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Die Zeit ist reif für eine Heldin wie Kathleen Mallory
Wiederentdeckung einer furiosen Krimiserie – die Geschichte um Kathleen Mallory geht weiter!
Ein neuer Fall für Kathleen Mallory, Computerspezialistin bei der New Yorker Polizei. Im Central Park wird eine junge Frau ermordet aufgefunden, die der Detektivin zum Verwechseln ähnlich sieht. Schon bald ist Mallory drei Verdächtigen auf der Spur, die eines gemeinsam haben: Sie nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau ...
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Seitenzahl: 401
Carol O’Connell
Der Mann, der dieFrauen belog
Thriller
Aus dem Amerikanischenvon Renate Orth-Guttmann
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Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel »The Man Who Lied to Women« bei Hutchinson, London.
Neuveröffentlichung Januar 2011
btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München
Copyright © 1995 by Carol O’Connell
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-05314-7V002
www.btb-verlag.de
Dieses Buch widme ich einem alten Freund,
Richard Hughes, der seine Nachtruhe opfert,
um verängstigten Kindern am anonymen
Sorgentelefon mit seinem Rat zur Seite zu stehen,
und Covenant House, einer Zuflucht für Kinder,
die nicht mehr nach Hause können.
Der Regen trommelte auf die Plastikhaube ihres Regenmantels. Sie spürte die Tropfen, hörte sie aber nicht, denn sie war heute Vormittag ohne Hörgerät und ihre Bifokalgläser aus dem Haus gegangen. Ihre Umgebung war traumstill und segensreich unscharf, keine Kippe, kein Bonbonpapier verdarb ihr Landschaftsbild.
Ein Geruch nach nassem Hundefell zog rasch an ihr vorüber. Noch ehe sie das Tier genauer hatte erkennen können, war es schon vorbei und lief den steilen, buschbestandenen Grashang hoch. Cora kniff die Augen zusammen. Die Hundeleine hatte sich offenbar in den Brombeerranken verfangen. Angstvoll zerrte und zuckte das Tier, bis es wieder freikam, lief weiter und war gleich darauf hinter dem Scheitelpunkt der Anhöhe verschwunden.
Cora steckte eine windverwehte weiße Strähne wieder unter die Kapuze, und der jägergrüne Regenmantel machte sie inmitten der noch recht kräftig gefärbten Büsche und Bäume an diesem dezembergrauen Tag fast wieder unsichtbar.
Sie sah auf die Uhr. Eigentlich war es Zeit umzukehren, aber mit Rücksicht auf ihre alten Knochen, die ihr den Gang durch den Regen übelnahmen, setzte sie sich noch kurz auf eine der einladend am Parkweg aufgereihten Bänke, auf deren grünem Lack die Regentropfen perlten.
Nur weil es regnet, fühle ich mich im Park sicher, versuchte sie ihre protestierenden Knochen zu beruhigen. Bei schlechtem Wetter sind bestimmt nicht so viele Handtaschenräuber unterwegs, und in dieser Herrgottsfrühe finden die sowieso nicht aus dem Bett.
Trotz guten Zuredens reagierte der Arm, den sie auf die Banklehne legte, mit einem stechenden Schmerz. Gleich darauf spürte sie ein Kribbeln auf ihrem Handgelenk. Etwas Dunkles bewegte sich über die weiße Knitterhaut. Sie senkte den Kopf, bis der kribbelnde dunkle Fleck nur Zentimeter von ihren kurzsichtigen blauen Augen entfernt war, und sog dann scharf die Luft durch ihre langen, gelblichen Zähne.
Es war ein Aaskäfer, auch Totengräber genannt, ein langlebiges Insekt, das ungeniert Leichenschändung betreibt. Aber der hier kam entschieden zu früh. Auch für ihn galten gewisse Naturgesetze. Die alte Frau, die er sich ausgesucht hatte, atmete schließlich noch. Vielleicht hatte ihn das für die Jahreszeit zu milde Wetter verwirrt. Tut mir leid, mein Freund, da musst du schon noch mal wiederkommen!
Jetzt aber geriet ein zweites Krabbelwesen in Coras eingeschränktes Blickfeld, das auf acht Beinen zielstrebig den Käfer verfolgte.
Von Rechts wegen hätte dieser Gliederfüßer aus der Klasse der Arachniden im Herbst sterben und von den eigenen Kindern aufgefressen werden müssen. Die Spinne hatte sich selbst überlebt, war jetzt, im Dezember, fehl am Platz. Inzwischen hatte sie sich ihrer Beute bis auf zwei Zentimeter genähert.
So viel Gewalttätigkeit am frühen Morgen – das war zu viel!
Die alte Dame schüttelte mit einem entschlossenen Ruck den Käfer ab. Die plötzliche Bewegung ließ die Spinne innehalten, dann machte sie kehrt und zog mit acht leeren Händen davon.
Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung, dachte Cora. Sie sah auf die weite Fläche des Sees hinaus, in dem sich der graue Himmel spiegelte. Dann ging ihr Blick zurück zum Ufer. Hier, in der Nähe des Parkwegs, verengte sich das Gewässer zu einem stillen, dunklen Seitenarm. Am Ufer standen zwei dunkle Regenschirme, die sich offenbar miteinander unterhielten.
Der größere Regenschirm hatte lange braune Hosen an und der kleinere blaue Jeansbeine. Jetzt wich der Regenschirm mit den Jeansbeinen zurück, unter dem großen Regenschirm schoss eine weiße Hand hervor und zog Jeansbein wieder zu sich heran.
Cora lächelte. Ein junges Liebespaar – und vermutlich ein heimliches Rendezvous. Unter dem großen Regenschirm erkannte sie verschwommen ein weißes Gesicht, das argwöhnisch mal in die eine, mal in die andere Richtung sah. Die Hand hielt das Jeansmädchen fest, das wegzustreben schien. Goldenes Haar leuchtete auf, als Jeansmädchens Regenschirm nach hinten kippte und ihr aus der Hand flog. Er landete mit der Rundung nach unten im Wasser, der Griff zeigte himmelwärts wie ein Mast ohne Segel. Eine jähe Regenbö ließ ihn erst langsam, dann immer schneller kreisen.
Der große Regenschirm beugte sich vor, hob etwas auf und schien es dem Jeansmädchen zu zeigen. Dann machte er mit ihr eine halbe Drehung und entzog sie damit Coras Blick.
Vielleicht ein Geschenk, dachte Cora und kniff die Augen zusammen. Das Jeansmädchen schien sich zu freuen, denn sie wehrte sich nicht mehr, sondern schmiegte sich vertrauensvoll an ihren Begleiter. Etwas Rotes leuchtete in dem goldenen Haar auf. Sie standen nun ganz dicht beieinander, es sah aus, als müsste gleich ein Kuss kommen.
Cora sah auf die Uhr. Die beiden würden ihn unbeobachtet und ungestört genießen können, denn sie war sowieso schon zu spät dran. Ächzend rappelte sie sich auf und drehte dem Liebespaar den Rücken zu.
In diesem Augenblick fiel ein Schirm zu Boden. Zwei große Hände packten Jeansmädchens Kopf. Sekunden später – Cora war erst ein paar Schritte gegangen – krallten sich die Hände in die leuchtenden Locken, und eine gewaltsame, unnatürliche Drehung befreite das Jeansmädchen aus jenem Zwangskorsett der Minuten und Sekunden, das wir Menschen als Zeit verstehen.
20. Dezember
Dass sie auf Maschinen fixiert war, hatte viel, ja eigentlich alles mit dem weltumspannenden Netz der Telefongesellschaften zu tun.
Als Kind besaß sie nur die Zahlen, die man ihr mit Tinte auf die Handfläche geschrieben hatte, damit sie nicht verlorengehen konnte. Zahlen, von denen alle bis auf die letzten vier unter nassem Blut verschwunden waren.
Im Lauf der Zeit hatte sie gelernt, sich Kleingeld von Prostituierten zu erbetteln – nur bei denen war Verlass darauf, dass sie das Kind nicht den Sozialarbeitern übergeben würden –, das steckte sie dann in einen öffentlichen Münzapparat, wählte aufs Geratewohl drei Zahlen und dann die vier, die sie kannte. Wenn sich eine Frau meldete, sagte sie: »Hier ist Kathy. Ich hab mich verirrt.«
Mit sieben konnte sie perfekt die Wähltöne pfeifen, die ihr den Zugang zu Fernverbindungen verschafften, und kannte alle internationalen Vorwahlnummern auswendig. Mit einem weiteren Pfeifton brachte sie den Apparat dazu, Wechselgeld auszuspucken. Genaugenommen verdankte sie also dem Telefon ihr Überleben. Es war wie eine Manie. In tausend Anrufen waren diese simple Botschaft und die letzten vier Ziffern einer Telefonnummer sich gleich geblieben.
Noch viele Jahre später hatten Frauen auf der ganzen Welt, in sämtlichen Zeitzonen jene geisterhafte Stimme eines Kindes im Ohr, das sich im Cyberspace der Telefongesellschaften verirrt hatte.
Detective Sergeant Riker vom Dezernat Sonderkriminalität wusste nichts über Mallorys Herkunft. Keiner wusste etwas darüber. Sie war mit zehn oder elf – bei Straßenkindern war die Altersbestimmung immer problematisch – als fertiger kleiner Mensch in das Leben von Inspektor Markowitz getreten. Und ihre Geschichte gehörte ihr allein. Helen, die Frau des Inspektors, hatte das Kind gewaschen und unter der Schmutzschicht Erstaunliches zu Tage gefördert: langes, goldenes Haar, glitzernde grüne Augen, ein bewegend schönes, zartes Gesicht, volle rote Lippen. Dass Kathy außerdem noch ein hohes Maß an Intelligenz besaß, war fast zu viel des Guten.
Vierzehn Jahre später lag sie laut Bericht von Detective Palanski tot auf einem Obduktionstisch, von Sergeant Riker nur durch eine Tür getrennt.
Entschlossen stieß er die Pendeltür auf. Die kalte Luft traf ihn wie ein Schlag. Grelles Licht fiel auf den Stahltisch und die Wagen mit den Instrumenten, unter denen sich auch Bohrer und Sägen befanden, die man eher in einer Schreinerwerkstatt vermutet hätte. Er sah auf die nur notdürftig mit einem Tuch bedeckte Tote hinunter.
Am Tisch stand ein junger Arzt mit OP-Maske, grüner Schürze und Gummihandschuhen. Der Pathologe nickte Riker zu – sie kannten sich von früheren Leichen her –, dann sprach er weiter in das Mikrophon, das über der Toten hing:
»… gut entwickelte weibliche Person, etwa fünfundzwanzig Jahre alt …«
Als Riker sich über die Leiche beugte, ließ das harte Licht der Deckenlampen sein Haar metallisch aufleuchten und vertiefte die Falten in seinem Gesicht, das ebenso verknautscht wirkte wie sein Anzug.
»… Wunde und Prellungen am Unterarm …«
Eine Defensivwunde? Demnach hatte es einen Kampf gegeben. Blonde Locken umrahmten ein Gesicht wie aus Porzellan. Er ließ den Blick von dem geronnenen Blut der Kopfwunde, in der sich schon Maden und Käfer gütlich getan hatten, weiter nach unten gleiten.
Es war das falsche Gesicht.
»… Wunde an der Schläfe …«
Er zog ein Lid hoch. Das Auge, trüb und seltsam flach, war nicht grün. Und die Haarwurzeln waren nicht blond. Also nicht Kathy.
»… Größe ein Meter fünfundsechzig …«
Die junge Frau war zehn Zentimeter kleiner als Kathy, aber so schlank wie sie und etwa im gleichen Alter.
Es dauerte eine Weile, bis Riker sich wieder im Griff hatte. Um ein Haar hätte er, ein ausgebuffter Cop mit fünfunddreißig Dienstjahren auf dem Buckel, losgeheult wie ein Weichei. Er machte kurz die Augen zu.
»Verdammter Idiot, dieser Palanski«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm. Riker drehte sich um. Dr. Edward Slope, der Chefpathologe, streifte gerade die Gummihandschuhe über, die Maske hing ihm um den Hals, das zerklüftete Gesicht war unbewegt. Auch Slope kannte Kathy von klein auf.
»Nicht mal für Schwestern würde man sie halten.«
»Palanski ist ein junger Spund«, sagte Riker, für den alle Männer unter vierzig in diese Kategorie fielen, »und hat ja auch nicht täglich mit ihr gearbeitet.«
»… die Hände zerquetscht, aber kein Blutverlust. Deutet darauf hin, dass ihr diese Verletzungen erst nach dem Tod beigebracht wurden …«
Riker schlug sein Notizbuch auf. Er sah die Frau auf dem Tisch, die jetzt nackt und wehrlos den Lichtern, den Männerblicken, der kalten Luft ausgesetzt war, nicht mehr an. »Sie haben sie im Park gefunden, etwa fünf Blocks von Mallorys Wohnung auf der Upper West Side entfernt. Sie trug einen Blazer und Jeans, genau wie Mallory. Und auf dem Schneideretikett stand Mallorys Name.«
Dr. Slope sah stirnrunzelnd auf die Tote hinunter. »Aber Kathy Mallorys grüne Augen sind doch unverkennbar, und die hier sind hellblau. Wie konnte Palanski das bloß verwechseln?«
»An ihre Augen hat er sich bestimmt nicht rangetraut«, sagte Riker. »Dazu hatte er zu viel Angst vor ihr. Auch noch im Tod.«
»… Leichenstarre noch im Nacken und Kiefer vorhanden …«
Dr. Slope trat an den Tisch heran, nickte dem jungen Kollegen zu und griff sich das Klemmbrett, das an einer Kette baumelte. »Was liegt bis jetzt vor?«, fragte er Riker.
»Die Kollegen von der West Side haben Coffey einen ersten Bericht geschickt. Ihr Mitarbeiter, der am Tatort war, schätzt die Todeszeit auf gestern Vormittag zwischen sechs und neun. Ein Entomologe untersucht gerade die Käferlarven, vielleicht kriegen wir es dadurch noch ein bisschen genauer. Angeblich ist die Leiche eine Stunde nach dem Tod noch mal von der Stelle bewegt worden.«
In seinem Notizbuch stand nur ein Wort: Käfer.
Riker wusste, auch ohne hinzusehen, was jetzt mit der Frau geschah. Der junge Mann mit der OP-Maske führte den ersten V-förmigen Schnitt von der Schulter zum Brustbein und wieder nach oben zur anderen Schulter. Aus dem Augenwinkel verfolgte Riker, wie der nächste Schnitt die Leiche von der Brust bis zum Venushügel hin öffnete. Es roch nach Blut, Urin und Fäkalien. Durch seitlich am Tisch angebrachte Öffnungen liefen die Körperflüssigkeiten ab.
»Palanski war als erster Polizeibeamter vor Ort. Er schätzt, dass die Leiche im Park nur abgelegt worden ist.«
»Und was glauben Sie, Riker?«
»Nicht ausgeschlossen. Auf der Kleidung sind Grasflecken. Vielleicht hat der Täter sie im Park umgebracht und dann tiefer ins Unterholz gezerrt, um sich ungestört ihre Hände vorzunehmen.«
Mit einem satten Platschen landete das erste Organ auf der Waage. Eine Lunge vielleicht. Oder das Herz.
»Klingt einleuchtend«, sagte Slope. »Die Hände hat man ihr nach dem Tod zerschlagen. Mit Fingerabdrücken ist da nichts mehr zu machen.«
Er holte eine Röntgenaufnahme aus einem großen gelben Umschlag und hielt sie ans Licht. »Der Schlag auf den Kopf wäre nicht tödlich gewesen. Als er ihr den Hals gebrochen hat, muss sie schon bewusstlos gewesen sein. Die Bruchstellen lassen auf einen schweren, stumpfen Gegenstand schließen.«
»Einen Stein zum Beispiel?«
»Möglich. Nach dem Verlauf der Bruchstellen würde ich sagen, dass er von vorn zuschlug und den Gegenstand in der rechten Hand hielt. Keine Würgemale. Den Hals hat er ihr wahrscheinlich mit beiden Händen umgedreht. Wollen Sie auf den Bericht warten?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Riker. »Jetzt, wo sich herausgestellt hat, dass es keiner von unseren Leuten war, geht der Fall zurück an die Kollegen von der West Side.«
»… Anzeichen einer kürzlich erfolgten Abtreibung …«
Weitere Organe landeten auf der Waage. Dreimal zählte Riker, stur in sein Notizbuch blickend, den Aufschlag von weichem Gewebe auf Metall. »Hat nicht Dr. Oberon was von einer Defensivwunde gesagt?«, fragte er.
Slope griff nach dem Arm der Toten. »So weit würde ich nicht gehen. Sieht aus, als habe er sie an dieser Stelle festgehalten. Muss große Hände haben. Ach ja, und grüßen Sie Palanski von mir. Sie können ihm ausrichten, dass ich ihm Mallory auf den Hals hetzen werde, weil er mir den Vormittag verdorben hat.«
Ohne aufzusehen wusste Riker, dass jetzt alle inneren Organe aufgenommen waren. Der junge Arzt trat ans Kopfende des Tisches, um den langen Schädelschnitt von dem einen Ohr zum anderen zu machen. Danach würde er den Hautlappen über das Gesicht der Frau legen, die nicht Kathy war. Er arbeitete schnell, mit den sicheren Bewegungen eines Schlächters. Knirschend fraß sich die Säge in den Knochen. Noch eine Minute, und das Gehirn würde auf der Waage liegen. Rikers Stift blieb über der Seite in der Schwebe, während die Minute vertickte. Dann war es vorbei.
Sie war nur noch eine leere, wertlose Hülle.
Weil diese Frau Kathy hätte sein können, die Sergeant Riker von klein auf kannte, hatte der Mörder ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
Später würde er seinen Kummer mit Scotch zuschütten, ohne ihn ertränken zu können. Der Kater und der Kummer würden wartend am Fußende seines Bettes sitzen, wenn er morgen früh – oder vielleicht erst am Nachmittag – aufwachte, und dann würden sie sich mit vereinten Kräften auf ihn stürzen.
Solange sie vom Dienst suspendiert war, störte kein Revolverwulst die elegante Linie ihres maßgeschneiderten Blazers. Man hätte sie für eine Zivilistin halten können, wären da nicht die unzivilisierten grünen Augen gewesen. Die Nachmittagssonne beschien das elegante Rokokosofa, auf dem sie es sich bequem gemacht hatte. Ein schlankes Bein war angezogen, ohne dass der Sportschuh den Brokatstoff berührte. Helen Markowitz hatte ihr beigebracht, dass man mit Einrichtungsgegenständen achtsam umzugehen hat, ob es sich nun, wie hier, um kostbare Antiquitäten, in satten Farben leuchtende Orientteppiche und Tiffanylampen handelte oder um die eher schlichte Ausstattung eines New Yorker Polizeireviers.
»Sprich du mit ihm, Mallory«, sagte Effrim Wilde, der es nie gewagt hätte, nach nur zehnjähriger Bekanntschaft Kathy oder Kathleen zu ihr zu sagen.
Sie sah ihn unter schläfrig gesenkten Lidern an. »Hauptsache, der Junge ist nicht vom Teufel besessen. So was ist nämlich nicht mein Ding.«
Charles Butler grinste. Effrim Wilde verzog keine Miene.
Das hohe, dreigeteilte Bogenfenster, vor dem er stand, verkürzte seine rundliche Gestalt, so dass der Mittfünfziger fast wie ein Messknabe wirkte. Das alternde Cherubgesicht umgab stark ins Grau spielendes welliges Haar.
»Ein faszinierendes Problem, Charles.«
»Faszinierend? Es darf gelacht werden! Für mich ist das ein ganz gewöhnlicher Feld-, Wald- und Wiesenschwindel.«
Charles beneidete Effrim um seine Stupsnase, denn sein Zinken war so groß, dass er ihm bei der Betrachtung seiner Umwelt ständig im Wege war und seinen Schatten an jede Wand warf. Auch sonst war Charles Butler keine Schönheit. Das wusste er auch und hatte sich längst damit abgefunden, dass ihn so mancher, der ihn nicht näher kannte, für durchgeknallt hielt – vielleicht vor allem seiner großen, permanent erstaunt wirkenden Augen mit der ungewöhnlich kleinen blauen Iris wegen.
»Vergiss es, Effrim. Mit solchem Nonsens gebe ich mich nicht ab.« Er erhob sich aus seinem Queen-Anne-Sessel und baute sich mit seiner beachtlichen Länge von fast zwei Metern vor dem Besucher auf.
»Es ist kein Nonsens, Charles. Ich habe Daten, die beweisen –«
»Meinst du die von den Russen oder die von den Chinesen? Imponieren mir beide nicht. Bisher hat diese Experimente noch niemand überzeugend nachvollziehen können. Warum gehst du mit dem Fall nicht einfach zu Malachai?«
»Dem Enttarnungskünstler? Ich dachte, der ist tot.«
»Er ist beruflich nicht mehr aktiv, aber mit dieser Geschichte würde er sich bestimmt nicht übernehmen. Und für eine Viertelstunde dürfte er dir auch nicht allzu viel berechnen.« Charles wandte sich an Mallory. »Malachai ist ein alter Freund unserer Familie. Er hat damals Onkel Max und seine Zaubershow auf Europatournee begleitet. Das ist allerdings lange her.«
»Es geht mir nicht ums Geld, Charles«, sagte Effrim.
»Umso besser. Ihm nämlich auch nicht. Soll ich ihn anrufen?«
»Untersteh dich! Wo Malachai sich reinhängt, gibt’s immer einen Riesenwirbel, und in diesem Fall ist Diskretion angesagt. Es geht schließlich um einen kleinen Jungen mit erheblichen Problemen.«
»Was du nicht sagst!« Charles wippte freundlich lächelnd auf den Fußballen. »Ich habe eher den Eindruck, dass du dich bei dem Vater lieb Kind machen willst, weil er den Vorsitz in einer Spendenkommission hat. Wenn ich mich nicht irre, begibt sich dein Forschungsinstitut um diese Zeit doch immer auf Betteltour. Ich befasse mich nur mit echten, nachprüfbaren Talenten.«
»Ich sage nur Levitation. Ist das kein Talent?« Effrim spielte durchaus überzeugend den Gekränkten.
»Du weißt ganz genau, dass der Junge ein Schwindler ist, Effrim. Von Levitation kann hier keine Rede sein. Und bilde dir nur ja nicht ein, du könntest Mallory als Bundesgenossin gewinnen, sie findet nämlich kleine Kinder, alte Damen und Hunde überhaupt nicht rührend. Und dass unbelebte Gegenstände ohne menschliche Nachhilfe fliegen können, dürfte sie dir auch nicht abnehmen. Übrigens nennt man das in Fachkreisen Psychokinese.«
Effrim machte eine großzügige Handbewegung. »Da spricht der Fachmann! Ich bin dir sehr verbunden für die Richtigstellung.«
»Und wenn er Kuchen durch die Luft fliegen lässt, nennt man das Tortenschlacht.«
»Tausend Dank, Charles.«
Effrim lächelte milde, senkte die Augen und seufzte voll Weltschmerz. Dann nahm er einen erneuten Anlauf.
»Dieses Kind hat seelische Torturen hinter sich.« Seine Stimme troff vor Salbung wie die des Pfarrers bei der Sonntagspredigt. »Als er neun war, starb seine Mutter. Und vierzehn Monate später verlor er auch noch seine erste Stiefmutter durch den Tod.«
»Lass gut sein, Effrim. Psychokinese fällt nicht in mein Fach.«
Effrim schlug die Augen gen Himmel wie die statuenhaften Heiligen auf mittelalterlichen Gemälden. »Dein Fach ist die Entdeckung neuer Talente und der Nachweis entsprechender Einsatzgebiete. Der Junge ist auch in anderen Bereichen überdurchschnittlich begabt. Sein Intelligenzquotient liegt irgendwo zwischen deinem und meinem. Und die Zeit drängt. Seine neue Stiefmutter ist nur noch ein Nervenbündel. Er hat offenbar sein Talent auf recht beängstigende Weise demonstriert.«
Mallory erwachte aus ihrer Lethargie und reckte sich. »Demnach ist die neue Stiefmutter die Zielperson?«
Charles sah, wie Effrim in Gedanken einen Schritt zurücktrat, um zu prüfen, inwieweit sich Mallory als Verbündete einspannen ließ. Bei seinen Mitmenschen die Schwachstellen zu finden, über die man sie manipulieren konnte – das war sein besonderes Talent.
»Das wollen wir doch nicht hoffen«, sagte er beherzt, aber wenig überzeugend. »Er hat spitze Gegenstände durch die Luft fliegen lassen.«
Charles schenkte Mallory trockenen Sherry nach und beschwor sie stumm, Effrim nicht zu ermutigen.
Dann gab er die Karaffe an Effrim weiter, seinen langjährigen Freund, dem er nicht von hier bis zur nächsten Ecke traute. »Wenn du meinst, dass der Junge ein Trauma hat, Effrim, wäre wohl ein Psychiater die richtige Adresse.«
Mallory nahm Effrim die Antwort ab. »Das möchte ich bezweifeln. Unter diesen Seelenheinis sind Genies relativ dünn gesät. Wenn der Junge angeblich so hochintelligent ist, wie allgemein behauptet wird, zieht er den durchschnittlichen Wald-und-Wiesen-Doktor doch glatt über den Tisch.«
Charles lächelte leicht gequält. Seine stumme Bitte war offenbar nicht erhört worden.
Mallory entzog sich weiteren diskreten Winken, indem sie Charles einfach nicht mehr ansah. Interessant, dachte er, dass sie sich trotz ihrer spürbaren Skepsis auf Effrims Seite schlägt. Auf ihren Instinkt ist in den meisten Fällen Verlass.
»Wie sind die Mutter und die erste Stiefmutter zu Tode gekommen?«, fragte sie.
Kaum ist von Leichen die Rede, überlegte Charles, ist Mallory sofort hellwach. Die Zusammenarbeit mit mir befriedigt sie nicht. Wenn ihre Suspendierung abläuft, geht sie bestimmt zur Polizei zurück. Ich habe ihr nichts zu bieten – keine Toten, keine Mordermittlungen.
Effrim starrte in sein Sherryglas, als stünde dort die Antwort geschrieben. »Eine tragische Geschichte. Wirklich tragisch. Die leibliche Mutter ist mit achtundzwanzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.« Er blickte auf, weil er sehen wollte, ob Mallory angebissen hatte, aber ihr Gesicht war wie ein zugeklapptes Buch. Er hatte sich wohl eine Sekunde zu lange in ihren Augen verloren, denn als er sich wieder seinem Sherry zuwandte, war er merklich verunsichert. »Seine erste Stiefmutter beging Selbstmord. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden.«
Mallorys Kinn hob sich ein wenig, die Augen waren jetzt weit geöffnet.
Charles sah zur Decke. Gratuliere, Effrim.
»Eine erstaunliche Pechsträhne für die Familie«, sagte er.
»Nur für die Frauen«, widersprach Mallory. »Wir übernehmen den Fall.«
Sie wich seinem Blick noch immer aus, aber er nahm ihr die Selbstherrlichkeit nicht übel. Vielleicht blieb sie dadurch der Firma Mallory & Butler noch eine Weile erhalten. Auf lange Sicht aber war die Trennung unvermeidlich. Schon deshalb, weil ihr die Polizei den Zweitjob nicht mehr würde durchgehen lassen.
»Den Vorschuss bekommt ihr per Scheck«, sagte Effrim. Damit verschwand er. Nur sein breites Lächeln – ein Trick, den er wohl der Cheshire-Katze aus Alice im Wunderland abgesehen hatte – schwebte noch eine Weile im Raum.
Mallory stand auf. »Ich kümmere mich am besten gleich mal um die Lebensversicherungen.«
»Moment, Mallory! Unser Auftrag lautet nicht, die Familiengeschichte zu erforschen, sondern den psychokinetischen Aktivitäten auf den Grund zu gehen.«
»Scherzbold! Was ich noch sagen wollte: Im Bürokühlschrank herrscht gähnende Leere.«
Charles nickte schuldbewusst. Auf der Rückseite des ihm von Mallory anvertrauten Einkaufszettels hatte er zwei Telefonnummern notiert und ihn dann als Lesezeichen in irgendeinem Buch verschwinden lassen.
»Gehen wir zu mir«, schlug er vor.
In seiner Wohnung, die auf dem gleichen Stockwerk wie das Büro lag, sorgte die gestrenge Mrs. Ortega aus Mitleid mit dem einkaufstechnisch behinderten Charles dafür, dass stets Vorräte im Haus waren. Heute hatte sie mit einem Magneten eine Skizze an die Kühlschranktür geheftet, auf der sämtliche auf dem Kriegsschauplatz Küche für die Maus aufgestellten Fallen eingezeichnet waren. Charles hatte unbegrenztes Vertrauen zu Mrs. Ortega und ihren Fähigkeiten, weshalb ihm der unglückliche Nager jetzt schon leidtat.
Mallory hatte es sich erwartungsvoll am Küchentisch gemütlich gemacht. In der Küche war Charles am allerliebsten. Auf Wandregalen standen in Reih und Glied Gewürze, Fleischzartmacher und all die praktischen Folterinstrumente, die man gern zur Hand hat, um unschuldiges Gemüse zu köpfen, zu häuten, zu vierteln und in siedendes Öl zu tauchen. Er packte auf den Tisch, was er im Kühlschrank fand, Mallory sichtete sachkundig das Fleisch-, Aufschnitt- und Käseangebot und kreierte damit originelle Sandwich-Schöpfungen. Als er zum letzten Mal vom Kühlschrank zurückkam, brachte er eine neue Gewürzsauce mit.
»Bei der Polizei hast du dich wohler gefühlt, nicht?«
»Als Markowitz noch lebte.« Sie schraubte das Glas auf, schnupperte und nickte kurz. Der Inhalt war genehmigt. »Coffey ist eben anders. Er ist stocksauer auf mich. Wenn ich ins Dezernat zurückgehe, steckt er mich in die Computerabteilung und lässt mich nie wieder auf die Straße.«
»Ich denke, die Suspendierung ist nur eine Formsache.«
»Ist sie auch. Wer auf einen Täter schießt, wird vom Dienst suspendiert, solange die Zivile Kontrollbehörde den Fall untersucht.«
»Aber du hast den Täter doch nicht umgebracht! Und schließlich hatte er einen alten Mann zusammengeschlagen.«
»Coffey hat eine etwas andere Einstellung zu der Sache.«
»Du willst also unser Partnerschaftsverhältnis nicht auflösen?«
»Nein, warum denn? Aber zur Polizei zurück will ich auch. Eins schließt das andere ja nicht aus.« Sie sah auf die Uhr und schaltete den kleinen Fernseher an. Es war Zeit für die Nachrichten, und sie hielt sich gern über die New Yorker Todesrate auf dem Laufenden.
»Aber gibt es bei euch nicht eine Vorschrift, wonach Polizisten keine Nebentätigkeiten ausüben dürfen?«
»Ja und?«, gab sie leicht erstaunt zurück.
Das Fernsehen berichtete über das tägliche Gemetzel mit einem zusätzlichen Bildschirmfenster, das die Todesuhr am Times Square zeigte. Der Nachrichtensprecher verlas die Statistik, und dazu sprangen vor den Augen Tausender von Autofahrern und Fußgängern und der Millionen, die ihre billigen Sensationen lieber über die Mattscheibe bezogen, die Zahlen auf der riesigen Anzeigetafel um.
»Ich hasse das Ding«, sagte Mallory, während die elektronische Anzeige den landesweiten Stand der tödlichen Schusswaffenverletzungen registrierte.
»Ach ja? Ich dachte, eine computergesteuerte Todesstatistik müsste dir liegen. Sie macht die Morde so schön übersichtlich.«
Ihr Gesicht wurde abweisend und fast maskenhaft starr. Warum bildete er sich immer noch ein, Mallory ergründen zu können? Wer wusste schon, was in ihr vorging? Und wann würde er aufhören, sich darüber den Kopf zu zerbrechen?
»Und nun zu unserer letzten Meldung«, sagte der Nachrichtensprecher und holte damit Charles ins Hier und Jetzt zurück. Auf dem Bildschirm erschien Mallorys Gesicht.
»Im Central Park wurde eine Kriminalbeamtin ermordet. Bei dem Opfer handelt es sich um Sergeant Kathleen Mallory, Tochter von Inspektor Louis Markowitz, der vor einiger Zeit ebenfalls in Erfüllung seiner Pflicht für die Allgemeinheit sein Leben gab. Weitere Einzelheiten wurden zunächst nicht bekanntgegeben, um die Ermittlungen nicht zu behindern.«
Charles sah die ihm quicklebendig gegenübersitzende Mallory an wie einer, dem es schwerfällt, sich von seinem naiven Glauben an die Wahrhaftigkeit des Mediums Fernsehen zu trennen. Wie hätte er wohl reagiert, wenn sie in diesem Moment nicht bei ihm gewesen wäre?
Sie zappten sich einmal durchs Programm. Alle Sender brachten dieselbe Meldung.
Telefon und Türglocke läuteten gleichzeitig. Da kamen wohl schon die ersten Beileidsbekundungen. Mallory ging zur Tür, während Charles den Hörer abhob.
»Hier Riker. Sag mal, Charles, wozu hast du eigentlich einen Anrufbeantworter, wenn du ihn nie abhörst?«
»Geht es um die Meldung über Mallorys Tod?«
»Ja. Ich bin in Slopers Büro. Wir versuchen schon den ganzen Tag, Mallory zu erreichen. Ist sie bei dir? Gibst du mir die Leiche mal eben rüber?«
Mallory brachte eine Nachbarin, Dr. Henrietta Ramsharan aus dem Apartment 3 A, mit in die Küche. Henrietta trug schon ihre Freizeitkluft – Jeans und Karobluse –, hatte das schulterlange braune Haar aus dem strengen Knoten der Dienstfrisur befreit und sah so konsterniert drein, wie man es von einer Frau erwarten darf, der eine Tote die Tür öffnet.
Lieutenant Jack Coffey saß an seinem Schreibtisch. Er behauptete jedenfalls, es wäre seiner – aber von dem Raum, in dem besagtes Möbelstück stand, sprach nach wie vor jedermann als dem Büro von Inspector Markowitz, auch wenn der inzwischen nicht mehr am Leben war. Manchmal sagte sich Coffey, dass er schon froh sein konnte, wenn der Gehaltsscheck auf seinen Namen lief. Aber im Augenblick dachte er nicht an seinen früheren Chef, sondern an dessen Tochter. Kathleen Mallory.
Auf dem Schreibtisch lagen Palanskis Bericht und das Fax der Kollegen vom Revier West Side mit dem ersten Bericht vom Tatort. Die Fotos waren sehr dunkel, aber selbst in der körnigen Schwärze schien das blonde Haar zu leuchten, und mit einiger Mühe waren die Umrisse der vertrauten Gestalt in Jeans, Laufschuhen und Blazer zu erkennen. Jetzt fehlte nur noch die endgültige Identifizierung durch einen Freund der Familie.
Für Sergeant Riker war es besonders hart. Schon der Tod von Markowitz hatte ihn schwer getroffen. Dass es Mallory erwischt hatte, würde ihm den Rest geben.
Der sechsunddreißigjährige Coffey knipste die Schreibtischlampe aus und stützte sich zum Aufstehen auf die Schreibtischplatte wie ein gebrechlicher Greis.
Wer hatte so dicht an sie herankommen, sie so zurichten können? Er konnte es noch immer nicht fassen.
Aber der Beweis lag schwarz auf weiß vor ihm, auf allen Sendern flimmerte ihr schönes Gesicht über die Mattscheibe. Und wenn er den Cop fand, der es den Medien gesteckt hatte, würden Köpfe rollen.
Könnte er sie für ein paar Minuten zurückbekommen, würde er mit Freuden ihren spöttischen Blick ertragen, der stets jede Anteilnahme an ihrem Wohlergehen zurückwies und ihm mehr als deutlich zeigte, dass sie ihn für einen Schlappschwanz hielt. Er sah sie förmlich vor sich, meinte, ihr Parfüm zu riechen. Zeit zum Heimgehen. Zeit für die Flasche. Er wandte sich um.
Das darf nicht wahr sein …
Er tastete nach dem Türrahmen, griff daneben, landete unsanft auf einem Stuhl. Sein Magen fuhr Achterbahn.
Unter der Tür stand Mallory. Ihr Haar leuchtete im Gegenlicht. Hinter ihr tauchte Riker auf. Er wirkte unter den Neonröhren fahl und verwaschen.
»Klarer Fall«, sagte Mallory. »Du hast gedacht, die Frau in der Leichenhalle bin ich.«
»Wie man’s nimmt.« Riker grinste. »Das mit deinem Tod hat der Lieutenant schon geglaubt. Aber er weiß auch, dass eine wie du nach Sonnenuntergang wiederkommt.«
Er warf seinen Bericht auf den Schreibtisch. Ein Getränkefleck und zwei Essenskleckse unterschiedlicher Herkunft zierten die erste Seite.
Während Mallory sich einen Stuhl heranzog und die langen Beine ausstreckte, starrte Coffey auf den Bericht und suchte nach seiner Stimme.
Riker holte sich ebenfalls einen Stuhl, knipste die Schreibtischlampe wieder an und zückte sein Notizbuch. An der hinteren Wand warf Mallory den beruhigenden Schatten einer lebendigen Frau.
Coffey ließ sich langsam in seinen Schreibtischsessel sinken, eine Hand auf der Magengrube, in der er immer noch ein beängstigendes Flattern verspürte. »Die Tote trug einen braunen Kaschmirblazer, der für dich maßgeschneidert war, Mallory.«
Riker warf einen Blick in sein Notizbuch. »Dein Schneider auf der 42nd Street hat das bestätigt. Zu Palanski hat er angeblich gesagt, dass du seine einprägsamste Kundin bist.«
»Was war mit dem Blazer?«, blaffte Coffey. Ruhig Blut, Junge, redete er sich zu, du hast schließlich keine Tatverdächtige vor dir. »Der ist bisher unser einziger Hinweis.«
»Riker hatte mit einer Zigarette ein Loch in den linken Ärmel gebrannt«, erklärte sie sachlich, »da hab ich ihn weggetan.«
»In den Müll?«
»Nein. Anna, die Frau von Rabbi Kaplan, sammelt Klamotten für Obdachlose, die hat ihn mir abgenommen.«
Coffey versuchte, durch das rötliche Geklecker und einen Fleck hindurch, von dem er hoffte, dass es nicht Bier war, Rikers Bericht zu entziffern. »Laut Autopsiebefund handelt es sich um die Leiche einer gut genährten Frau Mitte zwanzig. Kein Hinweis auf Obdachlosigkeit, keine Kopfläuse, keine Wanzen.«
Nur die Spuren hungriger Maden und Käfer, mit deren Hilfe sich möglicherweise die Todeszeit genauer bestimmen ließ.
»Na und?« Mallory zuckte die Schultern. »Fragt doch Palanski. Man darf gespannt sein, was er außer der Identifizierung noch verbockt hat. Was liegt bis jetzt vor?«
Als einer Mitarbeiterin im Dezernat für Sonderkriminalität stand ihr diese Frage durchaus zu, und Coffey hätte sie lieber heute als morgen wieder bei sich gehabt. Jetzt ging es darum, das Gespräch so zu führen, dass er sie nicht gegen sich aufbrachte, dass er ihr die Nasenlänge Vorsprung gönnte, die ihr ja sowieso nicht zu nehmen war. Er überflog Rikers Text.
»Wir wissen, dass sie etwa zwei Wochen vor ihrem Tod eine Abtreibung machen ließ. Sie wurde zunächst frontal angegriffen und erlitt eine Kopfwunde. Das könnte bedeuten, dass es eine persönliche Sache und der Täter ein Bekannter war. Aber das ist auch schon alles. Keine Zeugen, keine Tatwaffe.«
»Gestern Vormittag hat es laut Bericht unserer Kollegen geregnet«, sagte Riker, »und der Regen hat wahrscheinlich alle Spuren verwischt, sonst hätte Heller was gefunden. Die Tatwaffe kann ein Stein gewesen sein, und wenn der Täter auch nur halbwegs bei Verstand ist, liegt der jetzt im See, wo er am tiefsten ist. Falls sie wirklich im Park umgebracht wurde. Fest steht nur so viel, dass die Leiche nach dem Tod von der Stelle bewegt wurde.«
»Von unseren Leuten ist niemand involviert«, sagte Coffey. »Wenn du dem Bericht nichts mehr hinzuzufügen hast, Riker, gebe ich den Fall heute Abend an die Kollegen von der West Side zurück.«
Mallory hatte sich mit halb geschlossenen Augen zurückgelehnt und machte ein verdächtig harmloses Gesicht. »Ohne Fingerabdrücke identifizieren sie die Tote bestenfalls in einem Monat. Oder nie. Es ist ja kein Druck dahinter. Und wenn der Täter sie im Park nur abgelegt hat, bleibt der wahre Tatort ein großes Fragezeichen. Die setzen den Fall in den Sand.«
»Während du ihn wahrscheinlich relativ schnell lösen könntest …«
»Wenn du möchtest …«
»Ich möchte, dass du dich wieder um deinen verdammten Computer kümmerst.«
»Im Augenblick bin ich noch suspendiert. Außerdem prüfe ich gerade ein günstigeres Angebot.«
Mallory stand auf. Einen Augenblick hatte Coffey noch Gelegenheit, ihren Rücken zu betrachten, dann klappte die Tür hinter ihr zu.
Riker vergewisserte sich, dass sie außer Hörweite war, dann sagte er: »Natürlich hat sie recht, und das weißt du auch ganz genau. Wetten, dass die Jungs von der West Side voll ins Leere greifen?«
»So was kommt vor. Was soll ich denn machen?«
»Gib Mallory den Fall.«
»In ihrer Stellenbeschreibung steht, dass sie für Verbrechensanalyse und EDV zuständig ist.«
»Aber sie hat auch schon draußen gearbeitet.«
»Inoffiziell, und nur, weil unsere Personaldecke so dünn ist. Wenn sie mehr will, muss sie sich dazu bequemen, einen Antrag zu stellen, und braucht für den Anfang einen Partner. Kannst du dir vorstellen, dass jemand mit ihr auskäme? Und vergiss nicht, dass der Fall in einen anderen Bezirk gehört.«
»Technisch gesehen ist nach wie vor unser Dezernat zuständig. Mach die Augen zu, und frag nicht lange.«
»So wie Markowitz?« Unter Markowitz hatte sie jeden Tag gegen sechs Vorschriften verstoßen, hatte in fremden Computern herumgehackt, auf zeitraubende Dienstwege und Durchsuchungsbefehle verzichtet – und sich dem Dezernat damit unentbehrlich gemacht.
»Mit anderen Worten: Ich soll sie ungebremst auf die Menschheit loslassen …«
»Das nicht, aber –«
»Im Sinne von Markowitz wäre das nämlich nicht. Als er hier das Sagen hatte, saß sie in ihrem Computerraum praktisch wie in einer Zelle, und er ist mit seinen Fällen zu ihr gegangen.«
»Ich fand immer, dass das ein Fehler war.« Riker zündete sich eine Zigarette an, ohne Coffey zu fragen, ob ihn das Rauchen störe.
Coffey, der fanatische Nichtraucher, schluckte die Provokation. Rikers Frotzeleien, die erst hart an der Grenze zur Insubordination aufhörten, war er inzwischen gewöhnt. Dass der Sergeant ihn aber nicht sofort angerufen hatte, als die Falschidentifizierung feststand, würde er ihm so schnell nicht vergessen.
»Inzwischen hätte sie nämlich längst all das lernen können, was man braucht, um draußen zu überleben.« Riker hüllte sich in blauen Dunst. »Aber irgendwie hat sie wohl ihre eigene Überlebenstechnik. Es wäre jammerschade, sie im Computerraum versauern zu lassen.«
»Du siehst ja, was passiert, wenn man sie mal rauslässt: Prompt wird sie vom Dienst suspendiert.«
»Niemand kann ihr einen Vorwurf daraus machen, dass sie geschossen hat.«
»Mit einem sauberen Blattschuss hätte ich kein Problem gehabt. Aber Mallory wollte mit dem Täter Katz und Maus spielen.«
»Wer sagt das? Haben diese Idioten von der Zivilen Kontrollbehörde etwa gegen sie entschieden?«
»Sie haben ihr empfohlen, in Zukunft einem Verdächtigen nur den Revolver aus der Hand zu schießen und nicht die Hand selbst zu lädieren. Was Zivilisten eben sagen. So weit, so gut. Aber ich bin mit der Sache noch nicht fertig. Der Täter hat Mallory mit der Waffe bedroht. Sie hätte ihm die Kugel ins Herz jagen sollen. Aber das wäre ja zu schnell gegangen und hätte keinen Spaß gemacht …«
Kein Widerspruch, Riker?
Coffey schrieb sich einen Punkt gut, aber sein großes Ziel blieb es, irgendwann mal das letzte Wort zu behalten. »So, und nun muss ich meinen Aktenrückstand aufarbeiten. Sie ist am Computer nicht zu ersetzen, und damit Schluss.« Coffey fing an zu lesen. Ein taktvollerer Untergebener hätte begriffen, dass er entlassen war. Riker aber saß immer noch in aller Ruhe da, als sein Vorgesetzter von seinem Papierkram aufsah, und ließ Coffeys erbosten Blick an sich abprallen.
»Geh Mallory nach, Riker, und sag ihr, dass die Suspendierung aufgehoben ist.«
Riker nickte, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Wenn du Mallory nichts zu bieten hast, was sie reizt, können wir sie nicht halten«, sagte er. »Dann macht sie bei Charles weiter. In dieser Consultingfirma, die sich Mallory & Butler nennt.«
»Und die in dieser Form natürlich völlig illegal ist. Wenn sie den Laden nicht dichtmacht, ist sie ihre Dienstmarke los.« Coffey hatte beschlossen, die Drohung erst mal an Riker auszuprobieren, ehe er sich damit an Mallory wagte.
»Mit so was kannst du Mallory nicht bange machen.«
Damit hatte Riker natürlich recht, und das ärgerte ihn besonders. Würde die Polizei ihren Mitarbeitern konsequent die Nebentätigkeiten verbieten, blieben keine drei Cops mehr zum Schutz der Stadt übrig.
»Willst du dich freiwillig als Kindermädchen für Mallory melden?«
»Sie braucht kein Kindermädchen. Schon als Dreikäsehoch hat sie keins gebraucht. Und auch sonst niemanden. Sie war und ist eine selbstgenügsame kleine –«
»Markowitz rotiert in der Grube, Riker, wenn du seine Tochter in die Schusslinie bringst.«
»Daran hing’s ja gerade: dass es seine Tochter war. Jede andere hätte er beinhart rangenommen, wie es sich gehört.«
Um Riker herum war der Teppichboden grau. Die Welt war für ihn ein einziger großer Aschenbecher.
»Und warum ausgerechnet diesen Fall? Der Typ ist brutal. Ein Psychopath.« Coffey hielt das Foto aus dem Leichenschauhaus hoch, und Riker sah schnell weg. »Erst schlägt er der Frau den Schädel ein, dann dreht er ihr den Hals um. Wie soll Mallory –«
»Diesmal schießt sie bestimmt nicht in die Hand. Ich denke, sie hat ihre Lektion gelernt.« Riker hob den struppigen Kopf. »Gib ihr die Chance.«
»Sie hat nicht den kleinsten Hinweis.«
»So was Ähnliches hast du vorhin schon mal gesagt. Hast du ihre Augen aufleuchten sehen? Wie grüne Kerzen. Bei so was könnte man wahrhaftig wieder anfangen, an die Hölle zu glauben.«
»Wir wissen über den Täter nur so viel, dass er für Frauen eine Bedrohung darstellt. Und da soll ich ihm Mallory zum Fraß vorwerfen?«
»Sie ist für den Fall genau die Richtige.«
»Wie kommst du denn darauf?«
Coffey griff nach einem Drehbleistift, um den Bericht abzuzeichnen, der vor ihm lag. Riker rutschte in seinem Stuhl tiefer und legte die Füße auf die Schreibtischplatte. Coffeys Bleistiftmine brach ab.
»Markowitz«, sagte Riker durch blaue Wolken hindurch, »war immer unheimlich stolz auf Mallory. Ständig hat er mit ihr angegeben. Nicht jeder Vater in meiner Gegend, sagte er immer, hat eine Tochter, die vom Persönlichkeitsprofil her eine Soziopathin ist.«
21. Dezember
Er hatte wieder von der magischen Kugel geträumt. Ganz langsam war sie aus der Revolvermündung auf ihn zugeflogen, hatte ihr Ziel getroffen und das Blut aufspritzen lassen.
Auf dem Weg ins Badezimmer stieß Riker mit einem nackten Fuß an eine leere Bierflasche, aber er spürte keinen Schmerz, weil ihm der Traum noch so lebhaft vor Augen stand.
Irgendwann würde der Suff ihn umbringen, würden die Reflexe, die er brauchte, um sein jämmerliches Leben zu retten, nicht mehr funktionieren. Im Schlafen wie im Wachen war die magische Kugel nie weit weg.
Doch er und die Flasche waren mittlerweile ein altes Ehepaar. Und der Traum von der Kugel war ihm immer noch lieber als die Spinnen. Die waren über ihn gekommen, als er mal wieder einen Anlauf genommen hatte, diese Beziehung aufzulösen. Dreizehn Jahre musste das inzwischen her sein. Mindestens.
Er hatte angeschnallt im Bett gelegen, als Kathy Mallory plötzlich durchs Fenster kletterte. Kinderbesuch war in der Entziehungsklinik verboten. Auf lautlosen Gummisohlen und mit der Heimlichkeit der geborenen Diebin sprang sie vom Fensterbrett zu Boden.
Einen Lidschlag lang hatte dieses seltsame Kind gar nicht so schlecht in das Gewimmel von Spinnen gepasst, die über seinen Körper, das Bettzeug, die Wände krabbelten. Die größte hatte sich einen prächtigen Faden gesponnen, an dem sie sich mit ihren acht schwarzen Beinen von der Decke herunterließ. Dann fing sie, elegant wie eine Primaballerina, auf seinen Augen an zu tanzen, und er war ihr hilflos ausgeliefert.
»Die Spinne! Mach sie weg!«, hatte er Mallory zugerufen, die er damals noch Kathy hatte nennen dürfen. (Erst später, als sie zur Polizei ging, hatte sie sich das verbeten.) Kathy war an sein Bett getreten, hatte ihm in die Augen gesehen und sie verächtlich für spinnenfrei erklärt. Sie war ihm so nah gewesen, dass er sich in ihren Augen gespiegelt sah. Winzig wie ein Mistkäfer.
Der große Spiegel an der Wand zeigte ihm genauer, was Kathy sah: sein schweißnasses, zuckendes Gesicht. Die Spur von Erbrochenem, die sich vom Mund zum Kinn zog. Er nickte ergeben und konnte Kathy nur recht geben: Mit einem so hoffnungslosen Fall mochten nicht einmal mehr Spinnen was zu tun haben.
Er wusste noch, dass er gedacht hatte: Ein Glück, dass Helen Markowitz ihrer Kathy beigebracht hat, in geschlossenen Räumen nicht auszuspucken. Denn dazu hatte sie in diesem Moment sichtlich die größte Lust gehabt. Stattdessen hatte sie sich wortlos umgedreht und war auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war, wieder gegangen. Lautlos schlossen zwei kleine Hände das Schiebefenster.
Nachdem die Spinnen von ihm abgelassen hatten, um sich auf vielversprechendere Opfer zu stürzen, hatte er keinen Versuch mehr gemacht, von der Flasche loszukommen. Dafür hatte er nach besten Kräften versucht, sich nicht noch einmal vor Kathy zu blamieren. Diese unerbittliche kleine Range hatte den Sauftouren, von denen er auf allen vieren nach Hause gekrochen war, und den peinlichen Szenen in der Öffentlichkeit ein Ende gemacht. Er war ein halbwegs diskreter Säufer geworden.
Das Tageslicht blendete ihn trotz der Sonnenbrille. Er setzte sich auf den Beifahrersitz von Mallorys braunem Kleinwagen, beugte sich vor und besah sich über die zerschrammten grünen Gläser hinweg die Gegend.
»So sieht die Welt also am frühen Morgen aus.«
Mallory hüllte sich in beredtes Schweigen.
Die Pünktlichkeitsfanatikerin hatte warten müssen, während er sich angezogen und rasiert hatte. Er rutschte tiefer in seinen Sitz, band sich noch rasch den Schlips und wartete auf den fälligen Anschiss. Stattdessen ließ sie wortlos den Motor an und bretterte los.
Riker hielt sich am Armaturenbrett fest. Er hörte förmlich die Hirnmasse in seinem Kopf herumschwappen. Kein angenehmes Gefühl, wenn man einen Kater hat.
»Sachte, Mallory. Wir haben noch einen langen Tag vor uns.«
Sie drosselte das Tempo und sagte so höflich, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief: »Bei den Portiers auf der Upper West Side sind die Kollegen nicht fündig geworden. In dieser Gegend hat sie nicht gewohnt, keiner hat sie auf den Fotos erkannt.«
Sie hatte also schon ohne ihn angefangen. Was hatte sie noch alles angestellt? Es war zehn. Meist machte er um diese Zeit erst mühsam die Augen auf.
»Da sieht man mal, dass dir die Erfahrung fehlt«, sagte er leicht gönnerhaft. »Es gibt nicht viele Leute, die eine Identifizierung nach einem Foto aus dem Leichenschauhaus vornehmen können, selbst wenn das Gesicht intakt ist. Eine Mutter erkennt ihr Kind auf den ersten Blick. Manchmal schaffen das auch noch gute Freunde. Aber ein Portier? Vergiss es.«
Mallorys Profil blieb unbewegt.
Vorsichtig peilte er die Lage. »Wo geht’s hin? Nach Brooklyn?«
»Nein, da war ich schon. Anna hat die Sachen bei einer Sammelstelle abgegeben, und von da sind sie zum Hauptlager nach Manhattan gegangen. Annas Ballen ist in einem Obdachlosenasyl für Frauen im East Village gelandet.«
»Obdachlosenasyl? Also darin muss ich Coffey recht geben: In einer Pennerbleibe kann ich mir unsere Unbekannte einfach nicht vorstellen.«
»Bereits abgehakt. Der Kaschmirblazer war nicht auf der Liste, den hat jemand schon im Hauptlager geklaut. Und da fahren wir jetzt hin.«
»Woher willst du wissen, dass es niemand aus dem Heim war?« Blöde Frage. Wahrscheinlich hatte sie dort das Unterste zuoberst gekehrt und alle gegen sich aufgebracht.
»Eine Bekannte von Anna hat dort die Leitung, sie hat Annas Ballen selber aufgemacht. Der Blazer war nicht drin. Wir fahren zum Hauptlager und nehmen uns alle vor, die was mit dem Zeugs zu tun hatten.«
Zehn Minuten saßen sie in freundschaftlichem Schweigen nebeneinander. Das war das Positive an der Arbeit mit Mallory: Sie war keine Quasselstrippe, sie machte nur den Mund auf, um ihn zusammenzustauchen oder etwas Sachliches anzumerken. Als sie vor dem Hauptlager hielten, legte er ihr eine Hand auf die Schulter.
»Keine Cowboystücke, Mädchen! Ich hab dir bei Coffey die Stange gehalten, aber er hatte recht, und das weißt du ganz genau. Wenn du schon schießen musst, dann machst du ganze Arbeit, ist das klar? Die Lehrzeit ist zu Ende.«
Die Atmosphäre zwischen ihnen war wieder etwas gespannt, als sie in einem sarggroßen grauen Aufzug in den dritten Stock fuhren und einen Raum betraten, der so lang und so breit war wie ein ganzer Häuserblock. Bündel und Ballen waren zu hohen Wällen aufgetürmt, zwischen denen sich schmale Gänge hinzogen, die in der Ferne zusammenzutreffen schienen. In einer Staubwolke bewegte sich ein Gabelstapler durch den breiteren Mittelgang und angelte sich die Packen, deren Nummern ein Mann mit O-Beinen und Bierbauch durch ein Megaphon brüllte.
Mallory hielt ihm ihre Dienstmarke vor die Nase und fasste neben ihm Tritt. In dem trüben Licht nie geputzter Scheiben sah hier alles so schäbig und verschlissen aus wie das Zeug aus den Ballen. Und so roch es auch. Riker hatte solche Sachen als Kind getragen. Wer den Geruch einmal in der Nase hatte, wurde ihn nie mehr los.
Er holte sein Notizbuch heraus und lief hinter Mallory her.
Zwischen seinen Ansagen gab der säbelbeinige Schichtleiter Kommentare ab, die Mallory gar nicht zur Kenntnis nahm.
»An den Ballen da vergreift sich doch keiner«, sagte er. »Wer würde schon seinen Job für so’n gebrauchten Fummel riskieren?«
Riker grinste. Der fragliche Fummel dürfte Mallory mindestens neunhundert Dollar gekostet haben. Nur erste Qualität für Mallory, das war schon Helens Devise gewesen, als Riker noch Kathy hatte sagen dürfen. Allerdings hatte die Kleine schon damals statt der Designerklamotten, die Helen Markowitz ihr kaufte, lieber Jeans, Turnschuhe und T-Shirts getragen.
Das hatte sich bis heute nicht geändert. Nur dass der graue Wollblazer, unter dem sich links die schwere Waffe im Holster abzeichnete, jetzt maßgeschneidert und die Lederlaufschuhe sündteuer und handgefertigt waren.
»Wer hatte nach der Anlieferung mit den Ballen zu tun?«
»Einer von meinen acht Kumpels«, sagte der Schichtleiter und röhrte »489« ins Megaphon.
»Ich will sie sprechen. Alle acht.«
»Hör mal, Schätzchen, ich bin immer dabei, wenn die Polizei mich um Hilfe bittet, aber –«
»Sie verstehen mich falsch. Das war keine Bitte. Holen Sie die Leute!«
Der Schichtleiter war es offensichtlich nicht gewöhnt, sich von einer Frau Vorschriften machen zu lassen. Wie ein beißfreudiger Pitbullterrier drehte er sich um, machte den Mund auf – und klappte ihn ziemlich plötzlich wieder zu. Vielleicht war ihm eingefallen, dass er seine Kanone zu Hause gelassen hatte.
Er räusperte sich und blaffte acht Namen ins Megaphon. Die Männer kamen mit Stift und Klemmbrett, verschwitzt, neugierig und dreckig grinsend aus den Gängen gekrochen und stellten sich in lockerer Reihe auf.
Mallory musterte sie wie ein Sklavenhändler seine Ware. Unter ihrem Blick verflüchtigte sich das Grinsen, und Beklommenheit machte sich breit. Füße scharrten, beredte Blicke wurden gewechselt. Einem, der mehr schwitzte als die anderen und dessen Adamsapfel auffallend lebhaft hüpfte, galt Mallorys besonderes Interesse. Der Junge mit den roten Haaren und den Sommersprossen zog den Kopf ein wie eine Schildkröte, und durch den dünnen Stoff des T-Shirts sah man, wie angespannt sein Körper war.
Mallory wechselte einen Blick mit Riker, hob fast unmerklich das Kinn und wandte sich wieder dem Rotschopf zu. Riker schlug einen Bogen nach rechts. Als Mallory einen Schritt vortrat, zuckte der Junge zusammen, dann setzte er sich in Bewegung. Riker langte nach seinem T-Shirt und griff daneben, aber Mallory war ihm schon auf den Fersen, und Riker lief in der Staubwolke, die sie aufwirbelte, hinter ihr her.
»Jimmy«, brüllte der Schichtleiter. »Jimmy, du Arsch, komm zurück. Es ist doch bloß ’ne getragene Sportjacke.«
Aber das hörte Jimmy schon nicht mehr.
So schnell war Jimmy Farrow noch nie vor den Bullen weggerannt. Dabei hatte er auf diesem Gebiet einschlägige Erfahrungen. Er warf einen raschen Blick über die Schulter. Der alte Cop war schon rot angelaufen, aber der Atem der Frau, die inzwischen bis auf einen Meter herangekommen war, ging nicht schneller als normal. Unter dem offenstehenden Blazer sah man die schwere Smith & Wesson.