauf nehmen würde.

Auf der anderen Seite war ihr Vermieter von der neuen Öffentlichkeit wenig begeistert und schickte ihr die außerordentliche Kündigung zu. Deshalb musste Charlene sich neben den ganzen Presseterminen auch noch um neue Galerieräume kümmern. Doch das Glück ist mit den Fleißigen und so wurden ihr Räume im Essener Deutschlandhaus angeboten.

Sebastian setzte seinen Helm auf und startete sein neues Motorrad. Auf dem Nachhauseweg ließ auch Sebastian die letzten Wochen noch einmal Revue passieren.

Seit der Lösung des Falles Leonard hatte Sebastian sich aus der Polizeiarbeit zurückgezogen. In mühevoller Kleinarbeit stellten seine Kollegen die einzelnen Puzzleteile zusammen und bereiteten mit der Staatsanwaltschaft die Anklagen vor. Sebastian nutze die Zeit und regelte erst einmal die vielen Dinge, die sich bei ihm angesammelt hatten. Der Tod von Sebastians Großvater vermachte ihm nicht nur ein kleines Vermögen, sondern auch viel Schreibarbeit und Behördengänge. Gemeinsam mit seinem großen Bruder Vincent, seiner jüngeren Schwester Constanze und ihrem Ehemann Michael hatten sie eine Stiftung gegründet, in der das Vermögen der von Plaunheim mithilfe des Notars Dr. Will verwaltet wurde.

Einen größeren Geldbetrag seines Erbes und den Erlös aus dem Verkauf eines seiner Bilder spendete er dem Kinderhospiz Brühl, welches damit zwei neue Beatmungsgeräte erwerben konnte. Er erfüllte sich einen langersehnten Wunsch und kaufte sich ein Motorrad, mit dem er seitdem fast jeden Tag seine Großmutter in ihrem Düsseldorfer Schloss besuchte. Er genoss die letzten Wochen und sammelte neue Energie für seinen oft anstrengenden Beruf als Leitender Ermittler der Essener Mordkommission.

Vor zwei Wochen deutete sein Hausarzt freundlich darauf hin, dass Sebastians Schulter, in der vor wenigen Wochen noch ein Pfeil gesteckt hatte, verheilt sei. Da seine Psyche auch einen guten Eindruck vermittelte, war eine weitere Krankschreibung nur schwer vertretbar. Sebastian informierte seinen Vorgesetzten Claudius Carl über die Rückkehr in den geregelten Kriminaldienst.

„Mein Lieber“, reagierte sein Vorgesetzter gewohnt herzlich, „ich freue mich, dass du zurückkommst. Es gibt viel zu tun, wir können jede Unterstützung gebrauchen.“

Claudius Carl beschützte seine Mitarbeiter gegenüber Mehrarbeit aus anderen Abteilungen dadurch, dass er phrasenartig wiederholte, wie viel Arbeit gerade in den verschiedenen Kommissariaten vorläge und er keine Zusatzarbeit akzeptieren könne. Dadurch konnten sich die verschiedenen Kommissariate auf ihre Arbeit konzentrieren und wiesen eine gute Aufklärungsquote vor.

Nachdem er nun den medizinischen und technischen Test bestanden hatte, stand seiner Rückkehr in den Polizeidienst nichts mehr im Wege. Sebastian hoffte auf eine ruhige Woche, in der er sich langsam wieder an die Ermittlungsarbeit gewöhnen konnte. Aber vorher stand noch Charlenes Vernissage vor der Tür.

Langsam fuhr Sebastian die schwere Maschine in die Tiefgarage des Mehrfamilienhauses am Ruhrufer. In seiner Mülheimer Eigentumswohnung wechselte er nicht nur den Schutzkombi gegen einen dunklen Anzug von Armani, sondern auch das Motorrad gegen seinen geliebten Oldtimer von Mercedes.

1.2

Dankbarkeit. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er Dankbarkeit. Er hatte noch nie Dankbarkeit empfunden. Das war für ihn ein ganz neues Gefühl. Aber eines, das sich jetzt richtig anfühlte. Es war Zeit loszulassen.

Nachdenklich schaute Dr. Theo Wellmann aus dem deckenhohen Fenster seines opulent eingerichteten Vorstandszimmers in den grauen Innenhof seiner Firma. Jetzt, gegen Abend, ließ die Betriebsamkeit des großen Produktionsbetriebes nach. Nur noch wenige Gabelstapler kreuzten die Wege der Heimkehrer und beförderten Fässer und Paletten von rechts nach links und umgekehrt. Für Außenstehende war es ein chaotisches Gewusel verschiedener Fahrzeuge; für ihn war es eine Choreografie der Produktivität, die ihn jedes Mal begeisterte. Je mehr Stapler fuhren, desto mehr Geld verdiente seine Firma.

Seit über dreißig Jahren führte er nun schon das Familienunternehmen. Als sein Vater 1987 plötzlich an einem Herzinfarkt verstarb, war es der älteste Sohn, welcher die Geschäfte weiterführen musste. Ungefragt, unvorbereitet und unbedarft stürzte er sich in das Abenteuer Geschäftsführung. Seitdem hatte er viele Kämpfe geführt, unzählige Enttäuschungen weggesteckt und noch mehr Entscheidungen getroffen. Aber seine Bilanz war am Ende positiv. Seit seinem Amtsantritt hatten sich Umsatz und Gewinn des erfolgreichen Familienunternehmens mehr als verdoppelt.

Über fünfzehn Firmen gehörten heute zur Unternehmensgruppe. Wellmann Kosmetik war international vertreten und viele neue Patente steigerten den Unternehmenswert. Mehrere hundert Angestellte führten sie heute auf ihrer Lohnliste.

Und das alles nicht wegen seiner beiden Brüder, sondern Trotz. Theo verantwortete Vertrieb und Produktion und sorgte damit für den Umsatz. Volker leitete als Finanzvorstand Buchhaltung, Controlling und IT. Sein Reich waren Exceltabellen und Bankgespräche. Dies machte er zuverlässig und gut, aber für mehr war er nicht geeignet. Bis heute war er unfähig, vor großen Menschenmengen eine motivierende Rede zu halten. Benjamin verantwortete als Chief Operating Officer, kurz COO, Organisation und Personal. Benjamin war als ungeplanter Nachzügler in die Familie gekommen und fünfzehn Jahre jünger als Theo. Trotz seiner bald fünfzig Jahre genoss er bis heute Welpenschutz.

Alle drei Brüder hatten andere Vorstellungen darüber, wie die Firma zu führen sei. Theo traf Entscheidungen, ohne diese mit anderen abzusprechen. Volker beurteilte bei jeder Maßnahme die finanziellen Auswirkungen und Benjamin war es wichtig, dass sich jeder Mitarbeiter willkommen und akzeptiert fühlte. Sie waren so unterschiedlich, dass sich viele Mitarbeiter wunderten, das das Unternehmen so lange erfolgreich am Markt agierte.

Nach Theos Meinung unterschätztem seine beiden Brüder die Schwierigkeiten des harten Wettbewerbs. Den Krieg um die wenigen Listenplätze im Einzelhandel, den Kampf um die begrenzten Ressourcen oder den Existenzdruck, wenn die Produktion ausfiel, hatten beide noch nie erlebt. Volkers Welt waren die dicken Teppiche und die wohligen Lehnstühle der oberen Banketagen, wenn er mal eine neue Kreditlinie beantragen musste. Benjamins Ideal war das Streben nach Eintracht und Harmonie. Seiner Meinung nach sollten sich alle Mitarbeiter von WELKO wohlfühlen, pünktlich ihr Geld erhalten und erholt aus dem Urlaub zurückkehren. Aber keiner von beiden stellte sich die Frage, woher das Geld kam, das sie so gerne ausgaben. Theos Welt war der tägliche Kampf um Aufträge, das Managen von Engpassfaktoren, das Feilschen um wenige Cent hinter dem Komma bei Einkaufsverhandlungen.

Denn es gab auch Marktentwicklungen, welche den Erfolg bedrohten. Trotz mehreren hundert Mitarbeitern gehörten sie zu den kleineren Anbietern ihrer Branche. Internationale Konzerne besetzten immer öfter die begrenzten Regalplätze im Einzelhandel, produzierten preiswerter und konnten mehr Werbebudget bereitstellen. Mit dem Trend zum Online-Handel wurde er bis heute nicht warm, wodurch es immer schwerer fiel, neue Kunden zu gewinnen. Im internationalen Vergleich war die Eigenkapitalquote der Welko-Gruppe zu gering. Geld für Forschung und Entwicklung immer sehr knapp.

Am meisten beschäftigte ihn aber gerade seine eigene Situation. Er liebte seine Frau Marlies. Sie waren nun schon über vierzig Jahre zusammen. Marlies war sein Heimathafen. Hierhin kehrte er nach seinen Ausflügen zurück. Marlies hatte immer Verständnis gezeigt, wenn er wieder mehr arbeitete als ihm guttat. Sie hatte ihm seine Fehler verziehen und einsam in der großen Villa auf ihn gewartet, bis er von seinen Geschäftsreisen zurückkehrte. Er war viel in der Welt herumgekommen, hatte vieles erlebt, aber jetzt war es an der Zeit, das Ruder jüngeren Kapitänen in die Hände zu geben. Die Firma stand noch nie so gut da, wie heute. Keinem Familienmitglied mangelte es an Geld und Wohlstand. Der richtige Zeitpunkt, den Generationenwechsel einzuläuten.

Wenn er seine Firma zukunftsfähig machen wollte, mussten sie expandieren. Neues Geld, vielleicht sogar ein neues Management mit internationaler Handelserfahrung waren nötig, um den Erfolg langfristig zu sichern. Seine Brüder würden das nicht verstehen, aber das war ihm egal. Er hatte lange überlegt und war sich seiner Entscheidung sicher. Volker konnte er mit Geld überzeugen, Benjamin würde er mit einer Aufgabe in einer neu gegründeten Stiftung ablenken. Wichtig war nur, dass es schnell ging. Die Gelegenheit war günstig und die Chance zum Greifen nah.

Starr blickte er auf den inzwischen fast menschenleeren Hof. Bedächtig drehte er sich um und warf einen Blick in sein großes Vorstandsbüro. Sechzig Quadratmeter, die den Drehpunkt seines Imperiums bildeten. Höhepunkt des Büros bildete ein schwerer Nussbaumschreibtisch, den er auf einer historischen Auktion in London erworben hatte. Der Schreibtisch soll früher einmal Winston Churchill gehört haben. Er wusste bis heute nicht, ob das stimmte, aber bei vielen schwierigen Entscheidungen hatte es ihm geholfen, sich vorzustellen, was Churchill wohl gemacht hätte.

Zwischen Schreibtisch und Bürotür wartete eine bequeme Stoffcouch auf ihre Besucher. Viele Erinnerungen hingen an dieser Couch mit dem Rauchglas-Tisch in der Mitte. Auf dieser Couch nahmen schon Wirtschaftsführer, Politiker und einmal sogar der Kölner Erzbischof Platz. Manager wurden hoffnungsvoll eingestellt und enttäuscht wieder gekündigt. Dramen spielten sich an diesem Tisch genauso ab wie Siegesfeiern, wenn sie einen Großauftrag der Konkurrenz abgenommen hatten.

Über dem großen Sofa hing das Bild eines jungen Künstlers. Theo hatte das Ölgemälde mit dem vielversprechenden Titel ´Hoffnung´ in einer neuen Düsseldorfer Galerie gesehen und sich sofort verliebt. Als er erfuhr, dass der Maler nicht nur zum Düsseldorfer Adel, sondern auch zur Essener Polizei gehörte, erwarb er das Bild direkt. Er liebte Produkte mit Geschichte.

Theo fragte sich, ob er dies alles vermissen würde, wenn er in den Ruhestand wechselte. Zum ersten Mal beantwortete er die Frage mit einem eindeutigen ´Nein´. Er war fertig. Fertig mit seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender. Fertig mit seinem Leben in und für die Firma. Fertig mit dem Leben aus dem Koffer in den immer gleichen unpersönlichen Hotelzimmern. Sollten jetzt andere angreifen und kämpfen. Er wollte nur noch Mensch sein und die letzten Jahre seines Lebens an der Seite seiner geliebten Frau Marlies genießen.

Er ging die wenigen Schritte zu seinem großen Schreibtisch hinüber und drückte einen kleinen, abgenutzten Knopf am Telefon. Sofort sprach er mit gesenktem Kopf in das Mikrofon: „Frau Dahlmann, kommen Sie mal rein.“

Wenige Sekunden später öffnete eine Frau unbestimmten Alters mit großer Leibesfülle und natürlich ergrautem Haaren die schwere Bürotür. Zu einer weiten schwarzen Hose trug sie eine dünne Seidenbluse mit einem beeindruckendem Blumenmuster. Ihr rundes Gesicht war durch eine dicke Kunststoff-Brille fast verdeckt. Zwischen ihren rot lackierten Fingern hielt sie einen Kugelschreiber und einen Schreibblock.

„Sie wünschen?“

„Vereinbaren Sie einen Termin mit dem Dings, … dem, der heute Morgen angerufen hat.“

„Dem Notar?“, fragte sie nach.

„Ja, wer sonst? Natürlich der Notar! Oder hat heute Morgen noch jemand angerufen?“, fragte der Vorsitzende gereizt seine Angestellte.

Die Sekretärin überlegt kurz, ob sie den Anruf des Betriebsrats, des Vorsitzenden des Wirtschaftsverbandes oder der jungen Dame erwähnen sollte, die ´mein Häschen´ sprechen wollte. Wie gewohnt entschied sie sich, all das unter den Tisch fallen zu lassen und sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

„Selbstverständlich. Für wann darf ich den Termin vereinbaren?“

„Gestern! Sie kennen meinen Terminkalender doch besser als ich oder soll ich ihnen den auch noch vorlesen?“

„Wird umgehend erledigt“, antwortete die Sekretärin sachlich, ohne auf die Anspielungen einzugehen. „Haben Sie sonst noch ein Wunsch?“

„Ja, dass Sie die Tür wieder von außen schließen.“

„Darf ich Sie noch an die Vernissage heute Abend erinnern?“, fragte die Sekretärin. „Ihre Frau hat gerade angerufen und gefragt, wann Sie sie abholen würden.“

„Ach die Vernissage. Jaja, ich mache mich ja schon auf den Weg. Hetzen Sie mich nicht so und jetzt arrivedercie!“, antwortete der Manager und winkte seiner Assistentin fortzugehen.

Die Sekretärin nickte freundlich und schloss die Tür. Von außen.

1.3

Pünktlich um Viertel vor Sieben parkte Sebastian das silberne Mercedes-Coupe im Parkhaus an der Lindengalerie und lief die wenigen Stufen zum Eingang der Ausstellung hinunter.

Das Deutschlandhaus war eine imposante Erscheinung. Das Bauwerk gehörte zu den wenigen Gebäuden, welche den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs und die Renovierungswut der Sozialisten in den Sechzigerjahren überstanden hatte. 1928 als Technisches Rathaus erbaut, galt es jahrelang als Essens erstes Hochhaus. Im Erdgeschoss des klassizistischen Gebäudes lag die Lindengalerie. Eine edle, vom Stadtgebiet etwas abgelegene Einkaufsgasse, die heute nur noch wenige Geschäfte beinhaltete.

Als Sebastian die Tür des Treppenhauses öffnete, erblickte er eine kleine Schlange festlich gekleideter Menschen, die sich am Eingang der Ausstellungsräume gebildet hatte. Charlene hatte einen jungen Künstler unter Vertrag genommen, der als einer der aufstrebenden Stars in der westdeutschen Kunstszene galt. Heute war Ausstellungseröffnung und neben der üblichen lokalen Prominenz waren Presse und Lokalfernsehen anwesend.

Sebastian legte seine Einladungskarte vor, um von einer jungen Frau mit einem Glas Sekt freundlich in Empfang genommen zu werden. Langsam betrat er die abgedunkelten Räume, in denen die großen Gemälde durch fokussierte Strahler in Szene gesetzt waren. Eine beruhigende Hintergrund-Musik wurde durch den inspirierenden Geruch von Blutorange-Vanille unterstützt. Auf Anhieb erkannte Sebastian den jungen Künstler, der mit einem roten Anzug und farblich passendem Hut einen erfrischenden Kontrast zu den meist schwarz gekleideten Gästen bildete. Gerade ließ er ein älteres Ehepaar gestenreich an dem Moment teilnehmen, als ihn die Muse zu dem Motiv des Gemäldes geküsst hatte.

Sebastian schaute sich eine farbenfrohe Collage mit dem kraftvollen Namen ´Konsumzwang´ an, als er von hinten umarmt wurde.

„Hey Basti“, sagte Charlene zur Begrüßung und küsste ihn auf die Wange. „Schön, dass du Zeit hast.“

„Großartige Räume. Tolle Ausstellung.“, sagte er beeindruckt.

„Du hast die Räume seit dem Umzug ja noch gar nicht gesehen. Sind gut geworden, oder? Und die Ausstellung kommt auch sehr gut an. Der junge Künstler heißt Rüdiger Koszcinsky, nennt sich aber Roue, französisch für das Rad. Er gestaltet Kollagen zu zeitgenössischen Themen wie Klimaerwärmung, Ausbeutung der Meere oder Konsumzwang. Und außerdem macht er einen großartigen Vertriebsjob.“ Beide schauten dem jungen Mann kurz dabei zu, wie er drei Frauen durch das Erzählen einer Anekdote von der Malerei begeisterte. Die Damen amüsierten sich prächtig.

„Basti, ich würde dir gerne jemanden vorstellen“, meinte Charlene und zog Sebastian zu einem älteren Ehepaar, das vor einer Collage mit dem Namen ´Artensterben´ stand.

Beide waren um die sechzig Jahre alt. Mit einer Größe von über einen Meter neunzig stach der Mann aus der Masse hervor. Mit nach hinten gekämmtem, vollem grauem Haar und einem kantigen Gesicht wirkte er wie ein Feldherr, Manager oder Direktor. Seine Frau war das komplette Gegenteil. Sie maß höchstens einen Meter sechzig und wirkte neben ihrem Ehemann klein und zerbrechlich. Sie hatte ergrautes Haar und einen akkurat geschnittenen Pagenschnitt. Ihr rundes Gesicht wirkte warm und herzlich. Während der Mann einen dunkelgrauen Maßanzug trug, kleidete sie ein dunkelgrünes Kostüm.

Das Paar vermittelte eine ansteckende Harmonie und ein tiefgehendes Vertrauen, um das sie viele andere Paare beneiden würden.

„Sebastian, darf ich dir Herrn und Frau Wellmann vorstellen? Herr Doktor Wellmann leitet mit seinen beiden Brüdern die Firma Wellmann-Kosmetik. Herr Wellmann ist der Vorstandsvorsitzende und hat dein Bild ´Hoffnung´ für sein Büro erworben. Herr Dr. Wellmann, dies ist Sebastian von Plaunheim. Freischaffender Künstler und Leitender Ermittler der Essener Mordkommission“, stellte Charlene ihre Gäste vor.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, antwortete Sebastian und streckte beiden die rechte Hand zur Begrüßung entgegen.

„Was ich schon immer mal fragen wollte“, begann der große Mann, „sind Sie mit den von Plaunheim aus Düsseldorf verwandt?“

„Ja, das sind meine Großeltern.“

„Mein herzlichstes Beileid zum Verlust Ihres Großvaters. Ich habe ihn gekannt. Er war ein verlässlicher und vertrauensvoller Manager der alten Schule. Auf sein Wort war noch Verlass.“

„Herzlichen Dank. Sein Tod hat uns alle in der Familie sehr getroffen. Vor allem meine Großmutter“, entgegnete Sebastian. „Ich kenne die Firma Wellmann leider nicht. Ist es eine große Firma?“, fragte Sebastian den Herrn.

„Wir beschäftigen über dreihundert Mitarbeiter, verkaufen europaweit und produzieren immer noch selbst. Ein kleines, aber sehr feines Familienunternehmen, wenn ich das so sagen darf.“

„Wie lange gibt es schon ihr Unternehmen?“

„Ich darf mit Stolz sagen, dass wir dieses Jahr seit über fünfundsiebzig Jahren im Drogerie-Markt tätig sind und zu den führenden Anbietern für Naturheilkosmetik gehören. Wir verkaufen unsere Produkte unter dem Markennamen Welko. Haben Sie unsere Produkte schon mal im Drogeriemarkt gesehen?“

„Kosmetikartikel gehören nicht zu meiner Kernkompetenz. Es ist sicher viel Arbeit, ein solches Unternehmen zu führen“, entgegnete Sebastian.

„Mein Mann arbeitet unablässig. Oft ist er tagelang unterwegs, um sich mit Kunden und Lieferanten zu treffen“, antwortete seine Frau unaufgefordert. „Aber vielleicht hört das ja bald auf.“

„Sie kennen es sicher selbst, Herr von Plaunheim: Wer Erfolg haben möchte, muss bereit sein, dafür hart zu arbeiten. Eine Tugend, die heute leider nicht mehr weit verbreitet ist.“

„Die Welt verändert sich“, meinte Sebastian vielsagend.

„Ohne meine liebe Marlies hätte ich das alles nicht geschafft. Sie war und ist die treue Stütze an meiner Seite. Mein Heimathafen nach meinen Expeditionen. Sie ist mein Halt, auch wenn ein Sturm mich mal wieder zu erschüttern versucht“, erklärte der große Mann philosophisch und schaute seine Frau dabei liebevoll an.

„Na ja, ich bin nur da, aber du hast den Erfolg der Firma erschaffen“, entgegnete seine Frau bewundernd.

„Aber jetzt, Herr von Plaunheim, wird es langsam Zeit, dass wir an uns selbst denken“, wechselte der Mann das Thema.

„Was haben Sie vor?“, fragte Sebastian.

„Ich denke daran, die Firmenleitung in neue Hände zu geben. Die Welt muss auch ohne mich auskommen.“

„Das schaffst du doch gar nicht“, lächelte seine Frau ihn ironisch an.

„Doch, doch! Das schaffe ich! Wissen Sie, wir möchten mit einem Schiff die Welt erkunden. Ich habe immer nur die Flughäfen und Gewerbegebiete dieser Welt gesehen. Er wird Zeit, auch mal die anderen Ecken zu bereisen.“

„Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie noch zwei Brüder. Die können doch die Geschäfte in ihrem Sinne weiterführen“, meinte Sebastian.

„Mein Bruder Volker verantwortet bei uns die Finanzen und Benjamin, unser jüngster, organisiert Personal und Prozesse. Beide machen es ganz gut, aber als CEO muss man aus einem anderen Holz geschnitzt sein“, erklärte ihm der Vorstandsvorsitzende.

„Für dich ist doch nie einer gut genug, mein Schatz“, antwortete seine Frau ironisch.

„Das stimmt nicht, Marlies. Denk an Herrn Schwarz, einen Geschäftsführer, den ich mal eingestellt habe. Der war gut …“

„Und kündigte innerhalb der Probezeit, weil du seine ganzen Entscheidungen revidiert hattest“, bemerkte seine Frau.

„Na ja, wie dem auch sei. Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, die Firma in jüngere Hände abzugeben. Und wer weiß, vielleicht finde ich dann endlich Zeit, mich mehr um Kunst und Kultur zu kümmern. Eine Sache, die mich wirklich interessiert. Nicht wahr, Marlies?“

„Aber sicher, mein Schatz …“, antwortete seine Frau lapidar und wischte mit einer Serviette einen Krümel vom Mundwinkel ihres Ehemanns.

„In zehn Tagen haben wir in Düsseldorf unser fünfundsiebzigjähriges Firmenjubiläum. Mitarbeiter, Geschäftspartner und Kunden sind eingeladen. Ihre Galeristin organisiert eine Ausstellung. Marlies und ich werden dort alle über unsere Pläne informieren. Es wäre schön, wenn Sie daran teilnehmen könnten“, meinte Dr. Wellmann zu Sebastian.

„Ich muss schauen, ob ich dann Dienst habe. Ich arbeite nebenberuflich ja noch bei der Kriminalpolizei.“, antwortete Sebastian selbstironisch, was zu einer allgemeinen Erheiterung führte.

„Bis dahin hast du aber noch viel zu tun“, meinte Frau Wellmann zu ihrem Mann.

„Deswegen fährt meine Frau dieses Wochenende auch mit ihrer besten Freundin in ein Wellness-Hotel. Dann kann ich mich in Ruhe vorbereiten. Sie ahnen gar nicht, wie viel Arbeit eine solche Firmenveranstaltung macht. Und sich selbst kündigen macht man auch nicht alle Tage“, erklärte der CEO und alle drei lachten.

Was für ein schönes Paar, dachte sich Sebastian. Vertraut, erfolgreich und gemeinsam am Ende ihrer Berufszeit angekommen. Es war nur folgerichtig, dass sie jetzt die Früchte ihrer langjährigen Arbeit genießen wollten. Er bewunderte die beiden um ihre harmonische Beziehung und wünschte sich, dass er auch einmal eine so gute Ehe führen würde.

Sebastian verabschiedete sich bei den Wellmanns und suchte Charlene auf. Er fand sie in einem anregenden Gespräch mit dem Künstler, der langsam das Ende der Vernissage einläuten wollte.

„Ein interessantes Paar“, berichtete Sebastian von seinem Gespräch und schaute noch einmal zu den Wellmanns.

„Ja. Und sie haben einen großartigen Kunstgeschmack. Sie haben mich gebeten, auf ihrer Firmenveranstaltung eine Vernissage durchzuführen. Mindestens ein Bild wird die Wellmann-Gruppe erwerben und für den guten Zweck versteigern“, freute sie sich. Dann wechselte sie ins Private. „Sehen wir uns am Wochenende?“, fragte sie zärtlich. „Ich treffe mich morgen mit einer alten Schulfreundin zum Essen. Aber Sonntag habe ich noch nichts vor. Wenn wir früh genug starten, können wir einen Tag am Meer verbringen“, flüsterte sie ihm zärtlich ins Ohr.

„Hört sich gut an“, antwortete Sebastian, als auf einmal sein Mobiltelefon klingelte.

Auf dem Display erschien das Foto seiner jüngeren Schwester Constanze. Er entschuldigte sich bei Charlene für die Störung und suchte eine ruhige Ecke auf.

„Hallo Schwesterherz. Was ist dein Begehr?“, begrüßte Sebastian seine Schwester erfreut.

„Schwing dich auf dein Pferd und komm in die Hufe. Wir brauchen dich im Schloss.“

„Wann? Jetzt?“, fragte Sebastian.

„Jetzt. Alles Weitere, wenn du hier bist.“ Sie legte auf.

Sebastian war enorm beunruhigt, hatte er erst vor Kurzem seinen Großvater verloren. Nicht das jetzt etwas seiner Großmutter passiert war.

1.4

Gegen dreiundzwanzig Uhr erreichte das kleine Mercedes Coupe die Einfahrt des Schlosses. Sofort fiel Sebastian der dunkle Jaguar mit dem englischen Kennzeichen auf, der sich schlecht getarnt am Wegesrand versteckte, so dass er von dort einen guten Überblick über das gesamte Gelände besaß.

Als Sebastian die Eingangstür öffnete, bemerkte er sofort die helle Beleuchtung und die unbekannte junge Stimme, die ihm in englischer Sprache aus dem Wohnzimmer entgegenschallte. Ein angenehmer Geruch von frisch aufgebrühtem Minztee lag in der Luft. Sebastian ging in den großen Salon und sah seine Großmutter, seine Schwester Constanze, ihren Ehemann Michael und eine junge Frau auf der epochalen Couch sitzen. Gemeinsam genossen sie eine heiße Tasse Tee, als seine Großmutter Sebastian erblickte.

„This is Sebastian. My grandson. He is a police inspector and does martial arts.“, erklärte Sebastians Großmutter ihrem jungen Gast. Die junge Frau lächelte Sebastian freundlich an. Sie war Anfang zwanzig und trug ein hochgeschnittenes, altrosa Blusenkleid. Ihre langen blonden Haare waren akkurat zu einem Dutt gesteckt. Wenn sie Schminke trug, war sie sehr dezent aufgelegt. Constanze kam ihrem Bruder sofort entgegen und zog ihn in den Flur.

„Schön, dass du so schnell kommen konntest.“

„Sehr gerne. Da draußen steht ein Wagen mit englischen Kennzeichen. Hat der irgendetwas mit der jungen Dame zu tun?“, fragte Sebastian.

„Das sind zwei Mitarbeiter der SO14 Royalty Protection Group. Das ist eine Abteilung des Metropolitan Police Service, wie du sicher weißt.“, erklärte Constanzes Mann Michael, der sich dazugestellt hatte.

„Das ist Scotland Yard.“, kürzte Constanze den Vortrag ihre Mannes ab.

„Bewachen die euren Gast? Wer ist Sie überhaupt?“, fragte Sebastian.

„Wir nennen sie Cadence. Ihren richtigen Namen kennen wir nicht. Sie ist die Tochter eines Cousins des englischen Königshauses. Sie hat etwas Ärger mit der englischen Boulevard-Presse und musste kurzfristig aus England flüchten. Sie wollte für einige Zeit bei Onkel Arthur und Tante Emilie in Hannover übernachten. Leider hat die deutsche Presse davon erfahren und schon vor dem Schloss auf ihre Ankunft gewartet. Aus diesem Grund hat Scotland Yard kurzfristig umdisponiert und eine neue Unterkunft für das Mädchen gesucht. Onkel Arthur hat uns heute Morgen angerufen und uns gebeten, sie für einige Tage als Gast aufzunehmen. Als Gegenleistung für den Bentley, den du dir ausgeliehen hast, müssen wir ihm nun mit unserem Gästezimmer aushelfen.“

Beide schauten in das Wohnzimmer, wo die junge Dame in feinster englischer Manier Tee trank und ihrer Großmutter aufmerksam zuhörte, wie sie in alten Familiengeschichten schwelgte.

„Großmutter hat sofort das Gästezimmer herrichten lassen und mich angerufen. Vor einer Stunde ist sie hier eingetroffen. Das Problem ist, dass wir absolute Geheimhaltung gewährleisten müssen. Wenn herauskommt, dass wir die junge Prinzessin beherbergen, müssen sie sofort eine neue Unterkunft für die Prinzessin suchen“, meinte seine Schwester nachdenklich.

„Was hat sie denn so schlimmes getan?“, fragte Sebastian, während er sich ein Glas Wasser einschüttete und langsam trank.

„Sie wurde bei einem Vierer mit drei Jungs gefilmt“, antwortete Constanze sachlich korrekt.

Sebastian prustete das gesamte Wasser auf den Boden, weil er sich das nur schwer vorstellen konnte. Das Mädchen mit dem rosa Kleid wirkte bieder und wohlerzogen. Die Haare hinten zusammengebunden, eine akkurate Sitzhaltung auf dem Sofa und die Art, wie sie die Teetasse zum Mund führte, zeugten von einer erstklassigen Erziehung und Ausbildung. Solche erotischen Exzesse brachte man mit dem biederen Erscheinungsbild nicht überein.

„Der englische Geheimdienst ist nun damit beschäftigt die Videos dieses erotischen Abenteuers einzufangen und zu löschen. Leider erfuhr die Boulevard-Presse davon und stellte ihr nach. Aus diesem Grund entschied man sich, sie so lange außer Landes zu bringen, bis Gras über die Sache gewachsen ist.“

„Und welche Rolle kommt uns dabei zu?“, fragte Sebastian, während er mit einem Aufnehmer den Boden trockenwischte.

„Babysitter“, meinte seine Schwester. „Ihre Eltern möchten, dass Sie hier zur Ruhe kommt und mal was anderes sieht.“

„Das wird aber nicht gehen, wenn Scotland Yard mit einem englischen Wagen mit englischen Kennzeichen vor unserer Tür steht. Die Lokalpresse weiß um unsere Verbindung zum britischen Königshaus. Es braucht nur ein Reporter mal bei uns vorbeizuschauen und der zählt sofort eins und eins zusammen. Der englische Wagen ist selbst in einer Großstadt wie Düsseldorf viel zu auffällig.“

„Deswegen haben wir dich angerufen. Großmutter möchte, dass du dich um den Schutz der jungen Prinzessin kümmerst“, meinte Michael, der schweigend zugehört hatte.

„Das geht nicht. Ich muss ab Montag wieder arbeiten“, antwortete Sebastian flehend.

„Dann müssen wir uns irgendetwas einfallen lassen. Auf jeden Fall ist sie die nächste Zeit Großmutters Gast“, meinte Constanze und fing an, die Küche aufzuräumen.

Sebastian schaute sich das junge Mädchen genauer an, wie sie sich unschuldig und sympathisch lächelnd mit seiner Großmutter unterhielt. Langsam überlegte er, was er da gerade eigentlich sah: Eine naive junge Frau mit einem einmaligen erotischen Ausrutscher oder eine Aphrodite, die es faustdick hinter ihren schönen adligen Ohren hatte. Genau in diesem Moment schaute Cadence ihm direkt in die Augen. Er glaubte ein verschmitztes Funkeln erkannt zu haben.

TEIL 2

2.1

Samstag, 19. Juni

Gegen neun Uhr in der Früh bog Sebastian in die lange Auffahrt zum Schloss ein. Noch auf dem Weg dahin hatte er Charlene unter einem erfundenen Vorwand abgesagt: „Charlie, ich kann dieses Wochenende leider nicht zu dir kommen. Meiner Großmutter ging es gestern Abend gesundheitlich nicht gut und wir wollen uns um sie kümmern. Die Familie muss dieses Wochenende an ihrer Seite sein“, log Sebastian seine Freundin an. Er hasste es, die Unwahrheit zu erzählen.

„Oh mein Gott. Kann ich etwas für euch tun? Braucht ihr Hilfe?“, fragte Charlene mitfühlend.

„Nein, Danke. Es ist nur vorsorglich.“