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Raus aus der Komfortzone und rein ins Abenteuer - das ist absolut nichts für Marie. Bis auf ein paar Kleinigkeiten hat sie sich bestens mit der Monotonie ihres Alltags arrangiert. Doch als ihr Verlobter Patrick ihr kurzfristig eröffnet, dass er sie nicht zur Hochzeit ihrer Schwester nach Florida begleiten wird, bricht für sie eine Welt zusammen. Wohl oder übel macht sie sich allein auf die Reise und ahnt noch nicht, dass die folgenden Wochen ihr Leben komplett auf den Kopf stellen werden. Marie lernt David kennen, der das absolute Gegenteil von ihr zu sein scheint. Zu ihrem eigenen Entsetzen muss sie feststellen, dass sie sich auf fast schon unheimliche Weise zu ihm hingezogen fühlt.
Die Fassade ihrer scheinbar perfekten Welt beginnt zu bröckeln und Marie muss sich die Frage stellen: Was tut man, wenn das Leben das man bisher geführt hat, um einen herum zerbricht?
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„Frau Brenner – könnten Sie das bitte heute noch kurz rausschicken?“ Sätze wie diesen hörte ich von meinem Chef nur allzu oft. Öfter, als mir lieb war. Doch wie immer nickte ich seufzend, würgte in Gedanken meinen Boss, bis dieser blau anlief und nahm mit einem aufgesetzten, dennoch strahlenden Lächeln den Stapel Papiere entgegen.
„Sie sind ein Schatz, Frau Brenner!“, rief Herr Wiese im Gehen, während ich auf meiner Unterlippe kaute.
„Sie sind ein Schatz, Frau Brenner – und ein gutmütiger Volltrottel noch dazu!“, ahmte ich in ätzender Tonlage meinen Chef nach. Ich blies laut Luft aus und fuhr meinen Computer erneut hoch; eigentlich hatte ich heute pünktlich Feierabend machen wollen. Immerhin würde ich morgen Abend zu meiner Schwester fliegen, die seit ein paar Monaten bei ihrem Verlobten in Florida lebte. Nun wollten sich Paul und Lena das Ja-Wort geben.
Vor vier Monaten war die frohe Botschaft in Form einer violett-weißen Einladung in meinem Briefkasten gelandet. Neben der Freude darüber, dass meine Schwester nun endlich ihren Traummann heiraten würde, mischte sich ein mulmiges Flattern in meine Magengegend.
Ich war noch nie wirklich weit über den Horizont des Vorortes gekommen, in dem ich lebte. Doch bisher fand ich das nicht weiter tragisch, da ich mich in meiner heimischen Umgebung immer noch am wohlsten fühlte.
Und jetzt sollte ich ausgerechnet nach Florida fliegen. In die Vereinigten Staaten. Über den großen Teich.
Wieder flatterten die Flügel der imaginären Schmetterlinge in meiner Brust und kitzelten mein Zwerchfell.
Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, mich mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede davor zu drücken, doch da hatte ich die Rechnung ohne meine energische Schwester gemacht. Zwei Stunden hatte Lena mich am Telefon bequatscht, bis ich schließlich doch einwilligte.
Während ich die Zahlen lustlos in die Tabelle eintippte, bewegte sich plötzlich mein Handy vibrierend über den Schreibtisch. Weil außer mir niemand mehr im Büro war, der sich darüber beschweren konnte, hatte ich es einfach neben meinen Bildschirm gelegt. Immerhin wartete Patrick mit Sicherheit schon zuhause auf mich.
Und tatsächlich – die eingegangene Nachricht war von ihm:
Marie-Schatz, wo bleibst du denn? Habe für uns gekocht – muss dringend noch etwas mit dir besprechen. Kuss Patrick
Ich rollte die Augen. Normalerweise war Patrick der Typ Mann, der sich nur zu gern von einer Frau betüddeln ließ. Die Tatsache, dass er für mich gekocht hatte, ließ ein mulmiges Gefühl in meiner Magengrube aufsteigen. Wahrscheinlich würde mir nicht gefallen, was er mit mir zu bereden hatte.
Ich hielt kurz inne und presste das kühle Gehäuse meines Mobiltelefons gegen mein Kinn, während ich nachdachte. Dann atmete ich geräuschvoll aus und ließ meine Finger über das Display gleiten.
Bin in einer Stunde da – Überstunden. Halte das Essen bitte für mich warm. Kuss
Dann legte ich das Handy beiseite und beeilte mich, den Stapel links neben mir so schnell wie möglich zu bearbeiten. Meine Finger flogen über die Tasten, während mein Gesicht immer näher Richtung Bildschirm rückte, bis ich fast mit der Nase dagegen stieß.
Dreißig Minuten später brannten meine Augen so sehr, dass die Zahlen und Buchstaben vor mir zu einem sinnlosen, schwarz-weißen Farbklecks verschwammen. Doch ich hatte es geschafft. Eilig speicherte ich die Daten ab, schickte sie per E-Mail an meinen Chef und ging nach nebenan, um ihm seine Unterlagen auf den Schreibtisch zu legen. Das Büro war schon dunkel und es roch nach einer Mischung aus teurem Aftershave, Leder und neuem Teppich. Vorletzte Woche waren die Handwerker im Haus und hatten auf der ersten Etage in jedem Büro neue, blau gesprenkelte Teppiche verlegt. Ich bekam selbst nach über einer Woche noch Kopfschmerzen von diesem Geruch.
Die Unterlagen platzierte ich direkt auf seiner Tastatur, während mein Blick auf die Uhr fiel, die schräg gegenüber an der Wand hing. Zehn vor halb acht – du liebe Güte! Mit schnellen Schritten verließ ich das Büro, fuhr meinen Computer herunter, riss die Tür meines Garderobenschrankes auf und angelte eilig meine Jacke vom Kleiderbügel.
Ich warf mir meine Tasche über die Schulter, schaltete das Licht aus und sperrte die Tür zum Büro ab.
Der Flur lag im halbdunkel vor mir und das klackernde Geräusch meiner Absätze durchbrach die Stille, während ich mit strammen Schritt Richtung Aufzug hetzte. Patrick hasste es, wenn er warten musste.
Zwar war der schlimmste Feierabendverkehr um diese Uhrzeit schon vorüber, trotzdem würde ich bestimmt noch zwanzig Minuten brauchen, um aus der Stadt herauszukommen. Ich bewohnte mit Patrick seit unserer Verlobung vor drei Monaten ein schickes kleines Reihenhaus im Düsseldorfer Osten. Nachdem Patrick sein Medizinstudium abgebrochen hatte, (angeblich lag ihm dieser, wie er es ausdrückte, medizinische Quatsch nicht) wurde er ein recht erfolgreicher Anwalt. Offenbar lag ihm Jura mehr, als Medizin und deshalb war ich schon fast erleichtert, dass er nun Leute vor Gericht vertrat und nicht an ihnen herumschnippelte.
„Ich bin da!“, rief ich schon vom Flur aus, als mich die angenehme Wärme unseres Hauses umfing, während ich eintrat. Eilig streifte ich meine Schuhe ab und warf meine Tasche über die weiße Schuhbank aus Holz. Zwar konnte Patrick es nicht ausstehen, wenn ich eine solche Unordnung hinterließ, doch im Moment war mir die bevorstehende Diskussion darüber, ob man seine Jacke nicht einfach gleich an den Garderobenhaken hängen konnte, einerlei. Ich war nur froh, endlich Zuhause zu sein und außerdem quälte mich die Neugier, was er mit mir besprechen wollte, dass er dafür sogar mal selbst den Kochlöffel geschwungen hatte. Weil ich keine Antwort bekam, lief ich Richtung Wohnzimmer und spähte im Vorbeigehen in die Küche, doch auch dort war Patrick nicht zu sehen.
Als ich über die Türschwelle trat, sah ich ihn, vor dem Ofen sitzend, offenbar war er in ein Buch vertieft. Neben dem Sessel stand ein Glas teurer Rotwein, fein säuberlich auf einen Untersetzer platziert.
„Hallo Schatz!“ Ich trat zu ihm und beugte mich nach vorne, um ihm zur Begrüßung einen Kuss zu geben. Patrick hob den Kopf und zog eine Braue nach oben. „Das war ja wieder ganz schön spät heute.“
Ich bemühte mich, seinen vorwurfsvollen Ton zu ignorieren und presste ihm dennoch meinen Lippen auf seine. Als ich mich wieder aufrichtete, war sein Blick wieder versöhnlicher. „Tut mir leid, aber du weißt ja …“, erklärte er und stand auf.
Ich folgte ihm in die Küche. „Du hasst es zu warten – ja, das ist mir bekannt.“ Ich schnurrte um ihn herum wie ein Kätzchen, in der Hoffnung, seine Laune würde wieder besser. „Aber du kennst doch Herrn Wiese. Ständig fallen ihm wichtige Sachen ein, die in letzter Minute erledigt werden müssen.“ Ich trat von hinten an ihn heran und schlang meine Arme um seine Hüfte, während er mir lauwarme Lasagne auf einen Teller schaufelte.
Patrick legte den Löffel beiseite, wand sich aus meiner Umarmung und sah mich an. In seinem Blick lag eine Spur von Strenge, so wie ich es von meinem Vater kannte. „Marie-Schatz, du darfst dich nicht immer von diesem aufgeblasenem Idioten herumkommandieren lassen.“ Er strich mir kurz über die Wange, ehe er mir meinen Teller entgegenhielt. „Ich hab dir schon vor ein paar Wochen gesagt, dieser Wiese weiß einfach, dass du viel zu gutmütig bist. Du musst ihm endlich mal begreiflich machen, dass er dich nicht so von oben herab behandeln darf.“
Ich griff nach meinem Teller, stöhnte und zog einen Flunsch. „Du redest dich leicht.“ Doch ich wusste, für ihn war das Thema damit erledigt. Es hatte keinen Sinn, mit ihm darüber zu diskutieren, dass ich womöglich meinen Job verlieren würde, wenn ich meinem Chef die Stirn bot. Für Patrick war es Gang und Gebe das zu erreichen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte (bis auf das Medizinstudium). Erstaunlicherweise schaffte er das in der Regel auch und wurde dafür von den meisten bewundert. Er wickelte die Leute, die ihn umgaben mit seinem gewinnenden Lächeln und seinem Charme um den Finger.
Doch das war nicht meine Stärke. Natürlich hatte ich mir schon mehrfach vorgenommen, meinem Chef irgendwie beizubringen, dass ich nicht gewillt war, ständig für ihn auf Abruf zu stehen, doch immer wenn ich kurz davor war, fehlten mir die passenden Worte und dann hatte ich jedes Mal beschlossen, es auf einen anderen Tag zu verschieben.
„Was wolltest du denn mit mir besprechen?“ Ich schob mir eine große Gabel kalte Nudel-Hackfleisch-Pampe in den Mund und warf Patrick einen fragenden Blick zu. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und schürzte die Lippen. „Marie-Schatz… es ist so … ich weiß, wir wollten eigentlich zusammen zu deiner Schwester fliegen … aber“ Ich konnte beobachten, wie er auf seinem Stuhl hin und her rutschte und nach den richtigen Worten suchte. „Da ist dieser Termin übermorgen … Herr Müller möchte, dass ich einen wichtigen Fall übernehme und so wie es aussieht, überlegt er, mich zum Partner zu machen.“
Fast vergaß ich zu kauen. Mein ungläubiger Blick ruhte weiterhin auf meinem Verlobten, während ich mühsam meinen Bissen herunterwürgte. Ich griff nach Patricks Rotweinglas und schickte gleich noch einen großen Schluck hinterher. „Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, dass ich allein nach Florida fliegen soll – oder?“ Meine Stimme wurde bei den letzten Worten fast ein wenig schrill.
„Marie … Schatz… sei mir bitte nicht böse. Ich habe Herrn Müller ja versucht zu erklären, dass wir morgen fliegen wollten aber … du weißt doch, wie lange ich schon darauf warte, Partner zu werden. Und … ich tue das ja auch für uns …“ Er setzte einen bettelnden Hundeblick auf, doch in mir keimte die Wut. Immer ging die Arbeit vor. Ständig wichtige Termine, Geschäftsessen und so weiter.
Ich war mit einem Mal so wütend, dass ich wortlos aufstand, meinen Teller in die Spüle trug und mir ein eigenes Glas mit Pinot Noir füllte.
Als ich wieder zurück ins Wohnzimmer trat, fiel mein Blick kurz auf Patrick. „Marie… sei nicht sauer.“ Er stand auf und kam auf mich zu, um mich in die Arme zu schließen, doch ich schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand. „Nein Patrick, bitte … lass mich.“ Dann trat ich an ihm vorbei und stieg die Treppe nach oben, um mich im Bad zu verschanzen.
Ich ließ die Wanne vollaufen und nahm ein ausgedehntes Schaumbad, während ich immer wieder an meinem Rotwein nippte. Leise schimpfte ich in mich hinein, denn zu der enttäuschenden Tatsache, dass Patrick mal wieder einen Geschäftstermin mir vorzog, mischte sich auch die Angst, allein diese Reise anzutreten.
Ich sah mich schon auf dem riesigen Flughafen, unter tausenden Menschen, die um mich herumwuselten, während ich verzweifelt versuchen würde, mich zurecht zu finden. Ich erschauderte, trotz des warmen Wassers, das meinen Körper umgab und nahm gleich noch einen Schluck Wein.
Nein! Auf keinen Fall würde ich allein fliegen. Ich musste versuchen, Patrick irgendwie zu überzeugen, mich zu begleiten.
Ich stieg aus der Wanne und hüllte mich in meinen Satin-Bademantel. Während das Badewasser glucksend den Ablauf hinunter rann, tapste ich ins Schlafzimmer und trat vor das große Doppelbett in dem Patrick bereits im Schlafanzug saß und den Wirtschaftsteil der Tageszeitung las.
Ich trat vor ihn, öffnete langsam die Schlaufe meines Bademantels und ließ den Stoff lautlos von meiner Haut gleiten. Die kühle Luft im Schlafzimmer bewirkte, dass mein Körper von einer Gänsehaut überzogen wurde und sich meine Brustwarzen sofort steif aufstellten.
Patrick sah zu mir auf und hob erstaunt die Brauen, als ich nackt vor ihm stand. „Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte er betont nüchtern, doch mir blieb nicht verborgen, wie sein Blick über meinen Körper glitt und er raschelnd die Zeitung beiseite legte.
Ein solch offensichtliches Angebot würde er nicht ablehnen, das wusste ich. Gut, offen zugegeben, waren seine Verführungskünste noch ausbaufähig, denn meistens mangelte es ihm an einem gewissen Grad an Einfühlungsvermögen und so blieb ihm oft verborgen, dass ich nicht immer so befriedigt war, wie ich ihm weiß machte. Manchmal war das enorm frustrierend und manchmal nahm ich es einfach so hin. Dann versuchte ich mich damit zu trösten, dass eben nicht jeder Mann dazu geboren war, der perfekte Liebhaber zu sein. Ich gestehe, an solchen Tagen hatte ich mich schon dabei ertappt, wie ich mich währenddessen einer Fantasie hingab, in der ich mich statt mit Patrick, mit einem namenlosen, durchtrainierten, gut aussehenden Kerl zwischen den Laken wälzte und der mich so leidenschaftlich nahm, dass mir Hören und Sehen verging.
Über Patricks Gesicht flog ein angenehm überraschtes Lächeln, als er mich zu sich auf das Bett zog. Unsere Lippen berührten sich und während sich seine Zunge ihren Weg in meinen Mund suchte, drückte er meinen Körper sanft aber bestimmt auf die Matratze, um dann über mich zu klettern.
Na toll, schon wieder Missionarsstellung.
Mit fast schon mechanischen Bewegungen begann er, meine Brustwarzen mit seinen Fingern zu bearbeiten. Ich versuchte vergeblich, mich zu entspannen, mich ihm hinzugeben, doch während ich Patricks harte Erregung zwischen meinen Beinen spürte, kreisten meine Gedanken noch immer um die bevorstehende Reise und darüber, wie ich ihn dazu bringen konnte, mich doch zu begleiten.
Ich zwang mich dazu, meine Aufmerksamkeit auf ihn zu richten, küsste seinen Hals und schlang meine Hände um seinen Po, als er begann, sich rhythmisch in mir zu bewegen. Ein leises Stöhnen drang aus seiner Kehle und sein heißer Atem streifte mein Ohr, während er seinen Kopf an meiner Schulter vergrub. Schneller und schneller stieß er in mich und enttäuscht musste ich feststellen, dass er fast schon soweit war.
Seine linke Hand grabschte nach meiner Brust und sein Stöhnen wurde lauter. Ich stimmte ein leises Keuchen an, als ich bemerkte, dass er kurz irritiert inne hielt und sogleich begann seine Hüfte wieder zu kreisen. Als er mit einem erstickten Laut kam, presste er sich fest auf mich, nur um im nächsten Moment von mir zu rollen und sich mit einem geräuschvollen Schnaufer neben mich in die Kissen fallen zu lassen.
Ich wandte den Kopf und betrachtete ihn, während seine Hand über meine Haare fuhr. „Ich muss sagen, das werde ich die nächsten drei Wochen schon vermissen.“ Er richtete sich halb auf, erwiderte meinen Blick und grinste zweideutig.
Sofort begann ich, an meiner Unterlippe zu nagen.
„Du willst das also wirklich durchziehen?“ Meine Stimme war belegt, als ich ihn das fragte. „Ich hatte mich so auf ein paar freie Tage mit dir gefreut. Wir arbeiten beide immer so viel …“ Ich versuchte es mit einer anderen Taktik, doch in seinen Augen konnte ich erkennen, dass es nichts gab, das ihn hätte umstimmen können.
„Marie-Schatz“, begann er und tätschelte meinen Kopf. „Es sind doch nur drei Wochen, die wir getrennt sind und wenn ich dann erstmal Partner bin …“ Er verstummte kurz und ich beendete in Gedanken schon seinen Satz „habe ich noch weniger Zeit für dich“ – „dann machen wir beide so richtig schön Urlaub – wie wär´s, wenn wir in ein Wellness-Hotel fahren, so was wolltest du doch schon immer mal machen?“
„Hmmm“, brummte ich nur und musste einsehen, dass ich verloren hatte. Energisch versuchte ich die Mischung aus Wut und Enttäuschung hinunter zu schlucken, dennoch brannten Tränen in meinen Augen.
Ich blieb noch halb auf Patricks Brust liegen, bis mir sein tiefer, gleichmäßiger Atem verriet, dass er eingeschlafen war. Ich robbte auf meine Seite des Bettes, rollte mich zusammen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Still weinte ich in mein Kissen, bis die Tränen versiegten und sich mein grübelndes Hirn wieder meldete.
Vielleicht sollte ich meinen Eltern vor meiner Abreise noch einen kurzen Besuch abstatten. Ich plante, bei ihnen noch mal mein Glück zu versuchen. Zwar hatte mein Vater schon nach dem Eintreffen der Einladungen unmissverständlich klar gemacht, wie sehr er gegen Lenas und Pauls Verbindung war, doch als er dann verlauten ließ, dass er keinesfalls zu der Hochzeit meiner Schwester reisen würde, hatten ihn meine Mutter und ich nur ungläubig angestarrt. Mir war bewusst, wie sehr meine Mutter darunter litt. Doch wie immer tat sie es auf ihre Art.
Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, meinen Vater herauszufordern und zu versuchen, ihn doch noch umzustimmen. Stattdessen traf man sie nun schon um zehn Uhr morgens mit einem Glas Wein in der Hand an, das sie auch den ganzen Tag über nie länger irgendwo abstellte. Ich wusste sofort, wenn es meiner Mutter nicht gut ging, denn dann begann sie zu trinken. Phasenweise war es besser, doch seit mein Vater beschlossen hatte, Lena müsse in Zukunft auf die Unterstützung ihrer Eltern verzichten, wenn sie unbedingt diesen dahergelaufenen Nichtsnutz heiraten wolle, musste ich dabei zusehen, wie es ihr immer schlechter ging. Mein Vater war ein kluger Mann, doch das hatte ihn offenbar nicht vor den schrecklichen Vorurteilen bewahrt, die er gegen Paul hegte.
Ich hatte ihn kennengelernt, als Lena und er uns im letzten Sommer besuchten. Er war ein netter, gutaussehender junger Mann, der nach dem Tod seines Vaters dessen Firma übernommen hatte. Bevor mein Vater erfuhr, um was es sich bei Pauls Firma handelte, behandelte er Lenas Verlobten zuvorkommend und respektvoll; bis zu dem Tag, an dem meine Mutter uns alle zum Abendessen in Lenas und mein Elternhaus eingeladen hatte. Mein Vater wollte wissen, was für eine Art Geschäft das war, das Pauls Vater ihm hinterlassen hatte. Und als Paul daraufhin mit leuchtenden Augen erzählte, wie er und Lena zum Tauchen aufs Meer hinausfuhren, um dort Fische und dergleichen einzusammeln die sie über einen Onlineshop und in umliegende Tierhandlungen verkauften, da konnte man beobachten, wie die Miene meines Vaters mit jedem Wort aus Pauls Mund mehr und mehr zu einer eisigen, undurchdringlichen Maske wurde.
Als meine Mutter uns nach dem Dessert alle überschwänglich verabschiedete, hatte sich unser Vater in seinem Arbeitszimmer verschanzt. Für Lena musste dieser Abend die reinste Qual gewesen sein, doch sie verließ das Haus unserer Eltern mit einem tapferen Lächeln, das erst erstarb, als unsere Mutter die Tür hinter uns geschlossen hatte.
Während ich über den damaligen Abend nachdachte, wurde mir klar, dass die Chance, meinen Vater zu überreden mit mir zu fliegen, verschwindend gering war. Doch vielleicht würde meine Mutter die Situation noch einmal überdenken, wenn ich ihr gut zuredete. Hoffentlich …!
Meine Augenlider wurden schwer und obwohl ich Angst gehabt hatte, wegen der ganzen Aufregung nicht schlafen zu können, glitt ich langsam in einen tiefen Schlaf.
Als mich am nächsten Morgen um punkt acht der Wecker aus meinen wirren Träumen riss, tastete ich schlaftrunken neben mich.
Die kalte, leere Bettseite ließ mich wissen, dass Patrick wohl schon früh in die Kanzlei gefahren war. Ich stieß einen lauten Seufzer aus und sank zurück ins Kissen. Ich konnte es nicht leiden, wenn er sich so sang und klanglos aus dem Haus schlich. Als ich ihm das vor einer Weile mitgeteilt hatte, hatte er mir nur über die Wange gestrichen und eine wegwerfende Handbewegung gemacht. „Ich will dich nicht extra wecken. Du bist doch um jede Minute froh, die du länger schlafen kannst.“
Na gut, ich gebe zu, ich war schon immer ein Morgenmuffel – trotzdem hätte ich es schön gefunden, wenn sich Patrick morgens einfach mit einem Kuss oder ein paar netten Worten von mir verabschieden würde.
Ich zuckte zusammen, als neben mir der Weckton meines Smartphones erneut losbrummte. Widerwillig stemmte ich mich hoch und verließ fröstelnd das warme Bett. Ich zog die cremefarbenen, bodenlangen Vorhänge zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. Über unseren kleinen Garten hatte sich eine weiße Schicht Frost gelegt und ließ die Bäume im Licht der aufgehenden Sonne unwirklich glitzern. Schon komisch, dass meine Schwester wahrscheinlich in kurzer Hose und T-Shirt herumsprang, während hier nach den viel zu milden Weihnachtstagen nun der Winter erbarmungslos Einzug hielt. Für die nächsten Tage war Schnee angekündigt und somit würde der Februar mal wieder der kälteste Monat des ganzen Winters werden.
Na siehst du Marie, dachte ich und konnte mir ein ironisches Lächeln nicht verkneifen, also hat die Reise nach Florida doch auch etwas Gutes!
Schlotternd stieg ich unter die Dusche und atmete auf, als der heiße Wasserstrahl auf meine Haut traf. Ich duschte sehr ausgiebig und überlegte schon, ob ich das warme Bad jemals wieder verlassen sollte, doch dann fiel mir wieder ein, dass ich ja noch bei meinen Eltern vorbeischauen wollte. Mein Flug ging erst um sechs Uhr abends, also war dafür noch Zeit.
Doch als ich vor der Tür meines Elternhauses stand, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Ich wusste, dass das kein einfaches Unterfangen werden würde.
„Marie?“ Meine Mutter schien sichtlich überrascht, als sie mir öffnete. „Müsstest du nicht packen?“
Ich schüttelte den Kopf und rang mir ein Lächeln ab. Meine Mutter, eigentlich eine attraktive Frau Anfang Fünfzig, sah müde aus. Ihre Augen waren klein und mit dunklen Ringen umrahmt. „Ist schon erledigt“, erklärte ich ihr und trat in den Hausflur.
„Möchtest du einen Kaffee?“ Sie lächelte ebenfalls und ich nickte.
Während ich ihr in die Küche folgte, fiel mein Blick auf das leere Weinglas neben der Spüle. Ich biss mir kurz auf die Unterlippe, erinnerte mich aber daran, weswegen ich hier war.
„Wo ist Papa?“, wollte ich wissen, weil sein Auto nicht in der Auffahrt gestanden hatte.
„Er ist heute schon ganz früh los zum Sport“, erwiderte meine Mutter tonlos. Seit seiner Pensionierung hatte er sich eine ganze Reihe von Hobbys zugelegt, weil er sich sonst womöglich zu Tode langweilen würde.
Ich kletterte auf den Hocker vor dem Küchentresen und griff nach der dampfenden Tasse, die meine Mutter vor mir abstellte. „Schön, dass du dich noch verabschiedest. Wo ist Patrick? Packt er noch seinen Koffer?“
Ich spürte, wie meine Kehle enger wurde und schluckte. „Patrick wird mich nicht begleiten.“ Meine Stimme klang fremd und spröde, als die Worte meinen Mund verließen.
Einen Augenblick lang vergaß meine Mutter zu blinzeln und die Farbe wich aus ihrem Gesicht. „W-Was soll das heißen, er begleitet dich nicht?“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ihr habt euch doch nicht …“ Offenbar war sie nicht in der Lage, ihren Satz zu beenden. Meine Finger krampften sich um den Henkel meiner Tasse.
„Nein … wir haben uns nicht getrennt“, erwiderte ich. Innerlich fragte ich mich, wieso meine Mutter gleich das Schlimmste annahm.
Ich konnte sehen, wie sie aufatmete. „Aber irgendeinen Grund gibt es doch …“, setzte sie wieder an. Nachdenklich nahm ich einen Schluck von meinem Kaffee, ehe ich antwortete. „Mal wieder was Geschäftliches … irgendein super-wichtiger Termin, der natürlich vor geht.“ Zwar bemühte ich mich wirklich, neutral zu klingen, doch mir war klar, dass ich meiner Mutter nichts vormachen konnte.
Sie presste die Lippen aufeinander und holte Luft, um etwas zu sagen, doch dann entschied sie sich wohl dagegen. Stattdessen griff sie über den Tresen und drückte leicht meine Hand. Ich seufzte und führte die Tasse erneut an meine Lippen.
„Patrick wird schon seine Gründe haben … er möchte beruflich eben weiterkommen, um dich später mal versorgen zu können und … vielleicht auch ein Kind“, brach meine Mutter dann doch unser Schweigen und brachte mit ihren Worten mein Innerstes zum brodeln. Ja, ich wusste, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ein Enkelkind. Und die Aussicht darauf dass sie, sollte Lena mit Paul Kinder bekommen, daran nicht teilhaben konnte, war für sie fast unerträglich. Umso mehr hatte sie seit einiger Zeit ihren Fokus auf mich gelegt und sich mit Patricks Mutter verbündet. Beide waren der Meinung, dass wir nach unserer Hochzeit sofort mit der Familienplanung beginnen sollten.
Mich hatte niemand nach meiner Meinung gefragt. Doch ehrlich gesagt, brachte mich dieser scheinbar komplett vorgeplante, festgetretene Lebensweg in Bedrängnis – mit anderen Worten, es machte mir Angst. Doch darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Irgendwie musste ich versuchen, das Thema auf mein Anliegen zu lenken.
Ich ließ die Tasse sinken, als hätte ich soeben einen Geistesblitz gehabt.
„Sag mal Mama, habt ihr nicht vielleicht doch Lust, auch zu Lenas Hochzeit zu fliegen? Sie würde sich doch so darüber freuen!“ Zu meiner eigenen Überraschung klang meine Stimme wirklich enthusiastisch.
Schon im nächsten Moment bereute ich diesen Vorschlag fast. Zwar hatte in den Augen meiner Mutter für den Bruchteil einer Sekunde so etwas wie zuversichtliche Freude aufgeblitzt, doch im nächsten Moment wurde dieser kleine Funken von aufsteigenden Tränen verdrängt. „Ach Marie, wir sind doch viel zu spät dran … selbst wenn wir heute buchen, bis wir die Einreisegenehmigung haben und wir bräuchten sicher auch neue Pässe …“ Meine Mutter wand sich mit fadenscheinigen Ausreden.
„Ihr könntet doch nachkommen. Die Genehmigung bekommst du innerhalb von 72 Stunden und wenn du in der Gemeinde einen Express-Reisepass beantragst, kommt der in drei Tagen …“ Ich brach ab, weil die erste Träne über die Wange meiner Mutter rollte.
Stumm griff ich in meine Hosentasche, zog ein Taschentuch hervor und reichte es ihr über den Tresen. Immer noch um ihre Fassung bemüht, tupfte sich meine Mutter die Augen trocken.
„Du weißt genau, dass dein Vater nie einwilligen würde“, flüsterte sie spröde und wandte sich ab. Ich beobachtete, wie sie zum Kühlschrank ging und ihr Weinglas auffüllte. Die Hilflosigkeit, die mich in diesem Moment übermannte, trieb mir ebenfalls Tränen in die Augen. Hektisch blinzelte ich sie weg, ehe sich meine Mutter wieder zu mir umwandte.
„Und allein fliegst du nicht – richtig?“ Wem wollte ich etwas vormachen. Allein der Gedanke, ich hätte sie vielleicht umstimmen können, kam mir auf einmal total bescheuert vor.
Sie schüttelte leicht den Kopf und nippte an ihrem Glas. „Du weißt, was dann los wäre“, erwiderte sie und ich nickte nur. Damit war alles gesagt.
Ich hatte es tatsächlich geschafft! Mit leerem, müdem Blick sah ich wie hypnotisiert den Koffern zu, die von einer silbernen Rampe stetig auf das rotierende Förderband gespuckt wurden.
Zehn lange Flugstunden lagen hinter mir und obwohl ich in meinem Sitz ein paar Mal eingedöst war, fühlte ich mich kraftlos und völlig fertig. Mein Kopf hämmerte und ich konnte meine bleiernen Augenlider nur mit viel Anstrengung offen halten. Die Müdigkeit überwiegte sogar fast den Schmerz. Die Enttäuschung. Die Wut.
Patrick hatte es noch nicht einmal geschafft, sich von mir zu verabschieden. Nachdem ich in Düsseldorf so lange vor der Sicherheitskontrolle ausgeharrt hatte wie es möglich war, hatte ich ihn schließlich völlig entnervt angerufen. Er war kurz angebunden, unaufmerksam und versuchte mich mit leeren Worten zu vertrösten. Angeblich war er gerade mitten in einem Meeting mit Herrn Müller – zu wichtig, um es jetzt zu verlassen. Unmöglich.
Ausgeschlossen, sich jetzt von seiner Verlobten zu verabschieden, die die nächsten drei Wochen auf einem anderen Kontinent verbringen würde.
Nach dem Telefonat war ich so wütend, dass ich darüber sogar meine Panik vor dem Flug vergaß, der vor mir lag. Doch jetzt fühlte ich mich einfach nur ausgebrannt und leer.
Ich warf einen Blick auf mein Handy. Patrick hatte mir eine Nachricht geschickt.
Ich wünsche dir ganz viel Spaß! Richte deiner Schwester aus, dass sie nicht allzu wütend auf mich sein soll und ich wünsche ihr einen wunderbaren Tag!
Kuss Patrick
Mit einem tiefen Seufzer ließ ich das Gerät zurück in meine Tasche gleiten. Natürlich tat er wie immer, als wäre alles in Ordnung. Mühsam blinzelte ich die aufsteigenden Tränen weg und sah mich um.
Um mich herum leerten sich nach und nach die Reihen, während ich noch immer darauf wartete, dass mein Koffer endlich auftauchte. Doch es geschah nichts. Nachdem ein älterer Herr mit einem erleichterten Schnaufer den letzten Koffer herunter gefischt hatte, kam das Förderband quietschend zum Stehen.
Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass mein Koffer offenbar nicht dabei war. Doch dann nahm mein übermüdetes Gehirn endlich seine Arbeit auf. Ich sog zischend Luft ein und sah mich um. Auf der linken Seite entdeckte ich einen Informationsstand. Ich gab mir einen Ruck und schlurfte darauf zu.
Die Dame am Schalter strahlte mich freundlich an und fragte auf Englisch, was sie für mich tun könnte. Eigentlich sprach ich ganz passabel ihre Sprache, doch es dauerte ein paar Sekunden, bis ich die passende Antwort aus der hintersten Ecke in meinem Kopf gekramt hatte.
Sie reichte mir ein Formular, half mir beim ausfüllen und versicherte mir, die Fluggesellschaft würde sich bei mir melden, sobald sie mein Gepäckstück ausfindig gemacht hatten.
Ich bedankte mich und hatte keine andere Wahl, als Richtung Ausgang zu laufen. Unter normalen Umständen hätte ich mich sicherlich extrem darüber geärgert, komplett ohne Klamotten dazustehen, doch ich war noch immer von Müdigkeit und Schmerz betäubt.
Bestimmt würde mir Lena etwas von sich leihen, bis mein Koffer kam. Ich lief zu einem Aufzug, fuhr ein Stockwerk nach unten und fand mich vor einem Gang wieder, dessen Seiten komplett verglast waren und der sich noch einmal eine Etage nach unten wand, wie ein Schneckenhaus. Langsam wurde ich nervös und sah mich nach den Infoschildern um. Der Flughafen von Miami glich einem Labyrinth. Seit ich aus dem Flugzeug gestiegen war, hatte ich eine wahre Odyssee hinter mir. Eine ewig lange Schlange vor der Passkontrolle, die bohrenden Fragen des Einreisebeamten, mein fehlender Koffer …
Plötzlich hielt ich inne und blickte durch die Scheibe. Lena stand heftig winkend dahinter und strahlte. Auf einmal war alles vergessen. Meine Müdigkeit, die Wut, der Schmerz, die Angst – das alles war in diesem Moment nicht mehr wichtig. Ganz automatisch rannte ich los, nahm die letzte Kurve des Ganges und trat durch eine Schiebetür endlich in die Ankunftshalle, in der eine Menschentraube auf die Ankommenden wartete.
„Marie!“ Lenas Stimme klang so tröstend, so vertraut. Ich ließ meinen Rucksack von der Schulter gleiten und fiel meiner Schwester in die Arme; atmete den Geruch von Sonne, Salzwasser und Lebensfreude ein, sog ihn in mich auf und vergrub mein Gesicht an ihrer nackten Schulter.
Nachdem wir uns endlich von einander gelöst hatten, betrachtete ich sie von Kopf bis Fuß. Lena war optisch das genaue Gegenteil von mir. Die Sonne hatte helle Strähnen in ihre hellbraunen Haare gefärbt und ihre blauen Augen strahlten so klar, wie das Wasser des Ozeans. Sie sah gesund aus, mit ihrem leicht gebräunten Teint und bildete zu meiner blassen Haut, die mit ein paar Sommersprossen überzogen war, einen krassen Kontrast.
Immer noch strahlend packte sie mich an der Hand und zog mich zu Paul, der sich freundlich lächelnd, dezent im Hintergrund gehalten hatte. Erfreut stellte ich fest, dass er mittlerweile ziemlich gut Deutsch sprach.
„Hallo Marie! Willkommen in Florida!“ Er drückte mich kurz und nahm mir den Rucksack ab. Fragend blickte er sich um. „Wo sind deine Koffer?“
„Ach ja – genau.“ Ich zog eine Schnute und seufzte. „Der ist wohl verloren gegangen“, erwiderte ich achselzuckend.
Paul grinste breit. „Das passiert öfter – keine Sorge, meistens finden sie das Gepäck wieder.“ Lena nickte bestätigend und zog mich mit sich, nachdem sie eine wegwischende Handbewegung gemacht hatte. „Und bis es auftaucht, ziehst du einfach etwas von mir an.“
Mir fiel nach dieser herzlichen Begrüßung wirklich ein Stein vom Herzen. Plötzlich war ich wieder hellwach und in meinem Magen flatterte es nervös. Wir traten durch eine Drehtür nach draußen und augenblicklich brach ich in meinen Wintersachen in Schweiß aus. Zwar war es mittlerweile fast elf Uhr abends, trotzdem war die Luft so mild wie in einer lauen Sommernacht. So musste es sich anfühlen, wenn man gegen eine Wand lief. Im Flughafengebäude hatte ich aufgrund der Klimaanlage sogar noch gefröstelt. Schon nach wenigen Metern, die wir zur Parkgarage zurücklegten, schienen meine Füße zu kochen. Lena blieb nicht verborgen, dass ich mit der Klimaumstellung zu kämpfen hatte.
„Vielleicht sollten wir morgen doch ein paar Sachen für dich einkaufen gehen – nur falls dein Koffer noch nicht da ist.“ Sie warf mir einen fragenden Blick zu und ich nickte dankbar.
Kaum saß ich in Lenas und Pauls schwarzem SUV, streifte ich sofort meine Boots von den Füßen. Erleichtert atmete ich auf, als der kühle Luftstrom der Klimaanlage durch meine Socken drang. Doch dann forderte die atemberaubende Kulisse der nächtlichen Skyline, die hinterhalb des Flughafengebäudes fast wie aus dem Nichts auftauchte, meine volle Aufmerksamkeit. Vor uns wuselten die Lichter anderer Fahrzeuge hin und her. Ich war der Meinung gewesen, in Düsseldorf wäre der Verkehr schon hektisch, doch gegen die Masse der Autos, die sich langsam aber stetig vor uns auf den Highway drängten, war das im Vergleich gar nichts. Überhaupt schien auf diesen Straßen das Gesetz des Stärkeren zu gelten und langsam dämmerte mir, warum hier wohl auch überwiegend große Spritschlucker gefahren wurden.
Die vereinzelten kleineren Fahrzeuge gingen in dem Verkehr fast unter.
Doch Paul lenkte den Wagen routiniert und sicher durch die Blechmassen und nachdem sich bei mir die erste Aufregung gelegt hatte, ertappte ich mich dabei, wie mir immer wieder kurz die Augen zu fielen.
Lena und Paul unterhielten sich leise, anscheinend schien meine Schwester zu merken, dass ich mich nur mit größter Anstrengung wach halten konnte, denn sie ließ mich einfach weiter aus dem Fenster starren. Das stetige Geschaukel und das monotone Brummen des Motors gaben mir den Rest. Irgendwann klangen die beiden Stimmen sehr weit weg und mein Körper sackte in sich zusammen. Die Strapazen der langen Reise forderten ihren Tribut.
Ein Ruckeln ging durch den Wagen und augenblicklich schoss ich kerzengerade in die Höhe. Mein Herz begann wie wild zu trommeln und ich blickte mich irritiert um. Draußen war es stockdunkel, trotzdem konnte ich erkennen, dass sich die Umgebung verändert hatte. Die Großstadt hatten wir längst hinter uns gelassen, stattdessen spiegelte sich fahles Mondlicht auf der Wasseroberfläche, die die langgezogene Straße auf beiden Seiten umschloss.
Lena wandte sich zu mir um. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und das unwirkliche Licht zeichnete fremdartige Schatten auf ihr Gesicht. „Willkommen zurück Schwesterchen – wir sind gleich da.“
Gespannt streckte ich meinen steifen Rücken durch und versuchte durch die Frontscheibe zu spähen. Von weitem konnte ich erste Lichter erkennen und tatsächlich, kurz darauf passierten wir das Ortsschild der ersten Insel. Schnell erhaschte ich noch einen Blick darauf – Key Largo.
Während des Fluges hatte ich ein bisschen in meinem Reiseführer geblättert. Daher wusste ich, dass die Keys, wie die Inselkette genannt wurde, sich an der südlichsten Spitze Floridas erstreckten; eingeschlossen vom Golf von Mexico auf der Westseite und dem Atlantik an der Ostküste.
Ich konnte es kaum erwarten, das alles bei Tageslicht zu sehen. Doch im Moment überwog die Freude über die Aussicht auf eine Dusche und ein weiches Bett.
Zu meinem Erstaunen tauchte wie aus dem Nichts eine kleine Stadt auf. Geschäfte, Restaurants, Hotels und Bars, allesamt hell erleuchtet, säumten die zweispurige Straße.
Paul setzte den Blinker und bog rechts ab. Die schmale Straße führte an einigen Häusern vorbei, vor denen fast überall ein Bootsanhänger parkte. Dann kam das Auto vor einem zweistöckigen Haus zum Stehen, an dessen Frontseite man über eine Außentreppe in das obere Stockwerk gelangte.
Lena riss die Beifahrertür auf und sprang leichtfüßig auf die geschotterte Auffahrt. Ich kletterte steif von meinem Sitz und griff dankbar nach Pauls hingehaltener Hand.
„Hier sind wir zuhause.“ In der Stimme meiner Schwester schwang eine Spur Stolz mit, während sie die Arme ausbreitete, als wolle sie das Haus aus der Ferne umarmen. Ein lauer Wind ließ die Blätter der beiden Palmen rascheln, die neben der Treppe schwarz in den Himmel ragten.
„Hier unten befindet sich ein kleines Gästeapartment, aber das ist zurzeit bewohnt. Deshalb wohnst du bei uns oben, im Gästezimmer“, erklärte Lena und ich folgte ihr die Stufen nach oben. Paul trat hinter mir auf die Treppe und trug meinen Rucksack. Mir war alles recht, Hauptsache ich konnte meinen brummenden Schädel bald irgendwo auf einem Kissen ablegen und die Augen schließen.
Lena sperrte die weiße Holztüre auf und sofort spürte ich den kalten Luftstrom, der durch die geöffnete Türe zog. Offenbar war es hier auch im Februar so warm, dass es nötig war, die Klimaanlage laufen zu lassen.
Es gab keinen richtigen Flur, es handelte sich eher um eine Nische mit einem überfüllten Schuhregal, hinter der sich sofort das Wohnzimmer erstreckte, in dem eine große schwarze Ledercouch und zwei riesige Sessel einen Flachbildschirm umringten, der an der Wand befestigt war. Der Boden war hell gefliest und gab mit den hellen Wänden ein harmonisches Bild ab. Überall an den Wänden hingen maritime Bilder.
Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und griff nach meinem Rucksack, den Paul mir entgegenstreckte.
„Hier ist die Küche.“ Lena deutete um die Ecke, offenbar schloss die Küche direkt an das Wohnzimmer an. Und tatsächlich, als mein Blick ihrer Hand folgte, entdeckte ich die überdimensionale, aus schwarzem Stein gefertigte, offene Küchenzeile, die nur durch einen halbhohen Tresen vom Wohnbereich abgetrennt war. Wow! Die Mirkowelle über dem Herd hatte fast die Größe eines Minikühlschranks.
„Jetzt zeige ich dir dein Zimmer!“ Lena war Feuer und Flamme und obwohl die Küchenuhr bereits viertel nach eins in der Nacht zeigte, schien sie kein bisschen müde zu sein. Paul jedoch gähnte und erklärte, er würde schon mal ins Bett gehen, immerhin müsse er bald wieder raus. Ich bedankte mich bei ihm, wünschte ihm eine Gute Nacht und beeilte mich meiner Schwester hinterher zu kommen, die bereits in den angrenzenden Flur verschwunden war.
An einer Tür aus dunklem, gemasertem Holz wartete sie auf mich, ehe sie den Knauf herumdrehte und mir mit einem Kopfnicken bedeutete, dass ich eintreten sollte.
Das Gästezimmer war mit einem französischen Bett (hier in den Staaten nennt man das Kingsize, wie ich noch erfahren sollte), einer ausladenden Kommode und einem kleinen, begehbaren Kleiderschrank ausgestattet. Auch dieses Zimmer hatte meine Schwester mit viel Liebe zum Detail eingerichtet und dekoriert. Über dem Bett und an der Wand daneben befanden sich zwei halbhohe Fenster mit heruntergelassenen Jalousien. „Hier – du hast sogar dein eigenes Bad.“
Während meine Schwester kurz in ihr Zimmer verschwand, um mir ein paar Klamotten herauszusuchen, sank ich auf die Bettkante und ließ die neuen Eindrücke auf mich wirken. Ich fühlte mich sofort wohl – das stellte ich zu meiner eigenen Überraschung fest. Hoffentlich handelte es sich bei diesem Gefühl um keine kurzweilige Euphorie aufgrund totaler Übermüdung.
„Hier.“ Lena erschien in der Tür und reichte mir ein T-Shirt und Shorts zum schlafen. „Danke Schwesterherz.“ Ich stand auf, umarmte sie und wünschte ihr eine gute Nacht. Sie zog leise die Tür zu und dann war ich allein.
Ich entschied mich gegen eine Dusche, sondern schälte mich schnell aus meinen viel zu warmen Sachen, ließ diese achtlos zu Boden segeln, streifte mir das riesige Shirt über und stieg in die Shorts. Ich würde morgen gründlich duschen – jetzt lockte mich einfach nur noch das Bett, mit seinen weichen Laken und der Versprechung auf einen tiefen Schlaf. Auf den Nachttisch hatte Lena sogar noch eine Flasche Wasser für mich gestellt. Mir fiel auf, wie durstig ich war und nachdem ich die halbe Flasche geleert hatte, sank ich mit einem tiefen, wohligen Seufzer auf das große Kissen und zog das dünne Laken, das als Decke diente, über meinen Körper.
Das leise Summen der Klimaanlage schläferte mich binnen Sekunden ein.
„Marie?“ Jemand flüsterte meinen Namen. Patrick? Ich gab einen murrenden Laut von mir und wollte mich gerade umdrehen, da war wieder das Flüstern. „Marie?“ Ich war völlig desorientiert und hatte einen Traum gehabt, in dem ich auf Patrick zulief, immer wieder seinen Namen rief und doch kam ich ihm keinen Meter näher. „Paul und ich sind jetzt arbeiten – wir sehen uns dann heute Nachmittag.“ Erst jetzt erkannte ich, dass die Stimme zu Lena gehörte. Ohne die Augen aufzumachen brummte ich ein „Hmmhmm“ und dämmerte wieder weg. Leise wurde die Tür ins Schloss gezogen und ich sank zurück in meine wirren Träume.
Ich schrak auf, weil ich mir sicher war, ein Geräusch gehört zu haben. Ruckartig setzte ich mich auf und lauschte. Ich musste in paar Mal blinzeln, bis ich mich umsehen konnte, denn trotz der heruntergelassenen Jalousien, hatte die Sonne den Raum in helles Licht getaucht.
Wo bin ich?, schoss es mir im ersten Moment durch den Kopf, doch dann erkannte ich nach und nach das Gästezimmer, in dem Lena und Paul mich untergebracht hatten. Nach meinem unruhigen Schlaf und den mehr als verwirrenden Träumen, musste ich mich erstmal sammeln.
Dann schwang ich die Beine über die Bettkante und sah mich zum ersten Mal in dem kleinen Bad um, das direkt an mein Zimmer grenzte. Vor mir stand ein Waschtisch mit Marmorplatte und Spiegelschrank. Das Bad verfügte außerdem über eine begehbare Dusche. An der Außenwand befand sich oberhalb ein schmales Fenster. Ich betrachtete mich im Spiegel. Meine müden Augen blickten mich flehend an – es war höchste Zeit zu duschen. Ich schlüpfte aus den Sachen meiner Schwester und betrat die Dusche. Vorsichtig drehte ich an der Armatur und hüpfte zurück, als mir das lauwarme Wasser prompt entgegen schoss. Als es eine angenehme Temperatur erreicht hatte, trat ich unter den warmen Regen und spähte aus dem kleinen Fenster. Statt massiver Scheiben, handelte es sich dabei nur um dünne gläserne Schieber, vor die man ein Insektennetz gespannt hatte. Trotzdem sah ich die Palmen, die den Kanal säumten, der direkt hinter dem Haus entlang floss. Die Sonne fiel durch das Fenster, zeichnete zarte Lichtmuster auf meine Haut und die Fliesen. Ich schloss die Augen, ließ das Wasser auf meinen Kopf prasseln und schäumte mich von Kopf bis Fuß mit einem, nach Kokos duftendem Shampoo ein.