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Die Flucht aus einer psychiatrischen Klinik ist nur der Anfang ...Magda ist dabei, ihrem geliebten Maciek bei der Flucht aus der psychiatrischen Klinik zu helfen, in die er eingewiesen wurde, um sich vor dem Gefängnis zu retten. Der ausgeklügelte Plan wird allerdings durch das plötzliche Auftauchen eines neuen Patienten in Macieks Zimmer durchkreuzt. Da es keine andere Wahl zu haben scheint, beschließt das verliebte Diebespaar, einen "blinden Passagier" mitzunehmen, dem sie sich entledigen können, sobald sie die Krankenhausmauern hinter sich gelassen haben. Doch schon bald stellt sich heraus, dass dies weitaus schwieriger ist als gedacht ... Es beginnt ein sadistisches Spiel, bei dem die beiden jungen Leute zu bloßen Spielfiguren werden. Können sie der Falle entkommen, die ihnen gestellt wurde und die sie das Leben kosten könnte?-
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Seitenzahl: 498
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Adrian Bednarek
Saga
Blinder Passagier
Titel der Originalausgabe: Pasażer na gapę
Originalsprache: Polnisch
Copyright © 2022, 2023 Adrian Bednarek und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728530368
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Für Daria – das Leben an deiner Seite ist das Schönste, das mir je passiert ist.
Liebe ist blind. Je intensiver man jemanden liebt, desto irrationaler handelt man.
Stephenie Meyer
Eine langbeinige Blondine überquerte die Schwelle eines Gebäudes. Sie war irgendwo am Arsch der Welt im Süden Polens, in einem Dorf mit drei Häusern und einem monströsen Bau aus dem 19. Jahrhundert, der von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben war. Das psychiatrische Krankenhaus mit geschlossener Abteilung türmte sich vor ihr auf.
– Besuch forensische Psychiatrie – teilte sie einem alten Pförtner mit Glatze und einem großen Mitesser auf der Nase mit.
– Ausweis – knurrte er und musterte sie eingehend. In einem kurzen Rock, einer Bluse mit tiefem Ausschnitt und rot geschminkten Lippen sah sie aus wie eine elegante Prostituierte. – Die Bekloppten, die im Gefängnis verrotten sollten, kriegen in diesem Hotel ’ne Spezialbehandlung, oder was? Bestellen die sich mittlerweile kleine Häschen zu Ostern? Das wird ja immer besser hier.
Sie ignorierte seine Bemerkung und warf ihren Personalausweis auf die Tischplatte. Der alte Mann griff nach dem Dokument. Der Ausweis war sorgfältig gefälscht worden. Das hatte sie bei der Bank überprüft, als sie damit ein Konto eröffnete. Der Fälscher, der zwei ganze Monatsmieten für den Ausweis haben wollte, hatte gute Arbeit geleistet. Sie bedauerte es nicht, bald würde sie sowieso keine Wohnung in Polen mehr brauchen. Der Ausweis stimmte mit allem überein. Alter, Augenfarbe, Größe und sogar die Frisur, die sie sich für diesen Anlass machen ließ, waren identisch mit dem Ausweisfoto. Dem Dokument zufolge war sie eine einundzwanzigjährige, grünäugige, ein Meter einundsiebzig große Einwohnerin von Kielce.
– Lassen Sie Ihre Habseligkeiten und jegliche Metallgegenstände im Depot. – Der alte Mann verwies mit der Hand auf den Korridor. Er schrieb ihre Daten auf, gab ihr ihren Ausweis zurück und händigte ihr einen Passierschein aus. – Bevor Sie die Geschlossene betreten, steht noch eine Kontrolle an. Sie können dem Patienten Zigaretten oder etwas zu essen bringen, aber deswegen bist du nicht hier, stimmt’s, Püppchen? – fügte er mit lüsterner Stimme hinzu.
Sie ignorierte den primitiven Kommentar des Pförtners.
– Frohe Ostern und einen feuchtfröhlichen Dyngus! – rief er zum Abschied.
Sie ließ ihre Sachen im Depot und fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Den Stock der geschlossenen Abteilung. Jeder Schritt verursachte einen scharfen Schmerz. Bis vor einigen Tagen hatte ihr das Gehen in Stöckelschuhen noch Schwierigkeiten bereitet. Aber sie hatte es schnell gemeistert. Das größere Problem war die wertvolle Fracht, die sie transportierte. Es tat weh, brannte, schnitt sie fast von innen. Wie zu erwarten war, wurde der Eingang von einem Krankenpfleger, der anscheinend ein Fitnessfanatiker war, bewacht. Ein absoluter Riese mit einem Hals wie ein LKW-Reifen und einem Brustkorb, der sein T-Shirt fast zerriss. Er kam auf sie zu, als sie sich der Gittertür näherte.
– Den Passierschein, bitte. – Anders als der alte Mann verhielt er sich kultiviert. Er lächelte sogar. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Dienst am Ostersamstag durch den Anblick einer hübschen Blondine angenehmer gestaltet werden würde.
Sie zeigte ihm die Plastikkarte, die zum Betreten der geschlossenen Abteilung berechtigte. Er sah sich den Passierschein genau an.
– Also gut. Der Besuch wird dreißig Minuten dauern. Nach den Vorschriften haben Sie das Recht auf die Anwesenheit einer Krankenschwester oder eines Krankenpflegers, während Sie sich im Besuchsraum aufhalten. Zu Ihrer eigenen Sicherheit – betonte er und machte ein Gesicht wie Don Juan für Arme.
– Nein, danke. – Sie setzte einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf, den sie heute sicherheitshalber vor dem Spiegel geübt hatte. – Ich möchte mit dem Patienten allein sprechen.
– Wie Sie wollen – sagte er. – Da es sich um eine Abteilung für Straftäter handelt, die vom Gericht für unzurechnungsfähig erklärt wurden, und alle Patienten gefährlich sind, dürfen sie keine scharfen Gegenstände mitbringen. Ich werde Sie daher gründlich durchsuchen müssen, um sicherzustellen, dass Sie nicht versuchen, etwas hineinzuschmuggeln.
Knappe Kleidung, helles Haar, hübsches Gesicht. Und vor ihr stand ein Kraftprotz, der jeden Tag mit Verrückten verbrachte. Sie ging davon aus, dass sie unter dem Vorwand einer körperlichen Durchsuchung begrabscht werden würde. Er führte sie in einen Raum neben dem Eingang zur Abteilung. Er sagte ihr, sie solle etwas abseits stehen. Plötzlich packte sie die Angst. Sie kannte das Verfahren gut. Im Gefängnis wurde sie mehrmals durchsucht. Zum ersten Mal, als sie ihren Vater besucht hatte, später auch ihren Bruder. Aber sie hatte noch nie Schmuggelware mit sich gehabt. Zum Glück war es ein Krankenhaus, und der Krankenpfleger hatte keinen Metalldetektor. Dann wäre es sofort vorbei gewesen.
– Bitte verzeihen Sie mir meine Gewissenhaftigkeit … – Die geilen Pfoten des Krankenpflegers zogen ihr die Stöckelschuhe aus und packten sie an den Knöcheln. – Aber während meiner Wache kommt hier nichts durch. – Er bewegte seine Hände nach oben.
Er laberte von Gewissenhaftigkeit und war so abgelenkt wie ein Kind in Disneyland. Er ging höher. Er verschlang sie fast mit seinem Blick. Wenn es ihm erlaubt worden wäre, hätte er wahrscheinlich seinen Schwanz für die Dauer des Abtastens rausgenommen.
– Bitte denken Sie daran, dass es einen schmalen Grat zwischen Durchsuchung und Belästigung gibt – sagte sie trotzig.
Sie verwendete eine Floskel, die ihr gestern Morgen im Zug während der fünfstündigen Fahrt in dieses Drecksloch in den Sinn gekommen war. Das Wort „Belästigung“, das eine langbeinige Blondine gegenüber einem großen Mann mit einem kräftigen Bizeps ausspricht, bedeutet für ihn immer Ärger.
– Gnädige Frau! – Er machte auf empört. – Im Gegensatz zur Mehrheit der Rüpel in diesem Gebäude bin ich ein Gentleman. Ich mache nur meinen Job – murmelte er, da er den Wink mit dem Zaunpfahl verstand. Er beschleunigte den Durchsuchungsprozess. Er tastete nur schüchtern um den Schritt und die Brüste herum, als hätte er Angst, etwas falsch zu machen. Genau wie sie es geplant hatte. – Bitte, Sie können eintreten.
Mit großer Erleichterung verließ sie den Raum. Der Krankenpfleger öffnete die Gittertür und führte sie in den Besuchsraum. Er befand sich direkt am Eingang, weit entfernt vom Hauptteil der Abteilung. Nichts Besonderes, zwei Stühle und ein Tisch, und auf dem Tisch ein Aschenbecher und Streichhölzer. Wenigstens etwas Intimität. Nicht wie in den überfüllten Gefängnisgemeinschaftsräumen, wo die Besuche unter den wachsamen Augen der Wächter in einem furchtbaren Gewühl stattfanden.
– Bitte setzen Sie sich, und warten Sie, ich bringe den Patienten gleich. – Der Pfleger holte einen Schlüsselbund aus seiner Hose. – Ich weiß, dass es ein bisschen unangenehm ist, aber auf dieser Station kann ich Besucher nicht bei offener Tür sitzen lassen. – Sie nickte verständnisvoll.
Er verließ den Raum. Sie hörte, wie er den Schlüssel im Schloss drehte.
– Bitte setzen Sie sich, und warten Sie – parodierte sie seine Worte und wandte sich der geschlossenen Tür zu.
Ihre Füße bettelten förmlich, entlastet zu werden. Sie waren nicht an Stilettos gewöhnt und ermüdeten daher schnell, aber sie konnte sie noch nicht ausziehen, geschweige denn sich hinsetzen. Sie würde sich bis zur Übergabe der Ware abmühen müssen.
Maciek Gosławski lag auf einem unbequemen Bett in einem geschlossenen Raum und starrte an die Decke. Er hatte schon viel zu viel Zeit bei den Bekloppten verbracht. Seit einem halben Jahr war er mit mit diesen Idioten eingepfercht, hatte ihren nächtlichen Schreien zugehört, sich mit Psychiatern getroffen und an sinnlosen Gruppengesprächen teilgenommen und dabei Weihnachten, den Todestag seiner Mutter und seinen siebenundzwanzigsten Geburtstag verpasst. Jetzt verbrachte er den Karsamstag hier. Besser hier als im Gefängnis, dort wärst du tot – sagte er sich jedes Mal, wenn er eine Krise hatte, die durch seinen Aufenthalt im Gefängnis herbeigeführt wurde. Er hatte die Polizei über den Tisch gezogen, weswegen er sich wie ein echter Macker fühlte. Wäre er nicht so schlau und überzeugend gewesen, hätte er für diese Aktion fünf bis zehn Jahre oder sogar fünfundzwanzig bekommen, aber zum Glück hatte er nicht auf die Dummheiten der anderen gehört. Sonst wäre er als alter Greis aus dem Bau gekommen. Außerdem hätte er sich jeden Tag darum kümmern müssen, die Jungfräulichkeit seines Rektums zu bewahren. Trotz seines zarten Körperbaus, seiner Größe von einem Meter siebzig, seiner sanften, fast kindlichen Gesichtszüge und seines dichten dunklen Haares, das an das eines verweiblichten Musikers erinnerte, hielt er sich für einen harten Kerl. Er tat Dinge, bei denen nicht wenige sich in die Hosen machen würden. Doch für die Männer, die ihre Strafen absitzen, war das vielleicht nicht genug. Er hatte schon viel übers Gefängnis gehört. Seine Familie kannte sich gut mit langen Strafmaßnahmen aus. Der Knast war die Hölle für Leute wie ihn. Und hier hatte er ein komfortables Zimmer im zweiten Stock. Ja, zwar mit einem vergitterten Fenster und einer Tür ohne Griffe. Aber mit bunten Wänden, und dazu ein Einzelzimmer. Abgesehen davon konnte er tagsüber in einem speziellen Gemeinschaftsraum rauchen, und das Essen war auch ziemlich gut. Das Einzige, was er zu tun hatte, war, Tabletten zu schlucken, die ihm ab und zu einen Rausch bescherten, der etwas schwächer war als der des Alkohols, zum Arzt zu gehen und an diesen verdammten Gruppentherapien teilzunehmen. Die Bedingungen waren nicht schlecht. Sein größtes Problem war der Arzt.
Zunächst hoffte er, dass er mit dem Psychiater leicht zurechtkommen würde. Er war nicht verrückt. Nein, das war er nicht. Er war ein äußerst gewiefter Fuchs. Er hatte sich in einer ausweglosen Situation befunden, und die Entscheidung, die er getroffen hatte, ermöglichte es ihm, seinen Arsch vor dem Gefängnis zu bewahren. Ein echter Kämpfer, so sah er sich selbst. Der Arzt war anderer Meinung. Er hasste seine Patienten, und Maciek war nicht überrascht. Abgesehen von ihm war die Abteilung randvoll mit Verrückten. Dazu gehörten ein Mann, der seine Mutter vergewaltigt hatte, ein Mann, der stundenlang mit Gott über die Apokalypse sprach, und ein Schwuler, der aus Eifersucht versucht hatte, seinen Liebhaber zu vergiften und ihm dann den Schwanz abzubeißen. Alles abgefuckte Spastis. Maciek hatte vor, schnell diesem Irrenhaus zu entfliehen und in der Freiheit wieder ehrgeizige Pläne zu schmieden. Er verhielt sich vorbildlich, um zu zeigen, wie wunderbar psychiatrische Methoden sind und wie wirksam sie den Patienten helfen, wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden. Er erklärte dem Arzt wiederholt, dass er seinen Fehler eingesehen habe, dass damals die Nerven mit ihm durchgegangen waren und er sich nie wieder so verhalten würde. Er versprach auch, seinen alten Beruf aufzugeben. – Ich werde eine ehrliche Arbeit finden, eine Familie gründen, Kinder haben. Wer weiß, vielleicht habe ich eines Tages Glück, baue ein Haus in der Vorstadt und zahle es ab, bis ich in Rente gehe. – All dies erzählte er der wichtigsten Person im Krankenhaus. Der Arzt allerdings blieb skeptisch.
– Warum lassen Sie mich nicht gehen? Schließlich wissen wir beide, dass ich gesund bin und dass diese Probleme völliger Unsinn sind! – fragte er den Arzt freiheraus, als bei einer der Sitzungen seine Nerven mit ihm durchgingen.
Der kleine Mann mit dem dichten Bartwuchs rieb nur den goldenen Siegelring an seinem Finger und lächelte so unverschämt, dass Maciek sofort Lust bekam, ihm ins Gesicht zu schlagen.
– Natürlich bist du gesund. Nur ein Idiot würde das nicht erkennen. – Der Arzt warf ihm einen verächtlichen Blick zu. – Offenbar war der Richter ein Idiot, denn du bist kein guter Schauspieler. Doch ich bin kein Idiot. Typen wie du halten sich für sehr schlau, weil sie es geschafft haben, einen Richter mit psychologischen Paragraphen zu überlisten. Sie suchen sich einen guten Anwalt, der ihnen ein paar Dinge beibringt, dramatisieren vor Gericht, wiederholen dann das Gelernte vor einem Sachverständigen, der vielleicht ab und zu mit dem Anwalt einen saufen geht, und schon haben sie eine Unzurechnungsfähigkeitsbescheinigung. Sie hoffen darauf, dass sie im Krankenhaus dem Arzt schnell beweisen können, wie gesund sie sind, ein Zertifikat erhalten und in die Freiheit zurückkehren können. Und das auf Endlosschleife. – Stolz zeigte er mir den Mittelfinger. – Hier entscheide ich, wann du gesund bist. Ich kann dich so lange hierbehalten, wie ich will. Und das werde ich auch noch lange Zeit tun. Wie lange solltest du im Knast sitzen? Fünf, vielleicht sieben Jahre … Und deine Freunde …?
Er ertrug es nicht länger und schrie den Arzt an. Eigentlich war daran nichts Seltsames, denn so sollte sich ein gesunder Mensch verhalten, wenn er erfährt, dass er die nächsten Jahre in einer psychiatrischen Klinik verbringen wird. Der große Professor, der die Wände seines Büros mit Diplomen tapeziert hatte, hatte keine Ahnung, dass Maciek Gosławski kein gewöhnliches Schlitzohr war. Wie es sich für einen echten Player gehört, hatte er es geschafft, sich eine Alternative zu besorgen, noch bevor sie ihn von der Haft- in die Irrenanstalt gebracht hatten. Dieser Gedanke erlaubte es ihm, sich über Wasser zu halten und seinen Aufenthalt als mäßig erfolgreichen Urlaub in einem heruntergekommenen Ferienort in einem unterentwickelten Land zu betrachten. Er verbrachte viel Zeit damit, verschiedene Konzepte für seine Flucht auszuarbeiten. Als er schließlich einen Plan ausgearbeitet hatte, beschloss er, ihn in die Tat umzusetzen. Alles sollte heute, am Karsamstag, beginnen.
Vor eineinhalb Monaten hatte er einen letzten Brief an seine Tante in Puck geschickt, die einzige Person, die sich offiziell für sein Schicksal interessierte. Seiner Tante war er genau genommen scheißegal. Sie hatte sich gegen ein geringes Entgelt dazu bereit erklärt, als Briefkasten zu fungieren. Er schrieb im Durchschnitt alle zwei Monate. Jeder Brief enthielt einen Haufen Blödsinn, aber er klang plausibel. Im letzten Brief hatte er eine verschlüsselte Nachricht mit Anweisungen versandt. Er wusste, dass Magda damit klarkommen würde. Er konnte sich immer auf sie verlassen, so loyal und klug, wie sie war. Außerdem hatte sie noch nie ihr Wort gebrochen. Er blickte Ostern mit Optimismus entgegen und hoffte, dass er den Ostermontag weit weg vom Irrenhaus in den Armen der Frau, die ihn liebte, verbringen würde. Auf Nimmerwiedersehen, ihr Lutscher! Verrottet doch in diesen Zellen! Hoffentlich lässt euch der Arzt eines Tages raus! Ich ziehe es vor, zu handeln, denn die Welt gehört denen, die den Stier bei den Hörnern packen! Solche Gedanken kreisten bis dato in seinem Kopf. Erst gestern Nachmittag ging alles drunter und drüber, und die Pläne konnten nicht mehr geändert werden.
Das Klappern des Türschlosses riss ihn aus seinen Tagträumen. Schon wieder diese verdammten Probleme, dachte er. Gestern hatten sie ihm einen Zimmergenossen aufgenötigt. Auf den ersten Blick ganz normal. In seinen Vierzigern, etwa eineinhalb Köpfe größer als Maciek, schlank und doch leicht muskulös, hatte helles Haar, einen Dreitagebart und ein sanftmütiges Gesicht. Er blinzelte immer wieder, als ob er eine Brille bräuchte, um besser zu sehen. Er war die Sorte von Mann, die man eine treue Seele nennt, aber solche landen nun mal meist im Irrenhaus. Bei näherem Kennenlernen entpuppte sich der Neue, wie er ihn nannte, als primitiv und unkultiviert. Er schnatterte viel, aber hatte nichts zu sagen. Maciek konnte seine Geschichten über Wälder, das Meer und Rendezvous in Luxushotels nicht so recht Glauben schenken. Auf die Frage, was ihn hierhergebracht habe, antwortete er: „Das Gleiche wie alle anderen hier, die Unzurechnungsfähigkeit.“ Er hatte nicht einmal den Anstand, sich vorzustellen. In der Nacht zuvor hatte er sich angehört wie ein Dieselmotor bei minus zwanzig Grad. Sein Schnarchen übertönte sogar das Gebrüll des Junkies aus dem Nebenzimmer, das zum allnächtlichen Repertoire gehörte. Wegen dieses Junkies beschloss Maciek, dass er niemals Kinder haben wollte. Wenn er sich mehrere Jahre lang jeden Tag dieses Gebrüll anhören müsste, würde er über kurz oder lang wirklich reif für die Irrenanstalt sein. Aber gestern Abend hatte er beschlossen, dass er lieber einen Junkie, der irgendwann müde wurde und einschlief, im Zimmer haben wollte als einen schnarchenden Zimmergenossen. Außerdem hatte der Neue heute Morgen Bauchpressen auf dem Boden gemacht. Er keuchte dabei fürchterlich und stieß laute Fürze aus, die schlimmer rochen als eine tote Ratte. Er machte sie auf die altmodische Art und Weise, mit völlig geradem Rücken. Eine Methode, die in den achtziger Jahren, dem dunklen Zeitalter des Sports, vielleicht als effektiv angesehen wurde. Abgesehen von der Beschädigung der Lenden brachten sie aber nichts, was man auf den ersten Blick sehen konnte. Der Bauch des Neuen war zwar nicht dick, aber die Umrisse von Muskeln waren auch nicht zu erkennen.
Eigentlich war es Maciek egal, ob der Kerl schnarchte oder einen kloakenartigen Gestank hinterließ. Wenn ihm danach war, konnte er Tanzschritte für das Ballett einstudieren oder über vergangene Zeiten rappen, als die Welt noch nicht von Smartphones besessen war, Kameras nicht an jeder Ecke lauerten und die Menschen besser lebten, weil Geld nicht das Einzige war, das zählte. Er hätte sich sogar jeden Morgen einen runterholen können und wäre immer noch besser als die meisten Arschlöcher in diesem Krankenhaus gewesen. Nur hatten sie ihn zwei Tage zu früh geholt! Zwei verdammte Tage hatten bewirkt, dass alles den Bach runterging, und er hatte es immer noch nicht geschafft, sich einen neuen Plan zurechtzulegen. Wütend erhob er sich vom Bett. Er würde sowieso nicht still liegen bleiben können. Der Neue würde gleich beginnen, sein Treffen mit dem Arzt zusammenzufassen und ihn damit zu nerven, oder er würde ihm von einem weiteren teuren Hotel erzählen, in dem er die Gewinnerin eines Wet-T-Shirt-Contests gefickt hatte.
– Was für eine interessante Erfahrung – sagte der Neue, als er die Schwelle überschritt. – Wir haben heute bei der Kunsttherapie gezeichnet. – Er trat ein und gaukelte Ernsthaftigkeit vor.
Von Anfang an hatte er sich verächtlich über Ärzte geäußert.
Der Krankenpfleger ließ den Neuen herein und sprach in einem Ton, der so vollkommen gleichgültig war, dass einem das Herz stehen blieb:
– Gosławski, hier ist jemand für dich. Los geht’s.
Na endlich! Meine Geliebte! Was sagst du dazu, du Verlierer? Geh zurück zu deinen imaginären Tussis, ich treffe mich mit einer echten Frau! Er wollte diese Worte dem Neuen von ganzem Herzen ins Gesicht schreien. Er beherrschte sich und schluckte nur bitter.
– Angeblich ist ’ne Perle vorbeigekommen. – Der Neue fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. – Jedenfalls meinten die Männer in Weiß das. – Er deutete mit seinem Daumen auf den Pfleger. – Viel Spaß, du Glückspilz! Oh, fast hätte ich’s vergessen. Ich habe uns vom Leiter der Klinik Spielkarten organisiert. Zwar bekommen wir vorerst nur den Schwarzen Peter, aber für den Anfang ist das immerhin etwas. Er hat versprochen, sie zu liefern, wenn er wieder zur Arbeit kommt, gleich am Dienstag.
– Wenn er es schafft, nüchtern zu werden – fügte der Krankenpfleger hinzu, der es sich nicht verkneifen konnte, über seinen Chef herzuziehen.
Der Neue brach in Gelächter aus. Maciek stand vom Bett auf, unterdrückte mühsam seine Gefühle und folgte dem Krankenpfleger in den Besuchsraum.
Konrad wartete, bis dieser strohdumme Milchbubi, mit dem er eine Zelle teilte, gegangen war und der Kraftprotz in weißer Kleidung endlich die Tür schloss. Endlich war er allein, er konnte aufhören, künstlich zu lächeln. Seine Reißzähne so vor dem Arzt zu entblößen, bereitete ihm Kieferschmerzen. Der Narr hatte sich eingebildet, dass er noch vor den Feiertagen mit ihm sprechen müsse. Er versicherte ihm, dass er am Karsamstag speziell für ihn zur Arbeit gekommen war.
Kein Wunder, dachte Konrad. Er hatte die Akte natürlich gelesen und freute sich auf das Treffen unter vier Augen.
Er lächelte oft wie ein Zurückgebliebener, vor allem bei Treffen mit Entscheidungsträgern in den Einrichtungen, in denen er sich befand. Er tat dies seit dem Moment, als der Berufungsrichter sein Urteil verkündete: Unzurechnungsfähig, er kann nicht für seine Taten verantwortlich gemacht werden. Es sollte eine Überweisung zur psychiatrischen Behandlung erfolgen.
Er streckte sich bequem auf dem Bett aus. Die Matratze war weich … Einst die Norm für ihn, hatte er sich nie für ein in ein Laken eingewickeltes Stück Schwamm, das seinen Hintern liebkoste, begeistert. Ein Jahr im Gefängnis und weitere fünf in einem psychiatrischen Hochsicherheitskrankenhaus änderten seine Einstellung. Ein hartes Bett und elende Zimmergesellen, die den Patienten des Arkham Asylum ähnelten, zeigten ihm, dass man kleine Dinge zu schätzen wissen sollte. Im Knast hatte er mit einem Gangster, einem Ehefrauenmörder und irgendeinem Lauch aus der Welt der Politik, der zu viel Geld gestohlen und damit die damaligen Machthaber verärgert hatte, eine Zelle geteilt.
Der Politiker hatte es am schwersten. Sie hatten ihn einstimmig als Knastflittchen abgestempelt. Gleich in der ersten Nacht erfuhr Konrad, was dieser Titel bedeutete. Der Gangster war der Erste, der das Knastflittchen in den Arsch fickte. In der zweiten tat es ihm der Ehefrauenmörder nach. Beim dritten Mal war er an der Reihe. „Wir werden sehr lange zusammenleben, man könnte sagen, wir sind schon eine Familie. Die Regel ist einfach: Entweder du fickst, oder du wirst gefickt.“ So erklärte der Gangster die strengen Regeln in ihrer, wie er es ausdrückte, Wohnung.
Konrad verstand die Worte des Richters, die er bei der Urteilsverkündung in seinem ersten Prozess gesprochen hatte: „Ein Verbrechen wie das des Angeklagten gibt einer lebenslangen Freiheitsstrafe erst seinen Sinn. Selbst wenn es in unserem Land die Todesstrafe gäbe, würde ich Ihnen diese Gnade nicht gewähren. Der Angeklagte verdient es, in einer Mehrpersonenzelle zu leben und bis ans Ende seiner Tage für die von ihm verübten Gräueltaten zu büßen.“ Er hatte keine andere Wahl, er musste ficken. Er durchlebte einen Albtraum, aber er kämpfte die ganze Zeit für eine bessere Zukunft.
– Hol mich hier raus! Diese Typen sind ekelhaft. Noch ein bisschen, und ich werde mich wie sie verhalten. Es muss einen Weg geben, dieses Urteil zu ändern – beklagte er sich bei seinem Anwalt. – Was brauchst du? Mehr Geld? Ich habe Geld. Wenn du jemanden bestechen musst, dann tu es! Ich muss weg von hier!
Der Anwalt war spitze, obwohl er ihm das Geld schneller aus den Taschen zog als das Finanzamt. Die erfolgreiche Berufung hatte ihn allerdings pleite gehen lassen, doch nach einem Jahr des Kampfes bekam er die Unzurechnungsfähigkeitsbescheinigung, die er wollte. Das Berufungsgericht musste von der Annahme ausgegangen sein, dass ein solches Verbrechen nur von einem psychisch kranken Mann begangen werden konnte. Die Psychiater, die mit seinem letzten Geld bezahlt wurden, sprachen sich einstimmig für eine Änderung des Urteils aus.
Er machte sich nichts vor … Für das, was er getan hatte, würde ihn in den nächsten zwanzig Jahren kein Arzt entlassen, und das Schmiergeld war ihm bereits ausgegangen. Die frühere Einrichtung unterschied sich nicht wesentlich von einem Gefängnis. Obwohl ihm niemand befohlen hatte, ein Knastflittchen zu ficken, konnte das Personal tun und lassen, was es wollte. Medikamente, die ihn glauben ließen, die Welt in Schwarz-Weiß zu sehen, Spritzen, die panische Angst verursachten, und Eiswasser und Zwangsjacken waren an der Tagesordnung. Das einzige Plus war der Zugang zum Internet einmal pro Woche. Alle Patienten sahen sich hauptsächlich Bilder von Frauen an. Er war da keine Ausnahme, aber im Gegensatz zu diesen hirnlosen Kreaturen sah er sich gelegentlich Nachrichtenseiten an. Er fühlte sich dort nicht wohl. Der Anwalt versprach ihm, für eine Verlegung in eine Einrichtung zu kämpfen, in der die Behandlung auf einem viel höheren Niveau erfolgte und, vor allem, das medizinische Personal weniger sadistisch war. Er empfahl sogar eine bestimmte Einrichtung. Leider hatte er nicht vor, selbst einen Finger zu rühren.
– Du hast keine Kohle mehr, und nur wer Dampf macht, fährt weiter. Sei froh, dass du einen kostenlosen Rat bekommen hast – sagte er bei ihrem letzten Gespräch.
Konrad befolgte den Rat des Anwalts. Er schrieb eine Petition an die wichtigsten Psychiater des Landes und bat um eine Versetzung. Er begründete seinen Antrag damit, dass er eine weitere Behandlung in einer anderen Einrichtung versuchen wolle, da er in dieser keine Fortschritte mehr mache. Er stand unter schwerem Schock, als die Entscheidung zur Versetzung kam. Trotz seines Unwillens lächelte er, als er sich an diesen schönen Tag erinnerte. Der neue Ort ähnelte einem idyllischen Pfadfinderlager. Ein harmloses Kind in der Zelle, Ruhe auf den Gängen, ein Arzt, der ein Idiot, aber kein Sadist war, ein weiches Bett, viel Freizeit außerhalb der Zelle und sogar ein Raucherzimmer. Was kann man sich mehr wünschen?
– Fast wie das Ritz – sagte er zu sich selbst.
Er rückte sein Kissen zurecht und faltete die Hände hinter seinen Kopf. Er schloss die Augen. Er dachte an den Moment, der ihn dazu gebracht hatte, seine Freiheit zu verlieren. Er erinnerte sich jeden Tag daran und bedauerte es nie. Es hatte ihm so viel Spaß bereitet, dass er es gerne noch einmal erleben würde.
Sie sah ihn zum ersten Mal seit der Urteilsverkündung. Damals hatte sie sich zum einzigen Mal während des gesamten Prozesses auf die Zuschauerbank gesetzt. Er hatte sich nicht sehr verändert, vielleicht ein bisschen abgenommen. Er trug ein graues, pyjamaartiges Kleidungsstück, das sein tatsächliches Gewicht verschleierte. Seine Augen waren eingesunken, er schien müde zu sein. Bis auf diese Tatsache jedoch, war er immer noch derselbe süße Junge von der Clique aus ihrer Wohnsiedlung, in den sie sich als Teenager verliebt hatte. Sie spürte immer noch Schmetterlinge im Bauch, wenn er sie mit lüsternen Augen ansah. Er gab ihr immer das Gefühl, eine Prinzessin zu sein.
– Viel Spaß, ihr Turteltäubchen. – Der Krankenpfleger schloss die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss um.
– Madzia … – seufzte er zur Begrüßung.
Er lief auf sie zu, umarmte sie zärtlich und drückte seine Nase in ihren Nacken. Sie hatte extra die Kokosnusslotion benutzt, die er so sehr mochte. Er selbst stank wie eine Apotheke. Genau wie jene, die in ihrer Kindheit zwischen dem Schnapsladen und dem Videokassettenverleih in ihrer Wohnsiedlung gelegen war. Sie hatten beide dort Medikamente gekauft, ohne sich der Existenz des anderen bewusst zu sein. Sie waren aneinander vorbeigelaufen.
– Es gibt nichts, was ich mehr vermisst habe als deine Wärme. – Er schmiegte sich an sie wie ein Kleinkind an seinen Lieblingsteddy. – Gott, wie ich dich vermisst habe.
Er griff ihr an den Hintern. Sie quiekte vor Schmerz. Er wich von ihr zurück.
– Tut mir leid, ich hab’s vergessen – flüsterte er und deutete mit dem Daumen auf die Tür. – Ist eine dicke Tür, also wahrscheinlich nicht von innen verwanzt, aber wir sollten vorsichtig sein.
– Kann ich das jetzt rausnehmen? – fragte sie mit einem bitteren Grinsen auf den Lippen. – Ich schwöre, meine Jungfräulichkeit zu verlieren, hat nicht so weh getan wie das.
Sie bezahlte für das Verstecken der Schmuggelware mit monströsen Schmerzen. Seit sie den Besuchsraum betreten hatte, hatte sie sich nicht ein einziges Mal hingesetzt. Sie stand und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab, um ihren Beinen wenigstens ein wenig Ruhe zu gönnen. Der Transport der Schmuggelware war wie eine ausgeklügelte mittelalterliche Folter, bei der sie auch noch lächeln musste, und sie konnte die Ware nicht sofort herausholen, weil der Wachmann es hätte bemerken können, als er Maciek hereinbrachte.
– Ja, Prinzessin, natürlich … – sagte er verlegen.
Magda hob ihren Rock an, während Maciek die schwarzen Strümpfe um ihre runden Schenkel betrachtete. Sie schob ihr Spitzenhöschen hoch, schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Sie entledigte sich der in einer Plastiktüte verpackten Ware. Sie hatte sie sehr tief hineingeschoben. Sie hatte lange Zeit gelernt, damit zu laufen. Sie übte zu Hause vor dem Spiegel und achtete sorgfältig darauf, dass die Grimasse in ihrem Gesicht nicht zu sehen war. Der Moment, als das Paket endlich aus ihr trat, war wie eine Erlösung.
– Genau das, was du wolltest. – Sie wischte ihre Tasche an ihrer Bluse ab, nahm das Paket heraus und legte es auf den Tisch. – Ein taktischer Kugelschreiber mit einem versteckten Messer im Inneren. Natürlich habe ich ihn schon modifiziert, und er ist weit von einer Serienversion entfernt. Anstelle eines Messers, mit dem man nicht einmal ein dickes Kabel durchschneiden würde, hat es eine Klinge, mit der man Stacheldraht oder sogar Glas schneiden kann. Die zweite Klinge ist viel feiner, genau richtig für einen leichten Schnitt in die Haut – präsentierte sie stolz. Jahrelang hatte sie gelernt, wie man die Ausrüstung für das gesamte Team modifiziert. Sie war großartig darin, und die Beschreibung der einzelnen Geräte hatte eine erregende Wirkung auf sie. – Ich habe die grobe Klinge mit einem roten Punkt markiert, die feine mit einem blauen. Mach bloß keinen Fehler.
Er seufzte. Er war zu gut in seinem Handwerk, um einen Fehler zu machen.
– Ich habe drei Miniaturdietriche in das Set aufgenommen. Sie haben viel Platz in Anspruch genommen, weshalb der Stift keine Mine hat. Und jetzt komm her. – Sie setzte sich auf den Tisch und legte ihr linkes Bein auf die Stuhllehne. Sie zeigte mit dem Finger auf ihre Muschi. – Nach dieser harten Arbeit braucht sie besonders viel Zuneigung. Außerdem sind sechs Monate alleine Perleputzen viel zu lang.
Seitdem sie Maciek eingesperrt hatten, war sie schon oft in Versuchung geraten. Zum Beispiel war da dieser gut aussehende Feuerwehrmann, der gegenüber ihrer früheren Wohnung wohnte und sich eindeutig zu ihr hingezogen fühlte. Der Eigentümer der Wohnung nebenan, ein kleiner Scheißer mit einem weißen BMW, der die Wohnung von Daddy geschenkt bekommen hatte, schlug ihr vor, dass sie, im Gegenzug für einen schnellen Fick, einen Rabatt bekommt. Er war nicht schlecht gebaut und ziemlich attraktiv, aber sie verscheuchte ihn trotzdem und zahlte die volle Miete. Und vorgestern, als sie in die Wohnung der Familie zurückgekehrt war, versuchte der heißeste Kerl des Blocks, bei ihr zu landen. Es nützte nichts, er konnte nur weiter träumen. Maciek gab ihr viel mehr als Sex. Sie vermisste ihn und schlief manchmal mit ihrem Kopf an sein schwarzes T-Shirt gekuschelt oder trug seine Boxershorts. Sie lief oft in seinen Sweatshirts herum. Voller Sehnsucht fuhr sie nach Puck, um die Briefe von seiner gemeinen Tante abzuholen. Sie untersuchte sie sorgfältig und suchte nach den vereinbarten Zeichen. Jetzt wusste sie, dass sie das spätestens morgen so oft tun konnten, wie sie wollten, bis sie atemlos waren, so oft sie nur Lust und Laune dazu hatten. Doch sie wollte nicht warten, sie wollte sich ihm hingeben, hier, auf dem Tisch in dieser ekelhaften Klapsmühle. Sie wollte ihm etwas schenken, damit er für eine Weile die Probleme des Lebens in der Gefangenschaft vergisst.
– Du siehst göttlich aus, dieses blonde Haar und die Kleider … So etwas hast du noch nie getragen – seufzte er bedauernd. – Aber wir haben keine Zeit mehr, Liebling.
– Stimmt etwas nicht? – Sie sah ihn verwirrt an. Seine Reaktion brachte sie völlig aus dem Konzept. Maciek hatte noch nie Sex abgelehnt, im Gegenteil, es schien ihr, dass er sich nie befriedigt genug fühlte. – Ich habe die Anweisungen befolgt. Ostersamstag, Dietriche, zwei Messer, Flucht. Jetzt, wo wir das geklärt haben, spricht nichts mehr dagegen, sich daran zu erinnern, wie die Freiheit schmeckt. Du könntest die zusätzliche Motivation gebrauchen. – Sie fuhr mit der Handfläche über ihren Oberschenkel. – Schließlich werden wir nicht darüber reden, was passiert ist, als sie dich abgeholt haben. – Allein beim Gedanken an diesen denkwürdigen Tag spürte sie einen Stich im Magen. – Dafür werden wir noch genügend Zeit haben, wenn du frei bist. – Sie wollte nicht zu diesen Momenten zurückkehren, nicht jetzt.
– Kleines, du weißt gar nicht, wie sehr ich mir das wünsche – zischte er enttäuscht. Sie bemerkte eine starke Erektion, die sich durch seine Pyjamahose abzeichnete. – Doch gestern ist alles den Bach runtergegangen. – Er legte seine Arme um ihre Hüften. Seine Hände waren immer noch kräftig. Seine Berührung gab ihr immer ein Gefühl der Sicherheit. – Ich habe meinen Fluchtplan ausgearbeitet, als ich allein in der Zelle war. Gestern habe ich einen Zellengenossen bekommen. Ich weiß nicht, was ich tun soll!
Die Erektion verschwand, und Panik kam bei ihm auf. Genau wie bei der Urteilsverkündung. Die Polizei hatte ihnen dann fünf Minuten Zeit gegeben, bevor sie ihn abführten. Sie unterhielten sich im Gerichtsflur, und statt eines starken Mannes sah sie einen verängstigten Jungen, der um jeden Preis so tun wollte, als sei er stark. Er sagte, es sei nichts passiert, schließlich sei er nur in einer psychiatrischen Klinik, aber seine Augen schrien: „Hilf mir! Rette mich!“ Vielleicht war das das Einzige, das Maciek mehr liebte als sie, die Freiheit. Das hatte er ihr schon oft gesagt: „Kleines, nichts schmeckt so gut wie die Gewissheit, dass du jeden Tag mit deinem Leben machen kannst, was du willst.“ Er küsste sie, umarmte sie und bat sie, ihm zu versprechen, dass sie ihm auf jeden Fall helfen würde, wenn er irgendwelche Probleme hätte. Sie versprach es bei vollem Bewusstsein. Sie versicherte ihm auch, dass sie ihm immer treu sein würde. Maciek hatte ihr Herz schon längst gewonnen. Sie liebte ihn in guten wie in schlechten Zeiten. Sie einigten sich auf verschlüsselte Botschaften. Sie hatten längst erarbeitet, wie man sie mit dem gesamten Team schreibt, um sie im Falle einer prekären Situation einzusetzen. Sie hatten eine Menge Spaß gehabt und das System nicht ganz ernst genommen. Schließlich unterlaufen so gerissenen Diebesbanden doch keine Missgeschicke. Nun waren zwei von ihnen tot, und der Dritte war ein Invalide. Das Dream-Team hatte sich aufgelöst, sie waren allein. Das war wahrscheinlich das Beste für sie. Trotz der vielen schönen Erlebnisse, die sie miteinander geteilt hatten, war sie immer auf Distanz zu diesen Freaks gegangen. Sie erinnerten sie zu sehr an ihren Bruder. Sie dachten auch, die Welt gehöre ihnen, obwohl sie sich der Scheiße, in der sie steckten, sehr wohl bewusst waren.
– Maciek, beruhige dich. – Sie legte ihre Hände auf seine Wangen. – Du musst einen kühlen Kopf bewahren, schon vergessen? Das hast du mir immer gesagt. Und auch wenn du einen Mithäftling hast, wird der dich schon nicht aufhalten.
– Mitpatient, so nennt uns der Arzt – korrigierte er ironisch.
Er beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr Punkt für Punkt alles zu, was er heute Abend zu tun gedachte. Bisher hatte sie es nur vermutet, jetzt war sie sich sicher. Sie war stolz auf ihren Freund. Maciek hatte einen tadellosen Fluchtplan ausgearbeitet. Der Mithäftling hatte die Situation zwar etwas verkompliziert, aber was soll’s! Schließlich sind wir im Irrenhaus, nicht im Gefängnis. Ein Bekloppter im Vergleich zu vier Häftlingen in einer Zelle ist für jemanden mit Macieks Fähigkeiten völlig trivial.
– Halt dich an den Plan – sagte sie. – Wenn du es vor der Visite tust, hat der Mitpatient, oder wie auch immer man ihn nennt, keine Zeit zu reagieren. Vielleicht merkt er es nicht einmal. Du weißt, wie gut du darin bist, oder?
Er nickte, aber ohne Überzeugung.
– Außerdem fällt dir jetzt nichts Besseres ein, und da sie dir bereits einen Zimmergenossen zugeteilt haben, wirst du so schnell wohl kein Einzelzimmer bekommen. Möglicherweise werdet ihr zu dritt wohnen … – sagte sie. Das sollte ihm zu denken geben.
Sie küsste ihn leidenschaftlich und legte ihr Bein auf seine Schulter.
– Lass den Quatsch und erinnere dich daran, wie du hierhergekommen bist. Du hast die Polizei verarscht und hast jetzt Angst vor einem Irren?
– Du hast recht, Prinzessin – antwortete er sichtlich ermutigt. – Kein Verrückter wird sich mir in den Weg stellen. – Er schob seine Hände unter ihren Rock und griff gierig nach ihren Pobacken. – Noch einen Moment, und dann habe ich dich ganz für mich allein. Weg von den geschlossenen Anstalten. – Er begann, ihren knackigen Po zu betatschen. Die Panik verflog, die Erektion kehrte zurück und mit ihr das Vertrauen. Maciek war wieder er selbst. – Hol das Auto und warte ab zweiundzwanzig Uhr auf dem Parkplatz an der Mauer auf der Ostseite des Gebäudes. – Er ließ seine Hände an ihrem Körper hinuntergleiten, bis er das Ende ihrer Strümpfe erreichte. Der Kontakt der kalten Hände mit ihren heißen Schenkeln ließ sie glücklich aufstöhnen. – Vergiss nur nicht, ein neues Auto klarzumachen. Je später sie es als gestohlen melden, desto weiter kommen wir, ohne das Auto austauschen zu müssen.
Sie wusste genauso viel über den Job wie er, vielleicht sogar noch mehr. Aber er musste sie trotzdem belehren. Diese männliche Selbstgefälligkeit war eine der wenigen Eigenschaften, die sie an Maciek verabscheute.
– Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. – Sie griff ihm in den Schritt. Er fletschte vor Aufregung die Zähne. – Ich bin auch ein Profi. Ich weiß, was zu tun ist. – Und mit einer geschickten Bewegung zog sie ihm die Pyjamahose herunter.
Er verließ den Besuchsraum völlig erschöpft. Die intime Nähe zu Magda vertrieb alle Ängste. Schon ihr Anblick war motivierend genug, und dann noch dieses Outfit … Sie hatte noch nie einen Minirock oder Stilettos getragen, obwohl er sie schon so oft darum gebeten hatte. Er wusste, dass sie es hauptsächlich tat, um den Krankenpfleger auszutricksen. Der Trottel durfte aber nur gucken. Magda gehörte ihm. Heute würde er aus diesem Irrenhaus ausbrechen, und nichts würde sie mehr trennen. Selbstbewusst schritt er, in Begleitung eines Kraftprotzes, durch die Gänge und wiederholte in Gedanken seinen Plan. Die letzte Runde der Visiten würde in dreieinhalb Stunden beginnen. Er würde das Taschenmesser bereithalten, das mit dem blauen Punkt, und wenn er den Pfleger kommen hört, schneidet er leicht in die Haut in der Nähe der Venen. Der Neue würde nichts bemerken, und das Blut an den Handgelenken würde als Argument ausreichen, um ihn zurück auf die Krankenstation zu schicken. In seinem Fall mussten die Krankenpfleger besonders auf Anzeichen von Selbstmordversuchen achten. Seit er eingesperrt wurde, hatte er nicht ein einziges Mal versucht, sich umzubringen. Daher würden die Pfleger den unerwarteten Versuch, insbesondere nach dem Besuch seiner Geliebten, als Warnsignal ansehen. Er hatte seine Flucht bewusst für Karsamstag angesetzt.
Vor Heiligabend hatte er ein Gespräch mitbekommen. Sie sagten, dass an kirchlichen Feiertagen kein Arzt im Krankenhaus Dienst habe. Sie müssten sich jeden Tag mit den Irren herumschlagen, der geschätzte Herr Doktor nehme sich offiziell frei, und sein Chef lasse ihn auch noch. Völlig besoffen komme er nur, wenn es einen dringenden Fall gebe. Die Krankenstation scheißt aufs Arbeiten an Feiertagen, und das Schlimmste ist, dass es immer so ist, egal, ob an Weihnachten, Ostern oder am verdammten Allerheiligen.
Heute ist in der Krankenstation nur eine Krankenschwester im Dienst. Sie wird schnell feststellen, dass Macieks Wunden nur oberflächlich sind und sein Leben nicht in Gefahr ist. Sie befiehlt dem Kraftprotz, ihn ans Bett zu fesseln, gibt ihm eine Beruhigungsspritze und starrt dann wieder auf den Fernseher oder ihr Smartphone-Display. Einfacher geht es nicht, dachte er, als er den Korridor entlangging. Der Krankenpfleger kam nicht auf die Idee, ihn zu durchsuchen, nachdem er den Besuchsraum verlassen hatte. Dafür gab es keinen Grund. Er hatte Magda zuvor am Eingang gründlich kontrolliert. Daher fand er nicht die Schmuggelware, die Maciek in seiner Unterhose versteckte und sicher in seine Zelle brachte.
Als er eintrat, lag der Neue auf dem Bett und hielt die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er hatte einen Gesichtsausdruck, als ob er mit seinen Gedanken weit weg war.
– Na, wie war’s beim Ficken? – fragte er, ohne sich vom Bett zu erheben, als er seine Anwesenheit bemerkte.
Am liebsten hätte er ihm mit dem Stiefel in die Eier getreten und ihm dann die Nase platt gehauen. Was denkt dieser alte Wichser sich? Sex mit seiner Madzia mit ordinärem Ficken zu vergleichen, wie mit irgendeiner billigen Schlampe!
– Es war nicht nur ein Fick, es war ein Date. Leider ohne Blumen, Kerzen und Champagner – antwortete er ruhig und behielt einen kühlen Kopf. Ein Handgemenge mit einem Mitpatienten war das Letzte, das er sich jetzt leisten konnte. Ruhig, immer ruhig bleiben, erinnerte er sich in Gedanken.
– Wenn du es als Date ansiehst, deine Freundin im Besuchsraum zu vögeln, dann ist das eben so! – Der Neue lachte laut. – Früher hatte ich auch Verabredungen, richtige Verabredungen, mit Kerzen und Champagner. Ich schenkte selten Blumen, sie bevorzugten Seifenblasen, die Wärme von Kerzen und männliche Gesellschaft. Die Perlen von heute stehen meist vor dem Spiegel oder machen grenzdebile Fotos von sich. Eine Generation von faulen Müßiggängern – seufzte er. – Früher gab es noch richtige Frauen …
Früher, früher, früher. Die Hälfte seiner Sätze begann er mit „früher“. Ja klar, du Lauch, dachte Maciek, war früher einmal alles besser. Städte, Arbeit, Wirtschaft, Kneipen, sogar die verdammten Muschis. Je länger er diesem Tölpel zuhörte, desto mehr kam es ihm vor, als würde er mit einem verdammten Dinosaurier sprechen, der der Meinung war, dass die Welt mit dem Ende seiner Jugend untergehen sollte.
– Das bezweifle ich nicht. – Er war nicht in der Lage, etwas anderes zu sagen, ohne sich auf einen scharfen Schlagabtausch einzulassen, wozu er keine Lust hatte.
Morgen wirst du weiter Scheiße darüber labern, wie es früher so war, nur eben ohne Gesprächspartner, und ich werde in der Zwischenzeit eine Flasche echten Champagners mit Magda trinken, auf dein Wohl, sagte er in Gedanken.
Er zog seine Schuhe aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Er schaute auf die Uhr, die an der Wand neben dem Fenster knapp unter der Decke hing. Er fing an, die Zeit herunterzuzählen. Die letzte Visite rückte näher und näher.
– Wirst du dich jetzt an das heutige Date unter der Bettdecke erinnern? – fragte der Neue völlig ernsthaft. Hatte er bemerkt, dass Maciek seine Hand in seine Hose gesteckt hatte? Unmöglich, er starrte doch an die Decke. – Ich hab Taschentücher, wenn du willst.
Er nervte ihn furchtbar. Gestern war ihm die Aufdringlichkeit dieses Mannes nicht aufgefallen. Der erste, recht gute Eindruck hatte sich inzwischen verflüchtigt. Jetzt trieb er ihn in den Wahnsinn. Er wollte sich konzentrieren, alles in seinem Kopf wiederholen, um mögliche Fehler zu erkennen, die ihm vorher nicht aufgefallen sind.
– Nein, ich werde mich ausruhen.
Am besten wäre es, die Augen zu schließen und so zu tun, als ob er schlafen würde. Vielleicht würde der Neue sich endlich verpissen oder selbst einschlafen. Aber es bestand die Gefahr, dass er zu sehr abdriftete und den richtigen Moment verschlief, und das wäre eine Katastrophe. Er zog diskret den Kugelschreiber aus seiner Hose und legte ihn unter seinen Oberschenkel an die Seite der Wand. Davon durfte der Neue nichts mitbekommen.
– Da wir dazu verdammt sind, Ostern zusammen zu verbringen, warum erzählst du nicht von deinem Besuch? – Dieser Primitivling wollte nicht aufgeben. – Das ist allemal besser, als auf die Uhr zu starren. Zeit ist das Einzige, von dem wir genug haben.
Maciek bereitete den Stift langsam vor. Ursprünglich war es geplant, dass er sein Gerät auf das Bett legt, es sich genau ansieht und in Ruhe auseinandernimmt. Mit einem Zimmergenossen konnte er sich das nicht leisten. Er musste im Dunkeln arbeiten. Die von Magda gebauten Utensilien folgten immer einem bestimmten Muster. Sie wurden in der Mitte abgeschraubt, dann musste man fest auf das Gewinde drücken, damit sich das letzte Schloss löste. Der Bausatz wurde mit einem Klettverschluss zusammengehalten, sodass er leicht an der Kleidung befestigt werden konnte.
– War ein intimes Treffen. Gibt nichts zu erzählen! – erklärte er in einem unhöflichen Ton und fuhr mit den Fingern über den Stift. Er spürte, wie der obere Teil sich langsam löste.
– Kein Ding, ich verstehe – antwortete der Neue. – Als ich in deinem Alter war, hatten wir eine ganz andere Vorstellung von Intimität …
Und es hatte begonnen! Der Vortrag des Neuen darüber, wie großartig die Dinge früher gewesen waren. Er redete ununterbrochen, genau wie eine Sex-Hotline, die die jungen Leute zu seiner Zeit an kalten Winterabenden anriefen, weil es noch keine ausgeklügelten Zeitkiller wie die PlayStation gab. Er sprach über damalige Dates. Er betonte, dass in den Tagen seiner Jugend ein Mann und eine Frau Erfahrungen austauschten, Ansichten teilten und nicht Fotos und Apps auf dem Handy. Er sprach mit Verachtung darüber, als ob die Nutzung von Smartphones bei der Partnersuche die Menschen automatisch minderwertig mache. Maciek nickte stumpf und täuschte Interesse vor. Auf diese Weise konnte er sich in Ruhe vorbereiten. Er hatte sogar das letzte Schloss entfernt. Mit seinen Fingern zeichnete er zwei messerartige Klingen und drei dünne, lange Metalldietriche nach. Er berührte die Klingen vorsichtig und fürchtete sich vor der Klinge mit dem roten Punkt. Er wusste, dass, wenn Magda sagte, sie sei scharf, sie in der Tat sehr scharf sein musste. In der Zwischenzeit hatte sich der Neue so richtig in Fahrt geredet. Er ging zu den wirtschaftlichen Themen über. Er sprach darüber, wie die Kommunisten und die „Solidarność“-Bewegung die Polen über den Tisch gezogen hatten, und über den Betrug bei der Übernahme von Banken und Wechselstuben. Er war schlimmer als die alte Fotze, die Maciek in der Schule in Biologie unterrichtet hatte. Dann war es Zeit für eine weitere Wirtschaftsvorlesung. In den frühen neunziger Jahren importierte der Neue Computer aus Deutschland. Er erzählte, wie sehr er vom Finanzministerium über den Tisch gezogen wurde und wie hart er arbeiten musste, um in den Stahlmarkt einzusteigen, der stark von staatlichen Aufträgen und Lizenzen abhängig war. Er hatte sich völlig in seiner Geschichte verloren, sodass Maciek nicht einmal mehr zustimmend nicken musste.
Er hoffte, dass der alte Sack, der in seine eigenen Ideen vertieft war, nicht bemerken würde, wie er eines der Messer für einen kurzen Moment herausholte. Er musste es tun, er musste mit Daumen und Zeigefinger prüfen, welche Klinge er in der Hand hielt. Er zog blindlings eine heraus. Falls er seine Haut mit der roten schnitt, würde der Plan scheitern. Die Krankenschwestern würden wahrscheinlich das Messer konfiszieren und mit dem blauen würde er nicht den Stoff durchschneiden, mit dem sie ihn später ans Bett fesseln würden. Er wird nur einmal hinsehen. Er wird sich vergewissern, dann das richtige Messer auf das Bett legen, den Rest des Sets mit Klettverschluss an der Innenseite seiner Hose befestigen und den abgebauten Kugelschreiber in die Matratze stecken. Den Moment, als der Neue über die damalige Sozialversicherung in Höhe von dreihundert Złoty im Monat mit der Sentimentalität, mit der man über eine Jugendliebe spricht, die gereift und eine alte, vertrocknete Pflaume geworden war, sprach, empfand er als angemessen. Der Typ war völlig weggetreten. Er redete über die horrenden Preise heutzutage. Er behauptete, man hätte sie herbeigeführt, um das übrig gebliebene Geld seiner Generation zu stehlen, bevor die neue Generation das Land in den Ruin treiben würde. Was er in seiner Predigt nicht erwähnte, war das Wichtigste, und zwar dass nur ein Lauch Steuern und Sozialversicherung zahlt. Wahre Player verdienten Geld ausschließlich für sich selbst.
Zufrieden mit seinen Gedanken streckte Maciek für einen Moment seine Hand aus, die kaum unter der Bettdecke hervorlugte. Das Licht wurde von einer Klinge, die einem kleinen Finger glich, reflektiert. Der Griff war noch kleiner, leicht und aus Aluminium gefertigt. Auf ihm hatte Magda einen blauen Punkt hinterlassen. Er erkannte ihn direkt, ein gutes Zeichen. Er verstaute seine Hand kurz unter der Bettdecke. Er führte die Klinge an sein Handgelenk und schnitt sich leicht in die Haut.
So sieht das also aus. Ich schneide mich auf, bis das Blut spritzt … beschissen. Ist doch einfacher, sich eine Kanone an die Rübe zu halten und das Problem mit einem Schuss zu lösen.
– Überprüfst du, ob die Waffe was taugt?
Zuerst verschmolz die Frage des Neuen mit seiner Rede, und Maciek hatte den Eindruck, dass er seine eigenen Gedanken hörte. Erst als der Wortschwall aufhörte, bemerkte er, dass der Neue auf dem Bett saß und ihn genau beobachtete.
Als er von seinem Besuch zurückkam, kletterte der kleine Mistkäfer unter die Bettdecke und begann, an seinen Eiern zu spielen. Der Neue war sich sicher, dass er sich keinen runterholen würde. Er hatte schon viele Leute im Knast masturbieren sehen. Keiner von ihnen verhielt sich schüchtern, und Maciek berührte sich wie eine Jungfrau, die Lust hat, aber sich schämt, etwas zu sagen. Er vermutete sofort, dass das Mädchen ihm ein Geschenk mitgebracht hatte. Zuerst dachte er, sie hätte ihm einen Joint, eine Tüte Kokain oder ein anderes Aufputschmittel mitgebracht, das seine Generation wahllos schluckte. Er hatte absichtlich begonnen, von den guten alten Zeiten zu schwafeln, weil er wusste, dass nichts die Kleinen so zum Einschlafen brachte wie das Gerede alter Männer über die glorreiche Vergangenheit. Er hatte nicht Unrecht. Der Junge nickte mit dem Kopf wie ein Wackeldackel. Er täuschte Interesse vor und kramte abwesend unter der Bettdecke. Er dachte, er wäre diskret. Der Neue fuhr mit seiner Geschichte fort und beobachtete die Bewegungen des kleinen Scheißers aus dem Augenwinkel. Als er zu den Zahlen, der Sozialversicherung und der Beleidigung junger Menschen überging, hörte Maciek auf, so zu tun, als sei er interessiert, denn offenbar war er so dumm, dass er nicht zwei Dinge gleichzeitig über einen längeren Zeitraum hinweg tun konnte.
Der Lichtblitz, der von der Stelle reflektiert wurde, an der die Decke des kleinen Scheißers endete, erschien für weniger als eine Sekunde. Es kam für ihn völlig überraschend. Der Junge hatte etwas Glänzendes, wahrscheinlich etwas Scharfes! Was auch immer es war, eine Glasscherbe, ein Taschenmesser oder eine andere Klinge. Es spielte keine Rolle, wie er es reingeschmuggelt hatte. Das Herz des Neuen schlug schneller. Es war schon lange her, dass er einen scharfen Gegenstand gesehen hatte. Im Gefängnis schärften einige Häftlinge Löffel, aber nur, um persönliche Rechnungen zu begleichen. Das vorherige Krankenhaus hatte ein schrecklich strenges Regime. Sogar das Besteck war aus Plastik. Er plapperte sinnlos, um die Wachsamkeit des Kleinen zu minimieren, und setzte sich leise im Bett auf. Er hatte es nicht einmal bemerkt. Er war mit etwas anderem beschäftigt. Selbstmord? Eher zweifelhaft. Flucht? Dazu fehlte es ihm an Intelligenz. Vielleicht hatte er einen Streit mit jemandem hier und wollte das Problem endlich lösen? Was auch immer der kleine Scheißer vorhatte, er hat eine Waffe, und das bedeutete, dass Ostersamstag der letzte Tag sein würde, den er, Konrad Mączyński, auf der falschen Seite der Mauer verbrachte. Er würde heute entkommen, auch wenn er alle in diesem Irrenhaus töten müsste.
***
Der Anblick des Neuen, der auf dem Bett saß, ließ ihn einen Moment lang erstarren. Er war buchstäblich regungslos. Bis zum Hals von der Bettdecke zugedeckt, hatte er das blaue Messer auf dem Handgelenk liegen. Er starrte ihn erstaunt an.
Wann ist dieser alte Mann aufgestanden, und woher weiß er, dass ich eine Waffe habe? Diese Frage stellte er sich immer wieder. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen. Im selben Moment schoss der Neue wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe und landete auf festem Boden vor seinem Bett. Er warf die Bettdecke weg und enthüllte Macieks Geheimnis. Das Ganze dauerte weniger als drei Sekunden. Maciek blieb keine Zeit zu reagieren.
– Ich nehme an, du hast nicht vor, dir die Pulsadern aufzuschneiden – sagte der Neue, als er die Klinge auf seinem Handgelenk liegen sah. – Niemand, der bei Verstand ist, nimmt sich kurz nach dem Sex das Leben, oder? – fragte er spöttisch.
Maciek hatte nicht einmal Zeit, sich eine Antwort zu überlegen. Die kräftige Pranke des Neuen packte ihn am Hals, die andere entzog ihm das Messer.
– Was auch immer du vorhattest, vergiss es. – Der Neue betrachtete die Klinge, und eine gewisse Begierde stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er lächelte das Messer an, drückte es für einen Moment an seine Wange, als wollte er seine Kühle genießen. – Wir werden wie folgt vorgehen. – Aus dem Augenwinkel warf er einen Blick auf die Uhr. – In vierzig Minuten beginnt die Visite, zwei Krankenpfleger werden eintreten. Ich hocke hinter der Tür, du lenkst sie ab. Du bequatschst sie, tust so, als hättest du eine Panikattacke oder so etwas in der Art. Du hast die Wahl. Ich werde sie neutralisieren, mich dann verpissen und dein neues Spielzeug mitnehmen. Mach danach, was du willst.
Maciek Gosławskis Kopf kochte förmlich vor Gedanken über. Der alte Mann stand über seinem Bett, hielt sein Messer in der Hand und plante eine verzweifelte Flucht wie in einer Krimiserie. Er musste etwas tun, sonst würde dieser Schwachkopf noch alles kaputt machen. Zum Glück hatte der Neue nicht bedacht, dass er es mit einem echten Player zu tun hatte, mit einem Typen, der die Polizei verarscht hatte. Er hatte also keineswegs Angst vor einem Bekloppten.
Er griff nach dem roten Messer, was der Neue nicht bemerkte, weil er das Set die ganze Zeit unter seinem rechten Oberschenkel versteckt hielt. Er stand vom Bett auf und trat dem überraschten Neuen gleichzeitig gegen die Brust. Dieser flog nach hinten, schlug mit dem Rücken auf den Boden und ließ das blaue Messer fallen. Maciek stürzte sich auf ihn, in der Hand eine wirklich scharfe Waffe haltend. Er fuhr damit über die Wange des Neuen. Das brauchte er nicht, der Kerl war zu verwirrt, um einen Gegenangriff zu starten, aber Maciek konnte einer kleinen Machtdemonstration nicht widerstehen. Blut sickerte aus der Wange des Neuen.
– Du wirst niemanden neutralisieren – knurrte Maciek durch zusammengebissene Zähne. – Du legst dich brav auf die Liege und machst, was dir gesa…
Ein Kniestoß in den Magen hinderte ihn daran, den Satz zu beenden. Der Neue schlug sehr hart zu. Maciek spürte, wie sich die Eingeweide um seinen Magen drehten. Einen Moment später wurde er ein zweites Mal auf dieselbe Weise getroffen. Beim dritten Mal war es der Fuß. Für einen Mann von durchschnittlicher Größe hatte der Neue eine Menge Kraft. Diesmal war es Maciek, der über den harten Boden glitt und mit dem Rücken auf ihm landete. Während des Sturzes hatte er nur einen Gedanken im Kopf – Lass die Klinge unter keinen Umständen los.
– Ich wollte es auf die einfache Art versuchen, aber da du mir keine Wahl lässt … – Der Neue war bereits auf Augenhöhe. Er machte sich nicht die Mühe, das blaue Messer aufzuheben. Er stand über dem immer noch bewaffneten Maciek und hob seinen rechten Fuß. – Tot lenkst du auch die Pfleger ab. – Er strich über Gosławskis Gesicht.
Im letzten Moment packte Maciek seinen Angreifer am Knöchel und fuhr ihm mit dem Messer über die Wade, wobei die Klinge den Schlafanzug leicht durchschnitt und die Haut ankratzte. Wie von Magda zu erwarten war, war sie unglaublich scharf. Der Neue biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Einen Augenblick später lag er wieder auf dem Boden. Maciek hob sein Bein und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht. Er stand auf und kochte vor Wut. Der alte Knacker hatte alles vermasselt. Er lag am Boden, aber wollte trotzdem kämpfen. Er kroch, bereits nach dem blauen Messer suchend, ohne zu wissen, dass er Maciek damit nicht verletzen würde, es sei denn, er wollte ihm die Augen ausstechen.
Maciek fand, dass der Typ furchtbar entschlossen war. Um ihn zu beruhigen, würde er ihn wahrscheinlich töten müssen. Er war kein Mörder, denn abgesehen von kleinen Schlägereien in der Nachbarschaft hatte er noch nie einen Menschen verletzt. Seine Kumpels waren da anders gewesen. Sie hatten kein Problem damit, das Feuer zu eröffnen, wenn es während eines Auftrags brenzlig wurde. Sie dachten, sie seien harte Kerle, aber sie waren einfach nur dumm, was ihr Ende bestätigte. Maciek wusste, dass es im Leben auf Klugheit und Vernunft ankam, nicht auf Kraft. Seine Mutter hatte ihm diese Werte von klein auf eingeimpft, bis zu dem Tag, an dem sie starb, nachdem sie einen unfairen Kampf gegen den Krebs in einem ekelerregenden Krankenhaus verloren hatte.
– Legen wir eine Pause ein, okay? – Es hatte keinen Sinn, den Kampf fortzusetzen. Noch ein Moment, und sie hätten so viel Lärm gemacht, dass die Pfleger vorzeitig gekommen wären, ihnen die Klingen abgenommen und sie wehrlos in Handschellen auf die Krankenstation gebracht hätten. – Willst du von hier verschwinden? – Maciek setzte auf die Vernunft.
– Ja. – Der Neue, immer noch liegend, berührte seine Wange und sah auf seine blutverschmierten Finger. – Und du wirst mich nicht aufhalten. – Er drückte den Griff des blauen Messers zusammen und stand auf wie ein Boxer, bereit für eine weitere Runde.
– Wer sagt, dass ich dich aufhalten will? – fragte Maciek und reichte ihm versöhnlich die Hand.
Die Visite hatte bereits begonnen. Sie hörten, wie sich am anderen Ende des Korridors Türen öffneten und schlossen. Sie standen sich gegenüber und musterten einander. Sie hielten kleine Glasscherben in ihren Händen. Der Neue war immer noch unsicher, ob er dem Jungen vertrauen sollte. Maciek hatte ihn überrascht; er war gar nicht so dumm, wie er aussah. Abgesehen davon, dass es das Mädchen gewesen war, das ihm die kleine Einbrecherausrüstung beschert hatte, hatte er sich einen guten Fluchtplan zurechtgelegt.
– Willst du das ganze Gebäude mit einem kleinen Messer in der Hand stürmen? Ist doch völliger Blödsinn – sagte er, als das Handgemenge vorbei war. – Du müsstest zwei Stockwerke überwinden. Außerdem ist unsere Station vom Rest des Krankenhauses durch eine Gittertür getrennt, an der immer ein bewaffneter Pfleger sitzt. Selbst wenn du sie erreichst, wird deine Flucht dort enden. Du wirst ihn weder erledigen, noch die Schlüssel bekommen, und er ist der Einzige, der einen Schlüsselbund für den Nachtdienst hat.
– Ich springe aus dem Fenster.
– Schwachsinn – Der Junge zeigte ihm den Vogel und machte eine mitfühlende Miene, als ob er mit einem Zurückgebliebenen sprechen würde. – Ein Sprung aus dem zweiten Stock auf den Rasen wird unweigerlich damit enden, dass du dir etwas brichst. Hast du darüber nachgedacht, wie es dann weitergeht? Wir sind hier mitten im Nirgendwo, draußen sind es vielleicht zwei bis fünf Grad. Wirst du im Schlafanzug zum Bahnhof laufen und in einen Zug steigen, oder brichst du zu Fuß ins Ungewisse auf?
– Ich kann eine Krankenschwester als Geisel nehmen und den Flachwichser dazu bringen, die Tür zu öffnen. – Der Neue gab nicht auf.
– Junge, du bist erst einen Tag hier, und schon willst du auf eigene Faust fliehen? – Der junge Mann konnte es nicht fassen. – Ich habe ein halbes Jahr lang an der Flucht gearbeitet. Und lass mich dir sagen, dass es auf unserer Station keine Krankenschwestern mit Nachtdienst gibt. Da sind nur die beiden Mistkerle, die gestern die Runde gemacht haben, und der Typ an der Tür. Die Krankenschwestern sind auf der Etage unter uns. – Er zeigte mit dem Finger auf den Boden. – Auf der ambulanten Station und natürlich auf der Krankenstation. Unsere Station ist eher ein Gefängnis, nur etwas angenehmer.
Diese Argumente bestätigten, dass der kleine Scheißer was auf dem Kasten hatte. Konrad Mączyński hatte nicht daran gedacht, was er tun würde, wenn er das Gebäude verlassen haben würde. Dafür hatte er keine Zeit. Außerdem interessierte es ihn sowieso nicht. Er wollte einfach nur die frische Luft spüren, sich daran erinnern, wie es sich anfühlt, wenn der Wind einem durch die Haare streicht, Menschen sehen, die nicht zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt sind, spüren, wie es sich anfühlt, frei zu sein, und der Rest würde sich schon irgendwie regeln. Das ist es, was er im Leben immer getan hatte: Er hatte eine Vision, begann sie zu verwirklichen, und dann nahm alles seinen Lauf. Jetzt hätte es auch so passieren können. Was er am meisten vermisste, waren Frauen. Er hatte seit sechs Jahren keine mehr gesehen. Zuallererst würde er sich wahrscheinlich ein schönes Loch suchen. Oh ja, der Körper einer Frau würde ihn endlich den räudigen Arsch des Knastflittchens, in den er ein ganzes Jahr lang zweimal pro Woche abspritzen musste, vergessen lassen.
– Wie lautet dein Vorschlag? – Der Anblick eines nackten, wohlgeformten Hinterns, langer Haare und Brüste überzeugte ihn davon, dem Jungen eine Chance zu geben. Er hatte ohnehin nichts zu verlieren.
– Gib zuerst das Messer her.
Diese Worte wurden mit Gelächter beantwortet.
– Mann, uns läuft wirklich die Zeit davon. Ich habe ein Transportmittel, das uns weit weg von hier bringen wird. Ich weiß noch nicht, in welche Stadt wir fahren werden, aber sie wird groß genug sein, dass du im Gewühl der Menschen verschwinden und dann tun kannst, was du willst. Aber im Moment musst du mir vertrauen.