Tödliche Vernissage - Olav Esters - E-Book

Tödliche Vernissage E-Book

Olav Esters

5,0

Beschreibung

Auf dem Laptop eines angesehenen Mülheimer Immobilienunternehmers wird kinderpornografisches Material gefunden. Der Essener Kommissar Sebastian von Plaunheim übernimmt mit seinem Team den Fall. Da kein weiterer Tatverdacht echter Pädophilie festgestellt werden kann, ist die Staatsanwaltschaft schon bereit, die Ermittlungen gegen ein Bußgeldverfahren einzustellen, als der Verdächtige mit mehreren Messerstichen ermordet aufgefunden wird. Erste Ermittlungen führen die Ermittler zu einer verlassenen Villa im Sauerland, die vor den Augen der Polizei von den Tätern gesprengt wird. Bei den kriminaltechnischen Untersuchungen entdeckt Sebastian von Plaunheim ein Foto seiner vor dreißig Jahren verschwundenen Schwester. Jetzt wird der Fall für den Kriminalisten und Hobby-Maler persönlich. Als Sebastian von Plaunheim im Laufe der Ermittlungen selbst angeschossen wird, entscheidet er auf eigene Faust weiter zu ermitteln. Gemeinsam mit seiner Galeristin, einem ehemaligen Zeugen und seinem langjährigen Schulfreund, löst Sebastian von Plaunheim diesen spannenden Fall. Nichts ist so, wie es scheint und jeder ist verdächtig. Ein spannender Krimi aus dem Herzen Nordrhein-Westfalens. Geschrieben wie das moderne Ruhrgebiet: Intelligent, ehrlich, herzlich.

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Disclaimer

Alle Personen und Orte sind frei ausgedacht. Ähnlichkeiten mit wirklichen oder lebenden Personen sind rein zufällig, aber auch eine Liebeserklärung an eine der spannendsten Regionen der Welt: Nordrhein-Westfalen

Für meine Mutter.

Inspiration, Motivation und bedingungslose Liebe.

Danke für alles.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

ERSTER TEIL

Kapitel 1.1

Kapitel 1.2

Kapitel 1.3

Kapitel 1.4

Kapitel 1.5

Kapitel 1.6

Kapitel 1.7

Kapitel 1.8

Kapitel 1.9

Kapitel 1.10

Kapitel 1.11

Kapitel 1.12

Kapitel 1.13

Kapitel 1.14

Kapitel 1.15

Kapitel 1.16

ZWEITER TEIL

Kapitel 2.1

Kapitel 2.2

Kapitel 2.3

Kapitel 2.4

Kapitel 2.5

Kapitel 2.6

Kapitel 2.7

Kapitel 2.8

Kapitel 2.9

Kapitel 2.10

Kapitel 2.11

DRITTER TEIL

Kapitel 3.1

Kapitel 3.2

Kapitel 3.3

Kapitel 3.4

Kapitel 3.5

Kapitel 3.6

Kapitel 3.7

Kapitel 3.8

Kapitel 3.9

VIERTER TEIL

Kapitel 4.1

Kapitel 4.2

Kapitel 4.3

Kapitel 4.4

Kapitel 4.5

Kapitel 4.6

Kapitel 4.7

FÜNFTER TEIL

Kapitel 5.1

Kapitel 5.2

Kapitel 5.3

Kapitel 5.4

Kapitel 5.5

Kapitel 5.6

Kapitel 5.7

Kapitel 5.8

Kapitel 5.9

Kapitel 5.10

Kapitel 5.11

Kapitel 5.12

SECHSTER TEIL

Kapitel 6.1

Kapitel 6.2

Kapitel 6.3

Kapitel 6.4

Kapitel 6.5

Kapitel 6.6

Kapitel 6.7

Kapitel 6.8

Kapitel 6.9.

Kapitel 6.10

SIEBTER TEIL

Kapitel 7.1

Kapitel 7.2

Kapitel 7.3

Kapitel 7.4

Kapitel 7.5

Kapitel 7.6

Kapitel 7.7

Kapitel 7.8

Kapitel 7.9

Kapitel 7.10

Kapitel 7.11

Kapitel 7.12

Kapitel 7.13

Kapitel 7.14

Kapitel 7.15

ACHTER TEIL

Kapitel 8.1

Kapitel 8.2

Kapitel 8.3

Kapitel 8.4

Kapitel 8.5

Kapitel 8.6

Kapitel 8.7

NEUNTER TEIL

Kapitel 9.1

Kapitel 9.2

Kapitel 9.3

Kapitel 9.4

Kapitel 9.5

Kapitel 9.6

Kapitel 9.7

Kapitel 9.8

Kapitel 9.9

Kapitel 9.10

Kapitel 9.11

ZEHNTER TEIL

Kapitel 10.1

Kapitel 10.2

Kapitel 10.3

Kapitel 10.4

Kapitel 10.5

Kapitel 10.6

Kapitel 10.7

Kapitel 10.8

ELFTER TEIL

Kapitel 11.1

Kapitel 11.2

Kapitel 11.3

Kapitel 11.4

Kapitel 11.5

ZWÖLFTER TEIL

Kapitel 12.1

Kapitel 12.2

Kapitel 12.3

Kapitel 12.4

PROLOG

Berlin, Montag, den 16. Juni 1986

Auf dem Kinderspielplatz am Böklerpark war heute wieder die Hölle los. Das sonnige Wetter lud dazu ein, die oftmals viel zu kleinen und dunklen Kreuzberger Wohnungen zu verlassen und das weite Grün mit dem blauen Himmel zu suchen, von dem die Sonne wie ein gelber, runder Strahler nicht nur die Umgebung, sondern auch die Gemüter der Menschen erhellte. Für einen Moment vergaßen die Berliner, dass sie auf einer Insel im sozialistischen Meer residierten, von der Außenwelt durch eine stadtumrundende Mauer getrennt und so vor dem Einfluss des sozialistischen Gedankenguts beschützt – oder umgekehrt.

Schon von Ferne hörte man Kinder lachen, schreien, streiten und toben. Mütter saßen in Gruppen auf den umliegenden Bänken, den Blick fest in Richtung Arena, wo die Kinderfestspiele stattfanden. Vielfach bepackt, als wollten sie eine ganze Woche hier verbringen; eine Mischung aus Catering-Unternehmen, Sicherheitsdienst und persönlichem Kaffeeklatsch. Vertieft in den neuesten Tratsch um Königshäuser, Ehemänner und Familienereignissen, deren Inhalte unwichtig waren, die Seele aber mit Energie auftankten, um den Ansturm der nächsten Wochen-Routine mit Kraft entgegenzutreten. Ein Auge immer auf den eigenen Nachwuchs gerichtet, um Gefahren und Unfälle durch Beobachtung zu vermeiden.

Keiner bemerkte die bordeauxrote Mercedes-Limousine mit westdeutschem Kennzeichen, die nur wenige Meter vom Spielplatz entfernt mit dem mächtigen Kühlergrill in Richtung Park auf der Prinzenstraße parkte. Hinter dem Lenkrad saß ein junger Mann, untersetzte Figur, dunkles volles Haar mit einem ausgeprägten markanten Gesicht. Eine verspiegelte, gold-umrandete Brille verdeckte sein sonnengebräuntes Gesicht. Vom Kinderspielplatz gut sichtbar, dennoch von niemandem beachtet.

Sein Interesse galt den spielenden Kindern, von denen er mit seiner schwarzen Nikon-Spiegelreflexkamera und dem 200mm Zoom-Objektiv immer wieder Fotos schoss. Er hatte schon drei Agfa-Filme verschossen, das gesuchte Motiv aber noch nicht gefunden.

Aber da! In einer siebenköpfigen Gruppe zehnjähriger Kinder stach ein junges, blondes Mädchen besonders hervor. Ihr schulterlanges, lockiges hellblondes Haar und das engelsgleiche Gesicht stachen heraus wie ein Goldfisch in einem Forellenteich. Das ganze Mädchen wirkte von edler Natur. Ihr Gesichtsausdruck trotz der jungen Jahre aristokratisch klar, der Kleidungsstil geschmackvoll aufeinander abgestimmt. Sie trug ein rotes Sommerkleid, das ihre in Ansätzen schon teenagerartige Figur eindrucksvoll betonte. Sie war ein Lichtblick im Grau und Braun des heruntergekommenen West-Berlins der Besatzungszeit und damit hell und andersartig, sodass Sie jedem Außenstehenden sofort auffallen musste.

Immer wieder knipste der Auslöser der Nikon und belichtete den eingelegten Kleinbildfilm. Ihr Gesicht von vorne, von der Seite, das gelockte, leuchtende Haar von hinten. Seine Suche hatte sich gelohnt. Er hatte gefunden, wonach es ihm verlangte. Jetzt musste er nur noch seinen langüberlegten, perfiden Plan umsetzen. Wie immer hatte er alles dabei. Es konnte nichts schief gehen.

ERSTER TEIL

1.1

Mülheim an der Ruhr, Mittwoch, den 17. März 2021

Der silberblaue BMW der Mülheimer Polizei fuhr rückwärts auf den Gehweg des Tourainer Ring. Nach fünf Metern erreichte er die gewünschte Parkposition und stellte den Motor ab. Es wurde ruhig im Wagen.

Diese Stelle war ideal für die Frühstückspause. Mitten in Mülheim, zentral gelegen an der Konrad-Adenauer-Brücke, konnten sie innerhalb weniger Minuten in allen vier Himmelsrichtungen ihre Ziele erreichen. Hinter ihnen lag der Fußweg in die Gerichtsstraße, rechts und links davon schützten sie Gebüsche vor unerwünschten Blicken. Die Autofahrer konzentrierten sich zumeist auf die Lichtsignale und den Straßenverkehr der großen Kreuzung, die nach Westen in Richtung Broich führte, im Osten waren sie schnell in Winkhausen, im Norden erwartete Styrum Recht und Ordnung und vor ihnen lag die Stadtmitte, die gerade ihr heruntergekommenes Bild veränderte und durch Neubauten in neuem Glanz erstrahlte.

Auf der Fahrerseite des sportlichen BMW saß Polizeikommissar Jens Borgmann, 31 Jahre. Auf der Beifahrerseite Polizeikommissarin Nadine Buschmann, 29 Jahre. Seit zwei Jahren fuhren sie schon zusammen Streife und kamen gut miteinander aus. Jens kam gebürtig aus Hamm und war Sohn einer klassischen Bergarbeiter-Familie, die das Ruhrgebiet über Jahrzehnte prägte, aber vom Aussterben bedroht war. Da Sport schon seit der Schulzeit seine Leidenschaft war und er keine Lust auf einen Bürojob hatte, entschied er sich nach dem Abitur für eine Anstellung bei der Polizei. Seit sechs Jahren war er ausgebildeter Kommissar und fuhr immer noch aus Überzeugung Streife. Langweilig wurde es hier nie. Als er vor vier Jahren seine aktuelle Lebensgefährtin und zukünftige Ehefrau in einem Ibiza-Urlaub kennenlernte, zog er nach wenigen Monaten in ihre größere und schönere Wohnung in Mülheim. Er beantragte die Versetzung und verrichtete seitdem in der Stadt an der Ruhr seinen Dienst. Seine sportliche, athletische Figur und der akkurate Sidecut-Haarschnitt der dunkelbraunen Haare ließen ihn in der dunkelblauen Polizei-Uniform attraktiver aussehen, als er sich selbst wahrnahm.

Bei Nadine konnte er damit nicht landen. Schon früh stellte sie fest, dass irgendetwas bei ihr anders war. Sie interessierte sich mehr für Mädchen als für Jungs, spielte dafür leidenschaftlich gerne Fußball und maß sich mit Sportfreunden im Karate.

Nach einem Einser Abitur verleugnete sie die akademische Laufbahn und entschied sich für eine Karriere bei der Polizei. Gegenüber ihren Eltern gab sie den Wunsch nach einer gerechteren Welt an. In Wirklichkeit war es aber das Abenteuer, das sie persönlich reizte. Ihr Ziel war es, schnell zur Kriminalpolizei aufzusteigen. Der Einsatz im Streifenwagen war eine gute Schule, aber definitiv nur ein Zwischenschritt auf der Karriereleiter nach oben.

Von außen betrachtet bildeten die beiden ein sehr schönes Paar. Und da die private Situation geklärt war, kamen sie wirklich gut miteinander aus. Nadine mochte die ruhige, besonnene Art von Jens und fühlte sich neben ihm sehr sicher. Jens wusste, dass er sich auch in brenzligen Situationen auf Nadine verlassen konnte und sie oftmals mehr Mut bewies als viele ihrer männlichen Kollegen.

„Hier dein Kakao und deine Mettbrötchen ohne Zwiebeln“, sagte Nadine und reichte Jens vom Beifahrersitz eine Milch-Verpackung und eine orangefarbene Brötchen-Tüte. Auf dem Weg von der Wache zu ihrer Warteposition waren sie noch schnell bei einer stadtbekannten Metzgerei vorbeigefahren und hatten sich für das zweite Frühstück eingedeckt. Im Auto frühstücken hatte etwas Gemütliches. Nadine konnte sich vorstellen, dass irgendwann einmal ein Restaurant aufmachen würde, indem feinstes Essen nur im Auto serviert wurde.

„Danke“, antwortete Jens und biss herzhaft in sein Mettbrötchen hinein. Nadine packte ihr Käsebrötchen aus und las die neuesten Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon. Alle sagten das Ende der Welt voraus, dass aber mit großer Wahrscheinlichkeit heute mal wieder nicht eintreffen würde.

Plötzlich meldete sich das Funkgerät: „Zentrale für 3113.“

Noch bevor Jens reagieren konnte, hatte Nadine das Mikrofon aus der Verankerung genommen und sich an den Mund geführt. Mit halbvollem Mund antwortete sie in ritualisierter Routine: „3113 hört.“

„Bitte nennen Sie Ihre Position, 3113.“

„Tourainer Ring, Kreuzung Konrad-Adenauer-Brücke“, erklärte sie vollständig.

„Eine Passantin, Frau Else Schenkenberg, meldet einen lautstarken Familienstreit im Winkhauser Talweg 170. Sie befürchtet, dass sich die Anwohner die Köpfe einschlagen könnten. Schaut Ihr mal nach?“

„Verstanden. Winkhauser Talweg 170, Frau Else Schenkenberg. Wir übernehmen.“

„Sonderrechte werden eingeräumt.“

Jens verschlang mit einem großen Bissen den letzten Rest seines Brötchens und startete den Motor des starken BMW. Nadine drückte die Knöpfe für Blaulicht und Martinshorn. Innerhalb weniger Sekunden genossen sie die komplette Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen. Zügig überquerten sie die Straßenkreuzung in Richtung Nordwesten, den Tourainer Ring hoch, bogen rechts ab in die Bruchstraße, überquerten die Eisenbahntrasse und bogen links in den Eppinghofer Bruch ein. Nach weniger als sechs Minuten erreichten sie den Winkhauser Talweg, wo eine siebzigjährige, nur einen Meter fünfzig kleine Frau mit einem viel zu großen Mantel bekleidet und einem kleinen Hund an der Leine sie aufgeregt winkend empfing.

Das Ziel war eine typische Achtzigerjahre Einfamilien-Reihenhaus-Siedlung. Immer drei Häuser standen in Reihe nebeneinander, rechts und links eingerahmt von einer bzw. zwei Garagen. Zwei Stockwerke wurden durch ein Faltdach abgerundet. Gepflegte Vorgärten zeugten von familiärer Idylle. Hier lebte die Mittelschicht. Familien, die gemeinsam etwas aufgebaut hatten und in gesicherten Verhältnissen ihre Kinder großziehen wollten.

Jens parkte den Funkstreifenwagen vor dem Haus und stieg aus. Ein mit Blaulicht heranrasender Streifenwagen brauchte sich um Aufmerksamkeit keine Sorgen zu machen, was auch heute wieder unter Beweis gestellt wurde. Mit Eintreffen der Polizei gafften Menschen durch ihre sauberen, weißen Vorstadtgardinen oder kamen gleich aus ihren Wohnungen, um das Geschehen zu beobachten. Die ersten Unbelehrbaren zückten schon Ihre Mobiltelefone, hoffend, hier eine Sensation zu filmen. Frei nach Andy-Warhols-Motto, wenigstens einmal im Leben für fünfzehn Minuten eine Berühmtheit zu werden.

„Sie haben die Polizei gerufen?“, fragte Jens die ältere Passantin, die sich durch ihr aufgeregtes Winken als Anruferin identifizierte.

„Guten Tag Herr Wachtmeister. Hier in diesem Haus schreien Sie sich schon seit über eine Stunde an und schmeißen die Möbel um. Ich habe Sorge, dass die sich noch die Köpfe einschlagen“, antwortete die alte Dame und zeigte mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand auf das mittlere Reihenhaus.

Jens fragte sich, warum keiner der Nachbarn die Polizei gerufen hatte, sondern erst diese alte Dame, die wohl mehr zufällig mit ihrem Hund beim Gassi-Gehen vorbeikam.

„Herzlichen Dank. Wir kümmern uns darum. Bitte treten Sie zu Ihrer Sicherheit zurück“, erklärte er und sah im Augenwinkel schon, dass seine Kollegin an der Tür stand und schellte.

Eine vierzigjährige Frau öffnete Nadine die Tür. Der an den Augenlidern verlaufene schwarze Lidstrich zeugte von Wut und Tränen und die Anspannung ihres Körpers wies auf Aggressionen hin. Noch bevor Nadine etwas sagen konnte, wurde sie von der Dame verbal empfangen.

„Sehr gut, dass Sie kommen, Frau Kommissarin. Mein Mann ist ein Pädophiler. Ich will, dass Sie ihn festnehmen.“

Nadine schaute an der Frau vorbei in das Haus. Auf den ersten Blick erschien die Einrichtung modern und aufgeräumt. Auf den zweiten Blick erkannte sie zerbrochenes Geschirr und umgeworfene Vasen, deren Splitter auf dem Boden von einer Auseinandersetzung zeugten. Jens und Nadine betraten mit Vorsicht das sehr modern und hochwertig eingerichtete Haus. Ein vier Meter langer Flur empfing sie, der auf der rechten Seite erst durch die Gästetoilette und dann von der Treppe in die oberen Stockwerke begrenzt wurde. Links gab eine offene Tür den Blick auf den Arbeitsbereich einer modernen Küche frei, deren schwarze Arbeitsplatte im Kontrast zum weißen Korpus und den hochwertigen Edelstahlgeräten stand. Am Ende des Flurs schloss sich ein circa fünfzig Quadratmeter großes Wohnzimmer an.

Das Wohnzimmer empfing die beiden Polizisten auf der rechten Seite mit einer neuwertigen weißen Wohnecke, links stand eine Esstisch-Garnitur aus Mooreiche mit sechs lederbezogenen Stühlen. Dunkle, aufeinander abstimmte Wandfarben zeugten von einem ausgewählten Farbkonzept. Auf der hellen Ledercouch kauerte ein Mann, zusammengekrümmt wie ein Häufchen Elend und das Gesicht in den Händen verborgen.

„Guten Tag, die Polizei ist da. Mein Name ist Nadine Buschmann, mein Kollege ist Jens Borgmann. Mit wem haben wir denn hier das Vergnügen?“, versuchte Nadine die Situation etwas zu entspannen.

„Clara von Anstedt und mein Mann Helge von Anstedt“, stellte die Hausbesitzerin sich und Ihren Ehemann vor.

„Was ist denn passiert?“, fragte Nadine in die Runde.

„Mein Mann ist ein Pädophiler. Nehmen Sie ihn fest“, warf Frau von Anstedt wieder ein und warf ihrem Mann einen Blick der Abscheu, Wut und Ungläubigkeit zu. Wohl in der tiefen Hoffnung, dass er endlich die Situation aufklären und sich alles als ein Albtraum herausstellen würde, das auf Missverständnissen beruhte.

„Ok, das sagten Sie schon. Woran machen Sie das denn fest?“, fragte Nadine die Wohnungsbesitzerin.

„Ich wollte unseren Sommerurlaub bestätigen und musste dazu einige E-Mails ausdrucken. Dazu habe ich mich an seinem Laptop angemeldet. Er hat immer noch das alte Passwort, weil er zu faul ist, dies zu ändern.“ Ihre Stimme wurde zum Ende des Satzes immer aggressiver. Wieder schaute sie ihn vorwurfsvoll an. „Und da habe ich diese Fotos hier gefunden.“ Sie nahm einen silberfarbenen Computer vom Esstisch und zeigte den beiden Beamten den Bildschirm. Sie sahen ein kleines Kind bei einer eindeutigen sexuellen Handlung mit einem erwachsenen Mann.

1.2

Sebastian von Plaunheim saß an seinem weißen Schreibtisch im Kommissariat an der Essener Zweigertstraße. Zurzeit war es ruhig in der Stadt, so dass er sich vorgenommen hatte, heute die überfälligen Berichte zu schreiben, vor denen er sich seit Wochen drückte. Den Tod der sechsundneunzigjährigen Frau aus Katernberg, den die Kollegen des Kriminaldauerdienstes als mögliches Fremdverschulden einordnete. Schon in der Pathologie wurde der These widersprochen. Oder der Bericht zum Tod des Obdachlosen, den eine Streife unter der Alfred-Herrhausen-Brücke fand. Mitten in der Stadt und doch so weit von der Gesellschaft entfernt. Die Kollegen fanden so viele blaue Flecke und Einstiche, dass sie ein Fremdverschulden nicht ausschließen konnten. Bei ihm hatte aber nur die Leber aufgrund übermäßigen Alkoholkonsums versagt. Die blauen Flecke konnte er sich im Streit mit Gleichgesinnten zugezogen haben.

Sebastian von Plaunheim war Oberhauptkommissar der Essener Kriminalpolizei und Leiter des Kriminalkommissariats 11, Abteilung Tötungsdelikte. Er war einundvierzig Jahre alt, einen Meter neunzig groß und hatte sich eine athletische Figur und ein jugendliches Äußeres bewahrt. Sein kurz geschnittenes, dunkles Haar betonte sein markantes Gesicht und ließen ihn ´gut aussehend´ und ´attraktiv´ erscheinen. Sebastian trat auch in brenzligen Situationen adrett gekleidet und vornehm charmant auf. Er selbst bemerkte, dass er auf andere Menschen beruhigend und vertrauenerweckend wirkte. Selbst die schwersten Verbrecher sahen in ihm oftmals nicht den Polizisten, sondern den ehrlichen Freund, dem sie ihr übervolles Herz ausschütten konnten.

Sebastians Karriere bei der Polizei war aber nicht vorbestimmt. Er entstammte der westfälischen Familiendynastie von Plaunheim, die zum alten deutschen Landadel gehörte und wie die Häuser Sachsen-Coburg und Gotha über mehrere Ecken mit den englischen Windsors verwandt waren.

Wenn es nach seinen Großeltern gegangen wäre, bei denen Sebastian nach dem frühen Tod seiner Eltern aufwuchs, wäre er heute Jurist, Apotheker, Maler, Journalist oder Buchautor. Polizist war definitiv in der Berufsauswahl der von Plaunheim nicht vorgesehen.

Da sein älterer Bruder die Karrierewünsche der Großeltern erfüllte und heute Staatssekretär im Finanzministerium war, konnte Sebastian als mittleres Kind die erkämpften Freiheiten ausnutzen und sich nach dem Abitur bei der Polizei bewerben. Sebastian faszinierte die Abwechslung und die Auseinandersetzung mit den Untiefen des realen Daseins. Er vermied das Leben in der adligen Blase, bei denen man über Geldsorgen, Migration oder Straftaten sprach, wie über mögliches intelligentes Leben auf dem Mars.

Sebastian bezeichnete sich selbst als Wahl-Proletarier und ging mit seiner adligen Herkunft humorvoll um. Unter Freunden kam es immer wieder vor, dass er ironisch argumentierte, dass er ja mit der englischen Königsfamilie verwandt wäre und deswegen bevorzugt behandelt werden müsste.

Aber weder im Job noch im Freundeskreis waren seine Abstammung oder Herkunft je ein Thema. Sebastian liebte das Eintauchen in die menschlichen Abgründe, das Katz und Maus-Spiel zwischen dem Bösen und dem Guten und die gute Kameradschaft, die ihn mit den vielen Tausend Polizisten in Deutschland verband.

Berichte schreiben aber gehörte definitiv nicht zu seinen favorisierten Beschäftigungen, da seiner Meinung nach nur der Bürokratie und Organisation gedient wurde, ohne Neues zu erschaffen. Bei vielen Fällen konnte er nachvollziehen, dass diese für die weitere Strafverfolgung dokumentiert werden mussten, aber es gab auch Berichte, deren Sinn sich ihm nicht erschlossen. Heute waren genau diese Fälle seine Tagesaufgabe und er hatte sich vorgenommen, diese mit großem Eifer und viel Disziplin anzugehen.

Er sortierte für den zweiten Bericht gerade die erforderlichen Unterlagen, als sein langjähriger Kollege Frederic Bosbach im Türrahmen erschien.

„Basti, ne Streife hat nen Pädophilen in Mülheim aufgegriffen. Wir sollen uns drum kümmern“, erklärte er wie immer kurz und präzise.

„Ist jemand tot?“

„Noch nicht, aber der Chef meinte, wir sollten uns das mal anschauen, bevor die Frau ihren Mann erschlägt.“

„Hat es uns nun nach Münster und Löchte auch erwischt“, kommentierte Sebastian sarkastisch, als Bosbach nach einem kurzen Schulterzucken wieder aus seinem Blickfeld verschwand.

Trotz der schlechten Nachricht verspürte Sebastian eine Genugtuung, wurde ihm gerade wieder ein guter Grund geliefert, seine ungeliebten Büroarbeiten zu verschieben. Sebastian heftete alle Dokumente in die zuständigen Ordner-Mappen zurück und legte diese in seiner Schreibtischschublade ab. Den Computer fuhr er durch Drücken einer Taste in den Stand-by-Modus herunter. Er nahm die kalte Heckler & Koch P30 aus der oberen Schreibtischschublade und steckte sie in das am Gürtel hängende Lederholster. Dann ging er über den Flur hinunter in das Nachbarbüro, wo Bosbach mit einem uniformierten Kollegen im Gespräch vertieft war.

Bosbach sah Sebastian aus dem Augenwinkel kommen und unterbrach sein Gespräch mit dem Kollegen. Zu Sebastian gewandt fragte er:

„Sollen wir den Beschuldigten hierherholen lassen oder willst du dich vor Ort umschauen?“

„Wo haben sie ihn denn aufgegriffen?“, fragte Sebastian.

„In Mülheim. Eine Streife wurde zu einer Ruhestörung gerufen. Die Ehefrau hatte die Bilder auf dem Computer Ihres Mannes gefunden und ihm eine Szene gemacht. Die Kollegen warten jetzt vor Ort auf weitere Anweisungen.“

„Wo ist das?“

Bosbach schaute auf einen handschriftlichen Zettel in seiner Hand und las vor: „Mülheim, Winkhauser-Talweg. KTU ist informiert. Hausdurchsuchung bei der Staatsanwaltschaft beantragt.“ Die Kriminaltechnische Untersuchung, kurz KTU, war eine Spezialabteilung, die sich um die Analyse technischer Geräte kümmerte.

„Sag der Streife Bescheid, dass wir uns das vor Ort anschauen, da erfahren wir vielleicht mehr über die Hintergründe“, antwortete Sebastian und ging seine Jacke holen.

1.3

Sebastian erkannte sofort den Zielort, als sie mit ihrem schwarzen VW Passat Kombi in den Winkhauser Talweg einbogen. In einer ruhigen Einfamilien-Reihenhaus-Siedlung standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei vor einem gepflegten Vorgarten.

Bosbach ging vor und klingelte als erster an der Haustür. Eine junge Polizistin öffnete den Kollegen die Tür.

„Guten Morgen, Frederic Bosbach und Sebastian von Plaunheim von der Kriminalpolizei. Wir sollen den Fall übernehmen“, stellte Bosbach sich und Sebastian vor.

„Guten Morgen, Nadine Buschmann und mein Kollege Jens Borgmann. Wir sind um 10:35 Uhr zu dieser Ruhestörung gerufen worden und haben Fotos mit pädophilem Inhalt entdeckt.“ Nadine Buschmann informierte die beiden Kollegen über den aktuellen Sachverhalt und führte sie durch den Flur ins Wohnzimmer.

Sebastian roch sofort den kalten Zigarettenrauch, der aus der Küche kam. Aus dem Augenwinkel sah er eine braunhaarige Frau an der Küchenzeile gelehnt nervös an einer Zigarette ziehen. Er kannte solche Situationen und schloss daraus, dass es sich dabei um die Ehefrau des Beschuldigten handeln musste. Man sah der Frau an, dass sie einige anstrengende Stunden hinter sich hatte. Er folgte weiter der jungen Polizistin. Das Haus war geschmackvoll und konzeptionell eingerichtet. Keine Farbe, kein Möbel, keine Dekoration war zufällig ausgewählt, alles passte zueinander und war farblich aufeinander abgestimmt.

Im Wohnzimmer angekommen erblickte Sebastian auf der rechten Seite eine große, beigefarbene, puristische Ledercouch, die von einem gläsernen Sofatisch mit schwarzem Metalluntergestell vervollständigt wurde. Auf dem Sofa saß ein Mann mittleren Alters, das Gesicht tief in den Händen versteckt.

Sebastian schaute sich den Mann genauer an. Mitte vierzig, kurzes, graumeliertes Haar, dazu hellblaue Jeans mit sportlichen weißen Sneakern an den Füßen.

Interessant, dachte Sebastian, Kinderpornografie ist klassenunabhängig. Es kann jedes Alter und jede soziale Schicht betreffen.

Sebastian setzte sich auf den Sessel gegenüber und schaute sich ein wenig im Zimmer um. Neben ein paar Hochzeitsfotos, welches das Paar deutlich jünger darstellte, erblickte er auf einer Anrichte das Modell eines gelben Porsche 911 aus den Siebzigerjahren im Maßstab 1:43. „Haben Sie einen alten Porsche 911er? Das ist genial. Ich selbst fahre bis heute einen Mercedes 280 SL Pagode, Baujahr `69. Das war der Lieblingswagen meines Vaters. Ich habe mir den Wagen vor über zwanzig Jahren von meinem ersten Gehalt als Polizist geleistet. Hatte keinen Bock auf den hohen Wertverlust eines Neuwagens. Heute ist er unbezahlbar geworden“, erklärte Sebastian begeistert.

Der Mann antwortete nicht. Es wäre auch zu einfach gewesen. Also fing Sebastian noch einmal ganz von vorne an.

„Guten Morgen, mein Name ist Sebastian von Plaunheim, das ist mein Kollege Frederic Bosbach. Wir sind von der Kriminalpolizei. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?“, fragte Sebastian, als ob er es nicht wüsste.

„Helge von Anstedt“, antwortete der Mann, ohne den Kopf zu heben.

„Guten Tag Herr von Anstedt. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“

„Ich bin selbständiger Immobilienmakler.“

„Aktuell ein sehr interessanter und lukrativer Job“, baute Sebastian gewohnt ruhig das Gespräch auf.

„Und Ihre Frau? Das ist doch Ihre Frau in der Küche?“

„Meine Frau ist Chef-Sekretärin bei einer Verwaltungsgesellschaft“, beantwortete der Mann pflichtbewusst die Frage.

„Herr von Anstedt, Sie wissen, warum wir hier sind? Darf ich fragen, ob der Laptop hier Ihnen gehört?“ Sebastian wies mit den Augen auf einen mobilen Computer, der neben dem uniformierten Polizeibeamten auf dem Esstisch lag.

Sebastian wartete ab, um seinem Gesprächspartner die Möglichkeit zu geben, eine Antwort zu überdenken.

„Ich möchte meinen Anwalt sprechen“, schoss der Mann hervor, so als würde es weniger weh tun, wenn er es schnell aussprechen würde. „Vorher sage ich nichts mehr.“

Sebastian schaute sich den Mann genauer an. Er stellte fest, dass in seinem Gesicht die Scham und Demuth einem Ausdruck der Entschlossenheit gewichen war. Dies überzeugte Sebastian darin, dass sie den Moment verpasst hatten, indem der Beschuldigte aus Reue sein Leid geklagt hätte.

„Selbstverständlich“, entgegnete Sebastian. „Dann führen wir unser Gespräch aber auf dem Revier fort.“ Er wartete noch einen Moment, bevor er dann aufstand, sich zu den beiden Streifenpolizisten umdrehte und diese bat, den Beschuldigen auf die Essener Hauptwache zu bringen, sobald die Kollegen übernommen hätten.

Er wandte sich an Bosbach: „Wann ist die KTU hier?“

„Müsste jeden Moment eintreffen.“

Sebastian bog auf dem Weg zur Eingangstür rechts in die Küche ab. Die Küchenzeile war in weißem Hochglanz gehalten, welches mit der schwarzen Marmor-Arbeitsplatte stark kontrastierte. Die Wohnungseigentümerin stand immer noch an der Küchenarbeitsplatte gelehnt, in ihrer Hand glühte eine frische Zigarette. Der Aschenbecher vor ihr war mit rund zehn abgebrannten Filtern Zeitzeuge ihrer Nervosität.

Sebastian ließ sich von Clara von Anstedt noch einmal kurz berichten, wie sie die Bilder heute Morgen entdeckt hatte. Außer noch mehr Scham und Verwunderung wusste sie aber nichts Neues zu berichten. Ihr Mann Helge war ein erfolgreicher Immobilienmakler mit eigener Agentur. Das Paar war kinderlos, im Mittelpunkt ihres Lebens stand immer die Arbeit. Sie reisten sehr gerne und hatten schon viel von der Welt gesehen. Dieses Jahr wollten sie auf die Galapagos-Inseln. Sie wollte dem Reisebüro eine E-Mail mit den Reisedaten übersenden, damit dieses die Reise buchen konnte. Dazu nutzte sie aus Bequemlichkeit den Rechner ihres Mannes, da sie ihren auf der Arbeit gelassen hatte. Bis dahin hatte sie keine Ahnung, dass ihr Mann sich für solche Fotos interessierte.

„Hatten Sie denn irgendwann einmal das Gefühl, dass Ihr Mann sich für Kinder interessieren könnte?“, fragte Sebastian Frau von Anstedt.

„Sie meinen, ob es bei uns im Bett noch funktionierte?“, fragte sie direkt zurück. „Nicht mehr so oft und so wild wie früher, aber ja, es funktionierte noch. Und nein, ich habe nie gemerkt, dass sich mein Mann für Kinder interessiert.“

Sebastian erkannte, dass Frau von Anstedt sichtlich erschöpft war und verschob die weitere Befragung auf einen späteren Zeitpunkt.

In der Zwischenzeit waren die Kollegen der KTU eingetroffen, grüßten kurz und begannen mit ihrer Arbeit.

Sebastian bedankte sich bei Frau von Anstedt und riet ihr, sich bei Bedarf psychologische Hilfe zu holen. Solche Ereignisse hatten immer viele Opfer. Dazu gehörten auch die Angehörigen.

„Warten wir erst einmal die technische Untersuchung ab“, sagte Sebastian zu Bosbach und beide beschlossen, den Tag mit einem gemeinsamen Mittagessen fortzusetzen.

1.4

Als Sebastian und Bosbach gegen vierzehn Uhr wieder auf dem Polizeirevier eintrafen, wurden sie sofort von Carls Sekretärin Larissa Rohrstedt in Empfang genommen. Larissa war eine junge Frau Mitte zwanzig mit langen, glatten blonden Haaren und einer schlanken, sportlichen Figur.

„Hallo Basti. Carl der Große möchte Euch in seinem Büro sehen.“

´Carl der Große´ war der Spitzname ihres Vorgesetzten Claudius Carl, Dienststellenleiter der Essener Kriminalpolizei.

Claudius Carl war 59 Jahre alt und ein typischer Vertreter des klassischen Ruhrgebiets. Hinter seiner nach außen oftmals schroff wirkenden Art war Carl warmherzig und verständnisvoll. Seinen Spitznamen hatte er durch seine Größe von nur einen Meter dreiundsiebzig, die aber seiner Autorität im Team keinen Abbruch tat. Carl trug zur Arbeit immer einen schwarzen Business-Anzug mit weißem Hemd und einer modischen Krawatte, an deren Binde man die Tageszeit ablesen konnte: Je lockerer der Knoten, desto näher der Feierabend.

Carl war bei seinem Team beliebt, da er alle gleich und fair behandelte. Nach seiner Einschätzung war das gesamte Ruhrgebiet ein Zuwandergebiet, das seit Ende des 19. Jahrhunderts permanent von verschiedenen Kulturen besiedelt wurde. Vor dem Krieg vorwiegend aus Polen und Pommern, nach dem Krieg verstärkt aus Italien, Spanien und der Türkei – und seit Neuestem aus Syrien und Afrika.

Aus diesem Grund waren für ihn alle Menschen gleich. Unterschieden wurde nur nach Gut und Böse. Für ihn bestand die Aufgabe der Polizei darin, dafür zu sorgen, dass die friedliebenden Menschen in Ruhe Ihrem Tagwerk nachgehen konnten, unabhängig von Herkunft, Kultur oder sexueller Neigung.

Machte einer seiner Mitarbeiter einen Fehler, kam es vor, dass dieser vor dem gesamten Team zusammengeschissen wurde; machte dieser seinen Fehler danach wieder gut, bekam der gleiche Mitarbeiter vor allen Leuten ein großes, ehrlich gemeintes Lob.

Bei seinen Kollegen und Vorgesetzten war Carl oft gefürchtet, weil er keinem Streit aus dem Weg ging, wenn er meinte, dass dies seinem Team helfen würde.

So führte er als Vorgesetzter sein Team durch den Sturm des oft chaotischen Polizeialltags, schützte sie gegen Feinde innerhalb und außerhalb der Behörde und sorgte dafür, dass jeder Mitarbeiter seinen Job machen konnte.

Seine größte Sorge bestand darin, dass seine Mitarbeiter zu viel Arbeit von anderen Abteilungen aufgebürdet bekämen. Deswegen war sein Standard-Satz in fast jeder Team-Besprechung: „Macht schnell, wir haben viel zu tun.“

„Ok, ich gehe eben bei Carl vorbei“, antwortete Sebastian spontan, drehte ab und ging direkt den Flur hinunter in das Büro seines Chefs. Sein Team nannte Carl nur beim Nachnamen, was Claudius Carl als Auszeichnung empfand, fühlte er sich so als Teil desselben.

Obwohl Claudius Carl eine Sekretärin beschäftigte, stand seine Tür jedem offen. Carl war kein großer Freund von Hierarchien, verstand aber, dass es in Organisationen immer einen geben musste, der die Verantwortung und damit die Entscheidung tragen musste. Und bei der Essener Kriminalpolizei war es Claudius Carl.

Als Sebastian an der Tür klopfte und in das Büro eintrat, saß Carl in seinem schwarzen Anzug und weißem Hemd bequem nach hinten gelehnt hinter dem massiven Schreibtisch. Der Krawattenknoten signalisierte, dass die Hälfte der Tagschicht schon geschafft war und es langsam dem Feierabend entgegenging. Unablässig schaute Carl auf sein Mobiltelefon, das er mit beiden Händen auf seinem ausgestreckten runden Bauch ablegte. Man wusste nie, ob er gerade Nachrichten las oder irgendwelche Spiele spielte. Ohne einen Blick von seinem Mobiltelefon zu nehmen, empfing er Sebastian direkt mit einer Ansage: „Haben wir jetzt auch unseren eigenen Pädophilen?“

Seine Sprache war eine moderne Mischung aus Dialekt und Wissenschaft: Obwohl er studiert hatte, sprach er noch den alten Ruhrgebietsdialekt. Seine Sätze waren kurz und prägnant, für Außenstehende oft hart, aber immer offen und fair. Der Dialekt ließ seine Aussprache wie einen Singsang erscheinen. Dies erweckte bei Menschen, die nicht aus dem Pott kamen, oftmals den Eindruck, er wäre einfältig oder dumm. Das war ein fatales Fehlurteil! Claudius Carl hatte eine bewundernswerte Beobachtungsgabe, ein ausgeprägtes Menschenverständnis und oft einen analytisch messerscharfen Verstand, den allerdings auch seine Mitarbeiter zu spüren bekamen.

„Guten Morgen Carl, das können wir noch nicht sagen. Die Ermittlungen sind noch zu früh“, antwortete Sebastian richtigerweise.

„Ich will über alles informiert werden“, sagte Carl und ergänzte „habe keinen Bock auf ungeliebte Überraschungen. Wir haben genug zu tun, brauchen nicht auch noch ein zweites Münster.“

Münster und Löchte waren zwei große Fälle von Pädophilie der jüngeren Zeit, die jedem Polizisten in schlechter Erinnerung waren.

„Verstehe“, antwortete Sebastian nachdenklich. „Wir müssen zuerst noch den Beschuldigten befragen, erst dann kann ich sagen, wie groß der Fall wirklich ist.“

„Vielleicht solltest du dich mal bei den Kollegen in Münster informieren. Die sind für den Pädophilenring zuständig und können dir sicher n bisschen mehr erzählen, als was du in der Zeitung nachlesen kannst.“

„Danke“, antwortete Sebastian ehrlicherweise. „Sobald ich mehr weiß, fahr ich in Münster vorbei.“

„Nee, noch diese Woche. Larissa wird dir einen Termin vereinbaren“, ergänzte Carl und schrie unvermittelt in Richtung der offenen Bürotür: „Larissa!“

Im Eingang erschien die junge Frau. Ihre Business-Kleidung unterstrich ihre sportliche Figur.

„Vereinbare für Basti mal bitte einen Termin beim Kollegen Schrader in Münster. Am besten für Freitag. Soll sich mal über die Gartenlaube informieren.“

„Alles klar, Chef“, antwortete Larissa höflich, lächelte Sebastian zustimmend zu, drehte sich dann auf ihren sieben Zentimeter Absätzen um und ging ihrer Arbeit wieder nach.

Sebastian verabschiedete sich in Richtung Verhörraum, wo Bosbach schon auf ihn wartete.

1.5

Leonard saß am Steuer seines großen Wagens und fuhr mit über hundertachtzig Stundenkilometer der A3 entlang in Richtung Frankfurt am Main. Im Radio lief klassische Musik, ein Kulturgut, dachte Leonard, dass leider aktuell vom Aussterben bedroht war. Wie schön waren frühere Zeiten, als Rebroff und Kavallie zu den Top-Stars dieser Republik gehörten und selbst in Samstagabendshows Arien von Mozart und Vivaldi Erwachsenen und Kindern aller Gesellschaftsschichten als Unterhaltung dienten. Heute kennen Jugendliche die Neunte von Beethoven nur noch als Klingelton ihres Mobiltelefons.

Er kam gerade von einem Geschäftstermin in der Nähe von Köln, wo er sich selbst davon überzeugte, dass die Projekte in seinem Unternehmen rund liefen. Er hatte im Moment verlässliche Partner und damit wenig Stress. Das ermöglichte ihm, sich mehr auf seine großen Ziele zu konzentrieren.

Er war stolz darauf, was er in den letzten Jahren aufgebaut hatte. Seine Umsätze liefen sehr gut. Und auch privat kam er im Moment voll auf seine Kosten. Er konnte sich nicht beschweren, das Leben liebte ihn.

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ein Mobiltelefon auf dem Beifahrersitz klingelte. Er besaß zwei davon – eines für berufliche Anrufe, eines für private. Es war das Private.

Da er ledig war und keine Kinder besaß, hatten nur wenige Leute diese Telefonnummer. Er ging mit seinen Telefonnummern immer sehr vorsichtig um, denn er glaubte fest an die Überwachungsmöglichkeiten des Staates und seiner Organe. Die Berichte über Trojaner, Abhörfunktionen und Datenspeicherung waren für ihn nicht nur Ideen irgendwelcher Spinner, sondern eine existente Bedrohung. Vor allem, wenn man machte, was er machte. Aus diesem Grund erwartete er von seinen Anrufern, dass sie ihre Nummern unterdrückten, wie er seine Nummer ja auch unterdrückte.

„Ja“, meldete er sich formlos.

„Ich bin´s“ antwortete eine männliche Stimme auf der Gegenseite.

„Was gibts?“

„Die Polizei hat heute Morgen den Immobilienmakler hoch-genommen.“

„Wie kommts?“, fragte Leonard kurz und knapp.

„Seine Frau hat den Laptop benutzt und die Fotos gefunden.“

„Scheiße“, entfuhr es Leonard. „Die sollten längst gelöscht sein. Hat die Polizei auch das Handy gefunden?“

„Er sagte, das wäre an einem sicheren Ort.“

„Ok. Das heißt also, die Bullen haben nur die zweiundfünfzig Bilder?“, resümierte Leonard für sich selbst.

„Ja, das ist mein aktueller Kenntnisstand.“

„Wo ist der Immobilienidiot gerade?“

„Auf der Polizeiwache“, antwortete der andere.

„Gut, ich kümmere mich darum.“ Er legte unvermittelt auf.

Schon lange hatte er mit so einem Anruf gerechnet. Irgendwann musste es mal passieren. Schon zu lange war es gut gegangen. Er hatte aber vorgesorgt und war sich sicher, dass seine Sicherheitsvorkehrungen jetzt greifen würden. Persönlich mochte er den Immobilienmakler und in gewisser Weise tat ihm seine Frau auch leid, aber das war etwas Persönliches zwischen den beiden Eheleuten. Mitleid war nicht sein Ding. Seine Aufgabe war es, die Gruppe zu beschützen. Dabei waren Gefühle nur störend. Genau das war der Grund, warum er ausschließlich mit Leuten arbeitete, die kinderlos waren. Er hasste diese Gefühlsduselei.

1.6

Die Räume des KK 11 begannen direkt neben Carls Büro. Sebastian ging den Flur hinunter und traf Bosbach im ersten Büro an.

„Helge von Anstedt wartet schon im Verhörraum“, begrüßte ihn Bosbach mit einer direkten Information. „Übernimmst du das Verhör?“, fragte er Sebastian und gab sich selbst die Antwort „Ich warte hinter der Scheibe. Sobald wir neue Informationen aus der KTU haben, gebe ich dir Bescheid.“

Sebastian nahm eine dunkelgrüne, abgewetzte DIN-A4 Kladde von Bosbach entgegen, bei der man anhand der durchgestrichenen Eintragungen auf dem Deckblatt erkennen konnte, wie viele Nachrichten sie innerhalb der Behörde schon transportiert hatte. Er ergänzte die Kladde durch einen roten Kugelschreiber mit der Aufschrift ´Express-Pizza´ und las noch einmal in Ruhe alle bisher gesammelten Informationen zur Tat durch. Zu einem seiner Rituale gehörte es, dass er sich vor Verhören ein paar Sekunden Zeit nahm, um sich zu konzentrieren. Er wollte jedem Verdächtigen neutral und aufmerksam gegenübertreten. Dies war vor allem bei Straftätern wichtig, deren Vergehen bei Menschen eine natürliche emotionale Gegenreaktion auslösten. Und das war bei Mord und Totschlag in fast allen Fällen der Fall. Wie ein Arzt benötigte er als Ermittler die professionelle Distanz, um seine persönlichen Gefühle von seiner Arbeit als Polizist zu trennen. Sein Job war es, die Straftaten nachzuweisen. Anklage und Verurteilung übernahmen dann Instanzen der Judikative.

Noch einmal atmete Sebastian kräftig durch und öffnete dann mit einem kräftigen Ruck die Tür zum kleinen Verhörraum. Das Spiel konnte beginnen!

Der Raum war dreißig Quadratmeter groß und fensterlos. Die Luft roch trotz laufender Klimaanlage etwas stickig und verbraucht. Der leicht ranzige Geruch von Angstschweiß schlug ihm entgegen. Die Neonröhren erzeugten ein kaltes Kunstlicht, welches die weiße Gesichtsfarbe des Verdächtigen noch blasser erscheinen ließ. Hinter dem Tisch kauerte Helge von Anstedt. Er saß auf dem vorderen Drittel seines Stuhls, die Arme auf seine Beine gestützt, die Hände nervös reibend. Jeder Einzelne seiner Muskeln war angespannt und signalisierte Fluchtbereitschaft. Sebastian erkannte kleine Schweißperlen auf seiner Stirn, die zusammen mit der Körperhaltung auf Unsicherheit und Stress hindeuteten.

In der Mitte des Raumes stand ein weißer Resopal-Tisch mit vier metallenen Stühlen. Die gesamte Szene wirkte nicht einladend, sondern eher formell. Ein Raum, in dem man nicht länger als nötig bleiben wollte.

Als einziges technisches Equipment wartete auf dem Tisch ein schwarzes Aufnahmegerät darauf, den Beweis menschlicher Abgründe aufzuzeichnen.

„Guten Tag Herr von Anstedt. Wir kennen uns schon, mein Name ist Sebastian von Plaunheim. Ich bin der leitende Ermittler in Ihrem Fall. Mein Ziel ist es, zu verstehen, warum sich Bilder mit pädophilem Inhalt auf Ihrem Computer befanden.“

Sebastian setzte sich und breitete seine Unterlagen demonstrativ offen auf dem Tisch aus.

„Hat man Ihnen schon etwas zu trinken angeboten?“, fragte Sebastian unvermittelt und schaute sich auf dem Tisch suchend um. Ihm viel selbst auf, dass auch sein Mund aufgrund der Anspannung trocken geworden war.

„Nein.“

„Darf ich uns etwas zu trinken besorgen, vielleicht ein Glas Wasser?“

„Gerne“ antwortete Helge von Anstedt vorsichtig.

Sebastian stand auf, ging zur Tür und rief in kurzen knappen Sätzen in den Gang: „Können wir was zu trinken bekommen? Wasser genügt. Danke.“

Sebastian nahm wieder in aller Ruhe gegenüber Helge von Anstedt Platz und sortierte noch einmal die Unterlagen, die Bosbach ihm zusammengestellt hatte.

Die Tür öffnete sich und eine ältere uniformierte Polizistin brachte eine große Kunststoffflasche Mineralwasser mit zwei Pappbechern, die sie in der Mitte des Tisches platzierte und wie in einem guten Restaurant jeweils zur Hälfte einschüttete. Sebastian beobachtete die Szenerie aufmerksam und bedankte sich bei der Kollegin für den guten Service.

„Herr von Anstedt, Sie sind von Beruf selbstständiger Immobilienmakler und besitzen ein gut gehendes Büro in der Nähe von Düsseldorf. Ist das richtig?“, fragte Sebastian, um erst einmal das Eis zwischen beiden zu brechen.

„Ja“ war die kurze Antwort.

„Sehr gut. Und Ihre Frau …“ Sebastian durchsuchte die Unterlagen, bis er den Namen fand, „Clara von Anstedt – hat heute Morgen Ihren Computer benutzt, um eine Reise auf die Galapagos-Inseln zu buchen. Sehr schöne Reise. Dahin würde ich auch gerne mal verreisen.“

„Ja, meine Frau und ich lieben die Tierfotografie. Wir wollen dort Aufnahmen der berühmten Galapagos-Schildkröte machen“, erklärte von Anstedt unaufgefordert.

„Ein sehr schönes Hobby. Das Problem ist nur, dass Ihre Frau dabei Fotos mit pädophilem Inhalt auf Ihrem Rechner entdeckt hat. Ist das auch ein Hobby von Ihnen?“

Sebastian legte eine Pause ein. Er sah, wie Scham Helge von Anstedt übermannte. Seine Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Puterrot, seine Augen kämpften mit den Tränen. Seine Lippen formulierten erste Antworten, die aber nie seine Stimmbänder erreichten. Es war so einfach und fiel doch so schwer. Denn es war keine Frage, sondern Fakt, dass sich kinderpornografische Bilder auf seinem Rechner befanden.

Sebastian sah, wie Helge von Anstedt überlegte, nachdachte, eine Antwort in seinem Kopf formulierte, diese dann aber doch wieder verwarf. Sebastian hielt die Stille aus. Er wusste, dass viele Menschen die Ruhe nicht aushielten und anfingen zu reden.

„Es ist alles ganz anders, als Sie denken“, hörte Sebastian leise von seinem Gesprächspartner.

„Dann erklären Sie es mir: Was ist ganz anders?“, fragte Sebastian deutlich.

Er sah, wie Helge von Anstedt zu einer Erklärung für das gefundene Beweismaterial ansetzen wollte, da öffnete sich mit einem lauten Ruck die Tür des Verhörraums. Ein groß gewachsener Mann um die fünfzig Jahre mit einer modischen, schwarzen Brille und dunklem, nach hinten gegeltem Haar, stand mit einem gewinnenden Lächeln in der Tür, als hätten alle auf ihn gewartet. Er trug einen eleganten, blauen Maßanzug mit handgenähten, braunen Schnürschuhen und farblich abgestimmtem Gürtel. An den Sakko-Ärmeln lugten die weißen Hemdmanschetten des hellblauen Businesshemdes hervor. Die goldfarbenen Manschettenknöpfe und die Rolex an der rechten Hand waren nur schwer zu übersehen.

„Dr. Gottlieb Reichenthaler. Ich bin nicht nur die rechte Hand Gottes, sondern auch der rechtliche Beistand von Herrn von Anstedt“, stellte er sich unaufgefordert vor. „Herr von Plaunheim, Sie wollten doch wohl nicht ohne mich anfangen?“ Die Ironie war schwer zu überhören.

Dr. Reichenthaler ging um den Tisch und setze sich auf den Stuhl neben seinem Mandanten. Er legte unaufgefordert den Inhalt seiner schwarzen Aktentasche auf den Schreibtisch, als wollte er hier sein neues Büro einrichten. Unverhohlen offen platzierte er einen großen Schlüsselbund mit einem auffälligen Porsche-Anhänger vor sich auf dem Tisch. Es schien fast so, als wollte er damit seinen Status in der Gruppe definieren.

Er schaute kurz seinen sprachlosen Mandanten an und nahm sofort das Zepter in die Hand. An den Kommissar gerichtet sagte er: „Herr von Plaunheim, könnten Sie mir bitte auch ein Glas Wasser besorgen? Die Luft hier drin ist sehr trocken. In der Zeit werde ich mich kurz mit meinem Mandanten abstimmen, danke.“

Sebastian wusste, dass der ´normale` Teil des Verhöres vorbei war und es ab jetzt schwerer wurde.

Sebastian packte die Unterlagen zusammen, steckte sie unter den Arm und ging auf den Flur, um das gewünschte Getränk für den neuen Gast zu besorgen.

Wieder zurück nahm Dr. Reichenthaler erst einen Schluck Wasser und dann den Gesprächsfaden unaufgefordert auf. Sofort begann er mit seinem vorher eingeübten Vortrag:

„Mein Mandant räumt ein, dass er im Besitz kinderpornografischer Fotografien war. Diese sind ihm leider unaufgefordert zugesandt worden. Dennoch hat er sich nach §184b Absatz drei Strafgesetzbuch schuldig gemacht. Es ist ihm aber zugutezuhalten, dass er diese weder verbreitet noch selbst sexuelle Handlungen an oder mit Kindern vorgenommen hat. Er war einfach einmal neugierig, was schlimm genug ist. Es war dumm, diesen Vorgang nicht sofort bei der Polizei anzuzeigen. Dummheit wird aber nach unserem Strafgesetz nicht bestraft, nur die jeweilige Tat. Deshalb weist mein Mandant auch jedwede pädophilen Neigungen von sich. Er ist Opfer, nicht Täter“, schloss Reichenthaler das unaufgeforderte Plädoyer. Während der ganzen Zeit schaute der Jurist Sebastian an, während Helge von Anstedt mit offenem Mund staunend neben seinem Anwalt saß und interessiert zuhörte.

„Herzlichen Dank für die treffende Analyse, Herr Dr. Reichenthaler. Aber wir sind noch gar nicht so weit, dass wir ihn anklagen, wir möchten erst einmal die Hintergründe verstehen.“

„Herr von Plaunheim,“ begann Reichenthaler jovial, „ich schätze die Arbeit der Essener Kriminalpolizei sehr, ohne sie würde im Ruhrgebiet Sodom und Gomorra herrschen. Aber Sie wissen doch genauso wie ich, dass allein der Besitz solcher Fotos in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken könnte, mein Klient würde zu Sex mit Kindern neigen. Wenn das herauskommt, wird nicht nur mein Mandant bestraft, sondern auch seine Familie, die mit alledem nichts zu tun hat. Aus diesem Grund bitten wir um absolute Geheimhaltung, solange die Schuld meines Klienten nicht einwandfrei bewiesen ist.“

Sebastian erinnerte sich an den Fall eines berühmten Sportlers. Unaufgefordert hatte er von seinem Mobiltelefon Bilder mit pädophilem Inhalt an eine Freundin versandt. Beide wurden wegen Besitzes dieser Fotos vom Gericht bestraft. Vorab aber berichtete die Boulevard-Presse ausführlich über den Fall ohne Rücksicht auf die Betroffenen. Der Ruf beider Personen war schon dahin, da hatte der Prozess noch gar nicht begonnen.

„Aus diesem Grund verweigert mein Mandant erst einmal die Aussage, bis wir uns ein Gesamtbild der Lage verschafft haben“, führte der Anwalt weiter aus. „Da mein Mandant ein angesehener Bürger der Stadt Mülheim ist und ein eigenes Immobilienbüro leitet, besteht keinerlei Fluchtgefahr. Herr von Anstedt wird die Region in den nächsten Tagen nicht verlassen und steht Ihnen – selbstverständlich nach Absprache mit mir – für weitere Gespräche zur Verfügung. Mein Mandant wird Sie bei der Aufklärung dieses Falles mit seiner gesamten Kraft unterstützen“, führte Reichenthaler unaufgefordert aus und schaute dabei seinen Mandanten an, Zustimmung schon vorausgesetzt.

„Zur Aufklärung des Falles haben wir aber noch ein paar Fragen. Woher hat Ihr Mandant die Bilder? Wie hat er sie erhalten? Hat er sie an jemanden weitergeleitet? Gab es praktische sexuelle Handlungen an Kindern?“, fragte Sebastian.

„Herr von Plaunheim, Sie wissen, dass mein Mandant sich nicht äußern muss, wenn er sich selbst belasten könnte. Mein Mandant macht von seinem Aussageverweigerungsrecht nach §§52 StGB fortfolgende Gebrauch und möchte diese Fragen nicht sofort beantworten. Ich würde mich gerne erst einmal mit meinem Mandanten abstimmen und Ihnen dann die Fragen schriftlich beantworten. Ich denke, Sie gehen damit d´accord.“ Reichenthaler war mit seinem Vortrag zu Ende und absolut von sich selbst begeistert. „Ich gehe davon aus, dass Sie keinen Haftbefehl gegen meinen Mandanten haben?! Von daher denke ich, dass wir die Vernehmung hier beenden. Ich werde mich mit meinem Mandanten besprechen und mich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden. Bitte senden Sie meinem Büro eine Kopie Ihrer Ermittlungsergebnisse zu und reichen Sie Ihre Fragen schriftlich bei meiner Sekretärin ein. Herr von Anstedt kennt seine staatsbürgerlichen Pflichten und wird diesen selbstverständlich nachkommen.“ Während der letzten Sätze stand Dr. Reichenthaler schon auf, packte die gerade erst auf dem Tisch verteilten Unterlagen wieder zusammen, schloss seine Aktenmappe und zog seinen Mandanten mit einem formellen ´Auf Wiedersehen´ aus dem Raum.

Die ganze Szene dauerte nur wenige Minuten. Für einen unerfahrenen Polizeibeamten, der solche Situationen vorher noch nicht erlebt hatte, musste es wie ein schlechter Film vorkommen. Für Sebastian war es polizeilicher Alltag.

1.7

Sebastian stand in der offenen Tür des Verhörraums und schaute Reichenthaler und seinem Mandanten noch ein paar Sekunden hinterher. Bosbach kam aus dem gegenüberliegenden Büro und beobachtete die Szene ungläubig.

„Was war das denn?“, fragte er.

„Ein Anwaltstsunami“, erklärte Sebastian. „Von Anstedt wird jedenfalls zur Aufklärung des Falles nichts mehr beitragen. Er gibt den Besitz zwar zu, aber nicht den Konsum.“

Bosbach nickte kurz.

„Sag mal hast du mitbekommen, wann von Anstedt seinen Rechtsanwalt angerufen und informiert hat?“, fragte Sebastian unvermittelt und etwas ratlos.

„Nein, bei mir hat er keinen Anruf getätigt. Und sein Mobiltelefon hat die KTU in der Wohnung eingesackt.“

„Merkwürdig“, sinnierte Sebastian. „Dann müsste er den Verteidiger noch vor unserem Eintreffen benachrichtigt haben. Aber da wusste er ja noch gar nicht, dass wir ihn mitnehmen werden.“

Bosbach fand das jetzt nicht so spannend und fuhr lieber mit aus seiner Sicht wichtigeren Neuigkeiten fort.

„Die Presseabteilung hat sich bei uns gemeldet. Sie fragten, ob es sich bei unserem Fall nun auch um einen Pädophilenring wie in Münster handelt. Ich habe erst mal eine Nachrichtensperre verhängt, aber es gibt schon die ersten Filme in den sozialen Netzwerken von der Festnahme von heute Morgen.“

Sebastian überraschte es immer wieder, wie schnell sich Polizeieinsätze in den sozialen Medien verbreiteten, wenn sie sich nicht verbreiten sollten. Die Erfindung des Smartphones mit Kamerafunktion war nicht immer ein Segen.

„Publicity können wir jetzt am wenigsten gebrauchen. Gut gemacht. Gibt es Neuigkeiten aus der KTU?“

„Ja“, antwortete Bosbach. „Die Ermittlungen dauern zwar noch an, aber ich hatte mir für die Vernehmung mal einen Zwischenstand geben lassen. Demnach befanden sich zweiundfünfzig Fotos mit kinderpornografischen Inhalten auf seinem Rechner. Nicht alle sind eindeutig der Pädophilie zuzuordnen. Bei einigen Darstellern ist das Alter nicht definierbar. Sie könnten auch über achtzehn Jahre alt sein. Aber es gibt wohl auch Fotos, deren Aussagen sehr klar sind.“

„Ich werde nie verstehen, was Menschen daran finden. Sonst noch was?“, fragte Sebastian.

„Von Anstedt hat den Thor-Browser auf seinem Computer installiert. Wir können also davon ausgehen, dass er die Bilder im Darknet heruntergeladen hat“, erklärte Bosbach voller Überzeugung. Der Thor-Browser war das Tor in einen geschützten Bereich des Internets, in denen User anonym surfen konnten. Im sogenannten Dark-Net gab es mehrere tausend Foren, in denen alles angeboten, besprochen oder diskutiert wurde. Vom Handel mit Drogen über der Anleitung zum Bau einer Bombe bis zum Erwerb und Austausch pädophiler Bilder war alles dabei. Ein rechtschaffener Bürger hatte diesen Browser normalerweise nicht auf dem Rechner, da er nicht im Standard ausgeliefert wurde.

„Haben wir auch sein Mobiltelefon untersucht?“

„Das Mobiltelefon ist unauffällig. Es scheint so, als wenn er damit nur seine Kunden und seine Frau angerufen hat.“

„Merkwürdig …“, sinnierte Sebastian und wechselte gedanklich das Thema. „Carl hat für mich einen Termin bei den Kollegen in Münster organisiert. Ich soll mich über die Ermittlungsarbeit und die Erkenntnisse der Kollegen vor Ort informieren. Bis dahin sollten wir auch alle Informationen aus der KTU haben. Könntest du bitte auch einmal die Kontobewegungen der von Anstedt und seiner Immobilienfirma prüfen? Vielleicht erkennen wir da irgendwelche Besonderheiten“, wies Sebastian seinen Kollegen an.

„Habe ich schon auf den Weg gebracht. Ich habe auch seine Frau für morgen früh als Zeugin einberufen, wenn das für dich ok ist?“ Bosbach liebte es, die Arbeit des Teams zu organisieren. Er fühlte sich dann immer wie ein Manager, der den Ball nach vorne spielte und so Prozesse am Laufen hielt.

„Ja klar. Dann gehe ich mir jetzt erst einmal einen Kaffee holen.“

Sebastian stellte fest, dass er nach der ganzen Aufregung Appetit verspürte, legte seine Unterlagen in die oberste Schreibtischschublade und machte sich auf den Weg zur Polizeikantine im Untergeschoss.

Als er auf die große, steinerne Haustreppe einbog, hörte er von unten das helle Klackern hoher Damenabsätze. Eine hochgewachsene Frau stieg auf eleganten, schwarzen Pumps die Treppe hinauf. Ihre brünetten Haare waren hinten zu einem Zopf zusammengebunden, eine rosafarbene Seidenbluse mit passendem dunklem Blazer unterstrich ihren formalen Businesslook. Ein grauer Wollrock endete knapp über den Knien und gab gerade so viel von den Beinen frei, dass sie als Frau erkennbar war, aber mit ihren Formen nicht reizte. Bestimmt war sie hübsch, dachte Sebastian, aber für ihn war sie vor allem eins: Intelligent, verlässlich und seine Vorgesetzte. Es war die Staatsanwältin Frau Dr. Sarah Bergmann. Nur noch wenige Schritte trennten einander, da schaute Frau Dr. Bergmann die Treppe hinauf und entdeckte den leitenden Ermittler.

„Herr von Plaunheim“, rief Frau Dr. Bergmann begeistert, als sie ihn erblickte. „Sehr gut, dass ich Sie treffe. Eigentlich bin ich auf dem Weg zu Herrn Carl, aber Sie wollte ich auch noch sprechen.“

Obwohl sie sich nun schon über fünf Jahre kannten, siezten sie sich immer noch. Frau Dr. Bergmann wusste um ihre Rolle im Ermittlungsprozess und dass sie nicht immer die Interessen der Polizei vertreten konnte. Das formale ´Sie´ ermöglichte ihr, den benötigten Abstand zu ihren Mitarbeitern zu wahren. Sebastian wusste um ihre Zwänge als Staatsanwältin. Dennoch hatten sie bisher immer einen Weg gefunden, die Ermittlungen erfolgreich abzuschließen.

Sebastian platzierte sich in einer kleinen Fensternische, von der er einen guten Überblick über den Flur besaß und mit großer Wahrscheinlichkeit nicht belauscht werden konnten. Die Staatsanwältin folgte ihm unaufgefordert.

„Ich habe gehört, wir hatten heute Morgen einen Fall von Kinderpornografie?“, kam sie unverblümt auf den Punkt.

„Wissen wir noch nicht. Eine Polizeistreife in Mülheim hat nach einer gemeldeten Ruhestörung kinderpornografisches Material sichergestellt“, erklärte Sebastian ordnungsgemäß. „Viel mehr wissen wir aktuell auch noch nicht.“

„Glauben Sie, dass wir in Essen einen Fall ´Münster´ haben?“ Die Staatsanwältin wirkte besorgt. Die Pädophilenringe von Münster und Löchte waren innerhalb der Polizei berüchtigt. Die Aufklärung dieser Fälle verursachte damals viel Arbeit, sorgte für schlechte Presse und noch mehr ekliger Bilder, die von Kollegen und Kolleginnen gesichtet und untersucht werden mussten. Dies hatte bei vielen Polizeibeamten zu psychischen Problemen geführt, die bis zur Aufgabe des Berufs geführt hatten. Ein Umstand, den man nicht wirklich in einer Polizeidienststelle brauchte.

„Kann ich im Moment noch nicht sagen. Wir warten noch die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung ab. Erste Erkenntnisse ergeben aber, dass wir es wohl mehr mit dem Besitz pornografischer Medien zu tun haben als mit dem Vollzug.“

Er konnte in ihrem Gesicht sehen, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Die vorher angespannten Gesichtszüge entspannten deutlich und ließen sie attraktiver erscheinen.

„Gut, ich habe nichts dagegen. Bitte informieren Sie mich regelmäßig über den aktuellen Stand der Ermittlungen. Wenn Sie Unterstützung benötigen, geben Sie mir bitte Bescheid“, erklärte Frau Dr. Bergmann und drehte sich so unvermittelt um, wie sie Sebastian angesprochen hatte. Für sie war das Gespräch mit den guten Nachrichten beendet.

Er sah ihr noch kurz nach, wie sie den langen Flur in Richtung Carl dem Großen entlangschritt. Die Frage war absolut berechtigt, dachte er. Womit haben wir es hier eigentlich zu tun? Nur den Besitz einiger unsittlicher Fotos? Oder doch die Spitze eines systematischen Pädophilenringes, wie sie in den letzten Jahren in Münster und Löchte aufgedeckt wurden. ´Wenn das der Fall ist, Gnade uns Gott´, dachte Sebastian und nahm seinen Weg in die Kantine wieder auf.

1.8

Pünktlich um siebzehn Uhr sah Sebastian auf seine Armbanduhr. Es war Zeit, sich auf den Feierabend vorzubereiten. Um achtzehn Uhr begann sein Ehrenamt als Assistenz-Trainer in einem Mülheimer Kampfsport-Verein. Nach dem frühen Tod seiner Eltern hatten Sebastians Großeltern ihn in einem Judoverein angemeldet, damit er seinen Bewegungsdrang und seine Aggressionen loswerden konnte. Dem jungen Sebastian taten Anerkennung und Wertschätzung gut, die er auf sportlicher Ebene erfuhr. Er war talentiert und arbeitete sich schnell bis zum 1. Dan hoch, den viele Außenstehende als schwarzen Gürtel kannten.

Aufgrund seines Talents wechselte er als junger Erwachsener von Düsseldorf nach Mülheim in einen Leistungssportverein, bei dem er seine sportlichen Ziele besser verwirklichen konnte. Sein größter Erfolg war der zweite Platz in der Altersgruppe U18 bei den deutschen Judo-Meisterschaften. Mit Eintritt des Berufslebens und einem Kreuzbandriss war die sportliche Karriere schneller vorbei, als sie begonnen hatte. Dennoch blieb er dem Kampfsport weiter verbunden. Als der Verein vor einigen Jahren neue Ausbilder für die Jugendmannschaft suchte, sprach der Vorstand auch Sebastian an. Zusammen mit seinem langjährigen Freund Mike übernahm er das Jugendtraining. Aufgrund seines Schichtdienstes und seiner oftmals kurzfristigen Polizeieinsätze wurde er nur als Assistenztrainer geführt. Erster Jugendtrainer war Mike, den er schon seit Kindestagen kannte und mit dem er viele Sportprüfungen absolviert hatte.

Sebastian machte es sich in den weichen Ledersitzen seines silbernen Mercedes 280 SL bequem und fuhr gerade an der Auffahrt Wickenburg auf die A40 in Richtung Mülheim auf, als sein Mobiltelefon klingelte. Seine Schwester Constanze rief an.

„Hallo Basti. Schon Feierabend?“

Sebastian war der mittlere von drei Kindern. Er hatte noch einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Seine Schwester Constanze war inzwischen schon verheiratet und lebte mit ihrem Mann und den drei Kindern in einem Einfamilienreihenreihenhaus in der Nähe von Wuppertal.

„Kleines“ begrüßte Sebastian seine jüngere Schwester liebevoll. “Ja, ich bin auf dem Weg zum Sport. Wie geht es dir und was machen die Kinder?“

„Uns geht es gut. Ernesto nervt im Moment, weil er unbedingt Trompete spielen möchte. Ich habe mir das einmal angehört und beschlossen, dass ich das Üben als Körperverletzung einordne. Ich habe ihm alternativ ein Keyboard oder eine Geige angeboten. Aktuell verhandeln wir über ein Schlagzeug.“

Beide lachten. Ernesto konnte sehr penetrant sein, wenn er etwas haben wollte. Das hatte er von seiner Mutter.

„Was ist dein Begehr?“, fragte Sebastian interessiert.

„Oma und Opa haben uns am Wochenende zum Essen eingeladen. Hast du Zeit zu kommen?“

„Habe ich einen Geburtstag verpasst?“, überlegte Sebastian laut. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihn sein Job vergessen ließ, wer gerade in der Familie einen Jahrestag feierte.

„Nein, es geht wohl um etwas anderes. Großmutter wollte mir nichts sagen, es scheint aber sehr wichtig zu sein.“

Sebastian stockte der Atem. Seine Großeltern waren beide an die achtzig Jahre alt und das Ende daher in greifbarer Nähe. Obwohl er beruflich oft mit dem Tod zu tun hatte, war die Vorstellung, dass seine eigenen Großeltern einmal das Zeitliche segnen würden, eine Annahme, die er gerne verdrängte.

„Wann soll ich bei euch sein?“

„Sie erwarten uns am Sonntag um sechzehn Uhr im Schloss. Es gibt selbst gebackenen Kuchen und wir grillen anschließend“, erklärte Constanze versöhnlich.

„Du hast mich schon überzeugt“, erklärte Sebastian. Seine Großmutter war eine hervorragende Konditorin und für ihren Apfelkuchen berühmt. Eine Einladung schlug man nicht aus.

„Aber sei pünktlich“, ermahnte ihn seine Schwester. „Du weißt, wie sehr Opa es hasst, wenn das Essen kalt wird.“

„Ich weiß nicht, was du meinst…“, erwiderte Sebastian augenzwinkernd und erinnerte sich daran, wie er als Jugendlicher öfter zu spät zum Essen kam, weil der Freundeskreis Vorrang hatte. Seine Großeltern wurden deshalb nie laut. Sie ließen nur demonstrativ den Tisch abräumen, um zu signalisieren, dass es für sie geregelte Tischzeiten gab, an die sich jeder zu halten hatte.

„Alles klar. Dann sehen wir uns am Sonntag. Michael und ich kommen mit den Kindern. Vincent kommt auch. Er reist schon Freitag Abend aus Berlin an.“

Schön, dachte Sebastian. Ein Familientreffen. Er liebte seine Familie, auch wenn sie sich in letzter Zeit immer seltener sahen. Dennoch gab es eine gemeinsame, schwere Vergangenheit, die sie geprägt hatte. Das schweißte die Geschwister zusammen.

Sebastian bog mit seinem kleinen Mercedes auf den Parkplatz vor der Turnhalle an der Kammerstrasse ein. Sofort erkannte er an einem 83er Ford Mustang, dass sein Freund und Judoka Mike schon in der Halle war. Mike war in vielen Dingen das Gegenteil von Sebastian. Mit seiner schwarzen, nach hinten gegelten Haartolle sah er aus wie ein Elvis-Presley-Duplikat. Nach einer mittleren Reife absolvierte Mike eine Ausbildung als Maschinenschlosser und eröffnete kurz danach sein eigenes Metallbauunternehmen. Sein kräftiger Körper ließ erahnen, dass er schwer arbeitete. Mike liebte die Unabhängigkeit und die Möglichkeiten, seine Zeit selbst einzuteilen. Sebastian kannte ihn nur als verlässlichen und aktiven Freund, der keinem Abenteuer aus dem Weg ging.

Sebastian zog sich seinen blauen Judogi an und band sich den schwarzen Gürtel um. Sebastian zählte sieben Jungen und acht Mädchen. Für zwei Trainer eine überschaubare Gruppengröße. In vier Wochen standen die nächsten Dan-Prüfungen an, daher konzentrierte sich das Training nach einem kurzen Aufwärmen fast ausschließlich auf das Wiederholen der prüfungsrelevanten Techniken. Um halb acht endete das Jugendtraining mit dem Mokuso, dem gemeinsamen An- und Abgruß „Rei“.

Nach dem aufregenden Tag tat Sebastian das Training gut. Für einen kurzen Zeitraum vergaß er die menschlichen Abgründe, in deren Schlund er diese Woche wieder blicken musste.

1.9

Wie gewohnt war Sebastian am nächsten Morgen um halb sieben in der Früh aufgestanden, hatte geduscht und sich ein kurzes Frühstück gegönnt. Danach fuhr er mit seinem Mercedes zur Essener Polizeiwache. Sein Terminplan war heute eng getaktet. Gegen halb neun führte er mit Clara von Anstedt eine Unterhaltung. Um elf Uhr hatte er in Münster sein Gespräch.

Gegen Viertel vor acht besprach sich Sebastian kurz mit Bosbach, der allerdings keine neuen Informationen aus der KTU hatte. Es gab immer noch keine Hinweise auf Mittäter.

Um Viertel nach acht kam der Kollege Aydin in Sebastians Büro und informierte ihn, dass Clara von Anstedt am Empfang wartete. Sebastian bat den Kollegen, die Zeugin in den Besprechungsraum 2 zu bringen. Zu Bosbach gewandt fragte er: „Wer begleitet mich bei der Befragung?“

Befragungen bei der Polizei wurden meist von zwei Polizisten durchgeführt. Die Gefahr, dass der Verdächtige gewalttätig wurde, oder die Tatsachen später verdrehte, waren zu groß.

„Ich habe Nara Wendels gebeten, dich beim Verhör zu unterstützen“, erklärte Bosbach. Nara Wendels war eine junge Kommissarin, die seit einem Jahr das KK 11 tatkräftig unterstützte.

„Kannst du Nara Bescheid geben, dass wir uns im Besprechungsraum 2 treffen? Dort haben wir eine angenehmere Atmosphäre.“ Der Besprechungsraum 2 war zwar etwas kleiner als der Einser, aber durch seinen schönen Fensterblick über die allee-ähnliche Virchowstraße heller und vertrauenerweckender.

Sebastian ging an seinen Schreibtisch und zog die Akte ´von Anstedt´ aus der obersten Schreibtischschublade. Er blätterte sie durch und verinnerlichte sich noch einmal aller Aussagen der Zeugin. Dann lief er ruhig über den langen Flur zu Raum 2.

Das Zimmer war rund zwanzig Quadratmeter groß und genauso praktisch eingerichtet wie sein größeres Pendant. In der Mitte stand ein quadratischer, dunkler Besprechungstisch, der seine besten Zeiten schon hinter sich hatte. Rund um den Tisch waren vier Holzstühle platziert. Anders als im großen Besprechungsraum gab es hier keinen venezianischen Spiegel, durch den man den Raum beobachten konnte. Die Stühle waren mit Stoff bezogen und als einziges Wohnaccessoire hing an der Wand ein Foto des Essener Grugaparks. Die großen zweiflügeligen Fenster des Raumes sorgten nicht nur für Helligkeit, sondern ließen hier in der zweiten Etage auch einen Blick auf das rege Tierleben in den Baumwipfeln der Virchowstraße zu.

Frau von Anstedt saß schon auf der zum Fenster gewandten Tischseite, die Tür fest im Blick. Die Kollegin Wendels goss gerade aus einer vergilbten Thermoskanne heißen Kaffee in zwei auf dem Tisch stehenden Tassen. Nara Wendels war Mitte zwanzig, hatte eine schlanke, sportliche Figur und einen modisch blonden Kurzhaarschnitt. Sie trug ein grünes Poloshirt zu einer engen Röhrenjeans. Ihr markantes Gesicht, vor allem die kantige Nase, die an griechische Vorfahren erinnerte, gaben ihr ein unverwechselbares Aussehen.

„Möchtest du auch einen?“, fragte die Kommissarin, während sie weiter eingoss.

„Nein danke, noch eine Tasse und ich bestehe den internen Drogentest nicht mehr“, antwortete Sebastian lächelnd und nahm dann gegenüber Frau von Anstedt Platz.

„Guten Morgen Frau von Anstedt. Herzlichen Dank, dass Sie uns heute als Zeugin zur Verfügung stehen. Ich möchte Sie kurz darauf hinweisen, dass Sie die Aussage als Verwandte des Verdächtigen jederzeit verweigern können und sich auch nicht selbst belasten müssen“, klärte Sebastian sie auf.