Blind Sight - Carol O'Connell - E-Book
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Blind Sight E-Book

Carol O'Connell

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Beschreibung

Ein blinder Junge und eine Nonne verschwinden. Einfach so, am helllichten Tag. Dann ein Leichenfund im Garten des New Yorker Oberbürgermeisters. Vier Tote mit herausgeschnittenen Herzen – und auch die Nonne ist dabei. Doch wo ist der Junge? Die Polizei, die Politik, die Medien, es wird viel geredet in der Stadt, die niemals schläft, und noch mehr wird verschwiegen. Nur Detective Mallory ahnt, dass irgendwo da draußen ein blindes Kind ist, allein mit seinem Mörder. Und dass nicht mehr viel Zeit bleibt, das Schlimmste abzuwenden.

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Seitenzahl: 642

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Zum Buch

Ein blinder Junge und eine Nonne verschwinden. Einfach so, am helllichten Tag. Dann ein Leichenfund im Garten des New Yorker Oberbürgermeisters. Vier Tote mit herausgeschnittenen Herzen – und auch die Nonne ist dabei. Doch wo ist der Junge? Die Polizei, die Politik, die Medien, es wird viel geredet in der Stadt, die niemals schläft, und noch mehr wird verschwiegen. Nur Detective Mallory ahnt, dass irgendwo da draußen ein blindes Kind ist, allein mit seinem Mörder. Und dass nicht mehr viel Zeit bleibt, das Schlimmste abzuwenden.

Zur Autorin

CAROL O’CONNELL, geboren 1947, lebt in New York. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller und schuf mit Kathy Mallory eine der originellsten und bestechendsten Detektivfiguren in der Kriminalliteratur. Nach ihrem Kunststudium stellte Carol O’Connell jahrelang surrealistische Gemälde in Cafés aus und finanzierte ihren Unterhalt mit Gelegenheitsjobs, bevor sie sich 1995 mit ihrem Debütroman »Ein Ort zum Sterben« in die Spitzenriege der Krimiautorinnen schrieb.

CAROL O’CONNELL BEI BTB

Ein Ort zum Sterben. ThrillerDer Mann, der die Frauen belog. ThrillerSuch mich! ThrillerTödliche Geschenke. ThrillerKreidemädchen. ThrillerEs geschah im Dunkeln. Thriller

CAROL O’CONNELL

BLIND SIGHT

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Judith Schwaab

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Blind Sight« bei G.P. Putnam’s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung November 2018

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Carol O’Connell

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with G.P. Putnam’s Sons, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Victor Korchenko/Arcangel Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

cb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-21737-2V001

www.btb-verlag.de

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Die Wiedergeburt der Selbstverlage durch das Internet ist nicht genug, um Ideen am Leben zu erhalten und sie hell erstrahlen zu lassen, nicht in einer Zukunft, in der es nur noch einen einzigen Buchladen inmitten einer verbrannten Landschaft gibt, die sich einmal Buchmarkt nannte.

Carol O’Connell

Prolog

Das Ungewöhnliche war hier die Norm, und trotzdem verdrehten die Einheimischen die Köpfe, als sie die Straße entlangging. Andere, die Touristen, suchten nur nach Wahrzeichen dafür, wie das Leben hier früher einmal gewesen war. Was um sie herum geschah, interessierte sie kaum, und so schritt die in Schwarz gewandete Frau einfach an ihnen vorbei. Direkt vor ihren Augen. Ohne gesehen zu werden.

Läden und Cafés öffneten unter einem blauen Himmel an der schmalen, aber berühmten Straße St. Marks Place, und der erste Schwung Touristen, etwa ein Dutzend, scharte sich um ihren Stadtführer, der längst verflossene Zeiten heraufbeschwor, als das hier noch eine coole, gefährliche Gegend gewesen war, in der Drogen gehandelt wurden – ein Vergnügungsviertel, dessen Marihuanaschwaden man drei Blocks entfernt roch. »Damals brauchte man sich gar keinen Joint reinzuziehen«, sagte er. »Man holte einfach tief Luft, und schon war man bekifft. Es war eine Party, die Jahre dauerte.«

»Jahrzehnte«, sagte ein beleibter weißhaariger New Yorker, der sein langes Leben in einer Wohnung über dem Tante-Emma-Laden seiner Familie verbracht hatte. Er kehrte den Touristen den Rücken zu und machte sich an einer quietschenden Kurbelstange zu schaffen. Mit nur wenigen flinken Umdrehungen hatte er eine gestreifte Markise herabgelassen, um seinem Blumenstand etwas Schatten zu spenden. Der Stand war winzig und passte gerade eben auf den schmalen Gehweg, über den jetzt Turnschuhe und Sandalen marschierten, während die Touristengruppe ihren Marsch fortsetzte.

Auf der Straße wurde es eng für die Autos, die sich den Platz mit zwei angejahrten Rock-’n’-Rollern teilen mussten, die zu Fuß auf der Fahrbahn unterwegs waren. Der Besitzer des Tante-Emma-Ladens konnte solche Leute gut einschätzen. Er nannte sie Pilger. Sie blieben stehen, um Fotos von ihrem Schrein zu machen, einem Brownstone-Haus, das einmal auf einem Plattencover abgebildet gewesen war, damals, als es Musik noch auf Vinyl gab, als die Songs auf der Platte schon alt und die beiden Männer selbst noch jung waren.

Der Ladenbesitzer trat unter seiner Markise hervor und schaute zum Himmel. Wolkenlos. Wie sehr er diese Tage im Frühsommer liebte, wenn die kleinen Ladendiebe der Gegend noch an ihre Pulte im Klassenzimmer gefesselt waren. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass sich etwas Dunkles in seine Richtung bewegte, und dieser erste Schreck des Morgens zauberte ihm sogleich ein breites Lächeln auf die Lippen.

»Angie!« Wie viele Jahre war das her? Zu viele. »So erwachsen!« Er hatte glatt gelogen, denn Angela Quill war um keinen Tag gealtert. Mittlerweile musste sie Mitte zwanzig sein, doch ihre großen grauen Augen waren immer noch die eines Kindes, das erst noch in seinen Körper hineinwachsen muss.

Er entließ das Mädchen aus seiner herzlichen Umarmung und trat einen Schritt zurück, um sich Angie genauer anzuschauen, zu sehen, was sie trug, was aus ihr geworden war. Diese Verschleierung war doch selbst in ihrer Zunft schon lange nicht mehr üblich. Und eine weiße Gimpe umrahmte ihr Gesicht. An ihrem weiten schwarzen Habit war so viel Stoff, dass drei von ihrer Statur hineingepasst hätten. Außerdem war es so lang, dass es sogar die Füße bedeckte – ganz unpassend in dieser Zeit, in der sogar für Ordensschwestern die Rocksäume nach oben gewandert waren.

Der Mann nahm sein Hörgerät aus dem Ohr und machte sich am Regler zu schaffen, weil es laut gepfiffen hatte. »Was? Sag’s noch mal!« Ach, sie war im Kloster? Diesen Weg hätte er für sie nie ausgesucht. Solche Frauen wurden weggesperrt und lebten bis ans Ende ihrer Tage hinter dicken Mauern.

Trotzdem war sie da – in der Stadt unterwegs. Wie konnte das sein? …

Sie wollte Blumen kaufen, doch die am Stand waren alle dutzendweise zu Sträußen verpackt. Würde er ihr auch nur zwei Rosen verkaufen? Sie hatte bloß Geld für zwei.

»Für dich? Hier.« Er lud ihr gleich zwei Sträuße mit zwölf roten Rosen auf die Arme, so sehr freute er sich, seine Angie wiederzusehen. »Und dein Geld nehme ich nicht.« Sie redeten eine Weile, und ein jeder Satz begann mit den Worten: »Ich weiß noch, wie …« Mit zehn war Angie sein Blumenmädchen gewesen. Nachdem es einmal einen frühen Nachtfrost gegeben hatte, hatte das kleine Mädchen ihn in seiner Wohnung besucht und die erfrorenen Rosenbüsche aus seinem Blumenkasten fortgetragen. Als dann der Frühling kam, hatte Angie die Samen dieser erfrorenen Rosen angepflanzt, in kleine Rosenbüsche in winzigen Töpfen verwandelt und ihm gebracht. Heutzutage wurden all seine Pflanzen und Schnittblumen per Lastwagen geliefert. Das war nicht dasselbe – nicht so bezaubernd wie ein kleines Mädchen mit einem grünen Daumen, das Rosen zu neuem Leben erwecken konnte.

Ob er wisse, wie viel Uhr es war?

»Musst du schon gehen?« Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Kunden abgelenkt – nur ganz kurz. Als er sich wieder zu Angie umdrehte, war sie verschwunden und nirgendwo mehr zu sehen. Wie hatte sie gehen können, ohne sich von ihm zu verabschieden? Und sie hatte ihre Rosen nicht mitgenommen. Nicht alle. Nur zwei. Und es lagen ein paar Dollarscheine da. Suchend blickte er die Straße entlang. Ihr schwarzes Ornat wäre unter all den Leuten mit nackten Beinen doch bestimmt aufgefallen.

Aber nein. Wusch. Weg. Und so schnell. Wie war sie nur …

Eine Frau schrie.

Angie? O Gott, nein!

Eine Gruppe junger Mädchen kam schrill lachend auf ihn zu. So laut. Er drehte am Regler seines Hörgeräts und machte die Mädchen für den Schrei verantwortlich. Alberne Gänse. Da konnte einem ja das Herz stehen bleiben.

»Alle mal nach oben schauen!« Die Touristengruppe hielt vor einem leerstehenden Laden, und ihr Guide zeigte auf das Wohnhaus gegenüber.

Die Bewohnerin des zweiten Stocks, eine ältere Dame, die ans Haus gefesselt war, dachte, der Mann meine sie, doch er sprach von einem längst verblichenen Dichter, der hier früher gewohnt hatte.

Sie wünschte, die Touristen würden endlich weitergehen. Sie versperrten ihr die Sicht.

Die Frau im Rollstuhl lebte streng nach der Uhr, und von ihrer Stunde am Fenster blieben ihr nur noch genau fünfzig Minuten, Zeit genug für ein kleines Frühstück und ihr Kreuzworträtsel. Außerdem hatte sie eine stillschweigende Übereinkunft mit dem alten Mann auf dem Gehweg gegenüber. Obwohl sie schon seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen hatte, lebte sie seit Urzeiten an der St. Marks Place und gehörte zu den wenigen, die wussten, wie er hieß, und sich daran erinnern konnten, dass Albert Costello einmal ein lebhafter und gesprächiger Mann gewesen war. Heutzutage war er ein Einsiedler. Trotzdem hatte er feste Zeiten, in denen er ausging, und so wusste die alte Dame ganz genau, wo sie ihn jeden Morgen gegen neun finden würde, wenn sie mit ihrem Rollstuhl ans Fenster fuhr, und da …

Oh! Wo war er denn, der magere Zausel?

Sie hatte den Blick vom Fenster abgewandt, um ein paar Kästchen in ihrem Kreuzworträtsel auszufüllen. In diesen wenigen Sekunden war ihr alter Weggefährte einfach verschwunden und hatte seinen Posten dort unter der Laterne verlassen – und das lange vor dem Ende der Stunde, die sie jeden Tag auf diese Weise miteinander verbrachten.

Wo konnte er hin sein? Albert war so alt wie sie. Er kam nicht schnell vorwärts, selbst wenn er nur bis zur Tür seines Mietshauses gegangen wäre. Sie schaute auf den Touristenstrom hinab, der sich auf dem Gehweg unter ihr entlangwälzte, doch Alberts lieben Glatzkopf sah sie nirgendwo.

Nun, das war mal was anderes. Für Rätsel hatte die alte Dame viel übrig, aber das hier fand sie eher beunruhigend.

Dass weiter unten auf der Straße eine Frau schrie, war deutlich weniger interessant.

Der Guide stellte sich vor ein Bekleidungsgeschäft. »Hier war mal ein Jazzclub, in dem Charlie Parker gespielt hat. Der größte Saxofonist aller Zeiten.« Die Gruppe blieb stehen, um Fotos von dem berühmten Nachtlokal zu machen, das es schon lange nicht mehr gab.

Jetzt hatten die Touristen die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes in Bluejeans geweckt, der auf dem Gehweg stand und sich gerade eine Schürze umband. Vor Mittag war hier nie viel los, aber er brauchte dringend eine Zigarette, bevor die ganzen bekloppten Touristen über das Café herfielen wie die Fliegen. O nein, jetzt drehten sie sich in seine Richtung. Zu spät? Na ja, es war immer noch Zeit genug für ein, zwei Züge. Eine Zigarette hing vom Mund des Kellners herab, während er sich gegen die Backsteinmauer lehnte und ein Streichholz anzündete. Er sah ein Kind um die Ecke kommen, einen blinden Jungen, der mit seinem weißen Stock über den Gehweg klapperte – und offenbar die Schule schwänzte. Gut gemacht, mein Kleiner. Dann ließ der Junge den Stock mit einem kurzen Zucken des Handgelenks zusammenklappen. Zack. Wie ein Taschenspieler.

Toller Trick. War der Kleine überhaupt blind? Er war so zielsicher unterwegs, dass er entweder nur eine Show abzog oder sich hier an der St. Marks Place bestens auskannte.

Eine Frau schrie. Doch in der Touristengruppe, die auf den Kellner zukam, drehten sich keine Köpfe. Nein, diese Leute waren hochkonzentriert. Hungrig. Und Schreie, die nichts mit einer Bluttat zu tun hatten, wurden unter normalem Straßenlärm verbucht. Nichts weiter.

Jetzt verstellte ihm die Touristengruppe nicht mehr die Sicht auf den …

Der blinde Junge war verschwunden. Vor einer Sekunde hatte ihn der Kellner noch gesehen – und jetzt war er fort. Er musste in irgendeinen Hauseingang geschlüpft sein. Doch auch dieses Verschwinden wirkte wie ein Zaubertrick.

Unglaublicherweise hatte die Touristengruppe nichts bemerkt, denn jedes der Augenpaare schaute in eine andere Richtung, als die Gruppe die Straße überquerte.

Die Dame aus Bora Bora beobachtete, wie die Touristen einer nach dem anderen das Café betraten. Obwohl sie Hunger hatte, konnte das Frühstück noch warten, bis ihr Sohn da war. Sie schaute gen Westen, wo seine Uni lag. Nichts von ihm zu sehen. Wo blieb er nur, ihr kleiner Student? Die Dame sprach Tahitianisch, Französisch und ein paar Brocken Japanisch, aber auf Englisch konnte sie sich nicht verständlich machen. Und so hatte in der vergangenen Woche ihr ältestes Kind sie durch diesen Teil der Welt geführt. Der Junge war spät dran, um ein letztes Mal mit ihr zu essen und ihr einen Abschiedskuss zu geben, bevor sie zum Flughafen musste.

Das Warten machte ihr nichts aus. Ihre Heimatinsel im südlichen Pazifik war ein Ort großer Schönheit und tiefen Friedens, doch auf dieser Insel hier – Manhattan – war immer etwas los, ein berauschendes Schauspiel. Ohne ihren Sohn als Dolmetscher würden ihr manche Showeinlagen für immer unerklärlich bleiben. Auch die allerletzte, bei der sich zwei Menschen in Luft aufgelöst hatten, war nach nur wenigen Sekunden vorbei gewesen.

Am Ende ihrer langen Heimreise wollte sie von dem Drama berichten, das sich dort unten auf dem Gehweg abgespielt hatte. Sie würde es als Gutenachtgeschichte ihrem jüngsten Kind erzählen, einem kleinen Jungen, der nichts mehr liebte, als sich zu gruseln. »Während sie die Straße entlangflog«, würde sie sagen, »verwandelte sich das lange schwarze Gewand der Frau in die großen Schwingen eines Vogels im Wind.«

In ihrer Wut hatte die Vogelfrau von der St. Marks Place einen muskelbepackten Mann angegriffen und sich auf seinen Rücken geschwungen wie auf ein Pferd – und zumindest dieser Teil entsprach der Wahrheit. »Sie schlug die Krallen in ihn. Ihre schwarzen Flügel flatterten im Wind. Er ruderte mit den Armen.« Der heftige Kampf zwischen dem Mann und dem riesigen Vogel hatte gerade erst begonnen, als sie verschwanden – innerhalb von Sekunden – und sich hinter der vorbeikommenden Touristengruppe, die kurz einen Vorhang bildete, in Luft auflösten. Es sah aus, als wäre die Vogelfrau einfach davongeflogen, mit ihrer Beute in den Fängen.

In Wirklichkeit hatte die Dame aus Bora Bora beim Siegesschrei des großen Vogels niemals die Augen gen Himmel gerichtet. Von dort oben war der Schrei nicht gekommen. Doch um der Geschichte willen würde sie an der magischen Logik des Moments festhalten.

1

Hätten sie gewusst, warum er hier war – all diese Männer hätten ihn fortgeschickt.

Seine Odyssee hatte morgens an der St. Marks Place begonnen, keine halbe Meile von diesem Polizeirevier in SoHo entfernt, und jetzt war es Abend. Eine Reihe von schmutzigen hohen Fenstern diente nur ungenügend als Spiegel, indem sie zwar sein weißes Haar und das Gesicht reflektierten, nicht aber seine schwarze Soutane, und so hatte es den Anschein, als würde Pater Brenners Kopf wie ein weißes Schiff durch den Dienstraum segeln – ganz gemächlich, obwohl sein Anliegen dringend war.

Neonröhren zogen sich an der hohen Decke entlang, einige von ihnen flackerten nervös. Rote Lämpchen glühten an den Telefonen, die verzweifelten Hilferufe all derer, die man in der Leitung hängen ließ. Die Hälfte der Schreibtische war mit müden Detectives besetzt, die Kaffee schlürften, auf Tastaturen herumhämmerten oder ein Schwätzchen hielten.

Alle Gespräche verstummten.

Hier und da hoben sich die Köpfe, als er an den Schreibtischen vorbeikam, und ein Mann stöhnte auf, als nicht mehr zu leugnen war, dass der betagte Priester auf keinen anderen Tisch zusteuerte als auf den von Kathy Mallory.

Welchen sonst.

Pater Brenner ermahnte sich selbst, sie mit Detective Mallory anzusprechen, nachdem er jegliches Recht auf eine vertrautere Anrede verwirkt hatte, seit sie als kleines Mädchen seine Gemeindeschule besucht hatte, wo ihre Pflegemutter Helen Markowitz sie eingeschult hatte. Die gute Seele hatte dies in der Annahme getan, Kathy sei von katholischer Herkunft, doch Helen und ihr Mann hatten immer nur Vermutungen anstellen können, was die Vergangenheit ihres Zöglings anging. Nützliches hatte ihnen das Mädchen nie verraten können, nicht einmal ihr wahres Alter. Vielleicht war sie ja bei ihrer allerersten Begegnung in seinem Gemeindebüro tatsächlich erst zehn gewesen, doch ganz gewiss nicht elf, wie es in den Akten stand.

Damals hatte das Mädchen ihn an einen Botticelli-Engel im Miniaturformat erinnert. Und tatsächlich hatten ihre blonden Löckchen im Gegenlicht geschimmert wie ein etwas gestutzter Heiligenschein.

Bei dieser Erinnerung hielt der Pater inne und blieb stehen.

Ja, Engel war das passende Wort für jenen allerersten Eindruck gewesen, doch schon ein zweiter Blick hatte diesen Vergleich wieder zunichtegemacht. Ihre schmalen Augen waren von einem unnatürlichen Grün, das zumindest in Gottes Schöpfung nicht vorkam. Und selbst damals, lange bevor sie erwachsen war und eine Waffe tragen durfte, hatte er sofort geahnt, dass dieses Mädchen gefährlich war. Ein weiteres frühes Anzeichen dafür war das ziemlich üble Hinken einer der unterrichtenden Nonnen gewesen, mit dem Kathys erstes Schuljahr geendet hatte.

Bis heute fühlte sich der Priester schuldig daran, für Schwester Ursulas Exzentrik blind gewesen zu sein. Nein, nennen wir es besser Grausamkeit. Verrücktes altes Weib.

Bei seinem allerersten Besuch auf diesem Polizeirevier hatte er Inspector Markowitz’ kleinen Zögling mitgebracht, um den Gips an ihrem Handgelenk zu erklären – und die Tatsache, dass die Nonne im Krankenhaus gelandet war. Die Unterredung war nicht gut verlaufen. Gemäß dem alten Schulmädchengebot Du sollst nicht petzen hatte Kathy sich nämlich kategorisch geweigert, Schwester Ursulas Angriff auf ihre Person zu bestätigen, und da er die Entschlossenheit des kleinen Mädchens zu würdigen wusste, hatte der Inspector verkündet, er wolle die Sache auf sich beruhen lassen. »Das gebrochene Handgelenk meines Kindes gegen das zertrümmerte Bein der Nonne.« Als Kathy allerdings außer Hörweite war, hatte Louis Markowitz den Priester wütend vor die Wahl gestellt: »Bringen Sie den Pinguin in eine Klapsmühle, oder lassen Sie ihn einschläfern. Eins von beiden!«

Pater Brenner hatte sich für die Klapsmühle entschieden.

Heute schwitzte er so sehr, dass ihm die Brille von der Nase rutschte. So lange dauerte es, bis er den Raum durchquert hatte, um der erwachsenen Kathy Mallory zu begegnen; so sehr freute er sich, sie wiederzusehen. Als er im Erdgeschoss an ihrem Vorgesetzten vorbeigekommen war, hatte er mit ihm gesprochen, und Lieutenant Coffey hatte die protokollarisch vorgeschriebene Ausstellung eines Besucherausweises umgangen und ihm gleich den Weg nach oben zur Special Crimes Unit gewiesen. Diesen hatte der Priester in dem Glauben angetreten, die junge Frau unangekündigt aufsuchen zu können – und damit unvorbereitet.

Blöde Idee? Blöde Idee.

Als Kind hatte Kathy ihm oft genug das unheimliche Gefühl gegeben, dass sie hinten Augen hatte und, was noch gruseliger war, dass diese Augen in seinen Kopf hineinschauen konnten. Eine Wahnvorstellung, die der Pater sich ebenso bewahrt hatte wie so viele andere Episoden aus seiner Mallory-Mythologie – ein Buch mit vielen, vielen Seiten.

Und es war keine heilige Schrift, dieses Buch.

Bis jetzt kam ihm die junge Detective in Bluejeans ziemlich normal vor, auch wenn sie für eine Staatsbeamtin erstklassig angezogen war. Als Junge hatte Pater Brenner in der Schneiderei seines Vaters ausgeholfen, daher wusste er sehr wohl die Qualität des wundervollen Leinenblazers einzuschätzen, der über ihrer Stuhllehne hing. Und sein Auge war immer noch gut genug geschult, um zu erkennen, wie fein die Seide war, aus der man ihr T-Shirt geschneidert hatte.

Kathy Mallory blickte konzentriert auf einen Computerbildschirm, und beim Schein der Schreibtischlampe lag auch heute um ihren Kopf ein heiliger Schimmer, doch auf diesen Trick fiel der Priester längst nicht mehr herein. Während er näher kam, drehte sie sich zu ihm, aber das tat sie nicht auf natürliche Weise. Vielmehr fuhr ihr Kopf mit dem goldenen Haar zu ihm herum – was an eine Maschine erinnerte –, ohne dass sie den Blick hob. Keinerlei Wiedererkennen. Ebenso gut hätte er ein Möbelstück in Soutane sein können. Bei dieser Darbietung kalter Gleichgültigkeit handelte es sich um eine alte Marotte von ihr, die schon damals den Gedanken in ihm geweckt hatte, dass Kathy anders sei als andere Kinder – nicht menschlich, ohne Herz, ohne Puls.

Äußerlich hatte sich die Mittzwanzigerin wenig verändert. Ihre hohen Wangenknochen traten deutlicher zutage, doch ansonsten war sie einfach nur das groß gewachsene Abziehbild des Kindes mit der sahnig weißen Haut und dem ausgeprägten Herzmund. Oft fragte sich Pater Brenner, ob es womöglich dieses hübsche Gesicht gewesen war, das Schwester Ursula, Kathys hässlichen Antipoden, am meisten an ihr gestört hatte. Ja, garantiert hatte es die alte Vettel gegen Kathy aufgebracht. Die Nonne hatte die Zufügung von Schmerz als geeignet für die Züchtigung fleischlicher Versuchungen erachtet und das kleine Mädchen bestraft für …

»Setzen Sie sich, Pater Brenner.« Mit einem ernsten Lächeln hieß ihn Kathy Mallory in der Hölle willkommen. Sicher freute sie sich nur deshalb, ihn zu sehen, weil sie Lust darauf verspürte, mit seiner Seele zu spielen, als hätte sie diese Macht über ihn.

Na und – hatte sie die etwa nicht? Fügsam nahm der Priester auf dem hölzernen Stuhl neben ihrem Schreibtisch Platz.

»Was führt Sie heute Abend hierher?« Nichts im Ton ihrer seidigen Stimme ließ auf ihre Stimmung schließen. Deutlich beredter waren da ihre rotlackierten Fingernägel, die ungeduldig auf den Schreibtisch trommelten und den Pater dazu aufforderten, endlich mit dem Grund dafür herauszurücken, warum er es wagte, sie zu stören.

Er wollte mit der Nachricht beginnen, dass ihre Erzfeindin, Schwester Ursula, das Zeitliche gesegnet hatte, doch noch bevor er den Mund öffnen konnte, hatte Mallory seine Gedanken gelesen und sagte: »Mein aufrichtiges Mitgefühl zu Ihrem Verlust.« Diese Beileidsbekundung zum Ableben der alten Nonne wurde mit einem Gesichtsausdruck reiner Freude geäußert, so wie eine Katze lächelt, wenn sie eine Maus zwischen den Zähnen hat – und kurz bevor sie ihr mit einem kräftigen Biss das Genick bricht. Kein Erbarmen, keine Vergebung.

Was nicht weiter überraschend war.

»Ich bin wegen einer anderen Nonne da«, sagte er. »Einer jungen, etwa so alt wie du. Ich habe Angst um sie.« Mitgefühl war von Mallorys Seite nicht zu erwarten. Bestenfalls konnte er darauf hoffen, ihre Neugier zu wecken. »Schwester Michael ist seit gestern verschwunden. Sie wurde bereits als vermisst gemeldet. Bei der Polizei hieß es, man werde sich darum kümmern … und ich weiß, was das bedeutet.« Nämlich: Tschüs, Schwester Michael, und viel Glück noch. »Aber ich glaube, sie ist entführt worden.«

»Dann wurde also Lösegeld gefordert.« Offensichtlich kein bisschen neugierig geworden, wandte sich die Detective wieder ihrem Bildschirm zu, um deutlich zu machen, dass die Sache für sie erledigt war, und fügte hinzu: »Wenden Sie sich an die Kollegen von Major Case. Die kümmern sich drum. Wir beschäftigen uns hier mit Mord.«

Und es würde mehr als nur eines Mordes bedürfen, um Kathys Interesse zu wecken. In all den Jahren, in denen Pater Brenner ihre Karriere bei der New Yorker Polizei mitverfolgt hatte, hatte er erfahren, dass die Special Crimes Unit ihre Bekanntheit vor allem durch die hohe Anzahl von Todesopfern bei ihren Fällen erlangt hatte. Leichen pflasterten buchstäblich ihren Weg.

»Lösegeld?« Er kratzte sich betont ratlos am Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«

»Kein Brief? Kein Anruf?« Sie hatte sich wieder zu ihm umgedreht. Ihre Augen waren schmal. »Warum meinen Sie dann, dass es eine Entführung war?« Offensichtlich glaubte sie ihm nicht.

Gut. Dann war immerhin ihre Aufmerksamkeit geweckt. Allein die Chance, ihn bei einer Lüge zu ertappen, ihm dabei zuzusehen, wie er sich vor Verlegenheit wand – das würde ihr gefallen, und wie. »Das ist alles, was ich weiß. Schwester Michael wollte ihre Mutter besuchen, die an der St. Marks Place wohnt. Morgens machte sie sich auf den Weg, aber sie kam nie an. Das war gestern. Und wir wissen beide, dass sich bei der Vermisstenabteilung niemand um die Anzeige kümmert und nach der Schwester sucht.«

»Die sind bis über die Ohren mit Ausreißern beschäftigt.« Ganz langsam klappten Mallorys Lider zu, wie bei einer vollgefressenen Katze, und Pater Brenner wusste, jetzt hatte er sie an der Angel, denn sie spielte die Harmlose, als sie hinzufügte: »Es gibt doch immer Menschen, die ihr altes Leben hinter sich lassen.«

»Hätte sie sich von ihrem Orden abkehren wollen, wäre sie in Straßenkleidung losgezogen und nicht so.« Er legte ein Foto auf Mallorys Schreibtisch. Es war ein wenig feucht von seiner Hand, denn er hatte es den ganzen Tag mit sich herumgetragen. Es zeigte eine junge Frau im bodenlangen Ornat samt der Haube einer Klosterfrau. »Und ich weiß, dass sie in der Gegend, wo ihre Mutter wohnt, zwei Rosen gekauft hat. Ich habe mit dem Mann gesprochen, der sie ihr für ein paar Dollar …« Ach nein, er langweilte sie. Na gut, dann zu dem, was er sich bis zuletzt aufgespart hatte. »Ich kann dir versichern, dass der Bürgermeister nicht auf Schwester Michaels Mutter hört … aber der Bürgermeister wusste von ihrem Verschwinden, noch bevor die Vermisstenanzeige aufgegeben wurde.«

Pater Brenner hatte gehofft, das würde Mallory gefallen, doch es war schwer zu sagen. Er sah, wie sie sich anspannte, als wäre sie eine Feder, die jeden Moment …

Sie beugte sich weit vor. Blitzschnell lehnte er sich zurück.

»Was noch haben Sie den Kollegen eigentlich verschwiegen? Die von der Vermisstenabteilung sind keine Idioten. Wenn Sie denen gesagt hätten …«

»Ich habe die Anzeige nicht selbst aufgegeben … Ich kenne Schwester Michael gar nicht.«

In ihren Augen flackerte etwas auf. Triumph?

»Dann versucht die Kirche also, sich den optimalen Bullen zu angeln?«, fragte sie. »Einen – oder eine –, die mit den hässlichen Seiten des Geschäfts am besten zurechtkommt … Und deshalb hat man Sie zu mir geschickt? Weil die glauben, wir seien dicke Kumpels gewesen, als ich noch klein war?«

Nicht schlecht geraten, zumindest teilweise.

»Übrigens war ich schon bei Major Case«, sagte er. »Und der Detective dort hat mich weggeschickt. Ich hätte keinerlei Beweise für eine Entführung. Das hat er so gesagt …«

»Und Sie glauben, es gibt einen Beweis, und ich kann Ihnen den besorgen. Dann hat es also doch eine Lösegeldforderung gegeben.« Mallorys Ton war vorwurfsvoll, als bezichtigte sie ihn einer Lüge. Kleine Warnung. Der Beichtstuhl auf der Polizeiwache war eröffnet. »Der Bürgermeister spielt mit keinem Pfaffen Golf, der nicht mindestens ein Bischof ist. Woher haben Sie dann Ihre Informationen, Pater?«

»Ich kann keinen Namen nennen.«

»Und wie Sie können!« Mallory verlieh ihren Worten mit einem Faustschlag auf den Tisch Nachdruck. »Niemand hat Sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit hergeschickt, und das Beichtgeheimnis gilt hier nicht.« Ihr kleiner Wutausbruch war ebenso schnell wieder vorbei, wie er gekommen war, und wich der Resignation; auch das eine falsche Maske für Mallory. »Na gut, sagen Sie mir einfach, welches hohe Tier bei der Kirche mit Stadtpolitikern redet. Fühlt es sich dann weniger so an, als würden Sie einen Priesterkollegen verpetzen?«

Ja, so würde es gehen. »Pater DuPont gehört zum Mitarbeiterstab des Kardinals. Er wäre einer derjenigen, die …«

»Und wie heißt die Nonne?« Sie drehte sich um und schaute auf den Monitor.

»Das hab ich dir doch gesagt. Schwester …«

»Ihr richtiger Name.«

Also nicht der Name, den sie angenommen hatte, als sie ihr Gelübde ablegte. Für eine Nonne war die Wahl des Erzengels übrigens eher krass, denn dieser Name war der Schlachtruf der guten Engel im Himmelskrieg. »In ihrem früheren Leben hieß sie Angela Quill.«

Die Detective tippte auf ihrer Tastatur. »Dann verschwindet diese Frau also, und Sie schließen sofort auf … was? Einen satanischen Nonnensammler?« Sie legte den Kopf auf eine Seite und fragte mit gespielter Unschuld: »Und warum?«

»He, Mallory.« Ein Mann mit verhangenen Augen kam an den Schreibtisch gelatscht. Er hatte genügend Grau in seinem dunklen Haar, um mindestens doppelt so alt zu sein wie sie. Noch bevor sie antworten konnte, hob er eine Hand. »Ich weiß schon. Bin einen halben Tag überfällig. War zum Lunch daheim und bin mitten in einen Überfall geraten. Hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich die Jungs dingfest gemacht hatte.« Er lächelte dem Priester freundlich zu. »Ich wohne über einer Bar. Der Wirt ist mein Vermieter. Wenn diese Gauner mit dem Geld abgehauen wären, hätte der mir die Miete erhöht.« Der Mann schlüpfte aus seinem zerknitterten Jackett und nahm an dem Schreibtisch gegenüber von Mallory Platz. Als seine Jacke von seinem Schoß auf den Boden glitt, ließ er sie liegen.

Kein ordentlicher Mann.

Während der billige Anzug deutlich nach Fleckentferner roch, schienen die Schuhe schon seit Jahrzehnten keine Schuhcreme mehr gesehen zu haben. Der bekleidungsmäßig minderbemittelte Detective stellte sich als Riker vor. »Ich bin ihr Partner. Was können wir für Sie tun, Padre?«

Und ein Katholik war er auch nicht.

Pater Brenner zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche seiner Soutane. In Großbuchstaben stand da über dem etwas körnigen Konterfei der Klosterfrau: WERHATSIEGESEHEN? Das war die optische Kurzfassung seines Anliegens, und er reichte Riker den Zettel. »Das hier ist mein letztes Flugblatt. Die anderen habe ich in Ladenfenstern aufhängen lassen.« Genau genommen handelte es sich nicht um ein Foto von Schwester Michael, sondern von dem, was sie trug, denn ihr Gesicht war das allerkleinste Element auf dem Bild, so klein, dass nicht damit zu rechnen war, jemand könnte sie wiedererkennen oder sich an sie erinnern. Immerhin handelte es sich bei ihrem langen Ornat und der Haube um Kleidungsstücke, die man auf den Straßen der City nur selten sah.

»Eine Nonne, die es mit den Kleidervorschriften ganz genau nimmt«, sagte Riker. »In dem Aufzug muss es bei diesen Temperaturen höllisch heiß gewesen sein. Ist sie aus einem Konvent in Brooklyn?«

»Nein, sie gehört dem Bernhardinerinnenorden an. Das Kloster liegt etwa sechzig Meilen außerhalb auf dem Land. Die Nonnen haben eine Website und einen Traktor, aber ansonsten leben sie nach Traditionen, die Jahrhunderte alt sind. Wir haben keine Fotos von Schwester Michael in anderer Kleidung, und es gibt auch keine Familienmitglieder, die uns weiterhelfen können.«

»Ihre Mutter lebt doch noch.« Kathy Mallory sagte es lächelnd, als hätte sie ihn schon wieder bei einer Lüge ertappt, obwohl er bisher eigentlich keine einzige falsche Angabe gemacht hatte. »Sie haben mir gesagt, die Nonne sei auf dem Weg zu ihr gewesen …«

»Die Mutter hatte nur dieses eine Foto, das ich als Grundlage für das Flugblatt benutzt habe. Ich habe die Frau heute Morgen angerufen.«

Detective Riker hielt den Zettel in Armeslänge von sich weg, genau die richtige Entfernung für einen Mann, der eigentlich eine Gleitsichtbrille tragen müsste. Mit zusammengekniffenen Augen und steiler Furche zwischen den Brauen fragte er: »Irgendwie kommt mir dieses Gesicht …« Der Mann schaute zu seiner Partnerin, als hätte die eine Antwort auf seine unvollständige Frage.

Und die hatte sie. Mallory drehte ihren Laptop zu Riker. Pater Brenner sah ein displayfüllendes Bild von Schwester Michael in einem zerrissenen roten Top, das über einer mit blauen Flecken übersäten Schulter nur noch an einem Spaghettiträger hing. Sie trug schreiend buntes Make-up und lila Strähnchen in ihrem dunklen Stachelhaar.

Es war ein altes Polizeifoto.

Kathy Mallory hob die Augenbrauen, als würde sie das wenig überraschen. »Ist das eine von Ihren interessanteren Nonnen?«

Detective Riker starrte auf den Bildschirm, auf dem jetzt der Name in fetten Großbuchstaben erschien. »Quill!« Sein Blick wanderte zurück zu dem Flugblatt, und er tippte mit dem Finger auf das Datum, an dem die Nonne verschollen war. »Zwei Quills verschwinden an einem Tag?«

Fast da.

Detective Riker hatte eine Mitfahrgelegenheit von SoHo auf dem Rücksitz eines Streifenwagens ergattert und rollte in diesem Moment an den Wolkenkratzern von Midtown vorbei in Richtung Norden zur Upper East Side, dem Herz der Suche nach einem entführten Schuljungen.

Wie lange hatte seine Partnerin eigentlich noch ihr Spielchen mit Pater Brenner treiben wollen, bevor sie Jonah, den anderen vermissten Quill, erwähnt hätte? Rikers Mitleid für den Priester hielt sich sehr in Grenzen. Der alte Mann hatte gewusst, was ihn erwartete, noch bevor er die Tür von Special Crimes durchschritt.

Ja, speziell war hier nicht nur Mallory.

Als der Wagen um eine Ecke bog, entdeckte Riker ein bekanntes Gesicht auf der Straße und beugte sich zu den Streifenpolizisten auf den Vordersitzen. »Leute, ich steig hier aus.«

Der Fahrer fuhr einen halben Block von der Polizeiwache des Viertels entfernt an den Straßenrand, und Riker stieg aus, um einem alten Freund die Hand zu schütteln, der wie er selbst Sergeant war, allerdings nicht dem Detective Bureau angehörte. Murray trug immer noch Uniform und leitete momentan die großangelegte Suche nach Jonah Quill.

Sie tauschten ein paar Plänkeleien aus im Stil von Gut, mal wieder dein hässliches Gesicht zu sehen und He, was geht ab?, dann erfuhr Riker, warum die Geschichte von der Entführung nicht an die Presse gegangen war. »Der Onkel des Jungen hat Geld wie Heu«, sagte Murray. Weil deshalb mit einer Lösegeldforderung zu rechnen war, hatte man beschlossen, den Fall nicht öffentlich zu machen. Und es bestand auch keine Sorge, dass die Sache an die Pressevertreter durchsickerte. Der Polizeipräsident hatte überall in der Stadt verkünden lassen, wer nicht dichthalte, müsse mit einer höchst schmerzhaften Behandlung seiner Kronjuwelen rechnen, eine seit Urzeiten gängige Praxis, die offiziell unter »Kooperation mit den Medien« lief.

Riker hängte sich sein Jackett über einen Arm, während er an der Seite von Sergeant Murray die East Sixty-seventh Street entlanglief. Sie kamen an einer Frau vorbei, die eine riesige Dänische Dogge an der Leine führte, und der Detective fragte sich unweigerlich, wie groß die Wohnung der Dame sein musste, wenn sie einen Hund von der Größe eines Ponys darin beherbergen konnte. Downtown, südlich der Houston Street, nannte man Riker bereits einen Glückspilz, weil seine Badewanne nicht in der Küche stand. Er reichte Murray das Flugblatt mit dem Konterfei der Nonne, als sie die Polizeiwache des Viertels betraten, welche in einem altehrwürdigen Gebäude aus dem späten neunzehnten Jahrhundert untergebracht war. Obwohl auch Rikers eigene Wache derselben Ära angehörte, wirkte sie bei weitem nicht so pompös wie dieses Gebäude, das von außen wie ein überdimensionales Stadtpalais aussah und deshalb so prunkvoll erbaut worden war, damit es sich nahtlos in einen Abschnitt des 19. Distrikts einfügte, in dem es vor stinkreichen Millionären nur so wimmelte. Doch was der Gegend fehlte, war Flair, war Musik. Von ihrer Geschichtsträchtigkeit verstand der Detective nichts, oder sie war ihm egal. Keine Rocklegende hatte jemals über diesen Teil der Stadt gesungen, und das sagte in Rikers Augen alles.

Sergeant Murray, der nicht so eitel war wie der Detective aus SoHo, setzte seine Gleitsichtbrille auf und schaute sich das winzige Gesicht auf dem Flugblatt genauer an. »Donnerwetter. Niemand hat uns was von einer Nonne gesagt … Die sieht ja genauso aus wie Jonah.« Er führte Riker in den zweiten Stock hoch und sagte dabei über seine Schulter hinweg: »Folgendes haben wir. Die Kollegen in Downtown berichten, es sei ein blinder Junge gesehen worden, der mit seinem weißen Stock die Straße entlangklackerte. An dem Morgen hielt er sich offenbar im East Village auf. Aber er wurde auch in der Bronx und in Queens gesehen.«

»Das East Village passt auf Schwester Michael«, sagte Riker. »Wir wissen, dass sie um neun Uhr an dem Morgen in der St. Marks Place Blumen kaufte.«

»Na, da hätten wir einen Anhaltspunkt.« Sergeant Murray schaute sich das Flugblatt noch einmal an. »Was ist eigentlich bei der Vermisstenabteilung los? Wir müssten längst dieses Foto hier haben. Die Nonne lächelt ja sogar wie der Junge.«

»Manchmal geht eben was schief.«

Der Sergeant nickte grimmig und hielt vor einer Tür am Ende der Treppe. »Den Mann haben wir übrigens hier.«

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, sodass Riker unbemerkt einen Blick auf einen Zivilisten werfen konnte, der etwa halb so alt war wie er und am anderen Ende eines Konferenztisches saß; dieser war mit Papierbechern, Take-away-Schachteln, Stiften und gelben Schreibblöcken übersät. Der Kopf des jungen Mannes war gebeugt, und er hatte die Hände krampfhaft zum Gebet gefaltet.

Mit gedämpfter Stimme sagte Murray: »Das ist der Onkel des Jungen, Harold Quill. Er will nicht nach Hause gehen. Versprich dir nicht allzu viel davon, okay? Der Typ ist mit den Nerven am Ende. Seit sein Neffe verschwunden ist, hat er kein Auge mehr zugetan.«

Der hagere dunkelhaarige Quill trug einen Zweitagebart, und auch die Knitterfalten in seinem teuren Anzug ließen darauf schließen, dass er schon eine Weile nicht mehr zuhause gewesen war. Als der Detective und der Sergeant den Raum betraten, schaute der Mann mit den gleichen Augen wie der Junge und die Nonne zu ihnen empor – groß, grau und von dichten schwarzen Wimpern umkränzt –, doch dieser Blick wirkte verdächtig leer, als wäre im Oberstübchen niemand zuhause. Die Haut seines Gesichts war bleich. Es hatte den Anschein, als könnte bereits der leichteste Windstoß Quill vom Stuhl fegen, und er würde es nicht einmal merken.

Das sah Riker nicht zum ersten Mal – was von einem Menschen übrig blieb, wenn ein Kind verschwand und nicht mehr auftauchte.

Nachdem Sergeant Murray sie einander vorgestellt hatte, nahm der Detective neben dem verzweifelten Onkel Platz. »Dann besteht also eine verwandtschaftliche Beziehung zu Angela Quill. Ist das richtig?«

Keine Reaktion. Musste der Knabe sich selbst bei einer so einfachen Frage überlegen, ob er sie ohne seinen Rechtsbeistand beantworten sollte? Reiche Leute – konnten die denn überhaupt ans Telefon gehen, ohne vorher ihren Winkeladvokaten zu befragen?

»Angie ist meine Schwester«, sagte Harold Quill. »Und sie ist …«

»Eine Nonne, ja. Hat sie sich gestern Morgen mit Ihrem Neffen getroffen?«

»Nein! Warum wollen Sie denn …« Quill schlug die Hände vors Gesicht, als könnte allein das einen Cop verschwinden lassen, und schüttelte den Kopf. »Ich hab Jonah in die Schule gefahren … Er hätte in seiner Klasse sein sollen.«

»Auch die Nonne wird vermisst. Meine Partnerin spricht in Downtown gerade mit Ihrer Mutter. Können Sie uns denn …«

»Nein!«Harold packte Riker am Arm, und der Detective tat so, als würde er nicht merken, wie sich die Nägel des Mannes in sein Fleisch bohrten. »Versprechen Sie mir«, sagte Quill, »versprechen Sie mir um Gottes willen, dass Sie meiner Mutter nicht verraten, wo ich wohne!«

Detective Mallory war Mrs. Quills einziger Besuch von der New Yorker Polizei. Offenbar hatte ihr Sohn es versäumt, der Polizei zu sagen, dass sein entführter Neffe eine Großmutter an der Lower East Side hatte. Weniger überraschend war, dass auch niemand sie wegen einer Stellungnahme zum Verschwinden ihrer Tochter, der Nonne, angerufen hatte. Und was überraschte am meisten? Dass diese Frau die blitzschnelle Dezimierung ihrer Familie ausgesprochen gut verkraftete – als wäre es bei ihr an der Tagesordnung, dass einer oder zwei ihrer näheren Verwandten von der Bildfläche verschwanden.

»Ich habe ihre Priorin angerufen, um ihr klar meine Meinung dazu zu sagen, dass meine Tochter mich versetzt hatte.« Und leiser fügte die Mutter noch hinzu: »Diese Schlampe. Dieses Flittchen.«

Und ob die nette Polizeibeamtin einen Tee wolle?

Heiligenfigürchen bedeckten jede freie Fläche in dem vollgestopften Wohnzimmer, in dem es aufdringlich nach Votivduftkerzen roch, wobei Zimt und Rosmarin und Lavendel miteinander kämpften. An allen Wänden prangten Bilder von Jesus: lachende und weinende Christusse, doch vorwiegend handelte es sich um die blutigen, leidenden, die an Händen und Füßen angenagelt waren, und genau diese Bilder bestimmten auch den Grundton des Gesprächs mit Mrs. Quill, deren Mundwinkel nach Art aller Selbstgerechten permanent nach unten zeigten. Ihre Augen waren viel zu groß und laserhell, so sehr erfüllte sie das Licht ihres Herrn.

Mallory saß auf dem Sofa und blätterte im Fotoalbum der Familie. Sinnlos.Die meisten Gesichter waren weggekratzt, wenn auch offenbar nicht mit demselben Werkzeug, denn manche Verstümmelungen waren schärfer und schartiger als andere. Neben ihr saß die ausgezehrte Matriarchin in einem züchtigen weißen Nachthemd. Die alte Vettel führte die Polizistin durch das Album, Seite für Seite, redete und redete. So fand Mallory heraus, dass den Bildern des Ehemanns die allerersten Verstümmelungen widerfahren waren.

»Möge er in der Hölle schmoren! Er hat mich mit sage und schreibe drei Kindern sitzen lassen!«

Als Nächstes in der Reihe der Gesichtsauslöschungen kam das Konterfei einer blonden Tochter.

»Gabriel. Wir nannten sie Gabby. Sie war fünfzehn, als das Foto aufgenommen wurde. Damals musste sie ja unbedingt von zuhause ausreißen. Ein Jahr später ist sie bei der Geburt ihres Bastards verreckt.« Letzteres sagte Mrs. Quill mit allergrößter Genugtuung, als wäre dieser Tod die angemessene Strafe dafür, ein uneheliches Kind zur Welt gebracht zu haben. Die Frau senkte die Stimme und beugte sich zu ihr, um ihr ein weiteres fröhliches Geheimnis anzuvertrauen: »Gabbys Sohn war von Geburt an blind.«

Selbst ein betagterer Detective wäre bei dieser Nachricht zusammengezuckt, doch Mallory blickte nur auf das Bild eines weiteren gesichtslosen Mädchens hinab, und dieses hatte dunkles Haar.

»Oh, das ist meine Angie, die andere gottverdammte Hure.« Mrs. Quill streckte eine knochige Hand aus, um umzublättern, und da war es, das einzige unversehrte Porträt ihrer Tochter, offenbar ein Neuzugang, der erst mit Klebeecken versehen werden musste. Schwester Michael posierte darauf im Gewand einer Nonne. »Sie hat sich selbst reingewaschen … bei der Kirche.« Der sarkastische Unterton ließ darauf schließen, dass die häuslich-mütterliche Reinwaschung immer noch ausstand.

Bei jedem Bild, das Mrs. Quill von ihrem Sohn Harold hatte, war das Gesicht in dem Jahr, als er mit ihr vor Gericht um das Sorgerecht für seinen Neffen, Gabbys blinden Sohn, gefochten hatte, weggekratzt worden. »Armer kleiner Jonah. Sie haben ihn mir genommen – Harry und diese Schlampe von Sozialarbeiterin. Und jetzt ertrinkt der Junge in der Sünde.« Das Foto dieses Kindes im Krabbelalter, das bis dato noch keine nennenswerte Sünde seiner Großmutter gegenüber begangen hatte, war von den Messerschnitten des familiären Vergessens verschont geblieben.

Nachdem sich hier deutliche Anzeichen des Wahnsinns gezeigt hatten, blieb Mallory nichts anderes übrig, als die Frau zu fragen, wie hoch sie Schwester Michaels und Jonahs Chancen auf Überleben einschätzte. »Sind sie tot, oder leben sie noch?«

»Tot!« Nichts an diesem entschiedenen Votum ließ auf Schuldbewusstsein schließen, vielleicht jedoch auf die Ansicht, eine Nonne und ein kleiner Junge hätten es verdient, ihr Leben zu verlieren. Dann fügte Mrs. Quill hinzu: »Tot und zu Gott gegangen«, was unter dem Strich einen Hauch besser war, allerdings mit geringerer Begeisterung geäußert wurde.

Die Wände bestanden aus Backsteinen. Die Tür aus Metall. Die Erwachsenen waren tot.

Jonah war auf ihre ausgestreckten Arme und Beine getreten, als er diesen kühlen Raum erkundete; er maß fünfzehn mal fünfzehn Schritte. Blankes Entsetzen, ihm war mulmig. Jetzt wurde der Gestank wenigstens durch den Rotz in seiner Nase gedämpft, weil er geweint hatte. Er hatte seine Tante unter den Leichen gefunden.

Durch Berührung hatte er das lange Ordensgewand und die Haube einer Nonne erkannt, doch dass es seine Tante Angie war, wusste er, weil der kleine Finger ihrer rechten Hand, den sie sich in jungen Jahren gebrochen hatte, krumm zusammengewachsen war. Diese Hand hatte Jonah so oft gehalten. Niemals könnte er sie mit einer anderen verwechseln.

Seine Tante war weggegangen, als er sieben war. Fünf Jahre lang hatte er auf sie gewartet und sich vorgestellt, sie würde irgendwann zurückkommen – und da war sie nun.

Er küsste ihren verkrüppelten Finger.

Hoch oben an der Wand und jenseits seiner Reichweite schaltete sich der laute Motor wieder ein, eine uralte Maschine mit rasselnden Einzelteilen, die offenbar auf dem letzten Loch pfiff und Schwälle kalter Luft ausstieß. Zitternd legte Jonah seinen Körper neben dem seiner Tante ab. Sie schenkte ihm Trost – und Wärme. Ihr Gewand war so weit, dass er sich damit zudecken konnte. »Danke.«

Teile des Tages fehlten. Oder waren es zwei Tage? Seine innere Uhr war kaputt. Sein Magen knurrte, doch allein beim Gedanken an Essen wurde ihm speiübel. War sein Gehirn auch kaputt? Oder betäubt? Erst jetzt kam ihm der Gedanke, sich zu überlegen, was eigentlich passiert war – ihm und ihr.

Wie konnte sie tot sein?

Tante Angie, die Kämpferin. Auf ihrem Weg aus seinem Leben hatte sie ihm beigebracht, jemanden mit den Fingernägeln blutig zu kratzen oder ihm mit dem Daumen das Auge aus der Höhle zu pulen, und dass ein Tritt in die Eier einen Mann ins Reich des Schmerzes beförderte. Und dann war sie hinausgegangen und hatte einen Bus ins Haus Gottes genommen.

Hatte sie schon damals gewusst, was kommen würde – wer kommen würde?

Ihr Mörder würde niemals Verdacht schöpfen, bis es zu spät war. Jonah könnte zu dem kranken Idioten gehen und den Hilflosen spielen – ist doch bloß ein Kind, oder? – und würde ihn dann angreifen. Töten. Jawohl! Unter dem Nonnengewand, das er sich mit seiner toten Tante teilte, ballte Jonah die Hände zu Fäusten. Keine Angst. Tante Angie war bei ihm, sie hielt ihn warm, sie zeigte ihm, wie man jemanden blutig kratzt oder ihm Schmerzen zufügt. Dieses Gespräch mit ihr dachte er sich aus, indem er Erinnerungen in sich wachrief, die er sich aufgehoben hatte; er wusste noch genau, wie sie klang, und was sie sagte, klang wahr. Er wusste, was sie sagen würde, zu jedem …

Die Klimaanlage schaltete sich aus. Jetzt ein neues Geräusch. Metall auf Metall. Eine Türangel quietschte. Und die Stimme der toten Tante in ihm schrie: Das ist er!

Der Junge schüttelte das Habit ab und setzte sich auf.

Schritte. Schwere Schritte. Angie rief: Mach dich bereit!

Jonah zitterte vor Kälte und vor Angst, sein Herz hämmerte.

Die Schritte hielten mitten im Raum inne. Jonah bewegte seinen Oberkörper vor und zurück wie ein kleines Kind, das auf einem Schaukelpferd sitzt. Die Schuhe mit den harten Sohlen bewegten sich durch den Raum, kamen direkt auf ihn zu. Jetzt waren sie da! Zigarettenatem. So nah. Stinkende Luft auf seinem Gesicht.

Nah genug!, schrie Tante Angie.

Die tiefere Stimme eines Mannes, eine wirkliche, sagte: »Ach, du kannst nicht sehen.«

Jonah, schnapp ihn dir!

Tut mir leid, tut mir so leid, aber er konnte es nicht. Er hatte so furchtbare Angst. Jemand drückte ihm eine kleine Flasche mit hin- und herschwappender Flüssigkeit in die Hand – Belohnung dafür, dass die Regeln einer Welt wieder zurechtgerückt worden waren, in der zwölfjährige Jungen gegen ausgewachsene Männer keine Chance hatten. Tut mir leid.

Das Wasser aus der Flasche schmeckte komisch. Egal. Er hatte solchen Durst. Jonah trank es, stürzte es herunter. Alles war weg. Sein Schaukeln wurde langsamer – hörte auf. Seine Angst verebbte, wurde schwächer, verschwand. Schon rückte der Schlaf näher.

Hinter ihm waren die Schritte des Mannes mit den harten Sohlen. Stieg er über die Leichen hinweg? Leises Plumpsen. Dumpfes Kratzen. Ein kurzes Schlurfen. Die Tür ging auf und wieder zu, Schritte entfernten sich und kamen wieder zurück. Noch mehr Schritte, noch mehr Schlurfen, ein Rascheln und – was?

Nein! Jonah schüttelte den Kopf, versuchte den Nebel abzuschütteln, der seinen Verstand durcheinanderbrachte.

Er griff nach Tante Angies Hand. Nein, nein, nein – sie glitt von ihm weg, sie verließ ihn. Ihr Körper wurde quer durch den Raum gezogen, schneller, als er hinterherkriechen konnte. Das war nicht fair! Er richtete sich auf den Knien auf, so gut er konnte, und ballte die Fäuste. »Gib sie zurück!«

Die Tür fiel ins Schloss. Rums!

Und der Junge kippte um. Der Schlaf kam so schnell. Er spürte nicht einmal mehr den Schmerz, als er auf dem harten Boden aufschlug. Gute Nacht.

2

Die Bäume des Carl Schurz Park bildeten einen natürlichen Sichtschutz für Gracie Mansion, die Residenz des Bürgermeisters von New York. In den frühen Morgenstunden hatte es einen Alarm gegeben, und mittlerweile war die Sehenswürdigkeit aus dem achtzehnten Jahrhundert sowie ihr angeschlossener Flügel mit Plastikfolie an drei Meter hohen Pflöcken eingezäunt. Über diesem Vorhang konnten die Zivilisten auf der East End Avenue nur die obere Hälfte des Anbaus erkennen. Von der abgeschiedeneren gelben Villa mit ihrem Blick auf die Wasserwege von Hell Gate hingegen war nichts zu sehen – ebensowenig wie von den Leichen, die sich auf dem Rasen stapelten.

Die Teams der Gefahrgutentsorgung konnte man durch die milchige Plastikfolie erspähen, wie sie in ihren Helmen und den unförmigen weißen Schutzanzügen, die sie mit ihrer Versiegelung vor tödlichen Gasen, fleischfressenden Viren und anderen Gefahren schützten, hin und her gingen.

Auf dem breiten Gehweg vor Gracie Mansion hatte sich eine Zuschauermenge in sonntäglichen T-Shirts, Shorts und Sommerkleidchen versammelt. Die Stimmung wurde ausgelassen, und Applaus brandete auf, als die ersten bunten Schirme der rollenden Essensverkaufsstände in Sicht kamen, denn die fahrenden Händler witterten bei dieser neuen Bedrohung der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit sofort Morgenluft. Männer in Schürzen verscherbelten entlang der Straße ihre Ware, wobei sie die Reihen an der Pole Position zuerst bedienten. Dann begannen die Zuschauer auf den billigeren Plätzen Geld durchzureichen, Tüten mit Bagels und Kaffee wanderten nach hinten.

Männer und Frauen in dunklen Anzügen zückten ihre Dienstplaketten von der Homeland Security, der Heimatschutzbehörde, die für die Innere Sicherheit zuständig war, und schrien die Zivilisten an, sie sollten weitergehen. Doch wie vorherzusehen, wurden die Beamten mit Missachtung gestraft. So manches Landei hatte der Anblick der Schutzanzüge in die Flucht geschlagen, doch die mit allen Wassern gewaschenen New Yorker, die sich keinen Mord- oder Unglücksfall mit Todesfolge in ihrer Heimatstadt entgehen ließen, hielten die Stellung. Außerdem war es höchste Zeit für ein zweites Frühstück.

Hinter den Rücken der herumschreienden Agents der Heimatschutzbehörde bildete eine Reihe uniformierter Polizisten auf dem gesamten Verlauf der Avenue eine Kette, und sie alle trugen ein selbstzufriedenes Grinsen auf dem Gesicht, als wollten sie ausdrücken: Wir haben’s euch ja gesagt, ihr Blödmänner. Die New Yorker Polizei wusste eben, wie man Menschenmengen in Schach hielt. Was man von der Bundesbehörde nicht behaupten konnte.

Einige Zivilisten auf den besten Plätzen ganz vorne saßen auf Leinenklappstühlen, die ein fliegender Händler zusammen mit Papierfächern und Sonnenvisieren von einem Karren verkaufte. Die meisten in der Menge standen jedoch und wurden zunehmend unruhig, während sie die langsamen, verschwommenen Bewegungen des Gefahrgutteams beobachteten. Die typische Haltung der New Yorker lag greifbar in der Luft, und sie lautete: He, Leute, macht endlich weiter mit der Show!

Zwei Detectives standen hinter den Gaffern. Der eine trug einen Anzug, der längst aus der Mode war und ihn als Beamten mit begrenzten finanziellen Mitteln kennzeichnete, obwohl man der Wahrheit halber auch sagen musste, dass Riker Shoppen schon immer gehasst hatte und sein Äußeres seit Jahren schleifen ließ.

Er ließ seiner Partnerin mit einem galanten Winken – Schönheit vor Alter – den Vortritt, sodass die groß gewachsene Mallory ihm wie ein Rammbock durch die dicht gedrängte Menschenmenge vorausgehen konnte. Die Leute hatten ohnehin die Tendenz, ihr Platz zu machen, was weder an der Dienstplakette lag, die sie auf ihrem maßgeschneiderten Zwirn trug, noch an den sündhaft teuren Laufschuhen, die mehr gekostet hatten als Rikers gesamter Schrankinhalt – Schuhe inbegriffen. Das ganze Paket sagte, dass sie jemand war, doch der Mallory-Effekt auf Menschenmengen war noch etwas anderes. Wenn sie Lust hatte, sich mit einem Zivilisten anzulegen – wie genau in diesem Moment –, dann ließ sie jeglichen Vorwand, ein menschliches Wesen zu sein, sausen, marschierte direkt auf den Ärmsten zu, als wollte sie einfach durch ihn hindurchgehen, und das genügte, um ihr Opfer blitzschnell in die Flucht zu schlagen.

In dieser Stadt bekam man jede Menge Respekt, wenn man einen Hauch Verrücktheit ausstrahlte, wobei es in der Special Crimes Unit Detectives gab, die den Verdacht hatten, dass es sich bei Mallory nicht nur um einen Hauch handelte. Vielleicht war sie ja verrückt. Riker glaubte, dass sie das wusste und den Verdacht förderte – ebenso, wie die Klamotten, die sie im Dienst trug, das Bild eines Cops unterstützten, der möglicherweise nicht ganz sauber war.

Mallory mochte ihre Spielchen. Und sie spielte gut.

Als sie sich zur Straße durchgekämpft hatten, ignorierte Riker die Typen in den Regierungsanzügen – auch um bei seinen Kollegen, den Cops in der Reihe dahinter, nicht das Gesicht zu verlieren. Er wandte sich an den Uniformierten mit den Insignien eines Sergeants und fragte: »Was gibt’s, Murray? Wisst ihr, wie viele es sind?«

»Ja, ich hab vier gesehen, da drüben.« Der Sergeant schaute die Beamten rechts und links von ihm an und gab ihnen damit zu verstehen, dass es gerade keine gute Gelegenheit war, um ihm für den Tipp bezüglich einer toten Nonne zu danken. »Die Sicherheitskameras sind nutzlos – mit Paintball außer Gefecht gesetzt. Aber ich weiß, dass der Täter gestern Abend eine Uniform der New Yorker Polizei trug. Auf der anderen Seite des Parks haben wir einen Cop gefunden, der k.o. geschlagen und bis auf die Unterhose ausgezogen war.«

Mallory wurde von einer Auseinandersetzung abgelenkt, die etwa einen halben Block weit entfernt stattfand. Sie schien einseitig zu sein und kurz vor Handgreiflichkeiten zu stehen. Auch Riker schaute hinüber und sah, wie sich einer der Leute von der Heimatschutzbehörde, knallrot im Gesicht, auf die Ballen hob und damit verzweifelt versuchte, größer zu wirken. Und tatsächlich überragte ihn sein Gegenüber deutlich – ein Mann, der jetzt direkt neben seinen Stiefeln eine Arzttasche auf dem Gehweg abstellte. Chefpathologe Edward Slope riss sich den Schutzhelm und die Handschuhe vom Leib. Der Zorn des Doktors war würdevoller – und wesentlich effektiver. Mit erhobener Hand brachte er den jüngeren und kleineren Mann von der Heimatschutzbehörde zum Schweigen. Jetzt war Dr. Slope an der Reihe, seinem Ärger Luft zu machen, und der Regierungsbeamte sank sichtlich in sich zusammen.

»Alles Mache.« Ohne ein Wort zu verstehen, konnte sich Mallory zusammenreimen, worüber sich der Pathologe beschwerte. »Diese Schutzanzüge sind nur Show, oder?«, fragte sie.

»Ganz meine Vermutung«, sagte Sergeant Murray. »Was wir da drinnen haben, ist ziemlich seltsam, aber es hat auf gar keinen Fall mit gefährlichen Keimen oder Giftgas zu tun. Schätze, der Bürgermeister wollte die Leute einfach aus dem Park fernhalten … an einem Sonntag. Na ja, vergessen wir’s.« Mit einem Nicken in Richtung Plastikvorhang fügte er hinzu: »Deshalb hat einer von den Komikern hier die vom Gefahrgutteam gerufen. Meinte, das würde irgendwen abhalten.« Mit einem Nicken in Richtung der Bagel mampfenden Menge auf dem Gehweg fügte er hinzu: »Sehen die etwa verängstigt aus?«

Da Diplomatie nicht gerade zu den Stärken seiner Partnerin gehörte, ging Riker die Straße entlang zu dem blutjungen Agenten, der für den falschen Alarm und die Zirkusshow verantwortlich war. Und er hielt dem jungen Esel die Karotte hin, indem er ihn als Ebenbürtigen ansprach. »Kumpel, ich weiß, dass Sie heute ziemlich rumgescheucht worden sind, aber lassen Sie das bitte nicht an anderen aus, okay? Wir müssen hier unsere Arbeit machen. Packen Sie bloß diese Astronautenanzüge ein und gehen Sie.«

»Jemand muss dafür bezahlen, dass dieser ganze verdammte Aufwand da …«

»Meine Partnerin und ich werden uns darum kümmern. Die werden es noch bereuen, sich mit euch angelegt zu haben.« In der Hierarchie der New Yorker Polizei war das ein schönes Märchen, doch dem jungen Agenten schien die Gutenachtgeschichte zu gefallen.

Edward Slopes abgelegter Schutzanzug wurde von Agents der Heimatschutzbehörde weggebracht, und der Chefpathologe trug mittlerweile nur noch die Uniform eines sonntäglichen Hinterhofgrillers. Es war ein schrilles Outfit mit einem schreiend bunten Hawaiihemd, und trotzdem war er der eleganteste Mann auf dem Platz. Silberhaarig und groß, hatte er sowohl die Haltung als auch das laute Organ eines Gardegenerals, der jetzt seinen Untergebenen, die die ganze Zeit in den Startlöchern gestanden hatten, Anweisungen gab. Die gefährliche Zone hatte der Chefpathologe zunächst ganz allein betreten; er hielt die meisten seiner Leute für Idioten, aber es waren seine Idioten, und er hatte nicht vor, sie in irgendeine Gefahr zu bringen. Am Ende der kurzen Auffahrt zogen zwei von ihnen den Plastikvorhang beiseite, und ein Karren, der mit mehreren Leichensäcken beladen war, rollte an ihnen vorbei.

Dr. Slope senkte die Stimme, als er mit Riker und Mallory sprach. »Ein sehr paritätisch orientierter Täter. Unter den Opfern sind alle Geschlechter, Rassen und Altersgruppen vertreten. Ich würde das betont wahllos nennen.«

Der Doktor marschierte zum überdachten Bereich, und die Detectives folgten ihm am Pförtnerhaus und dem Anbau vorbei, bis sie bei der gelben Stadtvilla angelangt waren. Als sie hier um die Ecke bogen, sahen sie, dass der Plastikvorhang an einer Stelle zerrissen war und jenseits eines perfekt getrimmten Rasens den Blick auf den East River freigab.

Drei Leichen lagen, wahllos übereinandergestapelt und mit den Gesichtern nach unten, am Fuße der Treppe, die zur Veranda und zur Haustür des Bürgermeisters führte. Das kreidebleiche Gesicht einer toten alten Frau war an die braune Hand einer jungen Männerleiche gepresst; dessen Kopf ruhte auf den Füßen einer weiteren Leiche, die unter ihm lag. Am bemerkenswertesten war der vierte Leichnam, der von Schwester Michael, beziehungsweise Angela Quill. Dieser Körper lag getrennt von den anderen, mit dem Gesicht nach oben.

Riker zückte Notizbuch und Stift. »Tatwaffe?«

»Ein Messer«, sagte Dr. Slope. »Aber als die Meldung hereinkam, hat man mir gesagt, eine Ärztin am Tatort habe Symptome von Sarin-Gas festgestellt. Sind die eigentlich noch ganz dicht? Und die Ärztin war in Wirklichkeit eine Pressesprecherin. Ich möchte, dass sie verklagt wird, wegen fälschlicher …«

»Ist ja gut«, sagte Riker. »Wir reden mit ihr.«

»Zu spät. Darum habe ich mich schon gekümmert. Sie finden die Kanaille in einem Badezimmer eingesperrt. Als ich mit ihr fertig war, weinte sie – aber sie war noch am Leben.«

»Ach so?« Riker unterdrückte ein Grinsen. Lügner. Dr. Slope, ein Gentleman bis ins Mark, würde eine Frau nie und nimmer zum Weinen bringen. Obwohl es durchaus sein konnte, dass Mallory den Doktor gleich Lügen strafen würde.

Der größte Teil der grasbewachsenen Fläche war von einem hohen eisernen Zaun mit spitzen Pfählen umgeben, bis auf einen Abschnitt, wo eine Backsteinmauer den Rasen der Stadtvilla vom öffentlichen Teil des Parks abschirmte. Das war der niedrigste und damit auch wahrscheinlichste Zugang. Der Detective packte einen Tatortermittler am Arm, der vorbeilief und den er kannte. »He, Rizzo. Ich weiß, dass unser Täter die Leichen nicht über die Mauer geworfen hat. Kein zerdrücktes Gebüsch, keine Schleifspuren im Gras. Wie passt das alles zusammen?«

»Komm mit. Das musst du sehen, sonst denkst du, ich lüge.« Rizzo führte ihn an der südlichen Ecke des Gebäudes entlang und zeigte auf einen Spalt in der Backsteinmauer, wo ein weiterer Typ von der Spurensicherung ein schmales Eisentürchen fotografierte, das die beiden Bereiche miteinander verband. »Das hier war verschlossen, und zwar mit einem …«

»Etwa mit diesem simplen Vorhängeschloss?« Besagtes Objekt lag zu Rikers Füßen – kaputt. Ziemlich windiges Ding.

»Ja. Hier einzubrechen ist mit dem richtigen Werkzeug eine Sache von Sekunden. Einer der Parkwächter hat mir gesagt, das ist der Eingang für die Nutten. Nach Einbruch der Dunkelheit geht das Wachpersonal dort nicht mehr hin. Bürgermeister Polk meint, das würde seine Callgirls zu sehr erschrecken.« Rizzo zeigte auf die Betontreppe, die in den Keller des Seitenflügels der Villa führte. Worte waren hier nicht nötig. Diesen Zugang konnte jeder Besucher auf der Parkseite des Eisentores einsehen. Es war eine offene Einladung an alle Irren, die vorbeikamen.

»Ich sehe es – und glaub’s einfach nicht«, sagte Riker. »Ist denn der Täter gestern Nacht ins Haus gekommen?«

»Nein, keinerlei Anzeichen für ein Eindringen, außer an dem Gatter. Euer Typ hat einfach die Leichen abgeladen und ist wieder gegangen.« Auf ihrem Rückweg zum vorderen Rasen sagte der Mann von der Spurensicherung: »Die eigentliche Schwachstelle liegt aber woanders: Mit der Sicherheit der Villa sind keine Erwachsenen betraut. Der Personenschutz des Bürgermeisters untersteht dem Polizeipräsidenten, und der …«

»Untersteht dem Bürgermeister«, vervollständigte Riker seinen Satz. »Capito.«

Als die Leichen in Sicht kamen, blieb Rizzo stehen, denn diese Frage musste er einfach stellen. »Was macht Ihre Partnerin da?« Als wäre das nicht vollkommen offensichtlich.

»Sie schnuppert an den Leichen«, sagte Riker.

Mallory war mit der Nonne fertig und beugte sich jetzt, nachdem das Team des Chefpathologen die anderen Leichen herumgedreht hatte, über die Toten und schnüffelte kurz an ihnen. »Sie sind also nicht … auf einmal getötet worden.«

»Nein«, sagte der Chefpathologe. »Unterschiedliche Stadien der Verwesung. Außerdem gibt es Anzeichen für Dehydrierung – bis auf das letzte Opfer. Sie ist die unheimlichste von allen.« Dr. Slope blickte auf die Leiche im Ornat einer Nonne hinab. Die großen grauen Augen der jungen Frau standen offen, und sie trug ein Lächeln auf dem Gesicht, das irgendwie listig wirkte. »Jedenfalls werde ich davon noch lange träumen.«

Auf der Veranda von Gracie Mansion sahen sich Mallory und Riker einem schlaksigen jungen Mann gegenüber, der eine Fliege trug und verächtlich grinste.

Der Assistent des Bürgermeisters, Samuel Tucker, war das typische Exemplar eines aufgeblasenen Wichtigtuers von einem drittklassigen College. Er unterzog ihre goldenen Dienstplaketten einer genauen Prüfung und kniff die Augen zusammen, als könnte ihm das dabei helfen, eine Fälschung – oder auch irgendwelche Bazillen – zu erkennen. Dann teilte er den Detectives mit, sie stünden nicht auf der abgesegneten Teilnehmerliste für das Treffen drinnen. Für Rikers Anzug hatte er nur ein angewidertes Verziehen der Mundwinkel übrig. Offensichtlich sollte zumindest dieser Detective nicht zum erlauchten Kreis derer gehören, die Gracie Mansion durch die Vordertür betreten durften. Vielleicht der Dienstboteneingang? Heute aber nicht.

Riker und Mallory gingen an ihm vorbei in die Eingangshalle der Residenz, einer großzügigen Räumlichkeit mit einer Couch, Stühlen und einem pompösen Treppenaufgang.