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Ein Ereignis. Eine Entscheidung. Ein Fehler. Und das Leben wird nie wieder so sein wie zuvor.Ein Haus auf Kredit, ein kleines Unternehmen und eine liebevolle Frau – das ist das Leben von Wiktor Hauke. Doch eines Tages verliert er all dies aufgrund eines einzigen Fehltritts ...Durch eine unüberlegte Entscheidung macht sich Wiktor erpressbar, wird zu einem Sklaven, der die verqueren Launen eines anderen erfüllen muss. Ein willenloser Akteur, der von einem sadistischen Regisseur gesteuert wird.Wird Wiktor es schaffen, seinem Peiniger zu trotzen? Was wird er opfern müssen, um das zu retten, was ihm am meisten am Herzen liegt? Oder ist das Ergebnis dieses grausamen Spiels vielleicht schon vorbestimmt?-
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Seitenzahl: 437
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Adrian Bednarek
Saga
Zum Bösen verurteilt
Titel der Originalausgabe: Skazany na zło
Originalsprache: Polnisch
Copyright © 2022, 2022 Adrian Bednarek und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
1. ISBN: 9788728530351
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Für Daria
Dank dir schmeckt das Abenteuer eines Schriftstellers so köstlich
Alles zu retten, muss alles gewagt werden.
Friedrich von Schiller
An diesem Frühlingstag musste die ganze Welt seine Abwesenheit akzeptieren und er hatte keine Absicht irgendwem Rede und Antwort zu stehen. Heute ignorierte der Regisseur alle alltäglichen Angelegenheiten. Die Kunden, die ihn jeden Tag quälten, mussten warten. Die Gläubiger, die immer noch das ihnen zu Recht zustehende Geld von ihm forderten, mussten warten. Die Frauen, die ihn nicht vollständig zu befriedigen wussten, mussten warten. Zugegeben, er hatte sich offiziell keinen freien Tag genommen – er konnte es nicht, das Geschäftstelefon hörte nicht auf zu klingeln –, aber er ignorierte konsequent alle Anrufe. Von dem Moment an, als er seine Augen öffnete, spürte er ein angenehmes Kribbeln in seinem Inneren. Heute würde er endlich aufhören, in Erinnerungen zu schwelgen. Er würde sein nächstes großes Theaterstück beginnen. Das Einzige, das seine Begierde vollständig befriedigen konnte.
Frühmorgens begann er seine Reise. Die Anfahrt zum bewaldeten Stadtrand seines geliebten Krakaus, in das ihn sein Schicksal nach jahrelangem Umherirren verschlagen hatte, dauerte fast zwei Stunden. Er entschied sich, sein Auto in der Garage zu lassen. Das tat er immer an dem Tag, den er „die erste Szene“ nannte. Er war mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist: dreimal umsteigen plus fünf Kilometer Fußmarsch. Um Viertel vor neun war er da. An diesem besonderen Tag war er nicht wie er selbst gekleidet. Er trug eine weite Tarnhose, Armeestiefel, ein grünes T-Shirt und eine khakifarbene Jacke. Sein dunkles Haar war wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber heute versteckte er es ausnahmsweise unter einer schwarzen Schirmmütze. Auf den ersten Blick sah er wie ein Soldat aus. Er betrat das mehrere Quadratkilometer große Waldgebiet. Er suchte die richtige Stelle. Der Regisseur wusste, dass der von ihm ausgewählte Schauspieler heute in diesem Wald erscheinen würde. Er musste nur vorhersehen, welche Stelle er genau wählen würde. Er hatte einen großartigen Schauspieler gefunden, nur hatte er leider noch nicht die passende Rolle für ihn geschrieben. Bisher hatte der Schauspieler freie Hand zum Improvisieren gehabt. Der Regisseur wusste, er würde mit dem Auto kommen, sodass mehr als drei Viertel des Gebiets wegfallen würden, weil sie unpassierbar waren. Er versuchte, sich in den Schauspieler hineinzuversetzen, wie ein Schauspieler zu denken, sich wie ein Schauspieler zu verhalten, von dem angeregt zu sein, wovon ein Schauspieler angeregt ist. Er wollte für einen Moment ein erbärmliches Wesen werden, das unfähig ist die primitivsten Schwächen zu bekämpfen, das alles und jeden zerstört, die ihm wichtig waren. So schätzte er den Schauspieler nach fast zweimonatiger Beobachtung ein.
Er hatte ihn nur einmal persönlich getroffen. Es war ein versehentliches, ein paar Sekunden anhaltendes und für den Schauspieler nicht wahrnehmbares Treffen gewesen. Schon der erste Augenkontakt überzeugte ihn davon, die richtige Person für die Rolle in seinem neuen Theaterstück gefunden zu haben. Der Schauspieler hatte davon keine Ahnung und der Regisseur konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn anonym zu begleiten. Er wurde der unsichtbare Zeuge des schwersten Kampfes seines Lebens. Zeuge eines mörderischen Duells, das der Schauspieler erstaunlicherweise langsam begann zu gewinnen, was wiederum den Regisseur noch mehr von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugte. Dass er mit einer solchen Gebrechlichkeit kämpfte, gab dem erbärmlichen kleinen Mann die Ehre, ein Anwärter auf wirklich oscarreife Rollen zu sein. Danach war es so einfach wie immer. Es reichte aus, eine neue Schwachstelle zu finden, sich mit ihr vertraut zu machen und auf den richtigen Moment zu warten. Der Regisseur war nicht gerade überrascht, dass es ihm einfach fiel, sich auf diese Schwäche einzulassen. Wer würde sie ablehnen? Ein schwacher Mann mit einem starken Willen beschloss, von dieser Gelegenheit Gebrauch zu machen, wodurch sich sein Leben für immer grundlegend ändern würde. Der Gedanke, dass der ganze Prozess gerade von vorne beginnen würde, erregte den Regisseur enorm. Er fühlte ein Kribbeln im Magen und einen angenehmen Juckreiz im Schritt.
Das kommende Glück genießend, erreichte er eine kleine Lichtung an einem von Bäumen umgebenen Forstweg. Auf der anderen Seite des Weges wuchs hohes Gras.
„Was für eine hervorragende Kulisse für einen romantischen Kurzurlaub für Verliebte, selbst ich hätte keine bessere wählen können“, urteilte er in Gedanken.
Sein Gefühl sagte ihm, dass er am richtigen Ort war. Er hatte alles schon lange geplant, und jetzt, im kulminierenden Moment, als sein Stück begann, war er auf den Zufall angewiesen. Es ärgerte ihn ein wenig, aber er wusste, dass er dank seiner überdurchschnittlichen Intelligenz, Erfahrung und seines Instinkts genau die richtige Stelle gewählt hatte. Um auf Nummer sicher zu gehen, lief er mehrmals über die Lichtung und kam über den Forstweg, der in eine Schotterstraße mündete, zur Ausfahrt aus dem Wald zurück.
Er verlor sich in seinen Fantasien. Er war wieder dieser kleine, erbärmliche Mensch. Er analysierte seine Gedanken und Absichten. Der Spaziergang bekräftigte ihn in der Richtigkeit seiner Entscheidung. Wenn der Schauspieler sie in den Wald mitnimmt, wird er genau an dieser Lichtung Halt machen. Salbungsvoll stellte er den schweren Militärrucksack mit der notwendigen Ausrüstung auf den Boden. Endlich konnte er seinen vom stundenlangen Tragen schmerzenden Rücken entlasten. Während er dem Rucksack seine Ausrüstung entnahm, erinnerte er sich an das erste, einzigartige Mal. Wie viele Jahre schon vergangen waren … Wie viele Erfahrungen er in dieser Zeit schon gesammelt hatte … Er schaute in die Glaslinse seiner Kamera, die Zeugin mehrerer Stücke gewesen war. Seine Slideshows waren im Stande, dem Regisseur ungeahnte Freude zu bereiten.
Er folgte immer einem bestimmten Szenario. Die ersten Rollen der Schauspieler waren spontane, fast theatralische Improvisationen. Die Folgenden wurden dann nach einem streng festgelegten Plan ausgeführt, mit einer Prise wunderbarer Unberechenbarkeit … Dazu kamen seine Beobachtungen und die Stunden in einem kleinen dunklen Zimmer, das nur mit einem Bett und einem großen Fernseher an der Wand ausgestattet war. Er erinnerte sich nostalgisch daran. Anfangs war es noch angenehm, dann wurde das Gefühl alt und verging mit der Zeit komplett. Seit einem Jahr litt er an Depressionen. Er brauchte ein neues Stück mehr als je zuvor. Die Magie von Krakau regte ihn wie ein Aphrodisiakum an. Heute würde er prüfen, ob er den richtigen Schauspieler ausgesucht hatte. Er analysierte andere mögliche Varianten der ersten Improvisationsszene des kleinen Mannes. Ehrlich gesagt überließ der Regisseur ihm die Wahl, aber er hatte ein Gefühl, wofür der Schauspieler sich entscheiden würde. Menschen wie er stellten ihr Wohlergehen immer über das Wohlergehen Anderer. Mit wachsender Erregung machte er sich an die Arbeit.
Er brauchte zwei Stunden, um sich vorzubereiten. Danach aß er ein aus drei Butterbroten mit Käse und Lachs bestehendes Abendbrot, das er mit Kaffee aus seiner Thermoskanne herunterspülte. Gesättigt legte er sich ins Gras, in sicherer Entfernung von der Lichtung. Das Militäroutfit maskierte perfekt seine Präsenz, er war wie verschmolzen mit dem Grün. Er wartete und sog die Düfte des Frühlings auf. Das Gras wuchs, die Bäume blühten, Spinnenweben, so genannter Altweibersommer, schwebten in der Luft und er begann sein neuestes Stück. Dank der Natur konnte er alles aus nächster Nähe beobachten. Sie war sein Verbündeter. Diese perfekte Kulisse wurde durch die vom Wind und dem Gesang der Vögel durchsetzte Stille abgerundet. Seit heute Morgen hatte er keine Menschenseele getroffen. Es war noch lange nicht Zeit für Ferien, also verbrachten die Kinder ihre Zeit in der Schule und spaßhungrige Erwachsene entschieden sich meistens für Hotels in der Stadt. Sie sind dem intimen Kontakt mit der Natur entwachsen. Im Gegensatz zum Schauspieler. Der lebte gerade seine zweite Jugend und war romantisch; das war etwas, das dem Regisseur sehr gefiel. Sein Hang zur Romantik würde nämlich bald auf eine echte Probe gestellt werden.
Er überprüfte noch einmal die gesamte Ausrüstung. Er liebte technologische Innovationen. Jedes Jahr steigerten sie seine Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Dank dieses Fortschritts konnte er vollere, greifbarere Genüsse erforschen. Er machte sich keine Illusionen, er war anders als alle anderen. Niemand verstand ihn und er wollte überhaupt nicht verstanden werden. Seine Andersartigkeit machte ihn einzigartig. Zufrieden mit seinen Arbeitsgeräten kehrte er in die Liegeposition zurück und begann sich einer Aktivität zu widmen, die er liebte – dem Beobachten.
Gegen halb sechs verscheuchte das Surren eines mächtigen Dieselmotors die Vögel und übertönte die magische Melodie der Natur. Der Regisseur verspürte eine angenehme Spannung, er war vom bloßen Geräusch des Wagens erregt. Ohne darüber nachzudenken, berührte er seinen Schritt, wonach er sich flach auf das Gras legte, das ihm half, unsichtbar zu werden. Der Schauspieler quetschte sich mit seinem Auto durch den engen Waldweg, bereit, seine erste große Rolle zu spielen.
Ich verließ mit meinem schwarzen Audi Q7 den Schotterweg – nicht die schlechteste Straße übrigens – und bog auf einen holprigen Waldweg ab. Als ob es nicht schlimm genug gewesen wäre fünfzig Kilometer pro Stunde zu fahren, musste ich jetzt auf zwanzig verlangsamen. Auf der Suche nach dem richtigen Stückchen Wald, mit ein bisschen baumfreiem Platz, dachte ich über meine Reisegefährtin nach, die auf dem Beifahrersitz saß und provozierend ihr schulterlanges blondes Haar kämmte.
Sie hieß Monika, war zwanzig Jahre alt, wir kannten uns kaum. Vom ersten Tag an, als wir leidenschaftlich unserer Begierde in ihrer Wohnung nachgegangen waren, konnte ich ihr den eher unehrenhaften Titel einer Geliebten geben. Ich hatte es nicht geplant. Es war mir schon klar, dass selbst das Wort Geliebte normalerweise Schwierigkeiten prophezeite.
Monika erschien wie ein vom Himmel gesandter Engel, der mir dabei helfen sollte, mit dem Trinken aufzuhören; etwas, worüber meine Frau sich immerzu beschwerte. Sie kam auf mich zu, während ich an einem Glas Wasser in einer der vielen Bars auf dem Kazimierz nippte. Wir tranken einen Kaffee, sie lud mich zu sich ein und, später im Bett, tat sie alles, was ich von ihr wollte. Sie hatte sich so überzeugend verhalten, dass ich ihr nicht widerstehen konnte. Sie sprach nicht viel über sich selbst. Sie wusste, dass ich eine Frau hatte und es schien ihr egal zu sein. Zuerst dachte ich, dass sie einen Sponsor suchte, denn mit meiner Körpergröße von einem Meter und fünfundsiebzig Zentimetern, minimalem Übergewicht, schwarzen, über der Stirn hängenden Haaren, Dreitagebart und achtundzwanzig Jahren auf dem Buckel, konnte ich ihr wohl kaum gefallen. Jedenfalls im Gegensatz zu meinem Audi, den trendigen Klamotten und einer ziemlich teuren Longines-Uhr. Obwohl sie in einer nicht sehr gehobenen Wohnung lebte, in der die Ausstattung des Kleiderschranks höherwertiger war als das Mobiliar, zahlte sie immer für sich selbst. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie mich ganz einfach mochte und als ich es nach einer kurzen Funkstille nicht mehr lassen konnte, schlug ich ein Picknick im Wald ein paar Dutzend Kilometer südöstlich von Krakau vor.
„Schau, Wiktor, die auf der linken Seite ist perfekt!“, schrie sie mit sexy heiserer Stimme und zeigte mit dem Finger auf etwas. Sie riss mich aus meinen Gedanken über sie. Anstatt darauf zu schauen, was sie mir zeigen wollte, sah ich sie an. Für unser erstes gemeinsames Picknick hatte sie eine hellblaue ausgefranste Jeans, weiße Turnschuhe und ein blaues T-Shirt mit einer weißen Aufschrift in der Mitte angezogen. All dies betonte ihre überdurchschnittliche Figur. „Wie findest du die? Eignet die sich?“
„Sicher, passt gut.“ Endlich sah ich, worauf sie zeigte, und ich musste zugeben, dass sie recht hatte. Wir standen an einer typischen Forststraße zwischen einer Wiese mit hohem Gras auf der linken Seite und einer wunderschönen Lichtung, die an eine entzückende Insel inmitten des Waldes erinnerte, auf der Rechten. Die Natur schien dieses diskrete Fleckchen speziell für uns entworfen zu haben. Es standen Bäume rund um die Insel, eine echte Rarität in unseren Augen.
„Endlich eine Stelle, wo wir etwas Platz haben. Bleiben wir hier?
Ich antwortete nicht, stellte nur den Motor ab. Wir standen mitten auf dieser Forststraße, die, nach der Höhe des Grases und der vom Wind verwehten Äste zu urteilen, schon lange niemand mehr besucht hatte. Wir waren am Ende der Welt, in einem von Menschen verlassenen Kaff, wo man von Mobiltelefon-Empfang nur träumen konnte. Ein Ort einsamer Zweisamkeit, wie gemacht für diskrete Liebhaber.
„Natürlich bleiben wir, noch so eine verlassene Insel finden wir nicht“, antwortete ich.
Lächelnd holte Monika einen Picknickkorb aus dem Kofferraum und ich breitete die rot-schwarz karierte Decke aus, die ich morgens speziell für diesen Anlass gekauft hatte.
„Nachdem du dich so lange nicht gemeldet hast, dachte ich schon, dass du gar nicht mehr anrufen würdest.“ Sie wies auf die Funkstille hin, die ich in unserer – sagen wir mal ruhigen – Beziehung eingeführt hatte. Sie rief mich immer als Erste an und plötzlich dann nicht mehr. Sie hatte den Kontakt abgebrochen und offensichtlich darauf gewartet, dass ich mich melden würde. Ich hatte lange gebraucht, um mich dazu zu entscheiden anzurufen, was ich nie hätte tun sollen. Meine Geilheit erwies sich als stärker als der gesunde Menschenverstand und so waren wir am Ende der Welt, in der Pampa, gelandet. „Ich hab gedacht, dass du für immer zu deiner Frau zurückkehrst, und hier, na gucke mal, was für eine schöne Überraschung.“ Sie betonte die Worte Frau und Überraschung.
Sie war für einen solch jungen Menschen ziemlich dreist, aber ich gab ihr keine Anzeichen, dass es mich störte. Ich kannte bessere Wege, um mit so einer gehässigen Persönlichkeit umzugehen.
„Ja doch, ich kehre zu ihr zurück, aber erst heute Abend.“ Ich mochte es, sie zu necken. Dank dieser bedeutungslosen verbalen Austausche vergaß ich den Alltag, der jeden Tag komplizierter wurde. Ich griff nach Kondomen im Handschuhfach, ohne meine Absichten vor Monika zu verbergen.
„Ich sehe, Vorsorge ist besser als Nachsorge. Nur wie kannst du dir so sicher sein, dass du die auch benutzen wirst?“, fragte sie mich neckisch und setzte sich auf die Decke. Sie nahm eine Flasche Wein, einen Korkenzieher und ein Weinglas aus Plastik aus dem Picknickkorb. Sie wusste von meinem sogenannten Alkoholproblem, aber sie genierte sich keineswegs vor mir zu trinken.
„Unser letztes Treffen hat genau so geendet. Der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach sind die Chancen, dass das heutige Treffen ein anderes Ende nimmt, ungefähr gleich Null“, erklärte ich ihr und sie kicherte unschuldig. Ich setzte mich neben sie.
„Immerhin ist das ja auch der einzige Grund, warum du dich mit mir triffst, oder?“, fragte sie. Ich öffnete die Flasche und füllte das Plastikimitat von einem Weinglas mit der rubinroten, dicken Flüssigkeit. „Für Gespräche hast du ja deine Frau, ich diene etwas ganz anderem.“ Sie nahm einen großen Schluck Wein.
Sie wurde unruhig, vorher hatte sie meine Frau nicht so oft erwähnt. Ich hatte keine Absicht, die Fakten zu leugnen. Aber anscheinend meinte Monika nach den paar Tagen der Trennung, dass sie ein Gespräch zu führen brauchte, ohne welches es unmöglich war, das zu tun, worauf ich gehofft hatte. Sie wartete darauf, dass wir mit dem Picknick beginnen, um endlich ihren Unmut zu zeigen, wie wenig sie lediglich eine Dame zu Unterhaltungszwecken sein wollte. Ich wusste aber, wie ich ihre Knie weich lassen werden konnte.
„Es ist also höchste Zeit, etwas zu ändern“, antwortete ich mit einem Lächeln und warf die Gummis in die Ecke der Decke. „Warum erzählst du mir nicht etwas von dir?“ Sie wollte nicht wie ein Ersatzspieler behandelt werden. Sie kämpfte um einen Platz im ersten Kader. Ich musste ihr das Gefühl geben, ein wichtiger Teil meines Lebens zu sein.
„Na endlich fragst du mich etwas.“ Sie trank noch einen Schluck Wein. In ihrer heiseren Stimme war wieder ein fröhlicher Unterton erkennbar. „Bis jetzt hat dich meine Welt ja überhaupt nicht interessiert.“
„Ich dachte, du wolltest sie von mir fernhalten.“
„Nein, es war dir einfach egal, aber …“ Sie ging zum Picknickkorb, um ein weiteres Plastikglas zu holen. „Da wir uns in eine neue Phase begeben, die Phase des sogenannten Fragenstellens, sollten wir darauf anstoßen.“ Sie platzte wieder vor Freude und reizte mich mit einem Glas Wein.
Ich dachte einen Moment über das Angebot nach. Ich, sie und nur ein kleines Glas dieses Trunkes. Es klang himmlisch, vor allem nach vier Monaten kompletter Abstinenz. Ich konnte mich kaum zurückhalten, aber der Kampf mit dem Alkoholismus war eine gute Ausrede für mein Gewissen. Falls ich etwas trinken würde, würde ich anfangen zu bereuen, eine Geliebte zu haben. Vielleicht war solch eine Erklärung unsinnig, aber sie funktionierte.
„Das klingt verlockend, Engel. Leider weißt du, dass ich das nicht kann.“ Ich umhüllte das offene Ende des Glases mit meiner Handfläche. „Wasser, bitte.“
Sie reichte mir eine Plastikflasche mit säuerlicher Miene.
„Na ja, okay, obwohl ich deine alkoholische Askese nicht so recht verstehe. Das Leben ist zu kurz, um sich ein Vergnügen zu verweigern.“ Innerlich gab ich ihr recht. „Auf unsere nächste Phase.“ Sie trank einen soliden Schluck Wein und schloss die Augen, um das Vergnügen noch mehr auszukosten. Ich musste mich mit Wasser zufrieden geben. „Also …“ Sie würgte ein wenig. „Frag, was du willst.“
Monika hat mich wirklich fasziniert. Vorher hatte ich nicht zu tief gehen wollen, hatte versucht, unser Abenteuer lediglich als unschuldigen Spaß zu behandeln. Aber jetzt, ohne ein ehrliches Gespräch, konnte ich nicht darauf zählen, zum Highlight des Programms zu kommen – Sex unter freiem Himmel. Ich zuckte unbekümmert mit den Schultern und begann mit den dringendsten Fragen.
„Woher kommst du? Wahrscheinlich die richtige Frage für den Anfang des großen Verhörs“, ich zwinkerte ihr zu. Monika versuchte zu lachen, aber ihre Lippen, anstatt sich zu einem Lächeln zu krümmen, zuckten unter dem Einfluss eines weiteren Keuchanfalls.
„Es geht. Bin aus Węgorzewo.“ Die Antwort wurde von einem weiteren, lauteren Husten begleitet. „Noch ein Glas, bitte.“
„Warum lebst du allein?“ Diese Frage beschäftigte mich seit Anfang an. Normalerweise leben Zwanzigjährige nicht allein in einem Altbau in Podgorze. Normalerweise haben sie Mitbewohner oder so.
„Weil ich …“, sie hustete noch zweimal, „ein unabhängiges Mädchen bin.“ Sie wollte wieder lächeln, doch der nächste Keuchanfall erlaubte es ihr nicht. Sie hörte nicht auf zu husten. Ich dachte, sie hätte sich verschluckt.
„Monika, geht’s dir gut?“ Fragte ich leicht erschrocken. Ich bekam keine Antwort und der Husten wurde schlimmer. Sie war nicht mehr in der Lage zu sprechen. Sie krümmte sich und umklammerte ihre Lungen mit den Händen. Der Wein war bestimmt nicht in ihre Luftröhre geraten. Das Husten und Keuchen dauerte länger als bei normalem Verschlucken der Fall war. Es sah aus wie ein Asthmaanfall oder eine andere Atemwegserkrankung. „Bist du krank?“ Dies hätte meine erste Frage sein sollen, nicht die Vierte.
Sie schüttelte den Kopf, während sie weiter hustete. Sie zeigte mit zitternder Hand auf das Auto. Erst nach einer Weile verstand ich, was sie meinte. Ich riss mich von der Decke und rannte zum Auto, um ihre Handtasche, die auf dem Rücksitz lag, zu holen. Ich kippte den ganzen Inhalt der Tasche auf die Decke. Monika hörte währenddessen nicht auf zu husten.
„Nimmst du irgendwelche Medikamente? Bitte, zeig mir, wonach ich suchen soll.
Mit vom plötzlichen Adrenalinschub zitternden Händen versuchte ich, etwas, das Tabletten, einem Injektionsset oder einem Inhalator ähnelte, zu finden. Ich wusste nicht, was sie brauchte. Ihr Zustand verschlechterte sich von einer Sekunde zur Nächsten. Sie hatte ernste Atembeschwerden. Aus ihrer Nase trat ein dickflüssiger, weißer Schaum. Ihre Augen erinnerten einen nicht mehr ans azurblaue Meer. Sie verwandelten sich in das Rote Meer, in das bläuliche Blitze einschlugen. Mit einer Hand hielt sie ihren Hals fest, mit der anderen versuchte sie etwas Hilfreiches unter den auf der Decke liegenden Dingen zu finden. Plötzlich fiel sie um.
„Monika, bitte, gib mir ein Zeichen!
Panisch durchsuchte ich den Inhalt der Tasche. Handy, Wohnungsschlüssel, Notizbuch, Schminkset, kein medizinisches Zubehör. Mir gingen die Optionen aus. Ich hatte nie einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Mir wurde klar, dass Monika professionelle Hilfe brauchte.
„Ich rufe einen Krankenwagen“, informierte ich sie und griff nach meinem Handy. „Verdammt!“ Ich warf das Telefon panisch auf den Boden. Ich hatte vergessen, dass man die Notrufnummer ohne Empfang anrufen konnte. Außerdem war ich hier mit meiner Geliebten!
Erschwerend kam hinzu, dass sie immer seltsamere Geräusche von sich gab. Sie hustete nicht mehr, sondern zischte nur wie eine sich vor Schmerzen windende Schlange. Ich schaute ihr ins Gesicht. Ihr Mund war offen, ihre Nase war mit Schaum bedeckt und ihre Augen waren blutrot. Die Situation sah, egal aus welchem Blickwinkel betrachtet, sehr pessimistisch aus. Ich hatte Angst und wusste nicht, was ich tun sollte. Sie hatte einen Schüttelkrampf, ihre Körpertemperatur sank ebenfalls. Sie umarmte sich mit den Händen.
„Oh Gott, Monika, was soll ich nur tun?!“ Ich schrie vor Entsetzen. Aus ihrem Mund traten einzelne Blutstropfen. Sie wurde zuerst braun und nach einiger Zeit bläulich, ihre Haut wechselte die Farbe mit der Geschwindigkeit eines Chamäleons. Endlich verharrte sie in Embryonalstellung. Sie bewegte sich nicht, ihre Augen immer noch offen. „Monika, Monika, nein!“ Ich packte ihr Gesicht. Alle Schönheit war ausgebrannt wie ein Feuer in einem Kamin. Es blieb nur ein blaues, geisterhaftes Gesicht ohne Anzeichen eines Bewusstseins. „Wach auf, zum Teufel, wach auf!“, schrie ich und schüttelte ihren Kopf, aber sie gab keine Antwort. „Nein, nein, nein!“ Den Kopf fest zu drücken, brachte nichts, das Mädchen schwieg immer noch.
Als ich in ihre leeren, seelenlosen Augen blickte, wurde mir klar, dass Monika tot war.
Ich stand auf und sah auf sie herab. Voller Naivität glaubte ich, dass sie sich noch bewegen würde. Ich war in einem echten Schockzustand.
Ich ging im Kreis, die Arme im Nacken verschränkt. Ich versuchte, die Fakten zu leugnen. Vor meinen Augen erschienen dunkle Flecken. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hatte. Zurück in der Realität fühlte ich mich wie nach einer harten, alkoholreichen Nacht. Ich kam langsam wieder zu mir und erinnerte mich daran, welche Exzesse ich in meiner Trunkenheit begangen hatte. Viele solcher Momente hatte ich schon in meinem Leben gehabt, aber eine tote Liebhaberin – das war mir im Zustand völliger Abstinenz passiert.
Ich hob mein Handy auf. Es war nicht nötig, einen Krankenwagen zu rufen. In der aktuellen Situation wäre die Polizei nützlicher gewesen. Allein der Gedanke an uniformierte Beamte jagte mir eisige Schauer über den Körper. Langsam wurde es dunkel und ich konnte nicht ewig an der Seite der toten Monika warten. Ich musste etwas tun, wusste nur nicht was. Eines war sicher: Ich musste jemanden anrufen. Entweder die Polizei oder einen Freund, denn diese Option hatte ich auch berücksichtigt. Dies bedeutete, ich musste die Leiche im Wald zurücklassen. Und was, wenn jemand sie finden würde? Vielleicht sollte ich Monika mitnehmen und ins Krankenhaus bringen? Nervöse Gedanken kreisten in meinem Kopf. Letztendlich entschied ich mich dazu, die Leiche liegen zu lassen und wickelte nur die karierte Decke um sie. Ich dachte kurz darüber nach, sie tiefer in den Wald zu ziehen, aber ich wollte sie nicht mehr anfassen. Ich packte den Inhalt ihrer Tasche, startete das Auto und machte mich auf die Suche nach Empfang.
***
Die Abfahrt des Schauspielers verursachte im Regisseur ein erwartetes Gefühl von Unsicherheit. Bisher lief alles nach Drehbuch. Die erste Szene hatte der Schauspieler brillant gespielt, selbst diesen Schockmoment, die Verleugnung – es kam alles so natürlich. Niemand zuvor hatte jemals so kalt reagiert, geradezu emotionslos. Die Meisten brachen zusammen und gewöhnten sich nur langsam an ihre neue Realität. Der neue Schauspieler wartete nicht, er beschloss zu handeln. All die Romantik, die er für diese Frau empfand, platzte wie eine Seifenblase, die ihr Leben umschloss. Als der verängstigte Mann das tote Gesicht berührte, fühlte der Regisseur das sofortige Bedürfnis sich zu befriedigen. Das Blut schoss vom Kopf geradewegs in seinen Schritt. Im letzten Moment hielt er sich zurück. Die richtige Zeit, um den Genuss voll auszukosten, würde noch kommen.
Mit der Entscheidung zu gehen, begann der Schauspieler zu improvisieren. Der Regisseur war entnervt wegen des fehlenden Einflusses auf die Entwicklung des Geschehens. Er verlor nicht gern die Kontrolle. Er hatte ein paar mögliche Szenarien vorhergesagt und positionierte die jeweils passenden Geräte. Er hoffte, dass der Schauspieler in dieser bahnbrechenden Szene seine wahre Berufung unter Beweis stellen würde. Wenn er ohne Sirenenbegleitung zurückkehrt, wird sein Stück auf einem höheren Niveau aufgeführt werden. Vorerst konnte der Regisseur aber nur warten. Er zoomte mit der Kamera auf die in der Decke umhüllte Leiche und begann, die erste Szene noch einmal zu durchleben.
Ich war drei Kilometer mit dem Handy in der rechten Hand gefahren. Ich bemühte mich, meine Gedanken auf die Straße zu fokussieren und darauf zu warten, dass auf dem Display wenigstens ein kleiner Balken auftauchte, der mich über den zurückkehrenden Empfang informieren würde. Mein Unterbewusstsein flüsterte mir zu, es wäre am besten, wenn die magische Aufschrift kein Signal nie verschwinden würde. Leider war ich nach zwei weiteren Kilometern wieder in der Zivilisation auf einer Asphaltstraße und hatte die Möglichkeit mobil mit der Welt in Kontakt zu treten.
Ich parkte das Auto am Straßenrand und starrte auf den durch bunte Icons verdeckten Handy-Bildschirm, auf dem eine attraktive, grünäugige Frau mit langen roten Haaren und verlockenden, üppigen Kurven abgebildet war. Sie saß auf einer Felsenklippe, ein grau gepunktetes luftiges weißes Kleid mit Schulterträgern tragend. Im Hintergrund waren die majestätischen Wellen des Mittelmeers zu sehen. Als ich mir das Bild anschaute, verstand ich, dass ich, falls ich die Polizei riefe, wahrscheinlich nie wieder einen Sommer in Griechenland mit dieser Frau verbringen würde. Vielleicht würde ich sogar die Gelegenheit, ein gemeinsames Abendessen zu verzehren, verpassen – oder selbst eine so undankbare Aktivität wie das Abbezahlen eines Hauskredits würde mir entgehen. Iga war keine dieser vor Akzeptanz strotzenden Ehefrauen – und erst recht nicht, wenn es darum ging, ihrem Mann einen Seitensprung zu verzeihen. Auch wenn das mit meinem Alkoholproblem helfen sollte. Nachdem die Polizei mit eingebunden war, würde es schwer werden, diese Tatsache vor ihr zu verbergen. Meinen besten Freund anzurufen, garantierte auch keinen Erfolg. Ich bewunderte ihre vom Wind verwehte Haarpracht, während ich darüber nachdachte, diese verfluchte Nummer – 112 – zu wählen. Meine Überlegungen wurden von einer SMS von Iga unterbrochen. Die Nachricht tauchte nur wenige Augenblicke nach der Wiedererlangung des Empfangs auf. Der Inhalt war aussagekräftig:
„Wiktor, wo bist du? Ich versuche seit einer Stunde durchzukommen, es geht immer die Ansage los; der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Du hast doch nicht wieder angefangen zu trinken, oder??? Ich mache mir Sorgen! Bitte, ruf mich zurück!".
Mein Herz fühlte sich an wie mit einer Klinge durchstochen. Ich fühlte mich schrecklich. Iga sorgte sich nämlich, trotz ihrer eigenen Fehler, aufrichtig um mich. Zugegeben, sie wurde verrückt bei Gedanken an meinen harmlosen Drang zum Alkohol, aber sie konnte mich auch in einen Zustand des inneren Friedens versetzen wie keine andere. Ich konnte sie auf keinen Fall verlieren. Monika war nur ein Sprungbrett, jetzt völlig unnötig. Falls sie noch am Leben gewesen wäre, hätte ich einfach verkünden können, dass ich zu meiner Frau zurückkehrte und unsere Bekanntschaft definitiv beendete. Iga hätte es nie erfahren. Wenn sie noch gelebt hätte …
Ich wählte die Nummer meiner Frau. Monika würde dort bleiben, wo sie war.
„Na, endlich! Was ist los mit dir? Ich verliere den Verstand.“ Sie nahm den Hörer nach dem ersten Klingeln ab. Sogar am Telefon spürte ich die Unruhe in ihrer Stimme.
„Nichts ist passiert, Schatz. Ich bin am Stadtrand, muss wohl den Empfang verlo…
„Du hast nichts getrunken, oder?! Wenn du wieder zur Flasche gegriffen hast, lüg mich nicht an. Ehrlichkeit ist wichtiger als einen Moment der Schwäche zu verbergen“, sagte sie in einem viel schärferen Tonfall. Sie hat absichtlich das Wort „Schwäche“ verwendet, um mein männliches Ego dazu zu motivieren, nüchtern zu bleiben.
„Keinen Tropfen. Hundert Tage nüchtern. So schwach bin ich nun auch wieder nicht, Liebling“, betonte ich mit falschem Stolz.
„Ich wollte nur sichergehen. Du warst außer Reichweite. Die verschiedensten Gedanken schwirrten mir im Kopf herum. Ich dachte, du hättest ein paar Bier gekippt und nüchterst gerade alleine irgendwo aus oder dass du sogar nicht aufhören kannst zu trinken. Kannst du mir bitte verraten, wo genau du warst und vor allem wo du jetzt bist?“ Iga war eine dieser hochmütigen, mit beiden Beinen auf dem Boden stehenden Frauen. Trotz ihres starken Charakters und Misstrauens, war für mich das Lügen seit meinem ersten Treffen mit Monika kein Problem gewesen.
„Ich war bei einem Treffen, so ein Krisentreffen, weißt du. Ich musste mit ein paar Clubfreunden aus der Stadt raus.“ Ich nannte die AA einen Club, es klang einfach besser. „Ich möchte nicht wirklich darüber reden. Therapie ist ätzend, aber ich bin die ganze Zeit nüchtern.“ Die Tatsache, dass ich nüchtern blieb, war für Iga von enormer Bedeutung.
„Okay, ich verstehe dich, aber es ist normal, dass ich mir Sorgen mache. Zumal, dass du zur Therapie gehst mit Leuten, die Alkohol noch mehr mögen als du und du bist außerdem noch außer Empfangsreichweite.“ Ihre immer sanfter werdende, fürsorgliche Stimme schnürte mir die Kehle zu. Seit einer Weile log ich, dass ich an AA-Treffen teilnahm. Tatsächlich schlenderte ich ziellos durch die Stadt, wie ein Teenager, dessen Eltern ihm sagen, er solle in die Kirche gehen, der aber natürlich lieber auf den Straßen herumhängt, nur um nicht an diesem unerwünschten Ort einzutreffen. Meine sinnlosen Spaziergänge endeten, als ich Monika traf. Ich bin nur zu einem AA-Treffen aufgetaucht; ich entschied, dass ein weiteres nicht vonnöten gewesen wäre.
„Wann kommst du zurück?
Sie stellte eine großartige Frage. Ich konnte meinen Weg nach Hause immer gut im Kopf berechnen. Ob von der Arbeit, einem einsamen Spaziergang durch die Stadt, oder auch von einem Treffen mit Monika. Leider hatte ich keine Ahnung, wie ich mich aus diesem Schlamassel befreien konnte, und erst recht nicht, wie lange das dauern würde.
„Ich bleibe noch eine Weile. Bin nur kurz an der Tankstelle, um mir etwas zu … essen zu kaufen.“ Instinktiv wollte ich zu trinken sagen, aber weitere Fragen würden bald folgen, ob ich mir sicher wäre, dass ich Wasser kaufe. „Iga, die Treffen sind nicht die angenehmsten und nehmen viel Zeit in Anspruch. Du wusstest das, als du mir gesagt hast, dass ich mich zur Therapie anmelden müsste.“ Ich benutzte absichtlich nicht das Wort Entziehungskur, es klang seltsam, als ob ich wirklich ein Problem gehabt hätte.
„Ich weiß und ich berücksichtige das. Bleib so lange du willst, ich kann damit umgehen. Ich musste deine Stimme hören, um mich zu beruhigen. Wir sehen uns zu Hause, Wiktor, ich vermisse dich. Ciao.“ Sie küsste den Hörer liebevoll und legte auf.
Ich schaute noch einmal auf das Urlaubsfoto, das ich auf der märchenhaften griechischen Insel geschossen hatte. Ich stellte mir unsere Scheidung vor, die natürlich auf meiner Schuld basierte, ihren hasserfüllten und enttäuschten Blick, ihre durch die Erkenntnis, dass die ihr am nächsten stehende Person sich als Betrüger herausgestellt hat, hervorgebrachten Tränen. Dann sah ich meine Einsamkeit, die alkoholgetränkten Nächte und den mich verschlingenden Abgrund der Hoffnungslosigkeit. Mit der Zeit würden wir beide in einem dichten Meer der Sehnsucht ertrinken, das unser beider Leben verschlingen konnte. Alles wegen der Leiche eines Mädchens, dem ich nicht widerstehen konnte.
Verwirrt versuchte ich, eine Entscheidung zu treffen. Ich hätte die Polizei anrufen und sie um Diskretion bitten können. Aber würden die sich darauf einlassen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Chancen standen 50/50. Und dann kamen noch Monikas Verwandte hinzu, die hätten mich auf jeden Fall nicht in Ruhe gelassen. Schließlich starb ihre kleine Tochter in den Armen eines älteren, verheirateten Mannes. So etwas hinterlässt unheilbare Wunden. Obwohl ich ihre Verwandten nicht kannte, wusste ich, dass es sie gab, und dass sie meine bescheidene Person bestimmt nicht in Ruhe lassen würden. Sie werden reagieren und ihre Reaktionen werden zur Erfüllung der dunklen Vision meiner Zukunft beitragen. Ich würde alles verlieren, was mir lieb war.
Nach diesen Überlegungen schien mir das Wählen der Einhundertzwölf als keine gute Idee mehr. Die Polizeipräsenz im Wald präsentierte sich wie eine Szene der biblischen Apokalypse, die bereit war, das Bild der noch ambitioniert gemalten kleinen Welt von Wiktor Hauke, zu zerstören. Ich hatte hart an der Konstruktion meines Lebens, das in einem Moment in Schutt und Asche versinken konnte, gearbeitet. Ich zog es vor, meinen besten Freund nicht anzurufen. Ich hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde. Langsam kam mir eine Idee, wie ich diese Katastrophe verhindern konnte. Obwohl ich vor einer Stunde eine ähnliche Argumentationsweise als Vision im Kopf eines Verrückten mit sadistischen Tendenzen bezeichnet hätte, blieb mir in dieser Situation keine andere Wahl. Die Entscheidung fiel von ganz alleine. Sie wurde damit besiegelt, dass ich die Karte mit Satellitenansicht auf meinem Handy öffnete und nach dem nächstgelegenen Garten- und Baumarkt suchte. Mit einem Sack voller Steine auf dem Herzen, schloss ich mich dem Straßenverkehr wieder an. Das Navigationssystem verkündete mit der fröhlichen Stimme einer beliebten Zeichentrickfigur für Erwachsene, dass es noch sieben Kilometer bis zum Ziel waren. Sie vergaß hinzuzufügen, welch ein Albtraum mich am Ziel erwartete.
Im Baumarkt kaufte ich einen Spaten, Grillanzünder, zwei Rohrreiniger und einen kalten Energy-Drink, der im Kühlschrank an der Kasse stand. Ich bezahlte alles bar. Immer noch konnte ich nicht glauben, dass ich das wirklich tat. Die Idee selbst schien mir schon abstrakt genug, aber dessen schrittweise Umsetzung war der helle Wahnsinn. Die blind durch das Warenhaus kreisende Menschenmenge – gänzlich verloren in den verführerischen Werbeaktionen wie Eva im Zischen der Schlange – und dessen alltägliche Normalität überzeugten mich davon, dass ich für nichts in der Welt mein eigenes, gut organisiertes Leben wegschmeißen konnte. Der Verlust meines Lebens im Gegenzug für Monikas unabwendbares Begräbnis wäre reiner Wahnsinn gewesen.
Als ich nach allzu langer Nüchternheit zurück in den Wald ging, wurde mein Verstand von dunklen Gedanken umschleiert. Vor meinen Augen sah ich die sterbende Monika. Das Bild kam immer und immer wieder, es wollte sich nicht einmal für einen Moment auflösen. Ihr Husten und Keuchen hallte wie ein Echo im Auto und konnte ebenso wenig von der aus den Lautsprechern strömenden Musik übertönt werden. Mich quälte die Frage: Warum ist sie gestorben, was ist mit ihr passiert? Als ob das irgendeine Bedeutung hätte … Sie war tot und nichts konnte sie zurückbringen.
Ich fuhr auf den holprigen Feldweg, schaltete das Radio und das Licht aus und spitzte die Ohren. Egal auf welche Weise man die Situation nicht betrachtet hätte, es war nicht zu leugnen, dass ich eine mit einer Decke bedeckte Leiche am Waldrand gelassen hatte. Was, wenn jemand die Leiche gefunden hätte? Ich hatte die Polizei nicht benachrichtigt, sondern fuhr mit einem Spaten im Kofferraum Richtung Leiche. Das würde ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen, falls man mich ertappen würde. Glück im Unglück, menschenleere Gegenden werden aus gutem Grund als menschenleer bezeichnet. Monika lag noch immer dort unter der Decke. Ich erspähte sie trotz der ausgeschalteten Lichter. Ein Kordon von Kriminalbeamten hatte noch kein gelbes Klebeband um sie herum gezogen und es waren auch weit und breit keine Blaulichter, die wie eine Disko flimmerten, zu sehen. Sie lag genauso dort wie ich sie verlassen hatte. Eine angenehme Wärme der Erleichterung breitete sich über meinem Bauch aus. Ein Gefühl, das dem Trinken eines dritten, oder vielleicht vierten Wodkas, ähnelte. Für einen Moment beruhigend erinnert es daran, dass das Leben angenehm sein kann. Leider verflüchtigt sich der betäubende Effekt nach einer Weile und man kehrt in die Realität zurück. Ich zog die Decke von der Leiche des Mädchens, das sich noch vor zwei Stunden auf ein nettes Picknick mit einem gerade erst kennengelernten Mann gefreut hatte. Sie hatte gehofft, endlich mit ihm zu sprechen und das Gefühl zu haben, auf einem echten Date zu sein. Sie war bereit gewesen sich zu öffnen, über sich selbst zu sprechen, das Lächeln verließ kaum ihr Gesicht … Bei dem Gedanken an meine Absichten begann ich mich selbst zu verabscheuen.
„Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte. Wenn ich nur gewusst hätte, woran du gelitten hast …“ Ich rechtfertigte mich vor einer Leiche, die hier mit offenen Augen vor mir lag. Ich beugte mich vor, ohne genau zu wissen warum. Ich glaube, ich wollte sie küssen oder zumindest diese schrecklichen Augen schließen. Ich stoppte kurz vor ihrem Kopf, die Leiche generierte so etwas wie ein unsichtbares Kraftfeld, das ich nicht durchbrechen konnte. Ein unangenehmer, süßlicher Geruch stieg mir in die Nase. Es roch nach verfaulten Erdbeeren. Ihr Körper hatte begonnen, die ersten postmortalen Chemikalien auszustoßen. Der Gestank wirkte wie Riechsalz. Ich fasste mich schnell wieder. Draußen wurde es kühl und stockdunkel. Ich musste mich endlich an die Arbeit machen.
Ich begann damit, ihren Körper tief in den Wald zu ziehen. Eine schreckliche Tat. Das alleinige Betrachten dieses Aktes tat weh. Jetzt musste ich zusätzlich die Frau, die ich gerade noch begehrt hatte, an ihren toten Gliedmaßen zu der Stelle schleppen, die ich als am besten geeignet für ihr Grab empfand. Die ausgewählte Stelle war ungefähr dreißig Meter vom Feldweg entfernt, war vollständig von Bäumen umgeben und außer Gras wuchsen hier auch Brennnesseln, die Pilzsammler abschrecken würden.
Ich packte Monikas kalte, schlaffe Hände. Überraschenderweise waren sie recht biegsam. Sie zu bewegen erinnerte an die leicht verschlissenen Griffe eines Crosstrainers. Sie waren ziemlich leicht und gaben nur schwachen Widerstand. Leider war die Aussicht nicht entzückend. Monikas verzerrtes Gesicht nahm eine scheußliche Gestalt an. Sie war nicht mehr die Schönheit von vorher, sondern ein
dämonisches Schreckgespenst, das bereit war, mich bis ans Ende meiner Tage in meinen Albträumen heimzusuchen. Als ich sie zur Stelle zog, hatte ich den Eindruck, dass sie mich die ganze Zeit ansah und fragen wollte: „Wie konntest du mir das nur antun? Du wolltest mich gerade noch kennenlernen.“ Ich war so durch meine Taten bedrückt, dass ich fast meine Meinung geändert hätte. Ich dachte ernsthaft darüber nach, die Polizei zu rufen und einen anderen Weg zu finden, um meinen Alltag und meine Normalität beizubehalten. Diese Gedanken vergingen jedoch, als ich ihre Leiche, die auf dem Weg mindestens acht Kilo schwerer geworden war, an den gewählten Ort verschleppt hatte. Ich versuchte, meinen Blick auf den Wald zu konzentrieren. Ohne jeglichen Erfolg. Vor meinen Füßen tanzten immer noch ihre blonden Haare, streiften über meine Schuhe. Ich legte sie zwischen drei hohe Bäume und holte den Picknickkorb, die Flasche Wein und all ihre Habseligkeiten. Ich wickelte alles in die Decke ein und warf es neben ihren kalten Körper. Das Einatmen des Gestanks der Leiche und die überschüssige Aufregung brachten einen pochenden Kopfschmerz hervor. Der Hunger hatte wahrscheinlich auch etwas damit zu tun, ich hatte seit Mittag nichts gegessen. Schon beim Gedanken daran, in den Picknickkorb zu greifen, um eine Kleinigkeit zu essen, legte mein Magen automatisch sein Veto ein. Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten und hatte nicht einmal ein Viertel der Arbeit vollbracht. Ich holte den Spaten aus dem Auto.
Während meines kurzen Lebens hatte ich einige Zeit in Teilzeit auf Baustellen gearbeitet, auf denen junge Menschen gerne ohne Arbeitsvertrag beschäftigt wurden. Der größte Anteil der Arbeit bestand darin, 40-Kilo-schwere Zementsäcke und andere Materialien für ältere Vorarbeiter hin- und herzuschleppen. Für kurze Zeit war ich auch im Straßenbau tätig, wo ich bei der Positionierung von Gasleitungen half. Und für zwei Urlaubsmonate pflückte ich sogar Erdbeeren im Land unserer westlichen Nachbarn. Mitten im Wald ein Grab für ein totes Mädchen auszuheben, das noch ein paar Stunden zuvor die Antwort auf meine alltäglichen Probleme gewesen war, erwies sich als viel schwieriger als alle anderen Kraftakte zusammengenommen. Selbst mein Kampf mit dem Alkohol, der die Seele so angenehm beruhigen und den Geist in einen Zustand der Ekstase versetzen kann, schien im Vergleich so einfach wie das Lernen des Vaterunsers.
Bevor ich mit dem Bau eines anonymen Grabes begann, zog ich mich bis zur Unterwäsche aus und hing meine Kleidung auf den Ast eines kleinen Baumes. Meine Schuhe zog ich nicht aus. Ich zog die Handschuhe an, die ich aus dem Auto mitgebracht hatte. Ich begann damit, die Brennnesseln auszugraben. Die prickelnde Hitze dieser böswilligen Pflanzen griff meine Waden mit den ersten Spatenstichen an. Ich hatte mich bewusst dafür entschieden. Ich wollte lieber jetzt ein wenig leiden als später Iga Rede und Antwort zu stehen, was die mit Erde verschmutzte Kleidung anging. Dreckige Schuhe waren leicht zu erklären.
Ich grub ohne Unterbrechung. Irgendwann tat buchstäblich jeder Teil meines Körpers weh: Hände, Arme, Bauch, Beine. Eine bestimmte Art von brennendem Schmerz, der nur bei intensiver körperlicher Anstrengung auftritt, überkam mich. Er war mir gut bekannt. Trotz der niedrigeren Abendtemperatur, spürte ich die Kälte für einen Moment nicht. Ganz im Gegenteil, von meinen immer dynamischer werdenden Spatenstichen lief mir der Schweiß über die Schläfen und so floss all seine Salzigkeit in meine Augen.
„Ich werde dich nie vergessen, du wirst immer jemand Besonderes für mich bleiben.
Ich verfiel dem Wahnsinn. Ohne aufzuhören, den Spaten zu schwingen, führte ich ein Gespräch mit einer Leiche, die neben einer immer tiefer werdenden Grube lag. „Du hast alles verändert. Tut mir leid, aber ich konnte nichts tun“, sagte ich und keuchte vor Anstrengung.
Der einseitige Dialog mit der Leiche dauerte fast zwei Stunden. Mal entschuldigte ich mich bei Monika, mal lobte ich sie in den Himmel, um das schlechte Gewissen loszuwerden. Ich grub immer tiefer und fragte mich, ob die Grube nun tief genug war. Die Frage, ob die Erde den süßlichen Gestank ihrer Leiche gut überdecken würde und ob die Chemikalien, die ich über sie verschütten wollte, die Erde nicht übermäßig aufweichen lassen würden, quälte mich.
„Du wirst sehen, ich werde es dir bequem machen, Liebling, damit du ja nicht frierst.“ Der Wahnsinn nahm viele Formen an. Ich war besorgt, dass es Monika vielleicht kalt in ihrem Grab sein würde. Für einen Moment nahm ich meine Gedanken absolut ernst. „Ich weiß, dass du mich verstehen wirst. Ich hatte doch keine andere Wahl.“
Ich fühlte, wie die Hühneraugen an meinen Händen durch meinen festen, den Spatenstiel umschließenden, Griff wuchsen. Ab und zu kam ich außer Atem, aber ich hörte bis zum bitteren Ende nicht auf zu graben. Ich wusste, dass, falls ich eine Pause eingelegt hätte, ich nicht wieder angefangen hätte zu graben. Ich schwang den Spaten ununterbrochen bis ich ein etwa ein Meter zwanzig tiefes, ein Meter achtzig langes und sechzig Zentimeter breites Loch gegraben hatte. Ich stieg aus dem Loch und bückte mich sofort nach dem grässlichen toten Körper des Mädchens, das noch vor ein paar Stunden voller Lebensfreude gewesen war. Vom Mond vollständig beleuchtet war Monikas Gesicht nun komplett blau angelaufen. Sie glich einem hungrigen Vampir, der bereit war, hektoliterweise Blut zu trinken, und die erste, herbeigelaufene Person ihres Lebens zu enteignen. Die in der Ferne dröhnenden Eulen untermalten den Realismus der Szene mit ihrem unheimlichen Klang.
Ich zog Monikas Leib an den Händen zur Grube und warf sie in ihr Grab wie einen Zementsack. Sie hatte wieder an Gewicht zugenommen und ihre Körpertemperatur fiel drastisch. Sie fiel auf den Rücken. Ich hatte ihre Augen nicht geschlossen, das unsichtbare Kraftfeld blockierte immer noch effektiv den Zugang zu ihr. Als ich so das geronnene Blut auf ihren offenen, violetten Lippen und ihr blondes mit Erde bedecktes Haar, den süßlich-fauligen Gestank riechend, betrachtete, musste ich mich fast übergeben. Mir wurde schwindelig. Der Schweiß auf meinem Körper wurde unangenehm kalt. Ich musste mich wieder zusammenreißen. Ich goss den Rohrreiniger ins Grab, in der Hoffnung, dass er seinen Job machen würde. Ich fing an Monika zu begraben, um ihr zu helfen, für immer aus dieser Welt zu verschwinden, und mir zu helfen, ein Teil dieser Welt zu bleiben.
Das Vergraben der Leiche war viel kürzer als das Ausheben der Grube. Ich fiel wieder in eine Trance und schwang meinen Spaten schnell hin und her. Monika verschwand zusammen mit den aufeinanderfolgenden Erdklumpen, die das tiefe Loch zwischen den Bäumen füllten. Zuerst bedeckte ich ihren Kopf, da dieser am stärksten an meinem Herz rüttelte, dann den Rumpf, die Hände und schließlich ihre Beine. Die äußerste Schicht des Grabes formte ich von Hand aus Erdklumpen mit Gras und Brennnesseln. Sie hatten ihre Eigenschaften nicht verloren, dieses Mal verbrannte ich mir meine Unterarme. Das Ganze verdeckte ich mit vielen gesammelten Blättern. Ich fühlte mich entsetzlich. Das Rascheln der Bäume spielte eine deprimierende Beerdigungs-Arie für ein charmantes Mädchen, das das Schicksal, das ihr widerfahren war, nicht verdient hatte.
Nach einer kurzen Pause, bestehend aus bewegungslosem Verharren vor dem Waldgrab, grub ich noch ein Loch. Ein viel kleineres und flacheres. Es hat mich wenig Mühe gekostet, was die Kälte unerträglich erscheinen ließ. Ich musste mich wieder anziehen. Zusätzlich hatte ich eine Jeansjacke mitgebracht. Auf der Lichtung lagen noch die letzten Spuren von Monikas Anwesenheit. Ich goss den Wein in die Büsche. Ich bereitete den Picknickkorb, den Inhalt ihrer Tasche und Grillanzünder vor. Ich organisierte alles ordentlich auf der Decke. Mir fiel auf, dass ihr Personalausweis fehlte. Es spielte keine Rolle mehr. Ich nahm das Feuerzeug in die Hand und war bereit alles anzuzünden, als mein Blick sich unbewusst gen Monikas Handy wandte. Ich hob es auf, nichts Besonderes, ein gewöhnliches altes Nokia. Man könnte sagen: eine Antiquität, auf dem Bildschirm ein traditionelles Nokia-Logo auf einem blauen Hintergrund. Ich schaute mir ihre Kontakte an. Ich wollte etwas über sie erfahren. Ich kannte ja noch nicht einmal ihren Nachnamen. Ich fühlte, dass ich ihr dessen schuldig war. Im Adressbuch waren nur zwei Kontakte gespeichert, außer eines Paketdienstes, des technischen Supports oder der Nummer zum Aufladen des Guthabens. Sie hatte die Nummern unter recht normalen Namen gespeichert: Mama und Wiktorrr. Ich fand es seltsam, dass eine so fröhliche, vor lauter Lebensfreude pulsierende Person keine Freunde, Onkel, Brüder, Schwestern oder irgendjemand anderen in ihren Kontakten hatte.
Ich öffnete den Ordner mit SMS-Nachrichten. Drei von mir, eine von Mama. Ihre Mutter würde nie erfahren, warum ihre Tochter plötzlich aufhörte, ihre Anrufe zu beantworten, sie zu besuchen und überhaupt jegliche Lebenszeichen von sich zu geben. Irgendwann würde sie verstehen, dass sie verschwunden war. Sie würde es wahrscheinlich der Polizei melden und den Rest ihres Lebens würde sie hoffen, dass eines magischen Tages ihr Kind wieder an die Tür des Familienhauses klopft. Nicht nur Monika würde den Preis für die Stabilisierung meines Lebens bezahlen – auch ihre Angehörigen würden wegen meiner Entscheidung leiden. Ich las die einzige Nachricht von ihrer Mutter: „Egal wie sehr du mich hasst, du wirst immer mein Kind bleiben.“ Vor sieben Monaten verschickt. Vielleicht würde ihre Mutter gar nicht von der Abwesenheit ihrer Tochter überrascht sein … ich schrieb ihre Nummer auf, was natürlich jeglicher Logik widersprach Aber was logisch war, war mir scheißegal. Ich musste immer im Hinterkopf behalten, dass ich jederzeit diese Frau hätte anrufen und ihr vom Schicksal ihrer Tochter, die sie hasste, hätte erzählen können. Ich speicherte den Kontakt als Kreditvorschlag, nicht abheben, nur so für den Fall aller Fälle. Schließlich konnte ich ihn ja nicht als Mutter meiner toten Liebhaberin, lieber nicht anrufen, speichern. Ich zerstörte die SIM-Karte, bevor ich das antike Nokia ausschaltete.
Es blieb nichts anderes übrig, als den Grillanzünder zu entfachen. Das getrocknete Holz des Picknickkorbs fing an in einem schwindelerregenden Tempo zu lodern, die Decke tat es ihm gleich. Eine leichte Brise heizte das Feuer weiter an und trocknete dabei den Schweiß auf meinem Körper. Ich beobachtete das ungewöhnliche Lagerfeuer mit Bedauern, welches sich in der Statur meines Rückens bemerkbar machte. Mein Blick fixierte auf Monikas Wohnungsschlüsseln, als sie langsam von den Flammen verschlungen wurden. Mein Gehirn schickte sofort einen Impuls an den Körper. Es zwang mich zu handeln. Trotz der Hitze steckte ich meine Hand mitten ins Feuer. Ich schnappte mir schnell die Schlüssel und warf sie fast sofort hinter mich. Im Vergleich zum heißen Metall, fühlten sich die Brennnesseln vorher wie die leckende Zunge eines kleinen, gehorsamen Hündchens an. Ich kühlte die Schlüssel mit meiner Schuhsohle und nahm sie wieder in die Hand. Der Schlüsselbund bestand aus drei Schlüsseln, einem für das Treppenhaus und zwei für die Haustür. Befestigt war der ganze Bund an einem Schlüsselanhänger, der vor dem feurigen Kontakt einem Coca-Cola-Logo geähnelt hatte. Ich verstaute die Schlüssel in meiner Hosentasche. Ich handelte impulsiv. Ich wusste ganz genau, dass sie bei der Besitzerin unter der Erde bleiben sollten. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, etwas zu besitzen, das mich für immer an die heutige Nacht erinnern würde. Besonders wenn ich mal wieder auf die Idee gekommen wäre mit einer neuen Bekannten einen Kaffee trinken zu gehen.
Die Sachen aus dem ausgebrannten Feuer warf ich in die zweite, zum Glück viel kleinere Grube, und vergrub alles. Das Ganze bedeckte ich mit Blättern. Ich vollendete das einzige Verbrechen, das ich je begangen hatte. Ich hatte den Tod eines Menschen vertuscht. Ich fühlte mich scheußlich, aber zugleich in Sicherheit getaucht. Meine Angst und mein Herzschlag, der im Rhythmus dieser pochte, vermischte sich mit einem angenehmen, tiefen Atmen, das nur durch eine kolossale Erleichterung zu Stande kommen kann. Den chaotischen Alltag konnte ich weiterhin an der Seite meiner Frau verbringen, die in unserer sicheren häuslichen Abgeschiedenheit auf mich wartete. Ich wollte unbedingt zu ihr zurück. Ich wusch meine Hände und mein Gesicht unter einem provisorischen Wasserhahn, der aus einer Literflasche Mineralwasser bestand. Ich trocknete mich mit Taschentüchern ab. Zwar sah ich immer noch nicht aus, als wäre ich gerade frisch aus dem Theater gekommen, aber das war egal. Mit dem Handy im Taschenlampenmodus suchte ich sorgfältig die gesamte Lichtung ab. Ich musste auf Nummer sicher gehen, dass ich keine Spuren hinterlassen hatte. Die Situation war spätestens ab jetzt todernst, da mir eine saftige Gefängnisstrafe drohte. Meine Sorgfalt lohnte sich in jedem Fall. Im Dunkeln fand ich die Kondome, deren Plastikfolienverpackung sich im Licht der Taschenlampe spiegelte. Ich versteckte das Paket in meiner Jackentasche, ging noch einmal um die Lichtung herum und stieg ins Auto. Monikas Schlüssel verstaute ich in der Armlehne. Iga würde nie so tief in den Ecken des Autos kramen. Ich glaube, sie wusste nicht einmal von diesem Stauraum. Müde, verwirrt, mit schmerzendem Kopf und einer explosiven Gefühlsmischung konnte ich endlich den Ort verlassen, den ich geplant hatte, niemals wieder zu besuchen.
Ich lauschte den monotonen Technobeats, die an den Wänden des Autoinnenraums abprallten wie der lauteste Flummi der Welt. Ich versuchte eine klangliche Folter mit der Anderen zu übertönen. Es funktionierte nicht. Monikas Keuchen vor ihrem Tod hatte offenbar beschlossen, das neue Auto-Gespenst zu werden. Es drang die ganze Zeit durch die modernen Clubsounds. Von dem Moment an, als ich den Motor zündete, bis hin zum Moment, als ich ihn in der Einfahrt unseres Einfamilienhauses in Rybitwy ausschaltete. Die Fassade unseres Hauses war noch nicht fertig. Die Auffahrt war mit Gras überwuchert, das nur auf einen Zauberstab wartete, der Bargeld herbeizauberte und das Gras in Kopfsteinpflaster verwandeln würde. Und, zu guter Letzt, bestand Igas Traumgarten derzeitig aus Gänsedisteln und Unkraut. Bis vor Kurzem war Rybitwy noch ein typisches Industriegebiet gewesen. Dank niedriger Grundstückspreise und guter Bonität waren wir im Stande gewesen, etwas zu bauen, das wir mit etwas Glück in etwa zwanzig Jahren besitzen und unser eigenes Zuhause nennen können würden. Obwohl das Haus nur ein Wohnzimmer mit Küche, eine Garage, ein Bad und zwei Zimmer im Obergeschoss hatte, präsentierte es sich, verglichen mit Monikas kleinem Kabuff, wie das Anwesen der Carringtons.
Ich öffnete leise die Haustür. Es war lange nach Mitternacht und Iga schlief bestimmt schon. Ich wollte sie nicht wecken. Ich zog die Schuhe im Flur aus und tastete mich im Dunkeln nach oben. Ich kannte den Schnitt unseres Hauses auswendig und brauchte das Licht nicht anzumachen. Unser Schlafzimmer befand sich im ersten Stock rechts von der Treppe. Die Dunkelheit im Haus wurde durch den flimmernden Fernseher an der Wand gestört. Iga schlief bis zum Hals in einer lila Bettdecke eingekuschelt. Auf dem Bildschirm war ein Wahrsager zu sehen, der einem Homosexuellen glich, als er die Kristallkugel abtastete wie das Gesäß seines Liebhabers. Meine Frau schaltete den Fernseher nachts nie aus. Es schwebte ein Mandel-Brombeer-Duft in der Luft, der darauf hinwies, dass meine Frau erst vor einer Viertelstunde ihre Kosmetikroutine beendet hatte. Ich setzte mich diskret auf das Bett. Als ich mein Hemd auszog, hörte ich ein leises Rascheln. Ich war fast aufgesprungen, als ich dachte, das Echo von Monikas Keuchen wäre mir aus dem Auto bis hin ins Schlafzimmer gefolgt.
„Wiktor? Wiktor, bist du das?“, fragte sie recht undeutlich mit leiser Stimme und drehte sich zu mir um. Sie trug ein rosafarbenes Nachthemd. Das Licht des Fernsehers hob ihr langes, ovales Gesicht, ihre schmalen Lippen, ihre kleine Nase und ein kleines Muttermal unter ihrem rechten Auge brillant hervor. Sogar mitten in der Nacht sah sie wunderschön aus.