Publicly - Dark Secrets - Liv Hoffmann - E-Book

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Liv Hoffmann

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Beschreibung

Ein dramatischer Roman mit einem Hauch Erotik:

Designerklamotten, exklusive Partys und jede Menge Freunde – was sich für andere wie ein Traumleben anhört, wird für Millionärstochter Victoria Bancroft immer mehr zum Albtraum.

Die Trauer über den Tod ihrer Schwester und das gefühlskalte Verhalten ihrer Mutter, die den Schein der heilen Familie in der Öffentlichkeit wahren will, lassen Victoria langsam verzweifeln. Ablenkung sucht sie in flüchtigen Affären, Drogen und Partys.

Aus Trotz provoziert sie einen Skandal nach dem anderen. Dann trifft sie Dean; der erste Kerl, der keine Anstalten macht sie zu erobern, sondern sie stattdessen mehr und mehr dazu bringt, sich ihrer Realität zu stellen. Doch als Victoria auf Briefe stößt, die ein Unbekannter an ihre Mutter geschickt hat, ist sie plötzlich gezwungen, ihre gesamte bisherige Existenz zu hinterfragen. Gemeinsam mit Dean beginnt sie in der Vergangenheit ihrer Familie nach Antworten zu suchen und ahnt nicht, dass sie sich damit in größte Gefahr begibt.

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Liv Hoffmann

Publicly - Dark Secrets

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort

 

Das Gesicht von Clarissa Bancroft war blass und von den Strapazen der letzten Stunden gezeichnet. Man sah ihr all den Schmerz und die Trauer an, die in ihrem Inneren tobten. Nach außen hin war sie ruhig. Das war wahrscheinlich noch immer dem Narkosemittel geschuldet, das ihr die Ärzte vor vier Stunden verabreicht hatten.

Ihre Schwester Victoria hatte die ganze Zeit angespannt im Wartezimmer der Praxis gesessen und dabei gefühlt jede Minute erneut auf die Uhr gestarrt.

Jetzt schob man Clarissa, die in einem Rollstuhl saß und apathisch vor sich hinstarrte, zu Victoria zurück. Die kleine Schwester wagte es kaum sie anzuschauen, geschweige denn, sie anzusprechen. So hatte sie Clarissa noch nie gesehen. Von ihrer strahlenden Schönheit war in diesem Moment nichts mehr übrig. Fahl und grau war ihre Haut und ihren sonst lächelnden, sinnlich geschwungenen Mund hatte sie zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

„Miss Bancroft hat den Eingriff gut überstanden. Sie muss sich die nächsten Tage allerdings noch schonen“, erklärte die Krankenschwester der Privatpraxis, in die Victoria ihre Schwester begleitet hatte, weil Florence Bancroft, die Mutter der beiden Schwestern, zu beschäftigt gewesen war.

Victoria hasste ihre Mutter dafür noch mehr. Wieder einmal hatte sie bewiesen, dass in ihrer Brust ein eiskalter Stein an der Stelle ruhte, wo sich bei normalen Menschen das Herz befand.

Sie hatte Clarissa dazu gedrängt, das Kind abtreiben zu lassen, das sie von ihrem Spanischlehrer Philipe erwartete. Obwohl Victoria keinen Versuch ausgelassen hatte, ihre Schwester vom Gegenteil zu überzeugen, beugte sich diese letztendlich dem Willen der Mutter.

Florence Bancroft war mit William Bancroft verheiratet, einem reichen Bauunternehmer, oder wie die Klatschpresse gerne titelte, einem Riesenfisch im internationalen Haifischbecken. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Familie nur im besten Licht erscheinen zu lassen. Die Tatsache, dass Clarissa sich von ihrem Spanischlehrer hatte schwängern lassen, passte so gar nicht in ihr Bild einer perfekten Familie.

Philipe war nach Bekanntwerden der Schwangerschaft umgehend entlassen worden und würde in New York und Umgebung wohl nie wieder jemanden unterrichten. Dafür, so war sich Victoria sicher, würde ihre Mutter schon sorgen.

 

Nachdem die Krankenschwester den Warteraum verlassen hatte, hob Clarissa den Blick und sah ihre Schwester flehend an. „Bring mich bitte nach Hause“, flüsterte sie spröde und Victoria sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. Sie nickte und umfasste die Griffe des Rollstuhls. „Kent wartet in der Tiefgarage auf uns“, informierte sie ihre Schwester, als sie den Rollstuhl zu den Aufzügen schob.

 

Kent, der Fahrer, der schon seit fast achtzehn Jahren bei den Bancrofts angestellt war, wartete geduldig hinter dem Lenkrad der schwarzen Limousine mit den getönten Scheiben. Seine Zeitung hatte er schon mehrmals durchgelesen; sie war schon völlig zerknittert und es kam ihm vor, als wollten die Stunden einfach nicht vergehen. Als er die Schwestern erblickte, stieg er aus und eilte ihnen entgegen, um Victoria mit dem Rollstuhl zu helfen.

„Warten Sie, Miss, ich stütze Sie.“ Er hielt Clarissa seinen Arm hin, doch sie ignorierte mit regungsloser Miene die angebotene Hilfe und kletterte steif ins Innere des Viertürers. Kent warf Victoria einen bedauernden Blick zu und diese blies geräuschvoll Luft aus. Oh ja, sie hasste ihre Mutter so sehr!

 

Während der Fahrt zum Townhouse der Familie versuchte Victoria, die schrecklichen Bilder der letzten Stunden zu verdrängen. Ihre Schwester hatte vor dem eigentlichen Eingriff ein Medikament verabreicht bekommen, um – wie es der Arzt ausdrückte – die Gebärmutter auf die Abtreibung vorzubereiten. Das hatte dazu geführt, dass Clarissa, als sie sich gerade am Empfang anmeldete, plötzlich Blut die Beine hinunterlief, ihre graue Leggins in tiefes Rot tauchte und eine kleine Pfütze auf dem Marmorboden vor dem Tresen hinterließ. Victoria hatte geschockt mit ansehen müssen, wie man ihre Schwester hektisch auf eine Liege geschnallt und umgehend in den OP-Bereich gebracht hatte. Sie hatte nur mit Mühe den ätzenden Brechreiz unterdrücken können, der in ihr aufgestiegen war, während man Clarissa davonrollte. Die Dame am Empfang rief eine Reinigungskraft, die sofort damit begann, die dunkelrote Lache aufzuwischen.

Victoria erschauderte bei dieser viel zu lebhaften Erinnerung und wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als einen starken Drink. Sie schielte zu Clarissa und fragte sich, ob es ihrer Schwester wohl genauso erging. Doch die klammerte ihre kalte Hand um Victorias Arm und starrte stumm durch die verdunkelte Scheibe. Eine Träne war ihre Wange hinuntergerollt und hatte eine schwarze Spur von Wimperntusche hinterlassen.

Sie erreichten die herrschaftliche Stadtvilla am Hudson River, deren Kalksteinfassade im Renaissancestil zwischen den anderen Häusern herausstach. Das Stahltor der Tiefgarage fuhr hoch, als sich der Wagen der Einfahrt näherte. Die Überwachungskameras hatten bereits ihr neugieriges Auge auf sie gerichtet.

Kapitel 1

 

Victoria rührte gelangweilt mit dem Strohhalm in ihrem Drink herum. Hin und wieder führte sie ihn an ihre Lippen und trank einen Schluck ihres Cocktails. Der Typ an der Bar hatte nun schon eine Weile seine Augen auf sie gerichtet, und doch machte er keine Anstalten, zu ihr herüberzukommen, um sie anzusprechen. Normalerweise wurde sie innerhalb weniger Minuten belagert, wenn ein Verehrer erst mal ein Auge auf sie geworfen hatte.

Seine blonden Haare fielen ihm in die Stirn und reichten fast bis an seine Augen, die er forschend auf sie gerichtet hatte. Sein Blick war so unverhohlen, dass es ihr langsam unangenehm wurde.

Victoria wandte sich ab und beobachtete ihre Freunde, Sparrow, Chrystal-Cupid und Shay, – wer reiche, prominente Eltern hatte, wurde oft mit den abscheulichsten Namen bestraft - die extra übers Wochenende aus Los Angeles angereist waren. Sie schwenkten lachend die 3000 Dollar teure Champagnerflasche und feierten ausgelassen. Normalerweise gehörte Victoria nicht zu denjenigen, die während einer Party mit Trauermiene in der Ecke saßen, aber seit sie ihre Schwester vor einer Woche in die Klinik begleitet hatte, wurde sie wieder von einem dumpfen Gefühl der Verzweiflung ausgefüllt, das sie vor knapp einem Jahr eigentlich mehr oder weniger erfolgreich zurückgedrängt hatte.

Clarissa war nicht ihre einzige Schwester. Shannon, die Älteste, war Florence Bancrofts Lieblingskind gewesen. Zwar hatte ihre Mutter das immer geleugnet, aber Victoria und Clarissa wussten es besser.

Am dreiundzwanzigsten April letzten Jahres hatte Shannon bei einem tragischen Unfall ihr Leben verloren und seitdem war nichts mehr wie vorher. Ihre Mutter ließ die beiden Schwestern deutlich spüren, wie sehr ihr der Verlust ihrer geliebten Tochter zusetzte. Doch statt zu versuchen, die Tragödie durch Liebe, Wärme und Vertrauen gemeinsam zu verarbeiten, wies sie besonders Victoria immer wieder deutlich zurück. Clarissa hatte es ein wenig einfacher; womöglich, weil sie nun mehr oder weniger an Shannons Stelle gerückt war.

Victoria seufzte tief und leerte ihr Glas mit einem großen Zug. „Hey Trauerkloß! Na komm schon … jetzt wird getanzt!“, schrie Shay ihr zu, doch Victoria schüttelte den Kopf. Da packte ihre Freundin sie schon fast grob an der Hand und zerrte sie mit sich in Richtung der Damentoiletten. Glücklicherweise gab es im VIP-Bereich nie eine Schlange, in die man sich einreihen musste.

 

Als die Tür hinter den beiden zugefallen war, dröhnte von draußen nur noch der dumpf wummernde Bass. Das diffuse Licht ließ den schwarz-gold gekachelten Raum fast ein wenig unwirklich erscheinen. „Mann, Vic, du musst dich mal ein bisschen entspannen!“, kicherte Shay und zwinkerte ihr verheißungsvoll zu, während sie ein kleines Döschen aus ihrer Clutch kramte. Sie öffnete den kunstvoll verzierten Deckel und hielt es Victoria unter die Nase. „Hier – genau das brauchst du jetzt!“

Vic zögerte und starrte auf die kleinen bunten Pillen. Ihre Kehle verengte sich und sie schluckte hart. „Shay, du weißt genau, dass ich damit aufgehört hab!“, erwiderte sie mit spröder Stimme. Ihre Freundin schnaubte und rollte mit den Augen. „Nur eine … Glaub mir, was auch immer gerade wieder mit dir los ist, danach fühlst du dich besser!“, redete Shay auf sie ein. Das Pillendöschen vor Victorias Augen verschwamm und sie ballte blinzelnd ihre feuchten Finger zu einer Faust. Sie wollte nichts lieber, als sich endlich wieder besser zu fühlen. Für ein paar Stunden all den Frust, den Ärger und die Verzweiflung einfach vergessen …

Shays Angebot war einfach zu verlockend. Mit zitternden Fingern fischte Vic eine der Pillen heraus, stieß geräuschvoll Luft aus und schob sie sich dann in den Mund.

„Na also!“ Shay reichte Victoria ihr Champagnerglas und Vic spülte die Tablette mit einem kräftigen Schluck hinunter.

Shay zog ihren Lippenstift nach, klappte ihre Clutch zu und grinste. „Dann kann die Party ja jetzt endlich losgehen!“

 

Ein paar Minuten später fand Victoria sich inmitten von tanzenden, schwitzenden Körpern wieder. Ihr Verstand war endlich abgeschaltet und sie sog all die Farben und Töne begierig in sich auf. Gott, hatte sie es vermisst, high zu sein!

Ganz von allein bewegte sich ihr Körper zur Musik. Sie ließ sich treiben und hätte vor Glück am liebsten die ganze Welt umarmt. Wie sanftes Streicheln kroch jeder Ton mit einem angenehmen Kribbeln ihr Rückgrat hinauf und ließ sie leicht erzittern. Alles fühlte sich so intensiv, so absolut richtig an.

Plötzlich tauchte vor ihrem Blickfeld das Gesicht des jungen Mannes auf, der sie den halben Abend angestarrt hatte. Er bewegt sich ebenfalls zu den Klängen der Musik und musterte sie eingehend. Aber im Moment war Victoria das völlig egal. Sie tanzte einfach ausgelassen mit ihm, ohne sich darum zu kümmern, wie er hieß oder was er von ihr wollte.

Sie kippte ein Champagnerglas nach dem anderen in sich hinein, und doch fühlte sie sich kein bisschen betrunken. Sie war hellwach und tierisch gut drauf. Sollten ihre Mutter und die ganze Welt da draußen sie doch kreuzweise am Arsch lecken!

 

***

 

Das leise Surren, das sich in Victorias Kopf ausbreitete, schien immer lauter und unangenehmer zu werden. Es schickte stechende Schmerzen zwischen ihren Schläfen hin und her.

Speichel hatte sich in ihrem Mund gesammelt, und als sie versuchte zu schlucken, kratzte es schmerzhaft in ihrer ausgetrockneten Kehle. Unwillig stieß sie ein Keuchen aus und riss die Augen auf. Sie musste ein paarmal blinzeln, ehe sich die Umrisse vor ihren Augen schärften. Stöhnend stemmte sich Victoria hoch und ihr Puls beschleunigte. Das wiederum verstärkte das quälende Pochen hinter ihrer Stirn, also ließ sie sich kraftlos zurücksinken.

Endlich erkannte sie die vertraute Umgebung ihres Zimmers und seufzte erleichtert. Ihr Blick schweifte zu ihrem Nachttisch, auf dem ein Glas Wasser und eine Dose mit Kopfschmerztabletten standen.

Die gute Megan! Trotz dröhnenden Schädels gelang Victoria ein kurzes Lächeln. Sie griff nach dem Glas und warf sich gleich zwei Schmerztabletten ein.

Megan war die gute Seele des Hauses, Mädchen für alles und Victorias persönliche Assistentin. Zuerst hatte Victoria sich dagegen gesträubt, von ihrer Mutter ein, wie sie selbst es nannte, „Kindermädchen“ vor die Nase gesetzt zu bekommen, aber da Megan nun schon drei Jahre für sie arbeitete, konnte sich Victoria ein Leben ohne sie schon fast nicht mehr vorstellen. Sie war die einzige vertrauenswürdige Konstante in ihrem Leben.

 

Victoria robbte an die Bettkante und griff nach ihrem Smartphone. Sie konnte sich absolut nicht daran erinnern, wie sie letzte Nacht nach Hause gekommen war. Eilig durchsuchte sie ihre Nachrichten nach Hinweisen, doch außer einem sinnlosen Hin- und Hergetexte mit Shay um drei Uhr morgens fand sie nichts. Sie warf ebenfalls einen Blick auf die zuletzt gewählten Rufnummern und tatsächlich war es Megan, deren Nummer sie offenbar um 5:24 Uhr angerufen hatte.

Victoria sank zurück in die Kissen und rieb sich die noch immer schmerzende Stirn, als plötzlich die Tür aufflog und ihre Mutter im Stechschritt und mit verkniffener Miene ins Zimmer marschierte. Ein paar Schritte hinter ihr schlich Megan herein. Sie machte ein Gesicht, als hätte man ihr einen Einlauf verpasst.

 

„Würdest du mir bitte erklären, was du dir dabei gedacht hast?!“ Die Stimme ihrer Mutter war schrill und aufgebracht, während sie ihrer Tochter zeitgleich das „New York Gossip“, eines der unzähligen Klatschblätter der Stadt, auf den Schoß schleuderte.

Victoria schluckte und brach in Schweiß aus, als sie auf das Titelfoto starrte, das sie selbst zeigte, wie sie völlig bleich und mit irrem Blick aus dem Club torkelte, in dem sie gestern gefeiert hatten. Doch das war leider noch nicht das Schlimmste. Anscheinend hatte auf der Tanzfläche jemand Fotos von ihr mit seinem Handy gemacht. Sie hing gerade etwas vornübergebeugt an Shays Schulter und der Unbekannte hatte einfach völlig dreist ihr Kleid hochgezogen und ihren blanken Hintern fotografiert. Die Qualität war nicht die beste, und dennoch erkannte man sie.

Zeigt her eure Pobacken! Victorias wilde Partynacht!, titelte das Schmierblatt in großen, schwarzen Lettern.

 

Der eisige Blick ihrer Mutter ruhte stumm auf Victoria. „Von dem Geld, das wir dir jeden Monat zur Verfügung stellen, könntest du dir einen eigenen Unterwäscheladen kaufen, – aber du gehst wohl lieber ohne Schlüpfer feiern, damit auch ja jeder peinliche Fotos von dir machen kann, wenn du wieder mal völlig betrunken bist!“, herrschte sie ihre Tochter an. Diese sah auf und schob trotzig das Kinn vor. „Du bist doch nur neidisch, weil dein Hintern nicht mehr so knackig ist. Wie wäre es mal wieder mit ein paar Extrastunden bei deinem Trainer!“, ätzte Victoria zurück, zerknüllte das Schundblatt und warf es auf den Boden.

Megan war sofort zur Stelle, um es aufzuheben. Ihre Mutter ignorierte den Satz von Victoria geflissentlich, denn ihr vernichtender Blick fiel nun auf die persönliche Assistentin. Florences Augen wurden schmal und man konnte Megan ansehen, dass ihr der Arsch gehörig auf Grundeis ging. „Ich frage mich, wofür ich Sie eigentlich bezahle! Ihre Aufgabe ist es, so ein Desaster zu verhindern!“ Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Tochter. „Damit fällt für dich der Familienurlaub in Los Angeles aus!“

Victoria riss ungläubig die mit Mascara verschmierten Augen auf. „Was? Das kannst du nicht machen!“, schrie sie ihrer Mutter hinterher, die ohne ein weiteres Wort ihr Zimmer verließ.

„Ach Fuck!“, brüllte Victoria und schlug mit beiden Fäusten auf ihre Bettdecke. Mit einem tiefen Seufzer ließ Megan sich auf der Bettkante nieder und blickte auf das zerknitterte Titelblatt. Kopfschüttelnd hob sie den Blick und sah Victoria fragend an. „Was war denn da gestern nur wieder los?“, wollte sie wissen.

„Wir haben gefeiert. Das sieht man doch“, gab Victoria trotzig zurück und verschränkte die Arme.

„Ja, das sehe ich.“ Megan presste die Lippen aufeinander, bis sie weiß wurden. „Aber wohl wieder einmal ziemlich heftig. Ich dachte, mit deinen einundzwanzig Jahren wirst du langsam mal vernünftig. Wenn dieser Kerl mich von deinem Telefon aus nicht angerufen hätte …“ Sie brach ab und schüttelte erneut den Kopf, so als wollte sie sich den Rest lieber nicht ausmalen. Victoria horchte auf. „Welcher Typ?“

Erstaunt hob Megan die Brauen. „Na, dieser Kerl … groß, blondes Haar, Dreitagebart – so ein Surfertyp. Ich dachte, ihr kennt euch. Ihr wirktet so vertraut, als ich mit Kent ankam und er dich zum Wagen begleitet hat.“

„Ich kann mich an keinen Kerl erinnern!“, erwiderte Victoria schnell. Doch das war nicht ganz die Wahrheit. In ihrer vernebelten Erinnerung spukte nämlich ein Gesicht herum, das zu Megans Beschreibung ziemlich gut passte. „Wie hieß er denn?“, erkundigte sie sich so beiläufig wie möglich.

„Er hat sich als Dean vorgestellt. Er war sehr nett und extrem um dein Wohl besorgt.“ Megan zuckte mit den Schultern, seufzte noch einmal tief und stand auf. Sie musterte Victoria streng. „Geh dich duschen und zieh dir was Hübsches an. Deine Eltern erwarten Senator Mason und seine Frau zum Dinner.“

„Ist es schon so spät?!“ Victoria tastete nach ihrem Handy und schielte auf die digitale Uhr.

„Jap. Du hast den ganzen Tag in deinem komatösen Schlaf verbracht. Und jetzt hopp, hopp!“ Megan machte eine scheuchende Handbewegung in ihre Richtung, ehe sie das Zimmer verließ.

 

Victoria stieß ein genervtes Schnauben aus, bevor sie sich unwillig hochstemmte und nach nebenan ins Bad schlurfte. Ihre Mutter war doch selbst schuld an der Misere. Seit sie im letzten Jahr dem Kamerateam einer Reality-Sendung erlaubt hatte, die Familie einige Wochen lang zu begleiten, war es für Victoria und ihre Schwester kaum mehr möglich, vor die Tür zu gehen. Es schien, als ob jeder ihrer Schritte akribisch analysiert wurde. Grauenvoll!

Und als könnte es kaum noch schlimmer kommen, hatte sich ihr Vater plötzlich in den Kopf gesetzt, jetzt auch noch in der Politik mitzumischen. Zu diesem Zweck veranstalteten ihre Eltern fast jede Woche zum Sterben langweilige Dinnerpartys. Kein Wunder, dass Florence wegen der Eskapaden ihrer jüngsten Tochter fast die Decke hochging. Ihr ging es einzig und allein darum, den schönen Schein der perfekten Vorzeigefamilie zu wahren. Victoria und Clarissa blieb nichts Anderes übrig, als zu diesem ganzen Zirkus immer gute Miene zu machen, hübsch zu lächeln und sich vorzeigen zu lassen.

 

Als das warme Wasser auf Victorias Kopf prasselte, entspannte sie sich etwas. Sie schloss die Augen und reckte sich dem wohligen Regen entgegen. In Momenten wie diesen träumte sie davon, wie es wäre, ein stinknormales Leben zu führen. Mit ganz normalen Freunden, die keine Drogen und sündhaft teuren Champagner brauchten, um sich zu amüsieren. Die auf eine normale Schule gingen, Hobbys hatten, sich nachmittags in einem Café oder Park trafen oder mit dem Rucksack nach Europa reisten.

Was hatte sie vorzuweisen? Völlig abgedrehte Freunde, eine Familie, die im Privatflugzeug nach Los Angeles jettete, Shoppingtrips, um sich von der Langeweile und dem Frust abzulenken, und einen Haufen Charity-Projekte ihrer Mutter, für die sie hin und wieder herangezogen wurde.

Victoria zuckte zusammen, als es an ihre Badezimmertür klopfte. „Vic! Wo bleibst du denn?“, drang Megans ungeduldige Stimme gedämpft in den Raum.

Eilig drehte Victoria das Wasser ab und hüllte sich in den weichen, weißen Bademantel, der gegenüber an der Wand hing. „Schon gut! Ich komme ja gleich!“, gab sie entnervt zurück und seufzte resignierend.

 

Zehn Minuten später betrat sie in einem zarten, schwarzen Kleid mit Spitze an den Ärmeln das Speisezimmer im zweiten Stock. Sie hatte das schwarze Lederkleid, das oberhalb des Knies endete, doch wieder zurück in den Schrank gehängt, um ihre Mutter heute nicht noch mehr zu reizen.

Clarissa saß schon am Tisch und sah wie immer zauberhaft aus. Mit ihrem streng zurückgekämmten, blonden Haar, den wasserblauen Augen und dem rosigen Teint bildete sie einen starken Kontrast zu ihrer jüngeren Schwester. Diese trug ihre langen, rotbraunen Haare offen und sie fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern. Victoria hatte sich für einen roten Lippenstift entschieden, der in perfektem Gegensatz zu ihrer hellen Haut stand. Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie sich fragte, ob Clarissa und sie tatsächlich von ein und demselben Mann stammten. Clarissa war ihrem Vater nämlich wie aus dem Gesicht geschnitten, während Vic sich weder in William noch in ihrer Mutter wiedererkannte.

 

Artig begrüßte sie den Senator und seine Frau, ehe sie sich auf den freien Stuhl neben ihrer Schwester setzte.

„Was für bezaubernde Töchter Sie haben! Eine schöner, als die andere!“, erklärte die Frau des Senators inbrünstig, als die Suppe serviert wurde. Victoria orderte ein Glas Weißwein, weil sie wusste, nüchtern würde sie diesen Abend nicht überstehen. Dafür erntete sie zwar einen tadelnden Blick ihrer Mutter, doch weil diese gar so sehr mit Lächeln beschäftigt war, war es für Victoria ein Leichtes, sie einfach zu ignorieren.

Während ihre Eltern angeregt mit ihren Gästen plauderten, musterte Victoria aus den Augenwinkeln ihre Schwester. Sie sah deutlich gesünder aus als noch vor einer Woche. Doch Victoria wusste, dass das alles nur Fassade war. Tief in ihrem Inneren würde es noch eine ganze Weile dauern, um sich von alldem zu erholen, was in den letzten drei Wochen geschehen war. Wahrscheinlich trauerte sie nicht nur um ihr Kind, sondern auch um Philipe, den sie als ihre große Liebe bezeichnet hatte.

Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen?, fragte sich Victoria gerade, als hinter Hugh, dem Butler, ein junger Mann den Raum betrat und sich umsah.

„Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung, aber der Verkehr war schrecklich!“ Er lächelte entschuldigend in die Runde und schlagartig erkannte Victoria sein Gesicht wieder! Es war der Kerl aus dem Club!

Wie in Trance sah Victoria ihm dabei zu, wie er ihre Eltern begrüßte, ehe sein Blick auf sie fiel. Sein Mundwinkel zuckte leicht nach oben, als er auf sie zutrat. „Victoria, Clarissa, – es ist mir eine Ehre!“

„Das ist Dean, einer unserer beiden Söhne“, erklärte Mrs Mason mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

Victoria blieb vor Überraschung beinahe der Mund offenstehen. Sie räusperte sich und blinzelte, als ihre Schwester sie sanft mit dem Ellenbogen anstieß. „Ähm … Hallo“, war alles, was sie über die Lippen brachte.

Dean nahm auf dem Stuhl gegenüber Platz und grinste leicht. Offenbar amüsierte ihn ihre Reaktion über sein Auftauchen. Innerlich begann Victoria sich zu ärgern. Sie hasste die Art von Mädchen, die sich plötzlich benahmen wie dämliche Teenies, und das nur wegen eines Typen. Während des Essens strafte sie Dean deshalb mit Nichtbeachtung, doch als ihre Schwester nach dem Dessert aufstand und sich mit einer Entschuldigung in ihr Zimmer zurückzog, streiften sich Deans und ihre Blicke. Wieder schenkte er ihr ein spitzbübisches Lächeln, bei dem sich zwei kleine Grübchen in seinen Wangen vertieften. In Victorias Magengrube begann es unwillkürlich zu kribbeln. Was war das für ein Kerl? Versuchte er etwa, sie wahnsinnig zu machen? Wenn es sein Ziel war, ihr auf die Nerven zu gehen, hatte er es bereits geschafft!

 

Nach dem Dinner überredete Victorias Vater den Senator, noch einen Drink an der hauseigenen Bar zu nehmen. Victoria atmete erleichtert aus, als auch Dean seinen und ihren Eltern folgte. Sie schnappte sich die restliche Flasche Weißwein aus dem Kühler und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben auf die Dachterrasse.

Der beleuchtete Pool war die einzige Lichtquelle hier oben, doch als sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie die Sterne über sich funkeln sehen. Victoria kam oft nachts hierher, wenn sie mal wieder nicht schlafen konnte. Das kam öfter vor, als ihr lieb war. Irgendwie hatte diese Nähe zum Himmel etwas Tröstendes. Es war ihr jedes Mal fast so, als könnte sie die Anwesenheit ihrer verstorbenen Schwester spüren. Manchmal sprach sie auch mit Shannon, obwohl sie natürlich keine Antwort erhielt. Aber es machte die Trauer und den Schmerz, die noch immer in ihr tobten, etwas erträglicher.

Die Luft war lau und man konnte den nahenden Sommer förmlich riechen. Letzten Juni hatte die Stadt unter einer wochenlangen Hitzewelle gestöhnt, doch diesmal waren die Temperaturen angenehm. Dennoch fischte sie sich eine der Vliesdecken aus dem geflochtenen Korb aus Wasserhyazinthe, der neben einer der Liegen stand, die den Pool umringten Sie hüllte sich darin ein und ließ sich auf der nächstgelegenen Liege nieder. Den Blick zum Himmel gerichtet, nahm sie einen Schluck aus der Weinflasche.

„Ach Shann, manchmal beneide ich dich … Es tut mir leid, – eigentlich sollte ich so etwas nicht sagen, … aber leider ist es so“, flüsterte sie mit rauer Stimme und setzte die Flasche erneut an die Lippen. Ein warmes Gefühl durchströmte ihre Glieder, als sich der Alkohol in ihrem Körper ausbreitete.

 

„Hey, ist das hier eine Privatparty oder sind auch noch andere Leute zugelassen?!“ Die plötzlich ertönende, amüsiert klingende Stimme ließ Victoria erschrocken zusammenzucken.

Sie setzte sich auf und kniff die Augen zusammen, um im Halbdunkel etwas zu erkennen. Es war Dean, der mit einem Schmunzeln auf den Lippen auf sie zuschlenderte.

„Bist du irre?“, blaffte Victoria ihn an. „Willst du, dass ich tot umfalle, oder wieso schleichst du dich so an mich ran?“

Dean hob abwehrend die Hände. „Sorry, ich wollte dich echt nicht erschrecken. Aber da unten war es so furchtbar langweilig. Immer dieses Gequatsche über Politik … Da bekomme ich schon automatisch einen Brechreiz. Auf dem Weg zur Toilette ist mir deine Schwester begegnet und die meinte, dass ich dich hier finden kann.“ Er setzte sich einfach auf die Liege, die neben ihrer stand, und sein Blick fiel auf die Weinflasche in ihren Händen. „Ist die nur für dich bestimmt oder würdest du sie auch teilen?“ Das Lächeln, das auf seine Frage folgte, ließ Victoria leicht erschaudern. Wenn er mit diesem Lächeln später mal vorhaben sollte, Präsident zu werden, die Leute würden ihn mit Sicherheit wählen.

„Also, was ist, darf ich?“ Dean streckte die Hand aus und riss sie aus ihrer Trance. „Äh … ja, klar – hier.“ Ohne weiter nachzudenken, reichte sie ihm die Flasche. Er nahm einen großen Schluck und gab sie ihr zurück. „Oh ja, das ist viel besser, als sündhaftteuren Whiskey mit diesen Wichtigtuern zu trinken.“ Er lehnte sich zurück und lächelte entschuldigend. „Also, zumindest ist mein Dad einer. Ich wollte deinen Vater natürlich nicht beleidigen.“

Victoria zuckte mit den Schultern und nippte am Wein. „Ist schon in Ordnung, – es stimmt ja.“ Sie spürte, wie sie unwillkürlich lächelte.

„Ist ein schöner Platz hier oben“, sagte Dean, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte in den schwarzen Nachthimmel.

Einige Minuten lang sagte keiner der beiden ein Wort. Sie starrten nebeneinander nach oben, und obwohl Victoria es ungern zugab, genoss sie irgendwie seine stille Anwesenheit.

 

Es war Victoria, die das Schweigen schließlich durchbrach. „Ich schätze, ich muss mich bei dir bedanken“, begann sie zögerlich, trank einen Schluck und reichte Dean die Flasche. Ihre Hände berührten sich kurz, als er danach griff. Schnell zog Victoria ihren Arm zurück. „Wieso?“, wollte er wissen.

„Na ja, offenbar habe ich es dir zu verdanken, dass ich sicher nach Hause gekommen bin“, erwiderte sie leise und fragte sich, ob er das Foto ihres nackten Hinterns wohl auch schon gesehen hatte.

„Na ja, … ich wünschte, du hättest dir schon früher von mir helfen lassen. Bevor dieser schmierige Typ sein Handy gezückt hat.“ Ärger schwang plötzlich in seiner Stimme mit und das verwirrte Victoria. Sie seufzte leise. Er kannte das Foto also bereits. „Also, ich meine, hey … dein Hintern sieht echt lecker aus. Aber ich finde, er gehört nicht unbedingt auf die Titelseite einer Klatschzeitung.“ Er lachte und aus irgendeinem Grund stimmte sie mit ein.

Plötzlich wurde er wieder ernst. „Es ist traurig, dass auf dieser Erde solche Idioten herumlaufen.“

Victoria versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen, während sie mit den Schultern zuckte. „Ich bin mir sicher, meine Mutter wird ihn und seine Familie vor Gericht zerren. Also, was soll´s.“

 

Dean lehnte sich vor und gab ihr die Weinflasche zurück. Ihre Blicke trafen sich und einen Moment lang hielt er inne. Ihre grünen Katzenaugen schienen ihn zu betören. Doch auch Victoria war in seinem Blick versunken. Ihr Atem wurde ganz flach und er sah, wie sie ihre Beine zusammenpresste.

 

Unter normalen Umständen hätte Victoria ihn jetzt geküsst. Weil sie das immer so tat, wenn sich eine Situation wie diese mit einem halbwegs netten, gutaussehenden Kerl ergab. Neben Drogen war Sex für sie ein Mittel, um sich zu abzulenken und ihre innere Leere zumindest für eine kurze Dauer zu füllen. Gab es denn etwas Tröstenderes als zwei nackte Körper, die sich innig verbanden?

Doch aus irgendeinem Grund zögerte sie, als ihr Blick auf seine geschwungenen Lippen fiel. Ruckartig richtete sie sich auf, schnappte sich die Weinflasche und stand auf. „Es tut mir leid, aber ich bin ziemlich müde. Ich werde jetzt gehen.“ Dean schien sichtlich verwirrt über ihr plötzliches Verhalten, doch er nickte verhalten. „Okay“, erwiderte er nur.

„Es … war … wirklich schön, mit dir … hier oben zu plaudern“, stammelte sie unsicher und ärgerte sich innerlich über ihre Unbeholfenheit.

Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ja, das war es wirklich.“

 

Sie hatte noch immer die Vliesdecke um ihre Schultern, als sie vom Fahrstuhl in ihr Zimmer eilte und die Tür hinter sich schloss. Mit klopfendem Herzen lehnte sie sich gegen das weiße Türblatt aus Holz. Ihr Atem flog, als hätte sie einen Sprint hingelegt.

 

 

Kapitel 2

 

„Stimmt es, du kommst nicht mit nach Los Angeles?“ Clarissa hob leicht den Kopf und blickte ihre kleine Schwester fragend an.

„Sieht wohl nicht so aus“, brummte Victoria unwillig, ohne jedoch die Augen zu öffnen. Die beiden Schwestern lagen auf der Dachterrasse am Pool der Stadtvilla und sonnten sich. Pünktlich zu Beginn der Semesterferien hatte der Sommer Einzug gehalten. Victoria hatte die Drohung ihrer Mutter vor zwei Wochen nicht wirklich ernst genommen. Aus ihrem Mund kamen so viel leere Versprechen und Androhungen, dass sie oft schon gar nicht mehr richtig zuhörte. Doch diesmal schien der kleine Skandal, den ihre Tochter verursacht hatte, bei Florence das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Sie blieb nämlich weiterhin hart und schloss Victoria vom vierwöchigen Familienurlaub in Kalifornien aus. William hatte noch versucht, seine Frau umzustimmen, doch die blieb hart.

„Hat Mum denn gar keine Angst, du könntest gleich den nächsten Skandal heraufbeschwören, wenn du nicht unter ihrer Beobachtung stehst?“, hörte Victoria ihre Schwester kichern. Sie schob ihre Sonnenbrille nach oben und sah Clarissa mit einer Leidensmiene an. „Sie hat schon dafür gesorgt, dass ich während ihrer Abwesenheit beschäftigt bin …“, seufzte Victoria und klappte die Sonnenbrille wieder über ihre Augen, weil sie vom grellen Licht geblendet wurde.

„Ach ja?“ Clarissa wurde hellhörig.

Victoria stöhnte und griff nach ihrem Cocktailglas, um einen Schluck von ihrem Screwdriver zu nehmen. „Ich darf ein Charity-Projekt nach dem anderen abklappern. Und das den ganzen verdammten Sommer lang!“

„Wow, diesmal scheint es ihr echt ernst zu sein!“, murmelte Clarissa, schüttelte den Kopf und fügte dann aber tadelnd hinzu: „Was stellst du auch immer so einen Scheiß an!“

„Hey!“, empörte sich Victoria. „Ich hab mich zumindest nicht schwängern lassen.“ Sofort, als die Worte ihren Mund verlassen hatten, wollte Victoria sich am liebsten die Zunge abbeißen. Sie konnte sehen, wie sich die Gesichtszüge ihrer Schwester verhärteten. Umgehend ruderte sie zurück. „Oh Scheiße, Clarissa, – tut mir leid … ich …“, stammelte sie unbeholfen. Doch ihre Schwester schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf. „Nein … schon gut“, brachte sie hervor. „Du hast recht. Das war der größte Fehler meines Lebens!“

Hilflos musste Victoria dabei zusehen, wie Clarissa ihr Handtuch nahm, von der Liege aufstand und ohne ein weiteres Wort davonging.

Victoria schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Was war sie doch für ein Volltrottel! Konnte sie nicht einfach mal die Klappe halten?!

Ihre Worte hatten Clarissa tief verletzt, das war ihr bewusst. Vielleicht war es wirklich das Beste, wenn die Familie den Sommerurlaub ohne sie verbrachte.

 

***

 

Am frühen Abend quälte Victoria ihr schlechtes Gewissen so sehr, dass sie beschloss, ihre große Schwester in aller Form um Verzeihung zu bitten. Sie wollte nicht, dass Clarissa morgen abreiste und wütend auf sie war.

Zögernd hob Victoria ihre Hand und atmete zweimal tief durch, ehe sie zaghaft an Clarissas Tür klopfte.

„Ja?“, ertönte es von drinnen und Vic drehte den Knauf. „Hey“, flüsterte sie und sah ihre Schwester fragend an. „Kann … ich reinkommen?“

Clarissa, die gerade dabei war, ihren Koffer zu packen, hielt inne und blickte auf. Sie schien einen kurzen Moment zu überlegen. Victorias Herz klopfte wie wild, denn sie hatte Angst, Clarissa würde sie wieder wegschicken. Sie hätte es verstehen können, wenn ihre Schwester nicht mit ihr reden wollte.

Doch schließlich nickte Clarissa und Victoria schlüpfte mit einem erleichterten Seufzer durch die Tür. Mit reumütiger Miene kniete sie sich gegenüber ihrer Schwester auf den Boden und begann an einem der Halstücher zu nesteln, die fein säuberlich gefaltet neben dem Koffer lagen.

„Clarissa, ich …“, fing Victoria an und hob den Blick. Doch ihre Schwester unterbrach sie. „Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast, Vic.“ Clarissa schüttelte bedauernd den Kopf. „Du weißt, ich liebe dich über alles. Aber manchmal wünschte ich mir, du würdest dich mal ein wenig mehr zusammenreißen! Wir haben beide unsere Schwester verloren. Aber anstatt mich meiner Trauer so hinzugeben, wie du das tust, stehe ich Tag für Tag auf, zwinge mich zu einem Lächeln und mache einfach das, was von mir erwartet wird.“

Victoria betrachtete stumm ihre Schwester, auf deren Stirn sich eine Falte zwischen den Augenbrauen gebildet hatte. Einen Augenblick lang sahen die beiden sich einfach schweigend an.

„Glaub mir, ich hätte manchmal auch einfach Lust, aus diesem Zirkus auszubrechen!“ Clarissas Stimme wurde lauter und ihre Augen begannen feucht zu glänzen.

„Ich habe alles verloren, Victoria!“ Jetzt schrie sie fast und Victoria erschrak. So hatte sie ihre Schwester noch nie erlebt. „Meine Schwester, meine große Liebe, mein ungeborenes Kind!“ Tränen liefen ihr über die Wangen und ihr ganzer Körper erbebte. „Und würde ich das hier alles nicht schlucken, würde ich wahrscheinlich durchdrehen!“ Sie griff in ihren Koffer, zog ein Kosmetiktäschchen hervor und schleuderte es Victoria entgegen. Der halb zugezogene Reißverschluss ging auf und drei Pillendosen kullerten Victoria vor die Beine. Entsetzt starrte sie erst auf die verschreibungspflichtigen Medikamente, dann auf ihre Schwester, die wie ein Häufchen Elend in sich zusammensank und heulte.

Victoria robbte zu ihrer Schwester, schlang wortlos die Arme um deren zitternden Körper und spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen.

„Es tut mir so leid, Clarissa! Es tut mir so unendlich leid!“, schluchzte sie in den blonden Haarschopf.

Was war sie doch nur für ein Egoist. Statt für ihre Schwester da zu sein, war Victoria so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie kaum mitbekommen hatte, wie Clarissa an ihrem Schicksal fast zerbrach.

 

***

 

„Weißt du noch früher, als wir unsere Sommerferien auf Long Island bei Grandma Loreley verbracht haben?“, fragte Clarissa ihre Schwester mit träger Stimme, ohne den Blick von ihrem Betthimmel zu lösen. Die kleine Schwester seufzte und schmiegte sich noch enger an ihren Arm. Beide lagen sie rücklings auf Clarissas Bett und starrten an die Decke. „Das war die schönste Zeit des Jahres. Ich habe mich immer am meisten auf die Pferde gefreut“, erklärte Victoria mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Und ich auf Grannys Apfelkuchen, mit den Äpfeln aus dem Garten.“ Clarissa stieß ein genussvolles Stöhnen aus. „Das war der beste Apfelkuchen, den ich je gegessen habe.“

„Ich würde sie so gerne mal wieder besuchen“, sagte Victoria und sie spürte, wie Clarissa nickte. „Ich auch. Aber du weißt, dass unsere Mutter ausflippen würde, wenn sie davon erfährt.“ Neben Clarissa war Grandma Loreley die Einzige aus der Familie, die Victoria aufrichtig mochte. Leider sah Victoria ihre Grandma nur sehr selten, weil Florence und Loreley kein Wort mehr miteinander sprachen. Loreley Bancroft, eine Schauspielerin Ende sechzig, hatte nie einen Hehl aus ihrer Abneigung gegen ihre Schwiegertochter gemacht.

Ja, Victoria wusste, dass ihre Mutter ausflippen würde, aber insgeheim nahm sie sich vor, Grandma Loreley anzurufen, sobald ihre Eltern mit Clarissa unterwegs nach Los Angeles waren.