Ein Ort zum Sterben - Carol O'Connell - E-Book
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Carol O'Connell

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Beschreibung

Der furiose Auftakt einer furiosen Krimiserie

In einem Abrisshaus in Manhattan wird Pearl Whitman ermordet aufgefunden. Die Leiche der alten Frau ist grausam entstellt, die eine Brust ist völlig verstümmelt – das »Markenzeichen« eines Mörders, der vorher schon zweimal zugeschlagen hat und sich immer an wohlhabende Damen hält. Kurz darauf fällt ihm auch ein kräftiger Mann zum Opfer: Louis Markowitz, Polizist in einem Team, das damit beauftragt war, die Mordserie aufzuklären. Sein Tod lässt Kathleen Mallory, die eigentlich als hochqualifizierte Computerspezialistin im Innendienst tätig ist, nicht ruhen. Obwohl sie eher menschenscheu ist und die einsame Arbeit am Bildschirm vorzieht, entschließt sie sich, ihr Büro zu verlassen und sich unter Menschen zu begeben. Denn Louis Markowitz war ihr Adoptivvater. Und um seinen Mörder zu finden, ist ihr jedes Mittel recht ...

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Copyright
Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel
»Mallory’s Oracle« bei Hutchinson, London. Auf Deutsch erschien das Buch erstmals 1995 unter dem Titel »Mallorys Orakel«.
Für Paul Sidey, in Dankbarkeit
Prolog
Der Hund gehorchte ihrem Ruf. Sein Fell zuckte. Er näherte sich langsam, mit leichten Schritten, auf hohen, schlanken Dobermannbeinen. Ihre Stimme zog ihn durch Zimmer und Diele bis in die Küche. Leise tönte das Klippklapp seiner Krallen auf dem Linoleum. Und dann stand er mit angespannten Muskeln, gleichsam soldatisch stramm, vor seiner Herrin.
Wie nässende Wunden wirkten die braunen Hundeaugen in dem schmalen Kopf. Das dunkle Fell verbarg alte Narben. Dank seiner Jugend und seiner guten Konstitution hatte er vieles überlebt. Jetzt aber war er nicht mehr jung.
Die Frau saß im Sessel, und der Hund wusste, dass es eine Weile dauern konnte, bis sie sich wieder regte, er witterte es, noch ehe er sah, dass ihre Augen geweitet waren und ihr Blick ins Leere ging.
Ein leises Winseln kam aus der Hundekehle. Er lief vor dem Sessel auf und ab, spürte, dass die Frau blind für ihre Umgebung, taub für seine Angst war.
Wie lange würde es dauern, bis seine Herrin wieder zu sich kam? Sie verdrehte die Augen wie in Trance. Nicht mehr lange. Der Hund bellte. Nichts. Kein Blinzeln, kein Reflex. Der Hund umkreiste den Sessel und stieß einen fast menschlich klingenden angstvollen Klagelaut aus. Er stieß mit der Schnauze die Hand an, die ihr schlaff in den Schoß fiel.
Er jaulte.
Bald.
Der Hund verlor die Fassung. Die unter Schmerzen erlernte Zucht, das gewohnte Ritual - all das war vergessen. Er ging rückwärts aus der Küche hinaus, ohne die furchtgeweiteten Augen von der Frau zu lassen, dann drehte er sich um, stürmte ins nächste Zimmer, durch die offene Tür, den langen Korridor entlang, mit den Pfoten nur leicht den Boden berührend, ein Bild vollkommener Harmonie. Die Muskeln spannten und streckten sich, die Augen glänzten. Ein Sprung, der Körper hob sich in die Luft, durchstieß scheppernd die Scheibe des Fensters im fünften Stock.
Schock und Grauen dieses Fluges ohne Flügel brachten sein Herz zum Stillstand. Er war schon tot, ehe sein Körper auf dem Gehsteig zerschellte.
1
Strähniges Haar fiel dem Jungen über ein Auge, das andere glänzte wie im Fieber. Das schmutzig graue T-Shirt hatte gelblich braune Schweißflecken unter den Armen. Durch die verwaschenen, abgewetzten Jeans hindurch sah man knochige Knie, als er erneut an den Verschlag des Pfandleihers herantrat.
Der Alte, durch Maschendraht und Glas gesichert, hatte nur eine Sorge: dass sein Blick Schock und Schmerz verraten könnte. Unter gesenkten Lidern sah er sich noch einmal an, was der Junge ihm gebracht hatte.
Vom Polizeirevier bis zu seinem Laden waren es nur ein paar Minuten. Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Wo steckte Kathy? War es richtig gewesen, sie zu verständigen? Mit zitternder Hand fuhr der Alte sich übers Gesicht. Was mochte der Junge sich denken, wenn er sein Zittern, seine Tränen sah?
»Was machste so lange rum, Alter?«, fragte der Junge. »Gold is Gold.«
Nicht in diesem Fall.
In der Taschenuhr stand der Name von Louis Markowitz’ Großvater. Und aus den Initialen auf der Innenseite des schweren Goldreifs ersah der Alte, dass dies der Trauring war, den Helen einst ihrem Louis an den Finger gesteckt hatte. Er war selbst bei der Hochzeit gewesen. Und hatte zwanzig Jahre später mit Louis und Kathy an Helens Grab gestanden. Uhr und Ring bedeuteten für Louis mehr als Gold. Freiwillig hätte er sich von beidem nie getrennt.
Der Junge drückte sich noch einen Augenblick vor dem Verschlag herum, dann lief er quer durchs Zimmer, machte einen Satz, hob vom Boden ab. Wie mager er war, nur Haut und Knochen, getrieben von manischer Energie, schweißüberströmt der hagere Körper, fiebernd das Hirn, nach Geld gierend, um sich den Zauberstoff in die Vene zu pumpen und davonzufliegen.
Ein leises Klopfen an der Scheibe. Kathy Mallory war da. Der Alte betätigte den Türöffner. Langsam pirschte sie sich an. Lange Hosen an den schlanken Beinen, schwarzer Blazer über T-Shirt und Revolver. Alles, was ihm an Komplimenten einfiel, hatte mit hartem, edlem Material zu tun: die Augen kalte grüne Edelsteine in einer Elfenbeinfassung, das Haar eine Aureole aus Gold.
Einen Lidschlag später hatte sie sich den Jungen geschnappt. Es war, als sei sie aus der Lichtbahn am Fenster verschwunden und wie durch Zauberhand hinter ihm, am anderen Ende des Zimmers, wieder aufgetaucht. Ihre Lippen öffneten sich, zwischen den Zähnen kam die Zungenspitze zum Vorschein. Vielleicht lag es an seinen alten Augen, vielleicht war es auch Einbildung - jedenfalls hatte er den Eindruck, als koste sie diesen Moment genüsslich aus. Die Hände waren erhoben, zu Klauen gekrümmt.
Der Junge wandte sich um. Er hatte sie noch nicht richtig wahrgenommen, als sie ihm schon einen Arm auf den Rücken gedreht hatte und ihn gegen die Wand stieß. Der Junge schrie auf vor Schmerz und Angst. Er wirkte jetzt jünger, ein Kind mit verstörten Augen, das sich einem Monster aus bösen Knabenträumen gegenübersieht. Das darf nicht wahr sein, sagte sein Blick.
Woher hast du die Uhr?, fragte sie und stieß ihn erneut gegen die Wand. Woher? Ihre Stimme hatte sich nicht gehoben, aber sie hatte Haarbüschel in der Hand, als sie die Frage wiederholte, weil keine Antwort gekommen war.
Schlaflose Nächte hatten Jack Coffey an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Gebetsmühlenartig drehte sich eine Frage in seinem Kopf: Warum nur war Markowitz allein hineingegangen? Warum?
Verdammt, der Mann hatte dreißig Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel, war als Cop mit allen Wassern gewaschen, kannte sich aus. Blutige Anfänger, Rotzjungen, die noch nicht trocken hinter den Ohren waren, benahmen sich nicht so dämlich, gaben besser acht auf ihr Leben.
Lieutenant Jack Coffey hatte sich das Jackett über einen Arm gehängt. Die feuchten Stellen auf dem gestreiften Hemd waren um das Schulterhalfter herum am dunkelsten. Das schmale, sonnengebräunte Gesicht war schlaff und müde, die Augen waren verquollen.
Dabei hatte er sich eben selber wie ein blutiger Anfänger benommen. Hätte er mal wieder eine Nacht durchschlafen können, wäre ihm das wahrscheinlich nicht passiert. Aus dem Haus gerast war er, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, und hatte seine letzte Mahlzeit auf den Gehsteig gekotzt. Jetzt knickten ihm auch noch die Knie ein. Rasch, Lässigkeit vortäuschend, lehnte er sich an einen der Einsatzwagen.
Die Straße stand voller Polizeifahrzeuge, auch ein paar nicht gekennzeichnete Wagen der Kriminalpolizei waren dabei. Die hinteren Türen des Leichenautos standen weit offen. Die beiden Sanitäter drückten ihre Zigaretten aus und gingen zurück ins Haus. Keine Macht der Welt hätte Jack Coffey da wieder hineingebracht - allenfalls die Vorstellung, sich vor Kate Mallory zu blamieren.
Eine Sirene durchschnitt jammernd wie der Schrei einer Frau die lastende Schwüle der Luft. Da hatte doch tatsächlich irgendein Trottel einen Krankenwagen gerufen! Mit einem Affenzahn kam der jetzt auf sie zugerast, als gäbe es noch Hoffnung für Louis Markowitz. Dabei war der Mann seit zwei Tagen tot.
Was für ein Ort zum Sterben! Die Fenster des sechsstöckigen Gebäudes waren wie schwarze Löcher. Brocken der einst prunkvollen Fassade lagen auf dem Gehsteig herum. In den letzten Wochen hatte das verlassene Mietshaus im East Village als Crackbude gedient. Man konnte die Spuren der Junkies vom Gehsteig bis zur Tür verfolgen.
Der Wagen federte, als ein zweiter, schwererer Mann sich an den Kotflügel lehnte.
»Hallo, Coffey.« Harry Blakely, Chef der Kriminalpolizei, zwanzig Jahre älter und vierzig Pfund schwerer als Coffey, hatte graues Haar und rot geäderte Alkoholikeraugen.
Coffey nickte ihm zu. »Hat Riker Sie informiert?«
»Soweit er konnte. Derselbe Täter?«
»Nach den Verletzungen sieht’s so aus.«
»Mein Gott«, sagte Blakely. Obwohl es nicht sehr wahrscheinlich war, dass der liebe Gott sich in diesen Winkel von Lower Manhattan verirren würde, schielte er, während er sich mit dem Taschentuch übers Gesicht fuhr, nach oben, wo hinter der bröckelnden Backsteinfassade der Himmel zu vermuten war. »Haben wir schon einen vorläufigen Befund?«
»Ja, aber der ist mit Vorsicht zu genießen. Slope ist noch nicht da. Die Spurensicherung meint, sie könnten vor vierzig bis fünfzig Stunden gestorben sein.«
»Ist die Frau identifiziert?«
»Miss Pearl Whitman, fünfundsiebzig. Wohnhaft Gramercy Park. Wie die beiden anderen.«
»Oh, verdammt! Ihnen sagt der Name nichts, was? Pearl Whitman von Whitman Chemicals. Haben Sie eine Ahnung, wieviel die wert ist?«
Typisch für Chief Blakely. In Vermögensverhältnissen und Kreditlinien kannte er sich aus.
»Die haben uns gerade noch gefehlt.« Blakely deutete mit einer ärgerlichen Kopfbewegung zu einem Kombi mit dem Logo eines TV-Nachrichtensenders hinüber und machte einem der Polizisten ein Zeichen. Der dirigierte den mit Reportern und Kameraleuten besetzten Wagen rasch vom Tatort weg. »Die reinsten Schakale. Riechen das Blut kilometerweit.«
Jack Coffey schloss die Augen, aber das nützte nichts. Auf der Innenseite der Lider sah er die Schlagzeile der Post: »Dritter Mord des Unsichtbaren«. Bei der Konkurrenz hieß er einfach der Ladykiller, aber der Touch des Übersinnlich-Geheimnisvollen kam bei den Lesern besser an.
Die erste alte Dame war am helllichten Tag in dem kleinen Park am Gramercy Square umgebracht worden. Es gab genug Fenster, die auf den Park hinausgingen, genug Spaziergänger, die auf den Parkbänken herumsaßen, genug Passanten, die den Mord an Anne Cathery hätten beobachten können, aber kein einziger Zeuge hatte sich gemeldet. Unbemerkt von den dickfelligen New Yorkern hatte die Leiche im Gebüsch gelegen. Erst durch die Fliegen war in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages ein Anwohner auf sie aufmerksam geworden.
Das zweite Opfer, Estelle Gaynor, war ebenfalls am Gramercy Square gefunden worden. Pearl Whitmans Tod in einer heruntergekommenen Gegend von Manhattan - was geografisch gesehen nur zwanzig Blocks weiter südlich war, von der sozialen Lage her aber wie auf einem anderen Kontinent - durchbrach dieses Muster. Und diesmal hatte es - auch das eine signifikante Abweichung - außerdem einen Cop erwischt. Keinen Geringeren als den Leiter der Sonderkommission für Gewaltverbrechen.
Harry Blakely zündete sich eine billige Zigarre an, und Coffey biss sich auf die Unterlippe, um das trockene Würgen zurückzudrängen, das ihm schon wieder zu schaffen machte.
»Wie hat der Täter die alte Dame wohl hierhergelockt? Was meinen Sie, Coffey?«
»Er muss einen Wagen gehabt haben.« Der dienstliche Teil seines Gehirns war auf Autopilot gestellt, während er sich auf das Grummeln in seinen Gedärmen konzentrierte. »Wahrscheinlich hat er sie sich am Gramercy Park geschnappt. Reiche alte Damen pflegen in dieser Gegend hier nicht spazierenzugehen.«
Blakely lächelte. »Er hat also einen Wagen. Das ist immerhin schon mehr, als wir gestern wussten. Somit ist Markowitz doch kein Totalverlust.«
Was kriegte einer, der den Kripochef k. o. schlug? Freibier für den Rest seines Lebens. Aber keine Pension.
»Sie sind der Dienstälteste im Dezernat, Coffey. Wenn Sie sich bewähren, sind Sie noch vor Jahresende Captain. Der Fall gehört Ihnen.«
Na wunderbar. Und wer sollte das Mallory klarmachen?
Coffey hatte die lange schwarze Limousine im Blick, die jetzt am Gehsteig hielt, aber er nahm sie gar nicht richtig wahr, begriff nicht gleich, dass es der Wagen von Police Commissioner Beale sein musste.
»Zu dumm, die Sache mit Markowitz«, sagte Blakely halb zu sich selbst. »Wie kann man bloß einen derart idiotischen Fehler machen? Er war eben doch pensionsreif.«
Coffeys Faust verkrampfte sich in dem lappig gewordenen Sakko. Dass Louis Markowitz der New Yorker Polizei immer wieder zu glanzvollen Erfolgen verholfen hatte, zählte also nicht. In Erinnerung würde man ihn nur behalten, weil er zum Schluss einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht war der Täter ausgefuchster als Markowitz. Noch ausgefuchster? So einem war Coffey bisher noch nicht begegnet. Und wenn er auf ihn stieß - würde dann er, Lieutenant Coffey, Chief Blakely und Konsorten auch nur wegen seines letzten Fehlers in Erinnerung bleiben?
»Weiß Mallory Bescheid?«, fragte Blakely.
»Sie ist im Haus. Mit der Spurensicherung.«
»Mist!«
»Sie war als Erste am Tatort. Haben Sie im Ernst gedacht, wir könnten sie da raushalten?«
»Sie hat den toten Markowitz gesehen?«
»Ja, und sie ist voll in Fahrt.«
Nur undeutlich registrierte er, dass jetzt ein dritter Mann neben ihm stand und eine blutleere, knochige Hand auf den Kotflügel legte. Er zuckte zusammen, als der Neuzugang ihm ins Ohr schrie: »Sergeant Mallory ist da drin? Das darf doch nicht wahr sein!«
Wie war Beale auf seinen kleinen Frettchenpfoten so schnell hergekommen?
Noch immer etwas benommen drehte Coffey sich um und sah dem Commissioner in die wässrig-grauen Augen. Für so einen Bonsai-Typ, dachte er, hat der Junge ein bemerkenswert lautes Organ.
Dr. Edward Slope kam direkt von einem Barbecue am Swimmingpool seiner Villa in Westchester. Im Grunde war es eine Flucht gewesen. Eine willkommene Flucht vor Schwiegereltern und Nachbarn, kreischenden Kindern, schwirrenden FrisbeeScheiben, rauchenden Hamburgers und Grillwürstchen. Er hatte sich nicht einmal mehr die Zeit zum Umziehen genommen, sondern nur seine Tasche gepackt, sich - schon im Gehen - wortreich entschuldigt und noch einen Blick auf seine Frau geworfen, die einen langen, spitzen Bratspieß in der Hand hielt. »Das zahl ich dir noch heim«, las er ihr von den Lippen ab, dann stieß er mit dem Wagen rückwärts aus der Ausfahrt und ließ sie mit dem Trubel allein.
Als Polizeiarzt der Stadt New York kam Dr. Slope gewöhnlich in gedecktem Anzug zu seinen Patienten und nicht in einem Hawaiihemd, dessen Farbtupfer dem Blut am Tatort Konkurrenz machten und vor dessen exotischer Blütenpracht das diskrete blaue Kleid, der brave braune Anzug der Mordopfer verblassten.
Und meist hatte er Unbekannte vor sich und nicht einen Mann, mit dem er ein halbes Leben lang zusammengearbeitet hatte. Er war rasch ausgestiegen und zu der Tür geeilt, vor der ein Polizeiposten stand. Niemand hatte ihn abgefangen und vorbereitet. Und dann stand er in dem schäbigen Zimmer, sah seinen alten Freund als Leiche vor sich und musste sich rasch an die nackte Backsteinwand lehnen. Das grelle Scheinwerferlicht vertiefte die Falten in seinem Gesicht. Der Sechzigjährige wirkte in diesem Augenblick gut und gern zehn Jahre älter.
Was stimmte nicht an diesem Bild?, fragte er sich. Nichts stimmte daran. Louis hätte der Spurensicherung und den Fotografen Anweisungen geben, ihn selbst nach Einzelheiten ausholen müssen. Louis als Leiche? Ein undenkbares Szenario!
Und warum war Kathy Mallory hier? Sie gehörte an ihren Computer im Revier, statt hier in Schmutz und angetrocknetem Blut herumzukriechen, während Fliegen auf ihrem lockigen Haar landeten und ihr über Hände und Gesicht liefen.
Der Fotograf und das Team von der Spurensicherung standen an der Tür und warteten darauf, dass Mallory ihnen das Zeichen zum Einsatz gab. Sie kniete am Boden und steckte dem Toten, der ihr Vater gewesen war, einen goldenen Trauring an den kräftigen Mittelfinger der linken Hand.
Dr. Slope musterte den Jungen mit den Handschellen. Es schien irgendwie unangemessen, ihn von diesem bulligen Polizisten bewachen zu lassen. So angeschlagen, wie er war, hätte er nicht mal vor den beiden Toten wegrennen können. Er blutete am Kopf, eine Gesichtshälfte war geschwollen. Slope überlegte, ob er zur Ablenkung seine Aufmerksamkeit erst mal einem lebenden Patienten zuwenden sollte, sagte sich aber, dass er den Jungen schon bald von Amts wegen wiedersehen würde. Der ausgemergelte Junkie war ein sicherer Todeskandidat. Hatte Mallory ihn so zugerichtet? Dass sie ihn voll beherrschte, stand jedenfalls fest. Er hing wie gebannt an ihren Lippen.
Mallory sah zu dem Jungen hoch. »Du hast die Leiche von der Stelle bewegt, nicht?«
In der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft - nach dem Gerinnungszustand des Blutes zu urteilen etwa eine halbe Stunde - hatte sie den Jungen offenbar schon bestens abgerichtet. Er reagierte wie eine ausgehungerte Laborratte.
»Ja, Ma’am. Ich hab ihn rumgedreht.«
»Sag mir Bescheid, wenn er richtig liegt.« Sie rollte den schweren Körper wieder auf den Bauch.
Slope überlegte, ob sie schon mal am Schauplatz eines Verbrechens gewesen war. Wohl kaum. Von Anfang an hatte sie sich bei der New Yorker Polizei mehr mit Computern als mit toten oder lebendigen Menschen beschäftigt. Ein Gedankensprung - und er sah seinen Freund Louis an jenem Frühlingstag vor sich, an dem er die kleine Kathy in die Geheimnisse des Baseballspiels eingeweiht hatte.
Als er sich jetzt neben Mallory hockte, hatte er sich wieder einigermaßen gefangen. Er deutete auf die dunklen Spritzer im Gesicht des Toten. »Bring die Blutspuren am Körper mit den Blutlachen am Boden zur Deckung.«
Sie nickte und beugte sich tief über die fahle Haut, hantierte mit dem toten Fleisch, das in der Augusthitze eine trügerische Wärme ausstrahlte. Dann sah sie zu dem Jungen auf. Der nickte.
Slope suchte in Mallorys schönem Gesicht nach Anzeichen eines Schocks. Dass er keine fand, verunsicherte ihn. Ganz sachlich legte sie die weiße Hand des Toten in die dunkle Blutlache zurück und sah wieder fragend den Jungen an, der erneut nickte. Befriedigt stand sie auf und trat an die Leiche der alten Frau heran. Die Halswunde klaffte wie ein zweiter Mund, Vorderteil des blutverklebten Kleides und BH waren aufgeschnitten. Eine Brust lag schlaff auf den Rippen, die andere hatte das Messer zerfetzt, sie war voller Fliegen. Das Summen war ohrenbetäubend. Slope kam der schwarze Schwarm vor wie ein einziges gefräßiges Tier. Das verwüstete Greisinnengesicht, die Fliegen auf den klaffenden Wunden - es war wie ein Bild aus einem Horrorfilm.
Mallory besah sich die Ermordete so ungerührt, als habe sie irgendein beliebiges Möbelstück vor sich.
»Jetzt sie.«
»Die hat schon so gelegen, als ich gekommen bin.«
»Hast du sonst noch was angefasst?«
»Nein. Von dem Mann hab ich noch die Taschen durchsucht, dann bin ich abgehauen. Die Brieftasche ist da hinten.« Er deutete auf einen Haufen Müll und Schutt in einer Ecke. Die Brieftasche lag auf einem eingerissenen grünen Müllsack.
Slope nickte einem Mann von der Spurensicherung zu, deutete zu dem Müllsack hinüber und schrieb etwas in sein Notizbuch.
»Sie da!« Mallory rief den Mann heran. »Haben Sie dem Jungen die Fingerabdrücke abgenommen?«
Der Spurenspezialist hielt ihr die in Feldern eingeteilte Karte mit den schwarzen Farbklecksen hin.
Sie wandte sich an Martin, den Polizisten, der den gefesselten Jungen an einem mageren Arm festhielt.
»Ich brauch ihn nicht mehr. Lassen Sie ihn gehen.«
Slope unterbrach seine Untersuchung, sah dem jungen Polizisten ins Gesicht, sah das Unglück kommen.
»Es war Leichenfledderei, Mallory«, sagte Martin. »An Markowitz, verdammt noch mal. Und den lassen Sie laufen?«
»Abgemacht ist abgemacht. Also los jetzt.« In Mallorys mühsam beherrschter Stimme schwang ein eindeutiges »Und untersteh dich, unverschämt zu werden, mein Junge« mit. Sie schien zu wachsen, als sie auf Martin zuging. Eine Illusion, gewiss, aber trotzdem fast beängstigend. Slope überlegte, ob sie sich dessen bewusst war. Anzunehmen, dachte er.
Martin beeilte sich, den Schlüssel herauszuholen, und beugte sich über die Handschellen. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen. Gleich darauf war der Junkie verschwunden.
Sehr praktisch gedacht, Kathy. Pure Zeitverschwendung, so einem den Prozess zu machen.
Mit dem verfassungsmäßigen Recht des Jungen auf einen Rechtsbeistand hatte sie sich vermutlich nicht aufgehalten, und über sein Recht zu schweigen war sie offenbar ebenso großzügig hinweggegangen.
Jetzt wandte sie sich an den Fotografen. »Okay, alles klar. Shoot!«
Geblendet von dem Blitzlicht ging Slope auf die beiden Mordopfer zu. Er streifte der toten Frau Plastiktüten über die Hände, dann sah er zu Mallory auf. »Ich kann anfangen, sobald du sie freigibst.«
»Ist es bei der Frau nach demselben Muster gelaufen wie bei den anderen beiden?«
»Ja.«
»Nehmen Sie sich zuerst Markowitz vor. Von der Frau verspreche ich mir nichts Neues.«
»In Ordnung.«
»Können Sie mir jetzt schon etwas sagen? Seit wann sind die beiden tot?«
Erstaunlich, diese Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter. Er wusste natürlich, dass sie nicht blutsverwandt waren, trotzdem war sie ganz Louis nachgeschlagen.
»Zwei Tage, kann auch etwas mehr oder etwas weniger sein. Bei der Hitze und dem Grad der Zersetzung kann ich es allenfalls auf fünf oder sechs Stunden genau bestimmen. Die Morde sind in jedem Fall bei Tageslicht begangen worden. Wie gehabt.«
»Wie lange hat Markowitz noch gelebt?«
»Nach dem Blutverlust tippe ich auf eine halbe bis eine Stunde. Wahrscheinlich wäre er ohne ärztliche Versorgung früher oder später sowieso an der Stichverletzung gestorben, aber die unmittelbare Todesursache war ein schwerer Herzinfarkt.« Markowitz hatte schon früher ein paarmal mit dem Herzen zu tun gehabt. Diesmal hatte es ihn mit voller Wucht erwischt.
»Er wusste also, dass er sterben würde.«
»Ja.« Das ging ihr unter die Haut. Er sah, wie sich ihre Augen verschleierten. Louis Markowitz hatte in der letzten Stunde seines Lebens Angst gehabt und Schmerzen gelitten.
Ziemlich beschissen, diese Welt, nicht wahr, Kathy?
Laut sagte er: »Der Mörder hat sich nicht lange mit ihm aufgehalten. Die Frau interessierte ihn offenbar mehr. Markowitz hat Verletzungen an den Armen, vermutlich hat er versucht, seinen Angreifer abzuwehren. Und die Stellen, an denen die ersten Blutspritzer ihn getroffen haben, lassen darauf schließen, dass er sich zwischen die Frau und ihren Mörder geworfen hat.« Mallorys Blick verschwamm - erste Anzeichen eines leichten Schocks. »Kann ich etwas für dich tun, Kathy?«
Sein erster Fehler war, sie im Dienst beim Vornamen zu nennen, der zweite sein gütig-väterlicher Ton. Beides brachte ihm die Verachtung der versammelten Mannschaft ein. Wie kann man nur so blöd sein?, sagte das lastende Schweigen der Uniformierten, der Techniker, des Fotografen.
»Sind Sie hier fürs Erste fertig?« Ihr Blick war wieder klar, kalt, nüchtern.
Er nickte, und Mallory wandte sich an die Fahrer des Leichenwagens. »Packt ihn ein, und schafft ihn weg.« Sie sah in die Ecke. »Und die da?«
»Sie hat nur noch ein paar Minuten gelebt.«
»Einpacken.«
Und dann schickte sie alle fort, die nicht mehr gebraucht wurden - einschließlich alter Freunde der Familie. Dr. Slope ging noch vor seinem Team. Der Weg aus dem Haus und hinaus ans Licht kam ihm viel länger vor als der Weg hinein.
Sergeant Kathleen Mallory saß auf dem einzigen Stuhl, der im Zimmer stand, während die Leute von der Spurensicherung auf Händen und Füßen herumkrochen und nach Fasern und Haaren suchten, nach Körnchen und Stäubchen, nach all den Winzigkeiten, die als Beweismittel dienen konnten. Ihr Blick ging der Blutspur nach. Dort an der Tür war er hingefallen.
Wie ist es möglich, dass du tot bist?
Dann war er aufgestanden und hatte sich an der blutbeschmierten Wand entlang zum Fenster geschleppt.
Hast du um Hilfe geschrien, hier in dieser Gegend, wo keiner was hört, keiner was sieht?
Am Fenster, dort, wo die größte Blutlache sich im Staub ausbreitete, war er dann zusammengebrochen und gestorben. Aber es hatte gedauert. Er hatte Zeit zum Nachdenken gehabt.
Was hast du mit dieser Zeit angefangen? Was hast du hinterlassen? Nichts?
Sie sah auf, als sie ihn in einem schwarzen Plastiksack wegschleppten.
Ein kleines Notizbuch lag aufgeschlagen in ihrem Schoß. Mit einer entschlossenen Bewegung strich sie, was sie sich über Markowitz’ Wagen notiert hatte. Er war wahrscheinlich gestohlen worden. In den zwei Tagen, die sie schon nach ihm suchte, war das Fahrzeug auf keiner einzigen Sammelstelle für abgeschleppte Wagen aufgetaucht. Vermutlich war es inzwischen längst umgespritzt und in Jersey gelandet.
Warum bist du allein ins Haus gegangen?
»Hat sich offenbar gewehrt«, schrieb sie auf ein leeres Blatt. Er war demnach dem Täter ohne Rückendeckung gefolgt. Warum?
»Weil die Frau in Lebensgefahr war«, schrieb sie in ihrer klaren, leserlichen Schrift. Sie konnte davon ausgehen, dass er zu Fuß gewesen war, sonst hätte er über Funk Unterstützung anfordern können. Demnach war der Täter auch zu Fuß gewesen.
Die Feder kratzte wieder über das Papier. »Keine Entführung mit dem Wagen.« Der Mörder hatte sich mit der alten Frau ein gutes Stück vom Gramercy Park entfernt verabredet und war damit vom Muster der anderen beiden Morde abgewichen. Ein Taxifahrer musste die Tour in seinem Fahrtenbuch haben. Eine reiche alte Frau nimmt nicht die U-Bahn oder den Bus und hätte sich in dieser Gegend auch nie allein mit einem Unbekannten verabredet. Sie hatte ihren Mörder gekannt.
Demnach hatte Markowitz die mysteriösen Parkmorde durchschaut. Alter Fuchs! Aber warum hatte er sein Wissen für sich behalten? Und seit wann blieb ein Kriminalbeamter im Range von Louis Markowitz einem Verdächtigen höchstpersönlich auf den Fersen?
Einer der Techniker sah kurz in ihre Richtung und schnell wieder weg.
Hatte er nach Tränen gesucht, nach Anzeichen eines bevorstehenden Zusammenbruchs? Pech für ihn. Sie würde keinen Sonderurlaub brauchen. Wenn nicht Commissioner Beale, dieser Armleuchter, sie per Dienstbefehl nach Hause schickte. Und dann?
Der Geruch der Toten hing noch im Raum. Es war kein so sauberes Sterben gewesen wie bei Markowitz. Der Mörder hatte den Darm durchstochen. Bis auf ein paar erboste Tiefflieger hatten sich die Fliegen zerstreut, als sie keine Nahrung mehr fanden. Summend und brummend, schwarz und schwer von Blut schossen sie an Mallorys Ohr vorbei durch das kaputte Fenster. Sekunden später war die ganze Wolke auf und davon. Jetzt hörte man nur noch das leise Wischgeräusch des Pinsels, mit dem der Mann zu ihren Füßen in Staub und angetrocknetem Blut nach Zeichen suchte.
»Ich hätte wohl so spät gar nicht mehr anrufen dürfen.«
»Doch, Mr. Lugar, Sie haben es ganz richtig gemacht.«
Der schlaftrunkene Rabbi und der Nachtwächter waren beide Ende fünfzig und hatten schütteres Haar, damit aber hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Der Wachmann hatte verhuschte Bewegungen und glich einem Bierfass auf streichholzdünnen Beinen. Der Rabbi war schlank und hochgewachsen, bewegte sich mit selbstverständlicher Sicherheit und sah ein bisschen aus wie ein abgeklärter alter Kater. Seine Lider waren schwer. Ergebnis einer schlaflosen Nacht.
Der Wachmann blickte mit einem Ruck zu dem Rabbi hoch. »Aber Sie sollten das arme Ding nur sehen. Wie ein kleines Mädchen sitzt sie da in der Kälte. Wir müssen die Temperatur niedrig halten, Sie verstehen …«
»Ich verstehe.«
»Komisch, ich arbeite jetzt seit fast zwei Jahren hier, und bisher hat keiner die ganze Nacht bei einem Toten wachen wollen. Wirklich komisch. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Und dann hab ich Ihren Namen auf dem Blatt für die Bestattungsvorbereitungen gesehen und hab mir gedacht, dass Sie vielleicht die Familie kennen.«
»Ja, ich kenne sie.«
Der Wachmann führte ihn zur Tür und deutete auf das quadratische Fenster.
»Sieht doch wirklich aus wie ein kleines Mädchen, nicht?« Bekümmert schüttelte er den Kopf, dann schloss er auf und trat zurück. »Ich muss jetzt meine Runde machen, Rabbi.«
»Schönen Dank für Ihre Mühe, Mr. Lugar. Es war sehr nett von Ihnen.«
Der Wachmann senkte den Kopf unter der ungewohnten Last der freundlich anerkennenden Worte, drehte sich um und ging durch den trüb beleuchteten Gang davon, mit steifen, ruckartigen Bewegungen, als habe er sich seinen Körper nur für diese Nacht geliehen und käme noch nicht ganz damit zurecht.
Durch die Pendeltür betrat der Rabbi einen hellen, kalten, in antiseptischem Grün gehaltenen Raum. Sie saß auf einem Metallklappstuhl vor den Schubfächern mit den Toten, von denen einer für Kathy Mallory sehr wichtig war. Den Blazerkragen hatte sie hochgeschlagen, als könnte sie dadurch ein wenig Wärme speichern, die Hände hatte sie in die Achselhöhlen gesteckt. Es sah aus, als umarme sie sich selbst, weil sonst niemand da war, der sie in den Arm genommen hätte.
Er wusste, dass sie fünfundzwanzig war, aber gleichzeitig war sie das Kind mit dem trotzig-herausfordernden Blick auf dem alten Foto in Louis’ Brieftasche. Grundlegend geändert hatte sie sich nicht seit jenem Tag vor vierzehn Jahren, als er sie zum erstenmal gesehen hatte. Da war sie zusammen mit Helen ins Wohnzimmer gekommen und danach kaum von ihrer Seite gewichen. Nur größer war sie jetzt natürlich.
»Was treibst du hier, Kathy? Mr. Lugar hat sich deinetwegen Sorgen gemacht.«
»Ich denke, es ist Sitte, dass jemand bei dem Toten wacht. Jemand von der Familie.«
»Nein, Kathy, das ist nicht nötig. Louis war kein orthodoxer Jude. Streng eingehalten hat er nur unsere Pokerrunde donnerstagabends. Bis auf letzten Donnerstag.«
Er hockte sich hin. Es war, als sei er wirklich kleiner geworden. Mit Kindern sprach er gern in Augenhöhe.
»Louis war so unorthodox, dass ich ihn mal beim Kauf eines Weihnachtsbaums erwischt habe. Es muss in deinem ersten Jahr bei Louis und Helen gewesen sein. Louis wollte mir einreden, es sei ein Chanukka-Busch.«
»Haben Sie mit ihm geschimpft?«
»Und ob! Als wir den Baum zusammen heimgetragen haben. Da kenne ich nichts …«
»Der Baum war vier Meter hoch, ich sehe ihn noch vor mir.«
»Eben! Würde ein orthodoxer Jude einen Weihnachtsbaum aufstellen und ein kleines Christenmädchen aufziehen? Du brauchst nicht bei ihm zu wachen.«
»Helen hätte es gern gesehen.«
»Da hast du auch wieder recht.« Lächelnd hob er die Schultern. »Sie hätte es gern gesehen. Auch Louis hätte es gern gesehen.«
Mallory blickte auf ihre Hände hinunter.
»Wein ruhig, Kathy.«
»Das werden Sie nicht erleben, Rabbi.«
Der Angesprochene richtete sich wieder auf. Er holte sich einen der Klappstühle, die an der Wand standen, mühte sich eine Weile mit der Aufklappmechanik und setzte sich.
»Dann bleibe ich auch«, sagte er.
»Wozu?«
»Helen hätte es gern gesehen.«
»Ich bin okay.«
»Ich auch, Kathy. Ich auch. Wie lange kenne ich dich jetzt? Seit du ein kleines Mädchen warst.«
»Markowitz hat immer gesagt, dass ich nie ein kleines Mädchen war.«
»Seit du noch nicht so groß warst wie jetzt. So lange kenne ich dich schon. Und ich bin da, wenn du mich brauchst.«
»Ich bin keine Jüdin.«
»Das ist mir klar. Aber Helen hat so viel in dich investiert, das sollte man nicht einfach abschreiben.« Er sah zu der Neonleuchte hoch. »Heute ist Donnerstag. Als ich begriffen habe, dass ich nie wieder mit Louis Poker spielen würde, habe ich geweint.«
»Ich weine nicht.«
»Ich weiß. Schon damals, als du … noch nicht so groß warst wie jetzt, hat Louis immer gesagt, dass du feste Grundsätze hast. Nur Hampelmänner heulen, so hat er dich zitiert. Ich bin ein Hampelmann, Kathy. Du kannst von mir haben, was du willst, eine Einladung zum Lunch, einen Rat … Bist du sehr böse auf Louis?«
Jetzt horchte sie auf. Ja, sie war sehr böse.
»Er war ein guter Cop«, sagte sie. »Wenn ein Cop draufgeht, dann deshalb, weil er leichtsinnig war. Wie konnte er das tun?«
»Wie konnte er dir das antun, meinst du. Louis hat sich wegen deines Jobs in der Sonderkommission immer Sorgen gemacht. Das wusstest du nicht? Gewiss, du hast dich immer mehr für Maschinen als für Menschen interessiert, aber trotzdem … Er war unheimlich stolz auf dich. Meine clevere Tochter, hat er gesagt. Aber die Leute, mit denen er zu tun hatte, waren so gefährlich. Er wusste, worauf er sich einließ. Ich glaube, er hat auch gewusst, dass es so enden würde.«
»Ich krieg das Schwein.«
»Deine Stärke ist der Computer, Kathy. Die praktische Arbeit solltest du anderen überlassen. Ihm lag deine Sicherheit am Herzen. Er wollte dich nicht in die Sache hineinziehen. Versprich mir, dass du die Finger davon lässt. Ein letztes Geschenk für Louis.«
Sie lehnte sich zurück und kreuzte die Arme über der Brust, als wollte sie sagen: Jetzt kommen wir der Sache schon näher. »Das hat Markowitz also alles rausgelassen? Interessant.«
»Wir haben uns nur unterhalten. Über dieses und jenes.« Ihr Lächeln war ihm nicht geheuer. Das Armageddonlächeln, so hatte Louis es genannt. »Ich war nicht nur sein Rabbi. Ich war sein ältester Freund.«
»Und Sie wollen mir helfen? Ich nehme Sie beim Wort, Rabbi. Wenn das nicht nur leere Versprechungen sind, müssen Sie ausspucken, was Sie wissen.«
Die Kälte kroch durch den leichten Stoff seiner Jacke. Ihre Augen verengten sich, ein weiteres Alarmzeichen. Unglaublich, dieser Gegensatz: ein Engelsgesicht mit Killeraugen.
»Was hat Louis Ihnen über die Morde im Gramercy Park erzählt?«
»Er würde wiederkommen und mir die Zunge rausschneiden, wenn ich dich in dieses Schlamassel hineinschlittern ließe.«
Sie beugte sich unvermittelt vor, und er rückte - körperlich und gedanklich verunsichert - von ihr ab. Als sie aufstand und dichter an ihn herantrat, vergaß er, dass er größer war als sie.
»Schön, dann muss es eben auch so gehen. Ohne Rück halt, ohne Hilfe. Ich hab mir ja gleich gedacht, dass Sie nur leere Luft ablassen …«
»Geschenkt, Kathy. Abgemacht ist abgemacht, wie Louis sagen würde. Aber etwas Konkretes hat er mir nie erzählt. So gewunden, wie er sich ausgedrückt hat, hätte er sogar in meinem Beruf was werden können. Die Spuren führten in die Irre und auch wieder nicht, hat er gesagt, der Fall sei kompliziert und simpel zugleich. Hilft dir das weiter, Kathy?«
»Sie verschweigen mir etwas.« Sie setzte sich wieder und rückte nah an ihn heran. »Er wusste, wer es war …«
»Gesagt hat er es nicht.«
»Aber er wusste es.«
»Er hat gesagt, dass man diesen Spinner nur bekäme, wenn man ihn auf frischer Tat ertappt. Weil es ein unheimlich cleverer Typ ist. Ausgefuchster als Louis, vielleicht sogar ausgefuchster als du.«
»Warum hat Markowitz all das Ihnen und nicht mir erzählt?«
»Du weißt doch, wie Eltern sind. Irgendwann nabeln sie sich ab. Bilden sich ein, alles zu wissen, keinen Rat mehr zu brauchen. Melden sich einfach nicht mehr. Als ob ihnen mit einem Anruf ein Zacken aus der Krone fallen würde. Da schenkt man den Eltern die besten Jahre seines Lebens, und das ist nun der Dank: Sie stürzen sich in die Schrecknisse der bösen Welt, ohne die Kinder daran teilhaben zu lassen.«
»Das kann noch nicht alles sein. Raus damit, Rabbi. Warum hat er ihn selber beschattet? Warum hat er keinen von unseren Leuten dafür abgestellt?«
»Der Fall machte ihm Angst, Kathy. Der Täter ist kein normaler Mensch, sondern einer von der Nachtseite des Lebens. Markowitz fürchtete um seine Leute.«
»Das überzeugt mich nicht, Rabbi.«
In den blinkenden Schubfächern sah er ihr Spiegelbild. Bei jeder Bewegung verzerrten die schrägen Flächen ihr Gesicht zu einer Fratze. Er musste den Blick abwenden.
»Hast du gewusst, dass Louis ein Tanznarr war?«
»Rabbi!«
»Geduld, Kathy! Er tanzte so gern. Aber es gab keine tanzenden Juden in seiner Familie. Sie waren alle konservativ bis in die Knochen, unheimlich fromm, es war gar nicht so einfach für ihn. Louis tat sich mit den jungen Iren zusammen, und sie gingen tanzen. Eines Abends - wir waren noch jung, zwei andere Menschen aus einer anderen Welt - nahm Louis mich in einen Nachtklub mit. Es ist eine dieser Erinnerungen, die ganz tief sitzen - so wie die Nacht, in der mein erstes Kind zur Welt kam.
Wie er tanzte, Kathy! Die anderen bildeten einen Kreis um ihn und seine Partnerin, sie klatschten und schrien Beifall. Wir stampften mit den Füßen und wiegten uns hin und her wie ein einziges großes zuckendes Tier, das ganze Haus bebte, die Band spielte immer weiter, immer schneller. Und als dann die Musik schließlich doch aufhörte, stieß das Tier mit den zweihundert Mäulern einen schrecklich-schönen Schrei schmerzlicher Lust aus.
Die Sonne ging auf, als wir mit der U-Bahn nach Brooklyn zurückfuhren. Ich weinte. Louis begriff das nicht. Er hatte mir mit dem Abend eine Freude machen wollen.«
Jetzt hörte sie zu, wehrte ihn nicht mehr ab, wartete gespannt auf das Ende der Geschichte.
»Louis war immer ein schwerer Mann, aber anmutiger als so manche Frau. Und so leichtfüßig. Diese Leichtfüßigkeit ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Ganz schlanke junge Leute machten beim Gehen mehr Lärm als Louis. Er war zum Tanzen geboren. Ein Naturtalent. Auch als Polizist, sagen manche. Er konnte sich an einen Verbrecher heranschleichen und …«
»Okay, ich hab’s begriffen. Einen schwerfälligeren Cop hätte man eher gehört.«
»Louis bewegte sich fast lautlos und musste trotzdem sterben. Ich bitte dich, Kathy, lass die anderen herausfinden, wer dieser Irre ist.«
»Ich glaube, ich weiß es schon.«
»Dann überlass ihn der Polizei, Kathy.«
»Ein ausgefuchster Täter, hat Markowitz gesagt. Aber beim letzten Mal hat er einen schweren Fehler begangen.«
»Wie wirst du vorgehen, Kathy?«
»Streng nach Vorschrift. Das hätte Markowitz gefallen. Es ist mein Geschenk für ihn.«
Rabbi Kaplan zog die Jacke fester um sich. Ihm war so kalt wie noch nie in seinem Leben.
2
Er hatte eine gute Figur und trug einen tadellos sitzenden anthrazitfarbenen Maßanzug. Das struppige braune Haar aber sah aus, als könnte es mal wieder einen Friseurbesuch vertragen, und sein komisches Gesicht wollte einfach nicht zum Anlass passen. Charles Butler fühlte sich elend, und je elender er sich fühlte, desto komischer wirkte er. Die leicht vorquellenden Augen mit der auffallend kleinen blauen Iris und dem vielen Weiß, das sie umgab, blickten ein bisschen irre, und seine Nase hätte einer New Yorker Taube bequem als Landeplatz gedient. Die wenigen Regentropfen suchten sich unter den Trauergästen gerade ihn, die Karikatur eines Trauernden, aus und verwässerten seine Tränen. Er war einsneunzig, somit fast einen Kopf größer als alle anderen und nicht zu übersehen. Ein Clown beim Begräbnis.
Mallory ging vor ihm, ganz allein, als sei sie nur zufällig von zahlreichen Trauergästen umgeben, die ebenso zufällig dasselbe Ziel hatten wie sie. Charles wunderte sich nicht darüber, dass sich kein fürsorglicher Arm um ihre Schultern gelegt hatte, dass niemand sie stützte.
Er beschleunigte den Schritt. Als er sie eingeholt hatte, sah sie zu ihm auf. Kühle grüne Augen, die nichts preisgaben, keine Rede von Spiegeln der Seele, die romantische Dichter so gern besingen. Er legte einen Arm um sie. Zwei Polizisten in Uniform, die in diesem Moment aufschlossen, staunten über diese tollkühne Geste - ebenso wie darüber, dass sie seinen Arm nicht sofort wieder abschüttelte.
Kathleen - so hieß sie privat. Im Dienst ließ sie sich Mallory nennen. Welche Anrede war die richtige bei der Beerdigung von Louis Markowitz? Charles Butler hatte Mallory von Markowitz geerbt und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er ihr das beibringen sollte. Er setzte seine Hoffnungen auf den Brief, den er in der Tasche hatte.
Mallory stellte die Kaffeetasse ab und machte ihren Brief auf. Zuerst kamen ein paar Sachen, die Louis Markowitz bedauerte. Dass seine Frau Helen gestorben war, ehe sie Kathy zu einem wahrhaft zivilisierten Wesen hatte machen können. Dass er, Markowitz, Mallory zu ihr sagen musste, seit sie bei der Polizei war. Dass es ihm nicht gelungen war, in Kathy irgendein Unrechtsbewusstsein wegen ihrer Computerhackereien zu wecken. Und dass er sich immer wieder ihre Diebereien zunutze gemacht hatte, statt ihr mit gutem Beispiel voranzugehen. Dann kam das, was er nicht bedauerte. Dass er sie als Zehn-, Elf- oder Zwölfjährige (das genaue Alter stand bis heute nicht fest) verhaftet hatte. Dass er mit dem verwilderten Kind zu der sanften Helen gekommen war, die es mit ihrer Umarmung und einem Schwall unverdienter, schrankenloser Liebe sprach- und wehrlos gemacht hatte. Dass Kathy so schön geworden war und so beängstigend klug.
Sie habe Helen bis zuletzt so glücklich gemacht, schrieb er, dass er mit dem Wissen leben und sterben könne, dass Kathy im Grunde ihres Herzens noch immer eine Diebin sei. Und es sei ihm ein Trost zu wissen, dass sie in Charles Butler einen so durch und durch aufrichtigen und anständigen Freund habe. Sie möge ihn bitte nicht schamlos ausnutzen, sondern sich an ihn wenden, wenn sie Kummer habe, Hilfe brauche oder sich - was freilich recht unwahrscheinlich war - nach ein wenig menschlicher Wärme sehne. Und darunter stand noch ein P. S.: Ich habe Dich sehr lieb.
Sie legte das Blatt zusammen und sah zu dem Mann mit dem traurig-törichten Lächeln hinüber. Charles Butler starrte schweigend in seine Kaffeetasse.
Neuveröffentlichung Juni 2010
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 1994 by Carol O’Connell
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
eISBN : 978-3-641-04677-4
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Leseprobe

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