Blink of Time - Rainer Wekwerth - E-Book

Blink of Time E-Book

Rainer Wekwerth

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Beschreibung

Sarah Layken flieht vor der Realität - doch vor welcher? Ein Junge will ihr helfen - doch woher weiß er von ihrem Problem? Kein Leben ist wie das andere - doch welches ist das richtige? Um das richtige Leben zu finden, um ihre Liebe wiederzutreffen, um ihren Bruder vor einem Unglück zu bewahren, muss Sarah Layken die gleiche Situation wieder und wieder durchleben. Sie kann sich immer wieder für ein neues Leben entscheiden, aber sie kennt vorher niemals den Preis, den sie dafür bezahlen muss. "Spannung pur." (books-are.fantastic.blogspot.de) "Komplex, rasant, dramatisch. 'Blink of Time' ist eine Geschichte voller Spannung und Überraschungen. Fesselnd bis zum letzten Satz." (bambinis-buecherzauber.blogspot.de) "Das Buch 'Blink of Time' ist wie die anderen Romane von Rainer Wekwerth großartig geschrieben. Es ist sehr fesselnd und unbedingt lesenswert." (Gmünder Tagespost)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 325

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Rainer Wekwerth

Blink of Time

Rainer Wekwerth,in Esslingen am Neckar geboren, schreibt aus Leidenschaft. Er ist Autor erfolgreicher Bücher, die er teilweise unter Pseudonym veröffentlicht und für die er Preise gewonnen hat. Zuletzt die »Segeberger Feder«, die »Ulmer Unke« und die »Goldene Leslie« für den 1. Band der Labyrinth-Trilogie. Außerdem stand er auf der Nominierungsliste des »Buxtehuder Bullen«. Neben dem Schreiben coacht er Autoren und Schreibschüler, ist Ehemann und Vater einer Tochter. Rainer Wekwerth lebt mit seiner Familie im Stuttgarter Raum. www.wekwerth.com

Weitere Bücher von Rainer Wekwerth im Arena Verlag:

Das Labyrinth erwacht Das Labyrinth jagt dich Das Labyrinth ist ohne Gnade Damian. Die Stadt der gefallenen Engel Damian. Die Wiederkehr des gefallenen Engels

Für Volker und Peter, meine Freunde. Wo immer ihr jetzt auch sein mögt, ich hoffe, ihr habt ein neues Leben gefunden.

1. Auflage 2015 © 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Ein Projekt der AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur (www.ava-international.de) Cover: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80462-0

www.arena-verlag.deMitreden unterforum.arena-verlag.de

Prolog

Der Wind umspielte sein Gesicht, tanzte in seinen Haaren, während er in die Tiefe starrte. Noch waren seine Augen geöffnet, noch sah er hinab auf den Grund der Schlucht, nahm jedes Detail wahr. Die nackten Felsen, das niedrige Buschwerk, die Dürre und die flirrende Hitze, die über allem lag.

Es war heiß und windig, doch der Wind brachte keine Kühlung. Er trocknete seine Lippen aus, und obwohl er immer wieder mit der Zunge darüberleckte, wurde es nicht besser. Aber es war egal, das alles drang nur am Rande in sein Bewusstsein, denn er konzentrierte sich ganz auf den Augenblick, auf die Erhabenheit und die Verzweiflung, die darin lag.

Wie oft schon hatte er hier oben gestanden und nach unten geblickt? Er wusste es nicht. An manchen Tagen war es so heiß wie heute gewesen, an anderen hatte er sich frierend am Brückengeländer festgehalten. Mal hatte die Sonne sein Gesicht verbrannt, mal hatte sich der Regen wie eisige Nadelstiche angefühlt.

Doch ganz gleich, wie oft er gesprungen war, wie oft er gesucht hatte – er hatte nichts gefunden.

Und wieder einmal spürte er den Schmerz in seinem Inneren. Er war zu seinem ständigen Begleiter geworden, genau wie die Traurigkeit, die ihn wie ein alter Freund auf seinen Wegen begleitete.

Wie oft noch muss ich fallen, bis ich sie wiederfinde?

Vielleicht würde es niemals geschehen. Und dennoch durfte er nicht aufgeben, musste sie suchen, auch wenn er dabei zunehmend sich selbst verlor.

Es war stets anders und doch immer gleich.

Dieser eine Augenblick der Vollkommenheit, wenn er wusste, nur noch ein Schritt lag vor ihm, nur noch ein Schritt und die Welt würde hinter ihm zurückbleiben.

Stille kehrte in sein aufgewühltes Inneres ein.

Dann war es so weit.

Als er die Augen schloss, nahm er den Duft der Wüstenblumen wahr. Es war ein zärtlicher Duft, zurückhaltend und doch bedeutsam für ihn. Er spürte die kleine blaue Blume in seiner Hand. Ohne die Augen zu öffnen, legte er sie auf dem Geländer ab.

Das tat er immer, bevor er ging.

Diese kleine Blume war so etwas wie ein Zeichen. Ein Zeichen, dass er hier gewesen war, in dieser Welt gelebt und geatmet hatte. Doch nun war es Zeit zu gehen, das Hier und Jetzt zu verlassen. Nur die Blume würde an seine Existenz erinnern, und das war gut so, denn mehr brauchte es nicht.

Noch einmal sog er tief die Luft ein.

Dann breitete er die Arme weit aus.

Und fiel.

1.

Sonnenstrahlen blitzten durch die heruntergelassenen Jalousien, als Sarah erwachte. Das Licht tänzelte über ihre Nase, während sie nach dem Radiowecker griff, um die Uhrzeit abzulesen. Just in diesem Moment sprangen die Leuchtziffern um und das Gerät schaltete sich ein.

Randy Brandsoms markante Stimme erfüllte den Raum und wünschte allen Hörern einen wundervollen Morgen, der seiner Meinung nach in einen wundervollen Tag übergehen würde, denn die aktuellen Wetterdaten versprachen angenehme Temperaturen bei wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein.

Sarah lächelte. Sie mochte Randy. Jeder mochte Randy, obwohl niemand wusste, wie er aussah. Merkwürdigerweise gab es keine Fotos von ihm, weder im Internet noch sonst wo. Es gab nur diese dunkle Stimme, die immer zu lachen schien und gute Laune verbreitete.

Vielleicht ist das sein Geheimnis, dachte Sarah. So kann sich jeder selbst ein Bild von ihm machen und Randy kommt der Idealvorstellung eines jeden Zuhörers sehr nahe.

Sie selbst stellte sich Randy Brandsom als einen in die Jahre gekommenen Surfertypen vor, mit sonnengebräuntem Gesicht und langen, ausgeblichenen Haaren, die sich kaum bändigen ließen. Wahrscheinlich trug er alte schlabbrige T- Shirts, abgeschnittene Jeans und Flipflops. Aber auch wenn er ein übergewichtiger Mann mit Halbglatze in schlecht sitzendem Anzug wäre, würde das keine Rolle spielen. Randy sorgte dafür, dass der Tag mit guter Laune begann.

»Leute«, dröhnte es aus dem Radio. »Habt ihr schon gehört, was unsere Bürgermeisterin vorhat? Die wunderbare Elizabeth O’Brian will den alten Vergnügungspark unten am Hafen abreißen lassen, um Platz für ein neues Einkaufszentrum zu machen.«

Eine wirkungsvolle Pause trat ein, dann sprach Randy weiter: »Das Wahrzeichen dieser Stadt soll verschwinden, damit eine weitere Shoppingmall entstehen kann, in der wir Sachen kaufen, die wir nicht brauchen, und uns den Magen mit Fast Food vollschlagen, das nicht gesund für uns ist. Ein Spitzenplan, Mrs O’Brian. Sicher, sicher, der Vergnügungspark ist geschlossen, die meisten seiner Attraktionen verrotten und das alte, mächtige Riesenrad rostet stumm vor sich hin, aber was wäre, wenn man dieses achtzig Jahre alte Kulturgut wieder in Schuss bringen würde? Für einen Bruchteil des Geldes, das ein Einkaufszentrum kostet, würden wir etwas erschaffen, woran die Leute Spaß hätten! Stellt euch das nur mal vor …«

Ja, gib’s ihr, Randy.

Sarah musste grinsen. Schon seit Jahren legte sich der Moderator des kleinen Senders immer wieder mit den Stadtoberen an. Zwar meist erfolglos, aber das war Randy egal. Ihm ging es darum, den Mächtigen den Spiegel vorzuhalten und sie daran zu erinnern, was die einfachen Leute wollen. Die Menschen in West Harbour liebten ihn dafür und nannten ihn »Radio Hood«. Randys Sheriff von Nottingham hieß O’Brian und Sarah wusste, er würde seinen Kampf niemals aufgeben.

Nachdem sie sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, tappte sie auf nackten Füßen ins Badezimmer hinüber. Von unten hörte sie das vertraute Geklapper des Geschirrs und das metallische Klonk, als ihre Mutter die Pfanne auf die Herdplatte stellte. Unvermittelt blieb Sarah im Flur stehen.

Schon wieder Pfannkuchen mit Ahornsirup, seufzte sie stumm. Entweder das oder es gab Rühreier mit Speck und Toast. Bei den Laykens frühstückte man gern kräftig, eine Tatsache, die Sarah nicht gerade glücklich machte, denn obwohl sie eine sportliche Figur hatte, musste sie im Gegensatz zu den meisten ihrer Freundinnen auf ihr Gewicht achten.

Manchmal nahm sie eine Bauchfalte zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte sie zusammen, sodass ein Wulst entstand. Ihre Mutter sagte dann immer, das sei völlig normal und würde bei jedem funktionieren. Sarah sah das anders. Wenn man diese Falte nicht im Blick behielt und alles in sich reinstopfte, worauf man Lust hatte, konnte daraus schnell ein hautfarbener Schwimmring werden.

Ihre Eltern hatten überhaupt keine Schwierigkeiten mit dem Gewicht, ein Umstand, den Sarah mehr als ungerecht empfand. Vierzigjährige sollten nicht schlanker sein als ihre siebzehn Jahre alte Tochter.

Sarah seufzte ein weiteres Mal, während ihr der Geruch von heißer Butter in die Nase stieg. Sie wusste, dass ihre Eltern sich ihre Figur hart erarbeiteten. Die beiden spielten zweimal die Woche Tennis und gingen ebenso oft joggen. Sarah hasste beides. Mit weißen Sportklamotten auf dem Court rumzurennen, hatte in ihren Augen etwas von Arzthelferinnen, die in Panik geraten waren, und meilenweit durch den Wald zu laufen, war nicht nur anstrengend, sondern auch vollkommen öde.

Es war nicht so, dass sie gar keinen Sport mochte. Schulsport, besonders Hockey und Basketball, war ganz okay, aber man musste es ja nicht übertreiben.

Das Merkwürdige an ihren Eltern war, dass sie einerseits zwar sehr sportlich waren, andererseits jedoch alles in sich hineinstopften, was irgendwie kalorienreich war. Sie waren zwar keine Fast-Food-Anhänger, aber ständig wurde im Garten gegrillt und Obst und Gemüse fochten einen aussichtslosen Kampf gegen riesige Steaks, Hamburger und fettige Donuts.

Das passte doch nicht zusammen!

Sarah hatte schon seit einiger Zeit das Gefühl, in die falsche Familie geraten zu sein. Besonders seitdem ihr inzwischen zwei Jahre alter Bruder Ben als Nachzügler auf die Welt gekommen war und sie vom Thron der Aufmerksamkeit verdrängte. Nicht, dass Sarah viel Aufmerksamkeit gebraucht hätte, aber seit dem Tag, als ihre Eltern ihren Bruder aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht hatten, war sie irgendwie unsichtbar geworden. Die beiden schienen sie nur noch wahrzunehmen, wenn es darum ging, den Kleinen mal zu halten, zu wickeln oder irgendwelche Babynahrung und Windeln aus dem Supermarkt zu holen.

Selbst ihren Schulnoten wurde keinerlei Beachtung mehr geschenkt. Dabei hatten ihre Eltern ihr zuvor bei jeder Gelegenheit eindringlich erklärt, wie wichtig ein guter Abschluss für das weitere Leben war. Inzwischen schien es allerdings nicht mehr so bedeutsam zu sein, mit welchen Ergebnissen sie in der Schule abschnitt und auf welches College sie anschließend gehen würde.

Okay, jetzt übertreibe ich. Ganz egal wird es ihnen nicht sein. Trotzdem ist es mies, wie wenig sie sich dafür interessieren, was in meinem Leben so passiert.

Unwillkürlich musste sie an Patrick denken. Dass mit ihm Schluss war, hatten ihre Eltern kaum registriert, obwohl sie ihnen davon erzählt hatte. Erst haben sie ignoriert, dass ich einen Freund habe, und dann ist es ihnen egal, dass die Beziehung vorbei ist.

Ihre Gedanken glitten zu dem Moment, als sie Patrick gesagt hatte, dass es aus war. Stumm hatte er aus dem Fenster seines Zimmers gestarrt, während sie ihm erklärte, warum sie ihrer Beziehung keine Chance mehr gab. Dabei hatte er auf eigentümliche Weise die Lippen zusammengepresst und sie hatte beobachtet, wie sich seine Schultern anspannten, so als wolle er am liebsten aufspringen und davonrennen. Und die ganze Zeit über hatten sich seine Hände geöffnet und wieder zu Fäusten geballt. Unermüdlich.

Sechs Monate waren sie zusammen gewesen, aber diese Zeit war nun vorüber.

Von unten drang Bens sinnloses Geplapper nach oben. Sarah lauschte, was er da von sich gab, aber außer einzelnen Wörtern wie »Milch« und »Bagger« war nichts zu verstehen. Ihre Eltern schien das nicht zu stören. Sarah hörte, wie sie lachten und ihn für seine »Fortschritte« lobten. Sie verdrehte die Augen.

Immer nur heißt es Ben hier und Ben da. Dabei kann er inzwischen laufen und ein paar Worte sprechen! Aber noch immer benahmen sich beide, als könnte er jeden Moment umfallen und wie eine kostbare Vase zerbrechen. Als wäre er der Mittelpunkt des Universums …

Sarah wandte sich ab und trat ins Badezimmer. Im Spiegel gab es nicht Neues. Die gleichen dunklen Haare, die in leichten Wellen auf ihre Schultern fielen und unbedingt einen neuen Schnitt brauchten. Okay, heute war definitiv ein Bandana-Tag. Damit sah sie zwar immer etwas freakig aus, aber es gab ihr auch einen persönlichen Touch. Genau wie die Ringe unter deinen Augen, Baby, hörte sie in Gedanken die Stimme ihrer besten Freundin Lona. Sarah zog eine Grimasse. Vielleicht sollte ich aufhören, bis mitten in die Nacht hinein Musik zu hören …

Nachdem sie ihr Gesicht gewaschen hatte, trug sie Wimperntusche und einen dicken Kajalstrich auf. Dann warf sie einen weiteren Blick in den Spiegel. Um ihre Augen lag ein melancholischer Hauch. Es gefiel ihr. Es passte zu ihrer Stimmung. Wenigstens war ihre Nase okay. Schön gerade und Gott sei Dank nicht zu groß. Dass sie seit Kurzem ihre Zahnspange nicht mehr tragen musste, war eindeutig ein Pluspunkt. Aber der Mund. Der war zu breit. Wenn sie nur die Mundwinkel anhob, sah es schon aus, als lächelte sie. Dabei fühlte sie sich nicht nach Lächeln. Das gute Gefühl, das sie beim Aufstehen verspürt hatte, war plötzlich verflogen.

Ach, Randy. Nicht jeder von uns kann sich vor der Welt verstecken.

Lustlos kämmte sie ihre Haare und zog sich anschließend an. T-Shirt, weite Jeans und ein schwarzes Sweatshirt mit Kapuze. Das Bandana würde sie später umbinden.

Okay, auf in den Kampf.

Auf der letzten Treppenstufe blieb Sarah stehen und betrachtete die Szene, die sich ihr bot. Ihre Mom stand wie jeden Morgen am Herd und goss Teig in die Pfanne. Und wie jeden Morgen wandte sie beim Knarren der Treppenstufe kurz den Kopf und begrüßte sie mit einem gut gelaunten »Hi, Schatz!«.

Der Duft von frischem Kaffee lag in der Luft. Im Gegensatz zu vielen ihrer Bekannten schworen ihre Eltern auf altmodisch gebrühten Filterkaffee. Manchmal hätte sich Sarah gern einen Cappuccino oder einen Latte macchiato gemacht, aber im Haus gab es keinen Vollautomaten, und Milch auf konventionelle Art zu erhitzen oder aufzuschäumen, war ihr zu mühselig.

Ihr Vater sah nicht von seiner Zeitung auf, sondern brummte nur etwas davon, dass sie mal wieder zu spät dran sei. Ben saß in seinem Hochstuhl und panschte in seinem Brei herum. Irgendwas mit Apfel, so roch es jedenfalls. Das ganze Gesicht verschmiert, lächelte er sie strahlend an.

»Sarah«, plapperte er fröhlich. »Ben isst Mus.«

»Hallo, Kröte.«

»Du sollst ihn nicht immer so nennen«, knurrte ihr Vater hinter seiner Zeitung. »Irgendwann glaubt er noch, das wäre sein Name.«

»Ben ist eine Kröte«, rief ihr kleiner Bruder aus.

»Grammatikalisch korrekt«, sagte Sarah und hob die Hand zum Abklatschen an. »Gib mir fünf.«

Bens Hand patschte an ihrer vorbei und knallte auf die Tischplatte. Sofort begann er zu heulen. In einer Lautstärke, dass man glauben konnte, die Sirenen unten am Hafen warnten vor dem nächsten Tsunami.

Ihre Mutter sagte nur vorwurfsvoll »Sarah!«, dann wandte sie sich Ben zu und begann, ihn zu trösten.

Ihr Vater sah sie streng an. »Das hast du jetzt davon.«

»Mann, es ist nichts passiert. Er hat sich nur ein bisschen wehgetan.«

»Nenn mich nicht ›Mann‹, das kann ich nicht ausstehen. So kannst du mit deinen Freunden reden, aber nicht mit mir.«

»Ach ja?«, erwiderte Sarah gedehnt. »Wer sagt denn hier dauernd ›Fuck‹! Fuck dies, Fuck das. Erzähl du mir nichts davon, wie man sich ausdrückt.«

»Du bist ganz schön frech, weißt du das?« Ihr Vater knüllte die Zeitung zusammen und warf sie achtlos auf den Frühstückstisch. »Lange lass ich mir das nicht mehr gefallen.«

Sarah verdrehte die Augen. »Nicht normal«, murmelte sie.

»Was?«

»Wie du dich künstlich aufregst.«

»Ehrlich, Sarah, übertreib’s nicht.«

»Jetzt chill mal, es ist doch …«

In diesem Moment rief ihre Mutter: »Die Pfannkuchen!« Mit einem Satz war sie beim Herd, aber es war schon zu spät. Der Geruch von verbranntem Teig erfüllte die Küche.

»Da siehst du’s«, sagte ihr Vater.

»Das ist nur ein Pfannkuchen.«

»Nein, es ist ein Symbol dafür, wie du dich benimmst. Du machst nur Schwierigkeiten.«

Sarah spürte, wie es in ihr zu brodeln begann. »Ihr könnt mich ja rausschmeißen.«

»Jetzt hör aber auf!«, schimpfte ihre Mutter. »Niemand will dich …«

Aber Sarah hatte sich schon abgewandt. Im Flur schnappte sie sich ihren Rucksack und den Schlüssel.

»Was ist mit deinem Frühstück?«, rief ihre Mom ihr hinterher.

»Keinen Hunger.« Sarah hatte bereits die Klinke in der Hand. »Ihr braucht heute Abend nicht auf mich zu warten. Ich komme später.«

Die Antwort ihres Vaters hörte sie nicht mehr. Seine Stimme wurde von der Haustür verschluckt, als sie mit einem satten Knall hinter ihr ins Schloss fiel. Dann war sie in der Auffahrt verschwunden.

2.

Während Sarah an der Bushaltestelle stand, dachte sie darüber nach, wie der Morgen verlaufen war.

Sie verstehen mich nicht. Egal, was ich tue oder sage, ich ecke immer an. Ob es besser wäre, einfach abzuhauen?

Sie stellte sich diese Frage nicht zum ersten Mal. In letzter Zeit stritten sie und ihre Eltern nur noch. Jeder von ihnen sagte Dinge, die den anderen verletzten – und die sie später bereuten.

Sarah wusste, dass sie ihren Teil dazu beitrug, aber irgendwie konnte sie nicht anders. Sie hatte das Gefühl, gefangen zu sein. Es war, als wären sie und ihre Eltern aneinandergekettet, und wenn sie sich weiter so stritten, würden sie miteinander untergehen.

Sie seufzte. Ihr Leben war so ganz anders als in den Büchern und Filmen, in denen glückliche Teenager unbeschwert ihr Leben genossen. Sie selbst war ständig am Denken und Grübeln, hatte Probleme mit ihren Eltern, der Schule und ihrem Freund, der jetzt ihr Exfreund war.

Sarah wusste, dass diese Probleme ein Stück weit zum Erwachsenwerden dazugehörten, aber sie hatte niemals gedacht, dass es so schwer sein könnte.

Heute war es besonders hart. All ihre Probleme lasteten auf ihr, drückten sie nieder und es gab keine Aussicht darauf, dass sich irgendetwas ändern würde.

Kapier’s endlich, Babe, die unbeschwerten Kindheitstage sind vorbei, hörte sie Lonas Stimme in ihrem Kopf. Gegen ihren Willen musste Sarah grinsen.

Am Ende der Straße tauchte der Schulbus auf und die Kinder drängten nach vorn an den Gehsteig. Sarah beobachtete, wie die Jüngeren sich gegenseitig schubsten und anrempelten und dabei fröhlich lachten. Wehmut kam in ihr auf.

Wann war ich das letzte Mal so unbeschwert?

Sie wusste es nicht.

Der Bus war halb leer. Sarah hatte ihre Kopfhörer in die Ohren gesteckt und lauschte der elektronischen Musik eines schwedischen DJs, der derzeit ziemlich angesagt war. Sie mochte die Töne, die scheinbar schwerelos durch den Äther schwebten und irgendwie aus einer anderen Welt zu stammen schienen.

Sarah nickte dem Busfahrer zu und sah sich nach einem Sitzplatz um. Vorn im Bus waren fast alle Plätze von jüngeren Schülern belegt, die unentwegt quasselten oder irgendwelche Games auf ihren Handys zockten. Als ihr Blick weiter nach hinten wanderte, sah sie ihn.

Josh Stiller.

Der ungewöhnlichste Typ an ihrer Schule, um den sich so viele Gerüchte rankten. Wie immer saß er in der letzten Reihe in eine Ecke gedrückt und starrte aus dem Fenster. Seine zerzausten Haare hatten jede Schattierung von Blond, die man sich vorstellen konnte. Ebenmäßige Gesichtszüge, markante Augenbrauen, eine gerade Nase und ein Zehntagebart. Dazwischen der schönste Mund, den Sarah jemals bei einem Typen gesehen hatte. Eine normale Oberlippe und eine volle, sinnliche Unterlippe bildeten einen merkwürdigen, aber sehr anziehenden Kontrast.

Josh Stiller sah gut aus, keine Frage, aber seine strahlend grünen Augen machten ihn zu einem Hammertypen. Dabei war Sarah aufgefallen, dass diese Augen niemals lächelten. Ebenso wenig, wie Josh Stiller jemals lächelte.

Er war das Gesprächsthema Nummer eins, seit er vor zwei Wochen in ihre Parallelklasse gekommen war. Fast alle Mädchen an der Schule schwärmten für ihn, aber Josh Stiller war unnahbar. Er sprach mit niemandem, hatte keine Freunde und niemand kannte seine Familie. Es gab keinen einzigen Mitschüler, der wusste, wo er wohnte. Dementsprechend ersetzte die Fantasie der Leute die fehlenden Informationen. Es hieß, er wäre im Gefängnis gewesen. Andere meinten, er habe ein Mädchen geschwängert und sei abgehauen. Und wieder andere glaubten, er wäre gar kein Amerikaner, sondern ein deutscher Austauschschüler, denn der Name Stiller hatte eindeutig deutsche Wurzeln.

Sarah glaubte nichts von alledem. Sie selbst war eine der wenigen, die schon einmal mit ihm gesprochen hatten.

Drei Reihen vor der hintersten Bank setzte sich Sarah auf einen freien Platz schräg gegenüber von Josh, der keine Notiz von ihr zu nehmen schien, sondern weiterhin nach draußen blickte, obwohl es da nichts Besonderes zu sehen gab.

Sarah legte ihre Tasche auf den Sitz neben sich und dachte daran, wie sie Josh Stiller das erste Mal begegnet war.

3.

Drei Wochen zuvor

Es war ein heißer Tag. Viel zu heiß und trocken für den Monat Mai. Schon seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Die Erde war ausgetrocknet und Staub wirbelte auf, während sie durch die offene Landschaft fuhr. Wenn Sarah in den Rückspiegel schaute, hatte sie das Gefühl, eine Wüste zu durchqueren, angesichts der braungelben Wolke, die der Honda hinter sich herzog.

Obwohl die Haut auf ihrem Arm kribbelte, hatte sie das Seitenfenster heruntergelassen und den linken Ellenbogen auf die Fahrzeugtür gelegt. Es roch nach Asphalt und merkwürdigerweise nach wildem Rosmarin. Im Auto war es heiß, trotz des offenen Fensters, und die Klimaanlage lief auf vollen Touren, während aus dem Radio knallharter Hip-Hop dröhnte.

Sarah hatte ihre Mutter nach Newport zu einem Arzttermin gebracht und war nun auf der Rückfahrt nach West Harbour. Sie bog um eine lang gezogene Kurve, hinter der die Straße auf die Brücke zuführte, die den River Creek überspannte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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