Bleib so, wie du werden willst - Verena Wagenpfeil - E-Book

Bleib so, wie du werden willst E-Book

Verena Wagenpfeil

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Beschreibung

Was macht man, wenn das Familieneinkommen knapp ist und man als frischgebackene Mutter von zwei Kindern nicht tatenlos zuhause rumsitzen möchte? Wenn man vom Häuschen im Grünen träumt und von Designer-Schuhen? Frau Petermann zieht aus, ihr Glück und vor allem Reichtum zu finden und gerät dabei von einem Schlamassel in den nächsten. Sie merkt, dass die Welt der Spekulationsgeschäfte gar nicht so glamourös ist, wie einen Hollywood glauben lassen will und dass ein großes Allgemeinwissen nicht unbedingt weiterhilft bei "Wer wird Millionär?". Frau Petermann bekommt es mit einem Versicherungsangestellten mit dunklen Geheimnissen, einem hypochondrischen Schwiegervater, einem Klavierstimmer ohne Flügel, Kindern, die wie Süßigkeiten heißen und einer Menge weiterer, ganz normal skurriler Menschen zu tun. Bis sie merkt, was wirklich wichtig ist im Leben. Aber ist es dafür vielleicht schon zu spät?

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Die AutorinVerena Wagenpfeil, Jahrgang 1975, lebt mit Mann, zwei Kindern und Kaninchen in Wiesbaden. Bleib so, wie du werden willst ist ihr Debütroman. Kurze Episoden aus ihrem Alltag kann man in ihrem Blog www.sandkuchen-geschichten.de nachlesen. Wenn sie nicht schreibt, dann arbeitet sie in einem Verlag in Frankfurt und probiert gerne neue Dinge aus.

Das BuchWas macht man, wenn das Familieneinkommen knapp ist und man als frischgebackene Mutter von zwei Kindern nicht tatenlos zuhause rumsitzen möchte? Wenn man vom Häuschen im Grünen träumt und von Designer-Schuhen? Frau Petermann zieht aus, ihr Glück und vor allem Reichtum zu finden und gerät dabei von einem Schlamassel in den nächsten. Sie merkt, dass die Welt der Spekulationsgeschäfte gar nicht so glamourös ist, wie einen Hollywood glauben lassen will und dass ein großes Allgemeinwissen nicht unbedingt weiterhilft bei »Wer wird Millionär?«.

Frau Petermann bekommt es mit einem Versicherungsangestellten mit dunklen Geheimnissen, einem hypochondrischen Schwiegervater, einem Klavierstimmer ohne Flügel, Kindern, die wie Süßigkeiten heißen und einer Menge weiterer, ganz normal skurriler Menschen zu tun. Bis sie merkt, was wirklich wichtig ist im Leben.

Aber ist es dafür vielleicht schon zu spät?

Verena Wagenpfeil

Bleib so, wie du werden willst

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

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Originalausgabe bei Forever.Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinJuli 2015 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95818-048-2

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Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Ein Klavierstimmer ohne Flügel

»Ah, guten Tag, Frau Petermann. Wie lange ist es jetzt schon wieder her? Drei Monate? Sie haben aber ganz schön zugelegt. Bisschen viele Weihnachtsplätzchen genascht? Na ja, dann wollen wir mal. Ich find den Weg, war ja schon ein paarmal da.«

Wie schön, da ist er ja wieder, der Klavierstimmer meines Vertrauens. Sein Anblick sowie seine Bemerkungen lassen mich erst einmal sprachlos stehen – was, wenn man meinen Mann fragen würde, eine große Leistung ist.

Horst Guterklang – es handelt sich hierbei tatsächlich nicht um einen Künstlernamen, was man bei einem Klavierstimmer annehmen könnte – kommt ungefähr alle drei Monate vorbei, um meinem uralten Klavier wieder zu einem halbwegs erträglichen Klang zu verhelfen. Das alte Ding kann leider die Stimmung nicht mehr lange halten, und auch total unmusikalischen Menschen fällt nach spätestens drei Monaten ohne Klavierstimmer und fünf Takten auf, dass das Klavier nicht so klingt, wie es sollte. Es klingt dann eher wie bei Lucky Luke im Saloon, während nebenbei eine handfeste Schlägerei im Gange ist und der Klavierspieler ungerührt weiterspielt.

Ich muss gestehen, dass ich mich damals mehr von der Optik des Stücks, verbunden mit einem recht günstigen Preis, habe verleiten lassen. Es ist aber auch schön. Edel gemasertes Kirschbaumholz, handgeschnitzte Löwentatzen-Beine und eine Elfenbeintastatur mit herrlich weichem Anschlag. Erste Zweifel, dass es sich bei dem Biese-Modell wirklich um ein Schnäppchen handelt, kamen mir beim Transport, als sich der Preis nach der Auskunft, um was für ein Klavier es sich denn genau handle, mal eben verdoppelte.

Die nächste Schwierigkeit, nach dem Transport in den dritten Stock durch ein enges Treppenhaus, war, jemanden zu finden, der das gute Stück stimmen kann. Die ersten drei, die ich angerufen hatte, winkten gleich ab, und der vierte gab mir immerhin den Tipp, es mal bei eben jenem Horst Guterklang zu probieren, der jetzt in unserem Wohnzimmer steht und beschwörend auf mein Klavier einredet. Ja, das tut er wirklich. Und wenn eine von den Saiten beim Stimmen reißt, dann schimpft er immer mit dem Klavier. Vielleicht schimpft er auch nur so, weil er sich dabei vor lauter Schreck immer den Kopf anstößt, aber eigentlich bin ich fast sicher, dass er das Klavier meint. Er erklärt mir immer wieder, dass es sich bei einem Klavier nicht um ein profanes Möbelstück handelt, das gelegentlich abgestaubt werden will und unter den richtigen Händen schöne Melodien von sich geben kann. Vielmehr ist er davon überzeugt und will mich auch davon überzeugen, dass es eine Seele hat und darum mit Feingefühl und dem nötigen Respekt behandelt werden muss.

Leider kosten mich Feingefühl und Respekt alle drei Monate 150 Euro plus zwei bis drei Stunden, die ich mit Horst Guterklang in einem Haus verbringen muss, was mitunter amüsant sein kann, in weiten Teilen jedoch extrem anstrengend ist.

Der Klavierstimmer ist um die fünfzig Jahre alt, trägt seine grau melierten, welligen und noch vollen Haare etwas länger und nach hinten gekämmt. Ich habe ihn nie anders als im schwarzen Frack mit Fliege erlebt, wobei ich fast glaube, dass es sich dabei immer um das identische, schon etwas abgewetzte Modell handelt. Ein bisschen erinnert mich Herr Guterklang an Damiel und Cassiel, die beiden Engel aus »Der Himmel über Berlin«, dem alten Wim-Wenders-Streifen. Es würde mich nicht wundern, wenn er bei seinem nächsten Abschied das Fenster aufmachte, seine Flügel ausbreitete und davonflöge.

»Mami, Lina Dummibärchen? Bitte schön«, werde ich aus meiner Starre gerissen. Es ist Lina. Meine zweijährige Tochter verlangt mit Augenklimpern nach Gummibärchen. Ich weiß gar nicht, von wem sie diese charmante Art hat. Bei Alex, meinem Mann ist mir so etwas noch nicht aufgefallen. Dann muss sie es ja eigentlich von mir haben. Ich kann ihrem Blick nicht widerstehen und gebe ihr eine Handvoll, woraufhin sie damit ins Wohnzimmer marschiert, um dort Horst Guterklang eines zum Trost auf seinen Kopf zu legen. Den hat er sich nämlich mal wieder gestoßen, als ihm dieses Mal die C-Saite gerissen ist.

»Seisse, vadammt!«, ruft Lina vergnügt. Super, mein Kind hat wieder zwei neue Wörter gelernt. Die Auffassungsgabe muss sie auch von mir haben.

Ansonsten hat sie allerdings nicht so viel von mir abbekommen. Alle, die uns kennen, sagen, dass sie aussieht wie Alex, mein Mann. Meine Freundin Regine ist fest davon überzeugt, dass das Kind im Krankenhaus vertauscht worden ist. Linas Haare sind nicht wirklich sichtbar, aber ich tröste sie und mich immer damit, dass da spätestens nächste Woche eine prächtige Wallemähne wachsen wird – wie bei dem Disney-Dornröschen. Die finden wir beide nämlich am schönsten von allen Disney-Prinzessinnen. So wie der Flaum auf ihrem Kopf aussieht, stehen die Chancen für blond auch ganz gut, vielleicht mit einem Stich ins Rötliche. Aber selbst wenn ihr niemals Haare wachsen sollten, das schönste an meiner Tochter sind auf jeden Fall ihre Augen: Meerwassergrün und mit langen, dichten Wimpern, mit denen sie so herrlich klimpern und Menschen für sich einnehmen kann. Funktioniert zumindest immer bei den Großeltern und bei den Angestellten im Supermarkt hinter der Wursttheke, die auf Linas Befehl »Wurst, bitte schön!« auch bereitwillig Lyoner rausrücken.

»Die C-Saite ist gerissen. Ich habe keine dabei, müssten Sie besorgen«, unterbricht der Klavierstimmer meine Gedanken. »Ich komme dann noch mal wieder und mache weiter«, droht er mir anschließend noch.

»Aber mit Ihrem Gewicht sollten Sie wirklich langsam etwas aufpassen«, setzt er uncharmant nach.

»Ich erwarte in zwei Wochen ein Kind«, erwidere ich gereizt und ärgere mich, dass Lina diesem Affen im Frack eins ihrer Gummibärchen geschenkt hat. Ich bekomme von ihr immer nur blöde weiße, die angeblich nach Ananas schmecken sollen, und auch erst nachdem sie sie schon in den Mund gesteckt und dann festgestellt hat, dass sie ihr nicht schmecken. Aber unbeirrt probiert sie die immer wieder. Das muss man ihr lassen. Sie scheint den Glauben an das Gute im weißen Gummibärchen noch nicht aufgegeben zu haben. Mir schmecken die weißen aber auch nicht, noch nicht mal, wenn sie noch niemand vorher im Mund hatte. Warum gibt es eigentlich keine farblich getrennten Gummibärchen-Tüten? Ich würde dann nur Tüten mit roten und grünen Bärchen nehmen. Aus den weißen kann man von mir aus Tapetenkleister herstellen.

»Ach, das wusste ich ja gar nicht«, antwortet Horst Guterklang. »Das ist ja mal eine frohe Botschaft.«

Er setzt sich an das halb gestimmte Klavier und schlägt Schuberts Wiegenlied an. Ich denke, es könnte sehr hübsch klingen, wenn das Klavier noch eine C-Saite hätte und komplett gestimmt wäre. Horst Guterklang merkt es zum Glück auch und wechselt auf sein elektronisches Klavier, das er immer mit sich herumträgt. Noch so eine Sonderbarkeit an ihm, die aber im Gesamterscheinungsbild nur logisch und konsequent ist.

»Nicht wahr, Frau Petermann, den Kindern erst die schwarzen Tasten beibringen.«

»Ja, ja«, unterbreche ich ihn, denn ich habe keine Lust, mir mal wieder seine Theorien zum Klavierunterricht von Kindern anzuhören. Mein Klavierspiel lässt selbst zu wünschen übrig, da werde ich den Teufel tun und meinem Kind beibringen, so miserabel wie ich selbst zu spielen.

»Dann werde ich mich mal darum kümmern und melde mich, wenn ich die Saite habe«, versuche ich den Klavierstimmer zur Tür zu drängen. Ein bisschen tut es mir leid, denn das Wiegenlied ist wirklich sehr hübsch, aber mir langt es jetzt, und ich muss mich um Lina kümmern, die gerade versucht, irgendwelche Dinge in den Schlitz des Videorekorders zu stecken. Den benutzt zwar kein Mensch mehr, aber wahrscheinlich will Alex gerade heute Abend seine alten Magnum-Videos anschauen.

Es gelingt mir, Horst Guterklang zur Tür zu drängen. Ich drücke ihm fünfzig Euro in die Hand und bin schon ein klein wenig enttäuscht, dass er mit seinem elektronischen Klavier die Straße hinunterläuft und ganz schnöde in einen Bus steigt, obwohl ich doch davon überzeugt bin, dass er die Strecke auch einfach fliegen könnte.

Ich schaue mich um. Eigentlich müsste ich jetzt die Wohnung in Ordnung bringen und das Abendessen vorbereiten. Aber ich entscheide, dass Hochschwangere, die in wenigen Tagen ihr zweites Kind bekommen, ein Recht auf Ausruhen haben. Und so schalte ich die Glotze ein, lege mich zusammen mit Lina aufs Sofa und schaue entsetzt zu, was aus der Sesamstraße geworden ist. Was ist mit Samson passiert? Und mit Tiffy? Und wer sind die ganzen komischen Leute da? Ist Graf Zahl in Rente? Gibt es keine Jobs mehr für trottelige Kellner wie Grobi, die auf das Servieren von Buchstaben-Suppe spezialisiert sind? Aber Lina scheint es zu gefallen, denn sie klatscht neben mir begeistert in die Hände und versucht, die Lieder mitzusingen. Also versuche ich auch, mich nicht aufzuregen, und frage mich, wann wohl das beste Alter ist, um seinen Kindern beizubringen, wie man eine gescheite Fußmassage macht.

Das Kind in meinem Bauch tritt heftig, und ich ermahne es mal wieder, bloß noch ein paar Tage drinzubleiben. Denn wenn es vor dem 1.1.2007 zur Welt kommt, werden wir kein Elterngeld bekommen. So üppig ist der Verdienst meines Manne nicht, dass es uns leichtfallen würde, darauf zu verzichten.

Ich schnappe mir mein Notebook und suche im Internet nach elektrischen Klavieren. Es gibt einige, die preislich in Ordnung sind und mit einem tollen Klang und verschiedenen Anschlaghärten werben. Ich bin ein bisschen unentschlossen, ob ich diesen Schritt wagen soll. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, Abschied von Horst Guterklang und meiner Elfenbeintastatur zu nehmen.

Da fällt einer der Sesamstraßen-Bewohner in eine Matschpfütze, und ich muss laut lachen. Vielleicht ist ja nicht alles Neue schlecht, und ich bestelle das elektrische Klavier.

Silvesterknaller vor Mitternacht

Silvestermorgen. Jahresabschluss. Eigentlich Zeit, noch einmal wehmütig oder auch erleichtert auf das vergangene Jahr zurückzublicken. Die Liste mit den guten Vorsätzen herauszukramen und nachzuschauen, ob man nicht zufällig doch den ein oder anderen davon umsetzen konnte. Ich brauche gar nicht gucken, da ich meine guten Vorsätze schon am ersten Januar-Morgen vergessen habe und somit die Wahrscheinlichkeit, zufällig einen umgesetzt zu haben, gegen null geht. Vielleicht sollte der erste gute Vorsatz bereits am 31.12. greifen und den Alkoholkonsum in einem vernünftigen Maß halten.

Na ja, dieses Jahr wird es keinen Totalabschuss geben, ich bin ja schwanger und möchte es auch noch mindestens bis zum 1. Januar bleiben. Allerdings auch nicht viel länger, die dicke Kugel behindert mich doch zunehmend, vor allem wenn ich mit Lina auf dem Boden sitze und irgendetwas spiele. Oder meine Fußnägel schneiden will. Zumindest hoffe ich, dass es die Nägel waren, die ich da das letzte Mal geschnitten habe, gesehen habe ich nämlich nichts. Ein wenig fühlte ich mich dabei, als würde ich mit einem Kreuzfahrtschiff, bei dem das Sonar ausgefallen ist, durch ein Eisberg-Gebiet steuern.

»Guten Morgen, meine Schöne«, begrüßt mich Alex mit einem Küsschen.

»Alles klar auf der Andrea Doria?«

Manchmal können seine Sprüche schon ganz schön nerven. Warum versteht der eigentlich nicht, dass die seit den Achtzigern keiner mehr hören will? Ich schon gar nicht, wenn ich mich aufgrund meiner aktuellen Unförmigkeit durchaus wie ein Frachtschiff fühle. Aber am frühen Morgen nach einer nicht wirklich erholsamen Nacht bin ich zu keiner Gegenwehr fähig und antworte als brave Ehefrau: »Alles roger in Kambodscha!«

Das ist ein wenig gelogen, denn eigentlich fühle ich mich nicht wirklich gut, die Erbsensuppe von gestern Abend rumort ganz schön in meinem Magen. Ich habe nämlich beschlossen, alles blähende, das schmeckt – also mir schmeckt – noch mal zu kochen, bevor das neue Baby da ist. Ich möchte nicht durch falsche Ernährung beim Stillen Drei-Monats-Koliken und damit einhergehenden Drei-Monats-Mütter-Stress riskieren. Gestern also Erbsensuppe, zum neuen Jahr dann Sauerkraut, und dann ist mir alles egal.

»Na dann, heiter weiter«, höre ich Alex vergnügt aus dem Bad rufen.

»Wann gibt es denn Frühstück?«

Seit ich nicht mehr arbeiten gehe und im Mutterschutz bin, benimmt der sich, als wäre er das Kleinkind, um das ich mich kümmern muss. So schon mal vorab, zum Üben. Vielleicht sollte ich ihm sein Frühstücksbrot in kleine Stückchen schneiden oder den Joghurt mit dem Löffel füttern, damit er merkt, dass ich mich auch mal über einen gedeckten Frühstückstisch freuen würde. Während ich noch überlege, welches Lätzchen Alex wohl am besten stehen würde, kommt Lina zur Tür herein und strahlt mich an: »Lina sson fertig. Lina Treme. Fissifross auch.«

Irgendjemand hat die Fettcreme in Kindergriff-Höhe stehen gelassen, und Lina hat die Chance genutzt, die Creme großzügig auf sich zu verteilen. Und weil sie ein sehr soziales Wesen ist, hat sie auch gleich noch an ihren Kuschelfrosch gedacht.

»Gott sei Dank hat das Kind noch keine Haare«, denke ich und muss trotz des Chaos lachen. Etwas anderes bleibt mir eigentlich auch nicht übrig. In den Arm nehmen möchte ich sie jetzt aber trotzdem nicht.

»Ich Frühstück, du Kinderdienst«, rufe ich Alex zu, der gerade frisch geduscht und mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt aus dem Bad kommt.

Ich rolle mich aus dem Bett und fluche ein wenig, dass ich die Beckenboden-Übungen nach Linas Geburt nicht ganz so ernst genommen habe. Ich hatte diese Rückbildungsgymnastik eigentlich eher als sozial-kommunikatives Event verstanden, denn als sportlich ernst zu nehmende Veranstaltung. Ich tropfe ein wenig und will erst einmal auf die Toilette, damit es nicht richtig unangenehm wird. Das wird es dann aber doch.

»Mama Pipi macht«, ruft Lina vergnügt während Alex versucht, ihr mit Feuchttüchern die Creme vom Körper zu wischen.

»Mama Windel braucht.«

Alex schaut irritiert zu mir rüber und ich an mir runter. Tatsächlich. Unter mir hat sich eine große Pfütze gebildet.

»Das ist bestimmt nichts, oder?«

Alex hat echt Humor. Was bitte schön soll das denn bestimmt nicht sein? Natürlich ist das Fruchtwasser, und natürlich bedeutet das, dass es jetzt demnächst losgehen wird mit der Geburt von Kind Nummer zwei. Nein, ich möchte mich korrigieren: Es geht jetzt los mit der Geburt von Kind Nummer zwei.

Plötzlich fährt mir die erste Wehe gleichzeitig in Bauch und Rücken. Verdammt! Das hatte ich ja völlig vergessen. Das tat ja richtig weh. Verflixt! Was musste man da noch mal machen? Luft anhalten? Ausatmen? Von einem Bein auf das andere hopsen? Ich dachte, zwei Jahre nach dem ersten Kind bin ich ja quasi noch voll im Training und kann mir den Geburtsvorbereitungskurs mit Esoterik-Trallala, Traumreisen und überinformierten und ängstlichen Helikopter-Müttern in guter Hoffnung schenken. Aber irgendetwas muss nach der letzten Geburt geschehen sein, das mich all diese Dinge hat vergessen lassen. War damals etwa Will Smith in meinem Zimmer und hat mich geblitzdingst? Aber hätte ich mir nicht wenigstens das merken müssen? Ein Hollywood-Star in meinem Krankenhauszimmer?

Zu spät. Ich verfluche meine Nachlässigkeit und mein Gedächtnis und tue das meiner Meinung nach einzig Angemessene in dieser Situation und brülle erst mal meinen Mann an: »Leg mir eine PDA. Oder bring mich ins Krankenhaus. Sofort!«

Alex ist Programmierer – aber einer von der seltenen gut aussehenden Sorte, mit strahlend blauen Augen, feinen, aber männlichen Gesichtszügen, einem gleichmäßigen Bartwuchs, allerdings schon etwas lichter werdenden Haaren. Das mit den kahlen Stellen am Kopf ist mir nicht so wichtig, aber wenn ein Mann nur drei Bartstoppeln im Gesicht hat und dann noch meint, er müsse sich daraus auch noch einen Bart wachsen lassen – geht ja gar nicht.

Aber zurück zu Alex: Er hat wirklich was auf dem Kasten und ist sogar handwerklich sehr geschickt, aber das Legen einer PDA gehört nicht zu seinem Repertoire.

»Und was machen wir mit Lina?«, fragt er etwas verdutzt.

»Bei IKEA im Kinderland abgeben? Ruf deine Eltern an. Das hatten wir doch so besprochen.«

»Die sind doch heute Silvester feiern bei Wittenbergers«

Verflixt und zugenäht! Klappt denn heute gar nichts? Also doch IKEA-Kinderland?

»Was ist denn mit deinen Eltern?«, fragt Alex.

»Die sind doch bei meinem Bruder in Berlin«

»Ach ja, stimmt. Dann nehmen wir Lina halt mit«, schlägt Alex vor »Die haben doch auch eine Kinderstation im Krankenhaus.«

Ich merke, dass ich gerade für Alex‘ Humor nicht besonders empfänglich bin.

»Dann frag halt bei Frau Neumeier an – zum Bleistift«, versuche ich es in seiner Sprache »Aber tu halt endlich mal etwas.«

Es fällt mir schwer, nicht total auszuflippen.

Jetzt wischelt Alex auch noch das Fruchtwasser unter mir auf, das kann doch wirklich warten.

»Nein, das muss da weg, sonst quillt uns das ganze schöne Parkett auf. Dann war die ganze Arbeit, die ich beim Verlegen hatte, umsonst.«

Kann der Gedanken lesen? Ich denke jetzt ganz fest daran, dass ich in erfahrene Hände möchte, die einen ganzen Schrank voll Medikamente zur Schmerzlinderung haben, und hoffe, dass es hilft. Und wirklich: Alex steht auf, sein Handtuch rutscht etwas und macht den Blick frei auf seinen knackigen Hintern. Autsch! Wie eine Ohrfeige watscht mich die nächste Wehe ab, als ich kurz daran denken muss, wie sich dieser Po unter meiner Hand anfühlt.

Er zieht sich rasch etwas an und klingelt bei unserer Nachbarin Frau Neumeier im Stockwerk unter uns. Es dauert etwas, bis Frau Neumeier die Tür öffnet. Sie geht schon stark auf die achtzig zu und hört nicht mehr so gut. Vielleicht kommen wir ja deswegen so gut klar mit ihr. Auf jeden Fall hat sie sich noch nie über Linas Getrappel und Gejohle beschwert. Im Gegenteil: Sie hat Lina in ihr Herz geschlossen, verwöhnt sie aber auch nach Strich und Faden.

Manchmal bin ich etwas sauer auf sie, weil ich Lina auch gerne mal etwas Süßes geben möchte, sie ihre komplette Wochenration aber an einem Tag bei Frau Neumeier abgestaubt hat.

»Herr Petermann«, höre ich Frau Neumeier meinen Mann begrüßen. »Das ist aber nett, dass Sie vorbeikommen. Warten Sie, ich mache Ihnen erst einmal eine schöne Tasse Tee.«

Ich höre Frau Neumeier in ihrer Wohnung verschwinden. Der wird doch nicht etwa …? Immerhin scheint Alex zu protestieren, aber auch seine Schritte und Stimme werden leiser.

Auaaaa! Schon wieder so eine fiese Wehe.

Ich ziehe mir erst einmal etwas an. Jogginghose und Schlabberpulli müssen aber echt reichen fürs Krankenhaus. Oder sollte ich doch etwas schicker gehen, weil heute Silvester ist?

Verflixt! Ich muss ja auch noch meine Tasche packen. Habe ich bis jetzt immer aufgeschoben. Ich dachte, solange die Tasche nicht gepackt ist, kann das Kind auch nicht kommen. Das war vielleicht doch eine Fehleinschätzung. Ehrlich gesagt habe ich wenig Hoffnung, dass es sich bei Wehen im Abstand von fünf Minuten doch um falschen Alarm handelt. Außerdem war da ja noch die Sache mit dem Fruchtwasser.

Ich will das Taschepacken Alex aufs Auge drücken, aber dann fällt mir ein, dass der ja gar nicht mehr da ist, sondern wahrscheinlich in Frau Neumeiers Sofa eingesunken ist und eine Tasse Tee trinkt, obwohl er eigentlich gar keinen Tee mag.

Wo ist denn überhaupt Lina hin? Ich schleppe mich in ihr Zimmer, aber da ist sie nicht. Auch bei den von ihr bevorzugten Aufenthaltsorten Videorekorder und Badezimmer ist keine Spur von ihr zu entdecken. Zumindest fast keine. Ich fische ein Bauklötzchen aus der Kloschüssel und werfe es ins Waschbecken. Die wird bestimmt mal ein Ass in Physik. So viele Untersuchungen, wie sie zur Schwimmfähigkeit unterschiedlichster Materialien und dem Fassungsvermögen einer Toilettenschüssel angestellt hat. Hochbegabt. Aber dafür benimmt sie sich eigentlich zu gut.

Langsam wird es mir ein wenig unheimlich. Wo steckt das Kind bloß?

»Lina!«, rufe ich laut, und als keine Antwort kommt: »Lina, Gummibärchen!«

Das hilft eigentlich immer. Aber heute nicht. Ich bemerke, dass die Wohnungstür offen steht und bekomme einen Riesenschreck. Vor meinem inneren Auge sehe ich meine Tochter von einem Auto überfahren und blutüberströmt auf der Straße liegen.

Hektisch laufe ich aus der Wohnung und die Treppe hinunter. Auf der vorletzten Stufe gewinnt die Schwerkraft, und ich komme ins Trudeln. Ich verfehle die Stufe und knicke mit meinem rechten Fuß um. Ich lasse mich zur Seite fallen, halte meinen Bauch fest, weil natürlich gerade jetzt wieder eine Wehe auf mich einpeitscht, und knalle mit dem Kopf gegen die rau verputzte Wand.

Einen Moment bleibe ich benommen sitzen. Muss denn heute alles schieflaufen? Ich kämpfe gegen die Tränen an und denke eigentlich, ich gewinne, aber irgendetwas läuft dann doch meine Wange herunter. Ich tupfe etwas davon mit meinem Finger auf und probiere. Süßlich und irgendwie metallisch. Blut. Auch das noch, eine Platzwunde. In Filmen wird die Heldin in solchen Situationen immer ohnmächtig. Das käme mir jetzt auch sehr gelegen, aber wenn man es mal braucht, ist weit und breit keine Ohnmacht in Sicht.

Jetzt ist mir alles egal, und die Tränen fließen wie ein Wasserfall über mein Gesicht.

In dem Moment geht die Tür von Frau Neumeiers Wohnung auf, und Frau Neumeier, mein Mann mit einem von Frau Neumeiers selbst gebackenen Weihnachtsplätzchen in der Hand und Lina, mein kleiner Goldbärenschatz, schauen mich entsetzt an.

»Mama nisst weinen«

Lina findet als Erste ihre Sprache wieder: »Da Dummibärchen drauf. Wieder dut«, tröstet sie mich, und sogar Alex sieht zum ersten Mal heute wirklich besorgt aus.

»Was hast du denn gemacht? Du siehst ja zum Fürchten aus. Ist das Blut?«

»Krankenhaus«, ist das Einzige, was ich schniefend hervorbringe. Alex hilft mir hoch und nimmt mich liebevoll in den Arm. Ich fühle mich wie Scarlett O’Hara in »Vom Winde verweht«, als er mir eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht streicht, mein Kinn in seine Hand nimmt und mir die Tränen wegküssen will. Aber Wehen sind definitiv kein förderliches Mittel für romantische Momente.

»Sag Mama und Papa Tschüss, Linalein«, sagt Frau Neumeier zu unserer Tochter. Zwei weitere Romantik-Killer, die ich in meinem Elend glatt übersehen hatte.

Aber Gott sei Dank, Lina ist da und unverletzt, die Einzige mit zweifelhaftem Gesundheitszustand hier bin ich.

»Du bleibst hier sitzen, und ich hole schon mal das Auto«, sagt Alex. Eigentlich möchte ich jetzt nicht alleine sein. Ich fühle mich furchtbar, habe Angst vor den nächsten Stunden, dazu kommen leichte Kopfschmerzen. Aber ich bin nicht in der Lage zu widersprechen, und so nicke ich nur und bleibe im Treppenhaus sitzen.

So sitze ich nun und warte, zähle Wehen und die Zeit dazwischen. Ob es sich bis zur Geburt noch um Stunden handelt? Ich bekomme meine Zweifel. Wie lange dauert es noch bis zum neuen Jahr? Jetzt ist es um die Mittagszeit, zumindest riecht es danach im Treppenhaus. Im Stockwerk über uns scheint es Rotkraut oder so was zu geben. Habe ich eigentlich schon etwas gefrühstückt?

Wo bleibt Alex nur? So weit weg war das Auto doch gar nicht geparkt? Hat der noch jemanden getroffen und sitzt jetzt gemütlich beim Frühschoppen? Ich singe zur Ablenkung Kinderlieder und Abzählreime. Wenn man wie ich seit zwei Jahren Mutter ist, hat man so was auf Anhieb parat. Aktuelle Charts gehen dagegen gerade nicht so gut. Mal wieder ausgehen oder gar tanzen, das wäre was. Aber gerade ist irgendwie der falsche Moment, darüber zu jammern.

Endlich. Alex kommt zur Haustür rein und schaut zerknirscht. Als ich ihn fragend anschaue, zuckt er mit den Achseln und sagt: »Das Auto wurde abgeschleppt. Wo wir geparkt haben, bauen sie jetzt was an der Straße und haben Schilder aufgestellt. Wir hätten vielleicht in letzter Zeit mal am Auto vorbeilaufen sollen. Immerhin ist es nicht geklaut«, schiebt er hinterher.

Na toll! Kein Auto. Aber natürlich haben »wir« das Auto dort geparkt, nicht er. Wenn ich es da geparkt hätte, hätte er es natürlich mir angelastet. Aber das ist mir jetzt alles egal, und immerhin hat Alex ein Taxi organisiert, das jetzt draußen vor der Tür auf uns wartet.

Der Fahrer schaut etwas kritisch, als er mich sieht, und ich glaube, wenn er mich früher gesehen hätte, hätte er Gas gegeben und uns stehen lassen. Aber so sitzen wir im Taxi und kommen halbwegs gut durch, obwohl doch recht viele Leute unterwegs sind, um noch für den Abend und den nächsten Tag einzukaufen. Bei einigen sieht es allerdings eher so aus, als würden sie für das komplette nächste Jahr einkaufen, so viele Tüten schleppen sie mit sich herum. Einmal muss ich sogar kurz lachen, als ich einen Mann mit Lederhose und Felljacke sehe, der einen Bollerwagen mit drei Kisten Bier und zwei Paketen Sekt hinter sich herzieht. Das wird bestimmt eine lustige Silvesterparty.

Ohne weitere Zwischenfälle kommen wir im Krankenhaus an, und der Fahrer ist sichtlich froh, uns wieder loszuwerden und tatsächlich Geld für die Fahrt zu bekommen. Ich will gar nicht wissen, wofür der uns gehalten hat. Im Weggehen sehe ich, wie er eine Sprayflasche Sagrotan aus dem Handschuhfach zieht und erst einmal sein Auto gründlich desinfiziert.

Im Krankenhaus schaut mich die Schwester am Empfang kritisch an. Mein Mann hatte mir ja schon bestätigt, dass ich furchtbar aussehe, und in der Zwischenzeit hat sich daran ja auch nichts geändert.

Als ich einen kurzen Blick in eine Fensterscheibe erhasche, erschrecke ich selbst. Ich kann in der Spiegelung zwar nur Schemen erkennen, aber das, was ich erblicke, reicht aus, dass ich mir wieder eine Ohnmacht herbeisehne.

»Ja, bitte?«, fragt uns die Dame am Empfang.

»Argh«, kann ich nur machen, denn gerade zieht wieder eine besonders fiese Wehe durch meinen Rücken bis nach vorne in meinen Bauch.

»Kind kommt«, stammelt Alex, der jetzt doch etwas nervös zu sein scheint.

»So etwas habe ich schon fast vermutet. Immerhin sind Sie zur Entbindungsstation gekommen«, antwortet die Schwester.

»Aber der Name würde mir helfen, und sind Sie schon angemeldet?« »Ja, bin angemeldet, Petermann«, presse ich zwischen hechelnden Atemzügen hervor.

»Einen Moment, bitte. Dann schaue ich mal nach.«

Die hat ja wirklich die Ruhe weg. Ich brauche jetzt ganz dringend eine PDA oder noch besser eine Vollnarkose, dann würde ich auch meinen Kopf nicht mehr spüren und das ganze Chaos um mich herum könnte mir gestohlen bleiben.

»Ah, ja«, meldet sich die Schwester vom Empfang wieder.

»Hier haben wir Sie ja, Frau Petermann. Ihr zweites Kind, wie ich sehe. Na, dann sind Sie ja schon fast ein Profi. Wird wohl ein Silvesterknaller, haha«, freut sie sich über ihren Scherz.

»Na, dann schaue ich mal, wo ich Sie unterbringen kann, heute ist hier nämlich Full House. Die Babys purzeln wie frisch gebackene Brezeln aus dem Automaten.«

Na, das ist ja wirklich eine richtige Witzkanone, die gute Schwester Gisela, wie ich ihrem Namensschild entnehmen kann.

Ich muss mich gegen die Wand lehnen, die Wehen werden unerträglich. Sitzen geht gar nicht mehr, und mein Stöhnen wird immer lauter. Es geht allerdings trotzdem etwas unter, da ähnliche Geräusche aus allen Türen rings um mich zu kommen scheinen. Ist das hier die Beschallung, damit man sich traut, auch zu stöhnen, oder sind wirklich alle Kreißsäle belegt?

Ich schaue Hilfe suchend meinen Mann an.

Er schaut etwas hilflos zurück und versucht es mal wieder mit einem seiner lockeren Sprüche: »Alles fit im Schritt?«

Ich fasse es nicht. Aber eigentlich sollte ich lachen, denn so gut hat dieser Spruch selten gepasst. Das letzte Mal war vor ziemlich genau neun Monaten. Es ist auf jeden Fall nicht der erste Einsatz dieses Spruchs.

»Da geht’s gleich mächtig rund«, antworte ich.

»Sieh zu, Josef, dass wir jetzt endlich einen Stall kriegen, sonst bekomme ich das Kind gleich hier, und du bist Ochs und Esel in Personalunion«, fauche ich Alex an.

»Im Ernst jetzt?«, fragt er ungläubig. Was meint der denn? Dass ich hier aus Spaß japse und stöhne?

»Nein, im Dieter.«

Jahrelange Übung befähigt mich, sogar in dieser Stresssituation mit den Standardantworten zu parieren.

Endlich kommt Schwester Gisela wieder. Wir können Kreißsaal Nummer 4 haben, und dann soll ich gleich noch zum Ultraschall. Aber ich glaube, da werden wir nicht mehr viel von haben. Kaum sind wir im Kreißsaal angekommen, reiße ich meine Hose von mir und lege mich auf die Liege, während Alex erst einmal erschöpft auf den Sessel sinkt.

Die Schmerzen werden unerträglich. Ich winde mich auf der Liege hin und her, so gut es geht, aber immerhin hat Alex mir ein feuchtes Tuch organisiert, mit dem er mir endlich das Blut aus meinem Gesicht wischt. Ich schaue ihn in einer Wehenpause dankbar an, um gleich danach bei der nächsten Wehe wieder laut zu brüllen: »Ich will jetzt endlich eine PDA. Sofort!«

Lina versucht es gerne mal mit »Sofort« und hat auch oft Erfolg mit dieser Taktik. Und tatsächlich: Die Tür geht auf und im Türrahmen steht eine imposante Person im Gegenlicht. Hier im Kreißsaal ist das Licht gedimmt, im Flur hingegen hell wie unter der Sonnenbank. Ich kann nur schemenhafte Umrisse erkennen. Ist die Hebamme etwa ein Mann?

»Was ist denn hirr firr ein Lärm?«, fragt die Hebamme. Anscheinend handelt es sich doch um eine Frau, auch wenn sie, wie ich beim Näherkommen feststelle, eine praktische Kurzhaarfrisur und einen leichten Oberlippenbart trägt.

»Meine Frau bekommt ein Kind«, beeilt sich Alex zu sagen.

»Ist das meistens so in Krreißsaal«, antwortet die Hebamme. Sind die hier eigentlich alle so verstrahlt?

»Bitte«, versuche ich es mit Freundlichkeit »Ich hätte ganz schrecklich gerne eine PDA. Meinen Sie, das wäre möglich?«

Ich versuche krampfhaft, nicht ihren osteuropäischen Akzent zu imitieren. Aber meine Spiegelneuronen feuern, als wären sie Raketen in der Silvesternacht.

»Schau ich mal. Abärr meist, wenn Frauen so schreien wie Sie, ist zu spät fir PDA«, macht sie mir wenig Hoffnung.

Immerhin kümmert sich jetzt mal jemand um mich, und ich kann mich fast ein wenig entspannen. Da kommt wieder eine Wehe, und ich krümme mich zusammen. Die Hebamme »Bin ich Schwesterr Irina« befiehlt mir, erst lang und dann hechelnd auszuatmen, und drückt gleichzeitig an eine Stelle auf meinem Rücken. Mit einem Mal ist es ganz leicht, die Wehe auszuhalten. Meine Bewunderung für diese Frau wächst plötzlich. Ist das das Stockholmsyndrom? Ich glaube, ich würde jetzt alles machen, was diese Frau sagt, wenn sie nur nicht aufhört, auf meinen Rücken zu drücken.

»So, schau ich schnäll, wie weit Muttärrmund ist. Bitte stellen Beine hoch und auseinandärr.«

Vom Ton her könnte sie auch in einer Kaserne arbeiten. Ich habe da zwar keine praktische Erfahrung, aber zumindest stelle ich mir den Umgangston dort so vor.

»Ach herrjäh«, ruft jetzt Schwester Irina und drückt auf den roten Notfallknopf. Alex wird ganz blass, wie ich aus den Augenwinkeln erkennen kann, und ich werde noch nervöser, als ich es ohnehin schon bin.

»Hat aberr viele Haare, die Kiind. Nächste Wehe dooll prässen, dann ist schon da.«

»Was? Jetzt schon? Es ist aber doch noch gar nicht der 1.1.«, fährt es mir durch den Kopf.

»Kann man das nicht noch etwas verzögern?«, fragt Alex jetzt von hinten. Er hat sich an die Tür verdrückt. Wozu habe ich den eigentlich mitgenommen?

Schwester Irina lacht kehlig. Es klingt, als hätte sie schon mindestens fünf Wodkachen intus, aber vermutlich lacht sie immer so.

»Nein. Kiind kommt jetzt.«

Ich kann nicht anders: Ich muss jetzt einfach pressen. Und wie beim Ostereierausblasen das Eigelb, so flutscht jetzt auch mit einer einzigen Presswehe mein Kind aus mir heraus. Einen kurzen Moment fühle ich mich noch, als würde es mich komplett zerreißen, und dann ist das Baby auch schon da.

In diesem Augenblick tritt auch der Arzt ins Zimmer. Das nenne ich Timing. Wird er schön abrechnen als Geburtsbegleitung, immerhin bin ich fürs Krankenhaus privat versichert.

»Alles roger in Kambodscha?«, begrüßt er die Anwesenden. Es handelt sich also hierbei um einen Bruder im Geiste von Alex.

Aber ja. Es ist wirklich alles gut. Denn auf meiner Brust liegt, nachdem Schwester Irina rasch die Nabelschnur durchschnitten und ihn mir dorthin gelegt hat, mein kleiner Sohn und schaut mich mit großen Augen verwundert an. Wie gerne wüsste ich, was in diesem kleinen Kopf vor sich geht. Es muss einfach wahnsinnig sein, von einer Welt in die andere einzutreten.

»Schade, kleines Menschlein, dass du keinerlei Erinnerung an diesen Augenblick festhalten kannst«, murmle ich und weiß, dass meine Erinnerungen daran umso intensiver sein werden.

Alex tritt zu mir, nimmt mich in den Arm, und gemeinsam genießen wir schweigend diesen Augenblick, in dem alle Last von einem abfällt, und verharren in diesem Moment des Anfangs, dem wirklich ein großer Zauber innewohnt.

Das Kind kriegt einen Namen

Erster Januar. Katerstimmung wie jedes Jahr. Mein Schädel brummt, als hätte ich entweder eine Bar ganz alleine leer getrunken oder wahlweise eins mit dem Vorschlaghammer überbekommen. Eine ganze Presslufthammerfabrik tobt in meinem Hirn, und ich überlege, ob ich nicht nach einem künstlichen Koma fragen sollte, wenn ich schon mal im Krankenhaus bin.

Diesmal ist es jedoch nicht der Alkohol, der für die Kopfschmerzen verantwortlich ist, sondern die leichte Gehirnerschütterung, verursacht durch meinen Treppensturz am Tag vorher.

Überhaupt: Mir tut gerade alles weh. Die Nachwehen sind nur mäßig erträglicher als die richtigen Wehen, aber glücklicherweise nicht so häufig, und dann ist da natürlich noch der Kopf: Der Schädel dröhnt, und die Platzwunde sticht und brennt. Ein kurzer Blick in den Spiegel hat mich zusätzlich akut in tiefe Depressionen gestürzt.

Ich würde mit meinem aktuellen Aussehen geradewegs als Chef-Erschrecker in der Geisterbahn genommen werden. Die Platzwundennaht hat der Gynäkologe gerade auch noch gemacht, nachdem er mit der Dammnaht fertig war. Momentan verdeckt noch ein großes Pflaster die Naht, aber ich hoffe sehr, dass er sich mit meinem Gesicht mehr Mühe gegeben hat als mit meinem Damm, untenherum erinnere ich nämlich eher an eine der gefüllten und dilettantisch zusammengenähten Martinsgänse, die meine Mutter immer macht. Früher hat sie nie so aufwendig gekocht, aber nachdem wir Kinder aus dem Haus waren, hat sie die Kochleidenschaft gepackt, und sie befindet sich im permanenten Wettstreit mit den Nachbarinnen in ihrem Viertel, wer denn jetzt schöner, besser, leckerer, bioiger oder dekadenter kocht.

Aber zurück zu mir und meinem Elend: Der Bluterguss von der Schläfe zieht bis über mein rechtes Auge, und ich sehe aus, als hätte ich mich auf der Kirmes beim Preisboxen versucht und dabei »Herkules, der Unbesiegbare« als Gegner gezogen.

Die Schwester, die heute Morgen mitten in der Nacht zum Wecken das Zimmer stürmte, bekam bei meinem Anblick erst einmal einen riesigen Schrecken und hat mir dann angeboten, die Polizei zu rufen. Sie meinte, dass ich mich mit häuslicher Gewalt nicht abfinden müsse.

Zuerst fand ich ihre Hilfsbereitschaft süß, aber dann war ich auch ein wenig beleidigt, dass ich wie jemand aussehe, der sich schlagen lässt, und nicht wie eine, die kräftig zurückhaut, was eher meinem Naturell entspräche.

Neben mir ist ein Schmatzen zu vernehmen. Das neue Baby hat Hunger. Der arme Kerl hat noch keinen Namen, da ich mich geweigert hatte, mir vor dem 1. Januar einen zu überlegen. Ich hatte die irrige Annahme, solange es keinen Namen gibt, bleibt das Baby auch im Bauch.

Vielleicht sollte ich doch mal meine Logik überdenken. Andererseits ist es dafür jetzt auch zu spät.

»Wie heißt denn Ihre Kleine?«, fragt die frischgebackene Mutter im Bett nebenan. Frechheit, auch wenn die Schwester meinem Sohn einen Strampelanzug mit rosa Elefanten angezogen hat, finde ich, dass er doch sehr maskuline Züge und eine gewisse Strenge im Blick hat, sodass eine Verwechslung mit einem Mädchen eigentlich ausgeschlossen sein sollte.

»Na warte nur, bis du seine Hoden gesehen hast, da wirste froschgrün vor lauter Neid«, denke ich und wundere mich über meine Gedanken. Rivalität unter Müttern schon am ersten Lebenstag? Das ist vielleicht doch etwas übertrieben. Ich werfe einen Blick auf das Baby meiner Zimmernachbarin und stelle zufrieden fest, dass meines auf jeden Fall hübscher ist und nach einem Blick auf das Schild am Bettchen registriere ich befriedigt, dass mein Baby 265 Gramm mehr wiegt und einen ganzen Zentimeter länger ist. Gewonnen! Sind zwar noch keine 24 Stunden rum, aber strenggenommen ist es ja schon der zweite Lebenstag meines Kindes. Let the games begin!

»Lina«, antworte ich, irgendwie ja auch wahrheitsgemäß.

»Ach wie süß!«, kommt es von nebenan. »Und wie heißt sie richtig?«

»Das ist ihr richtiger Name«, antworte ich verwirrt.

»Nein«, fährt mir Frau Oberschlau über den Mund, »das ist doch nur eine Abkürzung für Angelina, Katalina oder Selina oder Was-auch-immer-lina.«

Häh? Was will die? Sind vier Buchstaben etwa zu wenig für einen Namen?

»Ja, stimmt. Wir wollten sie eigentlich Schokolina nennen, aber da hat der Standesbeamte ›Nein‹ gesagt. Also haben wir es bei der Abkürzung belassen.«

So. Jetzt hält sie hoffentlich ihre Klappe.

»Schookolina. Nein wie putzig. So ein Name wird verboten? Das gibt’s ja gar nicht. Ich hab ja noch einen großen Sohn, der heißt Raffaello. Da gab’s gar keine Probleme, obwohl das doch auch Schnuckelkram ist.«

Offensichtlich hat die Frau eine Vorliebe für Süßigkeiten, die Pfunde, die sie an ihrem Körper trägt, kann sie sich zumindest nicht während einer einzigen Schwangerschaft angefuttert haben. Jetzt wechselt sie das Thema: »Hach, was hab ich mich geärgert. »Meine Milka-Cheyenne kam heute Nacht genau um drei Minuten nach Mitternacht.«

Milka-Cheyenne. Sie spricht es »Milka-Schajenne« aus, kein Wunder, dass sie Lina zu kurz findet.

»Und warum ärgert Sie das?«, frage ich interessiert. Immerhin ärgere ich mich, dass der kleine Mann hier neben mir satte fünf Stunden vor Mitternacht auf die Welt gekommen ist.

»Na wegen dem Erziehungsgeld. Jetzt gibt es doch weniger mit Stichtag 1.1. Und ich hab doch vorher nicht gearbeitet wegen dem Raffaello. Da krieg ich natürlich auch kein Elterngeld.«

Das ist mein Schlechte-Laune-Stichwort: Elterngeld. Ich habe trotz Lina noch halbtags gearbeitet, gehe aber jetzt leider leer aus, da mein Baby statt am 1.1.2007 am 31.12.2006 geboren wurde. Für Erziehungsgeld verdient mein Mann wiederum gerade zu viel. Ich habe mich da schlau gemacht.

Nach der Geburt wollte ich Alex dazu bringen, noch schnell was an der Akte zu manipulieren, als Arzt und Schwester uns unser Glück alleine genießen lassen wollten, aber der Feigling hat es natürlich nicht gemacht, weil er meinte, fünf Stunden wären echt zu viel.

Runde zehntausend Euro kosten uns diese fünf Stunden Unterschied. Es ist zum Heulen. Eigentlich schätze ich Pünktlichkeit und stimme Alex‘ Lieblingsspruch zu diesem Thema »Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit« voll zu. Aber diesmal wären mir fünf Stunden Verspätung echt lieber gewesen.

Mir laufen Tränen über die Wangen, obwohl ich das gar nicht will. Sind vermutlich die Hormone.

»Was Süßes? Hilft gegen alles, sogar Baby-Blues. Nur nicht gegen Übergewicht.«

Die Frau nebenan grinst und zieht einen Schokoweihnachtsmann aus ihrer Schublade und bietet ihn mir an. Ich bin beeindruckt, wie sie sich hier schon eingerichtet hat, und ihre Selbstironie gefällt mir. Vielleicht ist sie ja doch gar nicht so übel. Ich merke, dass ich das letzte Mal vor dreißig Stunden etwas gegessen habe und mein Magen schmerzt, obwohl die Nachwehen jetzt abgeklungen sind. Dankbar nehme ich den Nikolaus an. Vollmilch. Genau meine Sorte. Bei Schokolade mag ich keine Experimente, Salz und Chili brauche ich nicht, selbst Nüsse finde ich schon grenzwertig. Alex isst am liebsten Traube-Nuss, wobei ich den Verdacht habe, er kauft sie nur, weil er sicher sein kann, dass ich ihm da nichts wegesse. Dafür kaufe ich immer extrasaure Gummibärchen, die mag er wiederum nicht.

Na ja, dann steigern wir mal die Milchproduktion. Kakao wird meinem Sohn bestimmt auch schmecken.

Der kleine Mann scheint ebenfalls Hunger zu haben. Zu dem Schmatzen nebenan kommt jetzt noch ein wehleidiges Wimmern. Komisch, Lina hat nie so gewimmert. Ihr Schreien hatte von Anfang an etwas Bestimmtes, Herrisches. Ob ich dieses Baby genauso lieben kann wie meine kleine, süße, lustige Lina?

Schon wieder rollt eine Träne über mein Gesicht. Wo kommen die denn alle auf einmal her? Seufzend nehme ich den kleinen Mann aus seinem Bettchen – wie leicht der ist! – und lege ihn an meine Brust. Sofort fängt sein kleiner Mund zu suchen an, und mit einem schmatzenden Geräusch saugt er sich an der Brust fest. Wie ein Blutegel. Kein besonders schmeichelhafter Vergleich, aber mein Hirn ist leer, und mir fällt nichts Besseres ein. Ich schaue mir mein Baby an und bin fasziniert von diesem Menschlein. So klein und fein und doch alles dran. Die winzigen Händchen mit den Fingernägeln. Die süße Stubsnase mit der kleinen Furche darüber. Der muss aber aufpassen, das gibt ruck, zuck eine ausgewachsene Zornesfalte, und Botox alle vier Monate geht ins Geld, habe ich mir sagen lassen.

Die feinen Härchen. Der hat ja jetzt schon mehr Haare als Lina. Das Füßchen, von dem die Socke abgefallen ist. Wann erfindet denn eigentlich endlich mal jemand Babysöckchen, die auch an Babyfüßen halten? Zu Hause habe ich unzählige einzelne Babysocken, deren Gegenstücke irgendwo aus dem Kinderwagen gefallen oder im Sandkasten stecken geblieben sind.

Beim Anblick meines Sohnes wird mir warm ums Herz. Da sind sie doch, die Muttergefühle. Für einen Moment ist mir ganz egal, wie viel Geld ich wegen fünf Stunden nicht bekomme, ich habe meinen Sohn, und mir wird klar, dass ich ihn genauso liebhabe wie Lina.

»Hallo, meine Schöne, alles klar im BH?«

Der frischgebackene Papa kommt zur Tür rein.

»Hallo, Alex«, antworte ich und wundere mich, wie er es schafft, schon wieder so frisch auszusehen. Aber dann fällt mir ein, dass ich das Kind ja gestern bekommen habe und er lediglich ein paar Minuten aktiv an der Zeugung mitgewirkt hat. Dass er sich davon erholt hat, sollte ja auch wirklich selbstverständlich sein.

»Wo hast du denn Lina gelassen?«

Meine Zimmernachbarin schaut kurz auf und hält mich vermutlich für bescheuert.

»Die kommt gleich mit Oma und Opa, da waren wir zum Frühstücken. Hier, ich habe dir ein paar frische Croissants mitgebracht.«

Na, immerhin. Der köstliche Duft der frischen Backware steigt mir in die Nase, und da ich merke, dass das Baby an meiner Brust eingeschlafen ist, nehme ich meinen Sohn vorsichtig und lege ihn in sein Bettchen. Er schnappt noch ein paarmal wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber dann rülpst er kräftig und schläft grunzend weiter. Also wenn die Tante neben mir jetzt nicht merkt, dass das Kind ein Junge ist, dann ist da echt nichts mehr zu machen.

»Wie war eure erste Nacht?«, fragt Alex. »Wie war der Stuhlgang?«

Will der das jetzt ernsthaft wissen?

»Lina und ich haben Raketen geschaut gestern Nacht. Hat ihr riesigen Spaß gemacht. Sie hat immer ›BumBum‹ gesagt und in die Hände geklatscht.«

Das hätte mir gestern bestimmt auch mehr Spaß gemacht als Kinderkriegen. Inzwischen schaut die Frau im Nachbarbett auch meinen Mann irritiert an, schüttelt den Kopf und vertieft sich dann wieder in ihre Gala. Die hat echt an alles gedacht. Vielleicht kann ich mir die nachher ja mal ausborgen.

Die Tür geht ein weiteres Mal auf, und Lina kommt zur Tür hereinmarschiert, im Schlepptau meine Schwiegereltern.

»Na, alles im Lot auf’m Boot?«, begrüßt mich meine Schwiegermutter, und die ersten Worte meines Schwiegervaters sind: »Wie war denn der erste Stuhlgang?«

Alex ist wirklich die perfekte Schnittmenge aus beiden. »Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe«, schiebt meine Schwiegermutter hinterher und reißt das Baby aus seinem Bettchen.

»Schau mal, Linalein, das ist dein kleiner Bruder.«

Lina will ihn auch mal halten, aber als sie näher kommt, meint sie nur: »Igitt, der stinkt!«

Der kleine Mann fängt vor lauter Schreck vor den schmierigen Patschhändchen seiner Schwester erst einmal an zu schreien. Na, das sieht noch nicht so richtig nach inniger Geschwisterliebe aus.

»Ich mach das schon. Bleib ruhig liegen«, bietet sich Alex großzügig an und nimmt seiner Mutter das Kind ab. Geschickt macht er das. Er weiß also noch, wie es geht. Unfallfrei legt er das Kind auf dem Wickeltisch ab und streift Strampelanzug und Windel ab. Mein Schwiegervater stellt sich interessiert hinter ihn. Ich bin sicher, dass der noch nie im Leben einem Baby die Windeln gewechselt hat. Für das Kind und den Haushalt war immer meine Schwiegermutter zuständig. Genauso wie bei meinen Eltern auch. Anerkennend nickt mein Schwiegervater seinem Sohn zu: »Du bist ja ein richtig moderner Vater, was? Ist das richtig so, dass das so schwarz ist und klebt? Ich kann den Kleinen mitnehmen zu Dr. Fitzinger und mal durchchecken lassen.«

Mein Schwiegervater Günter neigt zur Hypochondrie, und Dr. Fitzinger ist sein Hausarzt. Ich glaube, der kennt ihn besser als meine Schwiegermutter.

»Nein, alles richtig so, Papa«, antwortet mein Mann fachmännisch. »Das nennt man Kindspech. Das ist nur am Anfang so.«

»Wie heißt denn der kleine Mann nun?«, fragt meine Schwiegermutter, die gerade Lina davon abhält, auf die Fensterbank zu klettern.

»Ich finde ja, Sebastian oder Philipp wären schöne Namen. Oder Fin oder Lukas, das wär mal was Modernes«, schlägt Gabi, meine Schwiegermutter, vor.

»Ich wollte eigentlich nicht, dass wenn ich nach meinem Kind auf dem Spielplatz rufe, zehn andere kommen«, erwidere ich.

»Ich finde, ihr solltet ihn Walter nennen, nach meinem Vater, das hat doch dann Tradition«, schaltet sich jetzt mein Schwiegervater ein. Sogar Lina hat einen Vorschlag: Ken. Von Annika, dem 15-jährigen Mädchen, das mit ihrer Familie in der Wohnung neben Frau Neumeier wohnt, hat Lina vor zwei Wochen deren Barbie-Sammlung geschenkt bekommen, und am besten gefällt ihr Prinz Ken.

Ich zucke mit den Schultern.

»Ich weiß nicht. Wir müssen ihn uns noch mal genau anschauen.«

»Hallo zusammen.« Eine Krankenschwester kommt ins Zimmer herein: »Ich möchte Die bitten, alle mal kurz das Zimmer zu verlassen, wir haben jetzt Visite.«

»Ah, das ist gut«, sagt mein Schwiegervater, »dann kann ich den Doktor ja auch gerade noch was fragen. Ich habe da gestern dieses Muttermal entdeckt, das scheint mir nicht ganz koscher zu sein.«

Meine Schwiegermutter rollt genervt mit den Augen: »Günter, das ist ein Frauenarzt. Was soll der denn zu einem Muttermal sagen?«

»Na, Medizin wird er ja studiert haben«, erwidert mein Schwiegervater patzig.

Aber dann verlassen doch alle erst einmal brav den Raum und ein ziemlich gut aussehender Arzt betritt mit zwei Schwestern im Gefolge das Zimmer.

»Guten Morgen, die Damen. Herzlichen Glückwunsch erst einmal, und ich hoffe, Sie haben die letzte Nacht gut verbracht.«

Ist das wirklich der Arzt, oder ist der vom Krankenhaus-Qualitätscheck?

Er untersucht Milka-Cheyennes Mama und mich. Wow, hat der weiche Hände! Sofort fällt mir wieder ein, wie ich aussehe, und ich schäme mich. Ich versuche, wenigstens den Bauch einzuziehen und untenrum eine halbwegs anständige Figur abzugeben, aber zwölf Stunden nach der Geburt ist da nicht viel zu machen.

Es ist alles prima, meiner Nachbarin rät er noch, den Schoki-Konsum etwas zu reduzieren, dann schaut er sich noch mal kurz die Babys an. Mein Sohn hat die Augen offen und blickt zu dem Elefanten-Mobile, das meine Schwiegermutter mitgebracht und über seinem Bettchen angebracht hat. Ich fürchte, es wird jeden Moment runterfallen, Babybettchen auf Entbindungsstationen sind nicht dafür ausgelegt, dass man dort Mobiles aufhängt. Der nette Arzt schaut meinen Sohn an und sagt zu ihm: »Na, du hast ja schöne braune Augen, kleiner Mann. So dunkel wie Fritz-Cola.«

Ich lächle den Halbgott in Weiß an. Fritz ist doch ein schöner Name. Fritz Petermann.

Baby-Blues

Wir sind wieder zu Hause. Erstaunlicherweise hat diesmal alles ohne Zwischenfälle geklappt, und Fritz hat sein neues Zuhause bezogen. Alex hat tatsächlich die zwei Tage, die ich im Krankenhaus war, genutzt, um das Babybettchen zu beziehen und die Babysachen rauszusuchen, die von Lina übrig sind und die man auch einem Jungen anziehen kann. Er hat Windeln gekauft und sogar etwas zum Abendessen. Allerdings glaube ich nicht, dass er den Nudelsalat, den er auftischt, selbst gemacht hat. Garantiert hat den Gabi vorbeigebracht. Aber egal, Hauptsache, es schmeckt.

Alex wollte eigentlich zwei Wochen Urlaub nehmen, aber da sein Kollege krank geworden ist, kann er nur eine Woche zu Hause bleiben. Ich bedaure das sehr, denn er ist mir wirklich eine große Hilfe. Nachts muss ich natürlich selbst ran, da ich stille. Aber waschen, putzen, Lina – übernimmt alles Alex. Er kocht sogar. Nicht besonders ambitioniert, aber ich beschwere mich lieber nicht, sonst muss ich es nämlich selber machen.

Meine Eltern waren auch schon da. Meine Mutter hat sich gleich Fritz geschnappt und erst einmal die Nase über seinen Namen gerümpft. Der wäre ja wohl doch etwas aus der Zeit gefallen, und ob wir denn auch mal darüber nachgedacht hätten, was andere Kinder wohl aus dem Namen machen würden: »Fritz-Witz« oder »Fritzel-Schnitzel«. Ein wenig hat sie mich damit schon ins Grübeln gebracht. Wie dumm, dass Mütter eigentlich immer irgendwie recht haben, auch wenn man das nicht unbedingt wahrhaben möchte. Aber ich bin auch eine Mutter, und ich habe auch recht. Zumindest so viel, dass es für Zweijährige und Zweitägige reicht. Jetzt können wir eh nichts mehr am Namen ändern, und er gefällt uns, und der Junge hat ja wirklich Fritz-Cola-braune Augen.

Ich habe dann mal das Thema auf ihren Besuch bei meinem Bruder in Berlin gelenkt.

»Ja, mit Inga ist schon wieder Schluss«, eröffnet sie ihren Bericht.

»Was ist denn bloß mit den Mädchen in Berlin los? Der Steffen ist doch so eine gute Partie. Rechtsanwalt in einer guten Kanzlei, und er sieht doch auch fantastisch aus, und gut kochen und tanzen kann er auch.«

Dass sie da bei dieser Aufzählung nicht selbst stutzig wird, wundert mich immer wieder. Mein Bruder steht einfach nicht auf Frauen, und Inga war, wenn es überhaupt jemanden gab, ein Ingo. Steffen erfindet ständig irgendwelche Liebschaften, weil er zu feige ist, meiner Mutter zu beichten, dass er schwul ist. Dabei glaube ich noch nicht mal, dass eine Welt für sie zusammenbrechen würde, wenn sie es wüsste. Vielleicht würde das ja sogar ihr Standing in ihrem Desperate-Housewives-Club verbessern, wenn sie einen homosexuellen Sohn hat. So hat sie zwar einen Anwalts-Sohn im hippen Berlin, aber auch einen ohne feste Beziehung und Aussicht auf Enkel. Abgesehen davon glaube ich, dass alle Nachbarinnen meiner Eltern sich längst das Maul über meinen Bruder zerreißen. Aber ich sage nichts und höre mir nur die Geschichten von Designermöbeln, neuem BMW und seinem letzten Urlaub auf Ibiza an.

Na ja, jedenfalls besser, als mir weiterhin Vorhaltungen über die Namensgebung meiner Kinder machen zu lassen. Mein Vater hat sich wie immer gleich vor den Fernseher gesetzt, immerhin hat er einen kurzen Blick auf Fritz geworfen und festgestellt, dass ja alles dran ist. Das reicht ihm schon, da ist er genügsam. Jetzt schaut er erst einmal Skispringen oder Abfahrtslauf, ich kann das nicht auseinanderhalten. Sport ist nicht so mein Gebiet, weder aktiv noch passiv. Alex schaut gerne Fußball, aber damit hat es sich auch schon, da sind wir uns sehr ähnlich.

Fritz stinkt schon wieder, und meine Mutter drückt mir meinen Sohn wieder in die Arme: »Dein Kind, mein Schatz.«

Sogar mein Vater schaut kurz vom Fernseher weg: »Was stinkt denn hier so furchtbar?«

»Wir gehen dann jetzt mal wieder«, verabschiedet sich meine Mutter und schaltet meinem Vater den Fernseher aus.

»Tschüss, Alex, kümmer dich gut um meine Tochter und deine Kinder«, ruft sie meinem Mann zu, der sich in die Küche verdrückt hat. Dann gibt sie Lina noch einen Kuss auf die Stirn und verschwindet mit meinem Vater, der ohne Murren aufgestanden ist.

»Den hat sie wirklich gut konditioniert«, denke ich anerkennend.

Immerhin hat sie einen großen Topf voller selbst gemachter Nudelsuppe dagelassen. Die macht sie, wie ihre Mutter sie schon gekocht hat, und die schmeckt einfach fantastisch. Ich muss mir unbedingt mal das Rezept geben lassen, aber ich bezweifle, dass es auch so gut schmecken würde, wenn ich es selbst kochte.

Erschöpft lasse ich mich auf den Sessel fallen. Ein Fernseh-Massagesessel. Ein besonders abscheuliches Stück, das Alex mit in die Beziehung gebracht hat und das auf keinen Fall ohne ihn ausziehen wird, wie er immer wieder gerne betont, wenn ich die Sprache auf das gute Stück bringe. Aber er ist wirklich bequem, und die Massagefunktion ist jetzt genau das Richtige für mich. Warum geht bei Männern eigentlich immer Bequemlichkeit vor Schönheit? Mein Mann hat keine Schuhe, die er nur zum Telefonieren oder Nägellackieren anziehen kann, da sie zwar knallermäßig aussehen, aber zum Laufen oder Länger-als-fünf-Minuten-Stehen nur bedingt geeignet sind.

Da frage ich mich manchmal auch, ob er mich wirklich schön findet, wie er immer behauptet, oder ob ich einfach eine bequeme Lösung bin. Vermutlich ein bisschen von beidem. Einfach nicht weiter darüber nachdenken.

Das Telefon klingelt, erstaunlich eigentlich, dass es die letzte Stunde mal nicht geklingelt hat. Alex hat die frohe Kunde von Fritz‘ Geburt gleich per Sammel-E-Mail an alle Freunde, Verwandte, Kollegen und nur irgendwie Bekannte geschickt, und jetzt fühlt sich jeder bemüßigt, uns zu gratulieren. Eigentlich ja nett, aber gegen ein wenig Ruhe hätte ich auch nichts einzuwenden. Als ich den Hörer abnehme, ist meine Freundin Regine am anderen Ende der Leitung.

»Hallo, Süße! Herzlichen Glückwunsch zum neuen Baby! Was ist es denn geworden?«

Besonders aufmerksam scheint sie ihre E-Mails ja nicht zu lesen.

»Ein Fritz«, antworte ich.

»Ist das ein Witz? Du nennst dein Kind wie einen alten Mann?«, kommt es vom anderen Ende der Leitung. Ist das wirklich meine Freundin, mit der ich da telefoniere? Vielleicht sollte ich diese Beziehung doch noch mal überdenken.

»Das hat bestimmt deine Mutter gesagt, oder?«, fügt sie jetzt aber noch hinzu.