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Amelia Cadan

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Beschreibung

Ein hoffnungsloser Romantiker aus reicher Familie und eine toughe Schauspielschönheit mit dunklem Geheimnis

Leith, 22, Baseball-Ass, Jurastudent und Südstaaten-Gentleman, versucht gerade sein gebrochenes Herz zu kitten, nachdem seine Langzeitfreundin ihn wegen eines anderen verlassen hat.
Jun, 20, brillante Schauspielstudentin mit japanischer Ex-Supermodell-Mutter, spielt auch im wahren Leben ständig eine Rolle, um nur ja nie ihre wahren Gefühle zu verraten. Denn hinter der glänzenden Fassade ihrer gutsituierten Familie verbirgt sich ein dunkles Geheimnis.
Als die beiden am selben Ostküsten-Ivy-League-College aufeinandertreffen, ist klar, dass sie NIE im Leben Freunde werden. Geschweige denn mehr. Leith stößt Juns unterkühlte Art ab und Jun kann mit Typen aus Sportteams nun wirklich nichts anfangen. Doch das Schicksal führt sie unverhofft auf den gleichen Uni-Ball und zwischen ihnen sprühen plötzlich Funken, die unerwartete Gefühle entflammen ...

Ein Ivy-League-College an der Ostküste, ein dunkles Familiengeheimnis und zwei stürmische Herzen auf der Suche nach der Liebe. Das aufsehenerregende Debüt des jungen Ausnahmetalents Amelia Cadan

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Seitenzahl: 423

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© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagkonzeption: Suse Kopp, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © Getty Images (Henrik Sorensen)

MP · Herstellung: UK

Satz: KCFG – Medienagentur Neuss

ISBN 978-3-641-28831-0V002

www.cbj-verlag.de

1

JUN

1 – JUN

»Habt ihr alles?«, frage ich und zerzause meinen Geschwistern das blonde Haar.

Sie nicken und lächeln zu mir auf. Dabei entblößen beide eine Zahnlücke. Nyte links und Vanity rechts.

»Okay, umdrehen!«

Sie folgen brav meinem Befehl und ich werfe einen letzten Blick in ihre Rucksäcke, bevor ich die Reißverschlüsse zuziehe und die Zwillinge in Richtung Hausflur schiebe. »Schuhe und Jacken anziehen! Auch du, Nyte. Mit beiden Ärmeln!«

»Ja, Jun«, gibt er widerwillig zurück.

Ich werfe einen kurzen Blick in den Flur und muss grinsen, als ich Vanity mit ihren Schnürsenkeln kämpfen sehe. Ich werde ihr helfen müssen. Aber erst husche ich die Treppe hoch in den ersten Stock zu den Schlafzimmern. Als ich die Klospülung höre, erstarre ich am Treppenabsatz. Kurz überlege ich, ohne meine Sachen zu fahren, aber spätestens in der Vorlesung für Mediengeschichte würde sich das rächen.

Trotzdem halte ich den Atem an, als die Badezimmertür aufschwingt. Meine Mom hält ein Glas Wasser und einen Tablettenblister in der Hand und hat schon den halben Flur durchquert, bevor sie innehält und mir den Kopf zudreht.

Sie blinzelt. »Jun.«

»Guten Morgen, Mom.« Mein Blick liegt sengend auf dem Blister in ihrer Hand, aber ich bezweifle, dass sie es überhaupt bemerkt.

»Wo sind … deine Geschwister?«, fragt sie und offenbart in den wenigen Worten einen so starken Akzent, als wäre sie erst vor fünf Jahren in die USA gekommen – und nicht etwa vor fünfundzwanzig. »Wärst du wohl so nett, sie zur Schule zu bringen? Ich fürchte, ich habe …« Sie runzelt die Stirn. Es ist der Moment, in dem meine Mom begreift, dass sie versagt hat.

Ihr steigen Tränen in die Augen und ich antworte rasch: »Nyte und Vanity sind unten und ziehen sich die Schuhe an. Geh zurück ins Bett.«

Sie nickt und verschwindet wieder in ihrem Zimmer. Ich starre zwei Sekunden auf das dunkle Mahagoniholz ihrer Schlafzimmertür. Dann dränge ich meine Gefühle beiseite und hole endlich meine Bücher.

Zurück im Erdgeschoss binde ich stumm Vanitys Schnürsenkel und schiebe die beiden aus der Tür. Sie sehen mit großen Augen zu mir auf, aber sie sagen nichts. Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen und frage: »Wer hat Lust auf Donuts zum Frühstück?«

Ich seufze erleichtert, als ich meinen Honda endlich auf dem College-Parkplatz zum Stehen bringe. Ich bin spät dran, der Campus ist geflutet von Studenten, und jedes Mal, wenn die gläserne Eingangstür des Verwaltungsgebäudes aufschwingt, blitzt das reflektierte Sonnenlicht zu mir herüber.

Ich greife meine Tasche vom Beifahrersitz, steige aus und beeile mich, die Kindersitze im Kofferraum zu verstauen. Normalerweise nehme ich den Umweg durch den Campus-Park in Kauf, weil es dort ruhiger ist, aber beim Blick auf die Uhr entscheide ich mich widerwillig doch für die direkte Route durch die Mensa. Aber kaum, dass ich das Gebäude betreten habe, bereue ich meine Entscheidung schon wieder.

Heute ist einer dieser Montage zu Semesteranfang, an denen sich die gesamte Welt über die vergangenen Wochen austauschen muss, als hätten sie die Zeit auf dem Mond verbracht. Nach Verlassen der Mensa bin ich genauestens über das neueste Sex-mit-der-Ex-Tape und sämtliche Skandale rund um die »Golden Boys« – unsere Baseballmannschaft – informiert, obwohl ich all das wirklich nicht wissen wollte.

»Ich hätte einen Online-Kurs belegen sollen«, spricht Carla meine Gedanken laut aus und befreit ein Snickers von seinem Plastikmantel. »Dass Ella Perez mit Leith Boyd Schluss gemacht hat, wusste ich ja dank Instagram und TikTok schon während des Summer Break. Aber so viele Details, wie ich innerhalb der letzten zehn Minuten über ihr Sex-Leben erfahren habe, wollte ich in meiner gesamten College-Zeit nicht ansammeln. – Warum bist du so spät dran?«

Die Frage meiner besten Freundin klingt ehrlich vorwurfsvoll. Als sei es mein Fehler, dass die Studenten der Lorcastle University nichts Besseres zu tun haben, als sich die Mäuler über einen Golden Boy und seine Freundin – Ex-Freundin oder was auch immer – zu zerreißen.

Ich verdrehe die Augen und öffne die Tür zum Acting-College. »Lass uns gehen.«

2

LEITH

2 – LEITH

Vor acht Monaten

Ich: Bin in 10 Min da, hab Donuts dabei.

Ella: Du bist der Beste.

Ich liebe dich.

Vor sechs Monaten.

Mach dir keine Sorgen wegen des Spiels!

Du trainierst so hart, du schaffst das!

OMG! Homerun, Honey, du hast einen

Homerun geschlagen!

Ich bin so stolz auf dich ‹33

Ich drücke die Nachrichten weg.

Fuck, ich hätte sie längst löschen sollen.

Stattdessen habe ich sie immer wieder angestarrt. Wie ein hirnverbrannter Vollidiot, der die Bedeutung von: »Es tut mir so leid, Leith. Aber es ist vorbei. Ich liebe dich nicht mehr«, einfach nicht versteht.

Aber was zur verfluchten Hölle gibt es daran bitte auch zu verstehen?

Wir waren seit dem ersten Semester zusammen. Seit über drei Jahren. Wir sind immer eines dieser College-Pärchen gewesen, die alles gemeinsam machen und nirgendwo ohne den anderen auftauchen.

Auf dem Campus kursieren wir unter einem dieser superkitschigen Schachtelwortnamen. Lella oder Elth kommen hier direkt nach Brangelina und Kimye.

Wir beide sind sogar auf dem Werbefoto für den beschissenen Eröffnungsball des Lincoln Center, weil selbst die Marketingabteilung der Uni uns für unwiderstehlich hielt. Deswegen hängen wir jetzt an jedem zweiten Laternenpfahl auf dem Campus, jeder Eingangstür und in jedem Aufenthaltsraum der Wohnheime.

Wir hängen groß und fett über dem Baseballplatz und jetzt gerade grinst mein überdimensionales Selbst mir von der Wand der Mensa entgegen.

Fuck. My. Life.

Ich werfe meinem Papier-Ich von vor sechs Monaten mit seinem Heile-Welt-Plakatlächeln einen verächtlichen Blick zu und starre wieder hinab auf mein Smartphone. Kein wesentlich besserer Ausblick.

»Hey, Leith, sorry noch mal wegen Ella. Ich dachte wirklich, ihr wärt so ein furchtbares Vorzeige-Couple, das nach dem Abschluss heiratet und dann Modelbabys am Fließband produziert«, sagt Vin und schlägt mir auf die Schulter, bevor er sich auf dem letzten freien Platz am Tisch niederlässt. Den rechts neben mir. Der linke Platz bleibt leer. Weil es Ellas Platz ist. War. Diesen Vergangenheitsformmüll muss ich mir erst noch angewöhnen.

Ich grummle irgendwas, von dem ich selbst nicht genau weiß, was es eigentlich bedeuten soll, und ziehe das Lunchtablett zu mir heran. Nicht, dass ich wirklich Hunger hätte. Aber der Mist mit Ella ist jetzt über vier Monate her und ich sollte allmählich mal drüber hinwegkommen.

»Wouhou!«, johlt Greg und vollführt eine Art Regentanz um den Tisch herum, bevor er sich ungeniert auf den Platz zu meiner Linken fallen lässt. Und das erste Mal in meinem Leben bin ich froh über Gregs unverfrorenes Draufgängertum.

Er bewegt seinen Kopf rhythmisch hin und her, als käme noch immer sein furchtbarer Lieblings-Hip-Hop-Song aus den übergroßen, orangefarbenen Kopfhörern um seinen Hals, und rappt: »Ich gehe mit Betty zur Eröffnungsgala des Lincoln Center! Yeah-yeah.«

Vin zieht ein Gesicht, als leide er Schmerzen. »War sie betrunken?«

Greg zieht die Brauen zusammen. »Nope. Ich hab sie einfach gefragt, das ist alles.« Er grinst und legt mir seinen massigen Arm um die Schultern. Greg ist unser First Base, sieht aber eher aus wie ein Schwergewichtsboxer. »Warte nur, Leith, in zwei Wochen machen wir dir und deiner süßen Ella Konkurrenz auf dem Traumpaar-Treppchen.«

Der gesamte Mensa-Tisch der Baseballmannschaft verstummt abrupt. Ich verziehe das Gesicht und Greg hebt hilflos die Hände: »Was? Darf man so was heutzutage nicht mehr sagen, oder wie?«

»Sie hat mit ihm Schluss gemacht, Greg«, klärt Vin ihn auf.

»Was? Wann?«

»Kurz nach Beginn des Summer Break, du Genie.«

»Neeein, ernsthaft!?«

Ich verdrehe die Augen.

»Aber warum?« Er überlegt. Angestrengt. Dann platzt er hervor: »Du hattest doch etwas mit der Cheerleaderin von der Brown! Ich wusste es!«

Ich schüttle den Kopf. »Hatte ich nicht. Und jetzt lass uns über was anderes reden. Meinetwegen über deine Betty und wie du sie davon überzeugen konntest, dass ausgerechnet du die beste Ballbegleitung sein könntest. – Wieso gehst du überhaupt hin? Ich dachte, du wolltest nicht hingehen, weil du ungefähr so graziös tanzt wie ein betrunkenes Nilpferd?« Seine Worte.

»Vorhin in der Vorlesung haben sie gesagt, dass ihr Date abgesagt hat. Sie wollte mit diesem Futzi vom Acting-College gehen, weil sie da ja auch ist. Wie hieß der noch gleich? Lafayette? Lawrence?«

»Lemond«, knurre ich, »Lemond Smith.« Und ich weiß sogar, warum er der lieben Betty abgesagt hat. Damit er mit meiner … mit Ella hingehen kann. Weil die beiden sich eine Millisekunde angesehen und unsterblich ineinander verliebt haben – oder so. Was weiß ich denn …

»Lemond!«, wiederholt Greg triumphierend und hält mir die Faust hin. Ich erwidere die Geste sogar. Irgendwie schafft der Kerl es ja doch immer, einen aufzuheitern. Ich glaube fast, der Coach wechselt ihn nur deswegen ein, weil wir alle im selben Moment, in dem Greg mit seinem typischen Gang auf den Platz watschelt, schon ein halbes Grinsen auf den Lippen haben.

»Wer zur Hölle nennt sein Kind Lemond? Andererseits …« Greg grient zu Bronx hinüber. – Ja, Bronx wie der Stadtteil … – Letzterer wirft ihm eine leere Energydrinkdose gegen den Kopf, die allerdings von Gregs riesigem Afro abgefedert wird und stattdessen mein Bein trifft. An jedem anderen Tag hätte ich sie aufgehoben. Heute kicke ich sie weg, bis sie am Nachbartisch zu Claytons Füßen landet, dem Starspieler unserer Basketballmannschaft. Er hebt sie mit viel Getue auf und wirft sie affektiert in Richtung des nächsten Mülleimers, trifft perfekt, und sein ganzer Tisch johlt und klatscht, als wäre er gerade einen Homerun gelaufen.

Okay. Ich schätze, irgendwie hat er das auch. Auf seine Art – die eines Basketballers eben. Ich bin nur ein miesepetriger Scrooge, der vom Geist seiner Ex-Freundin heimgesucht wird und niemandem seinen Spaß gönnt. Fuck. Ich brauche Ablenkung. Bedauerlicherweise funktioniere ich nicht wie gefühlt neunzig Prozent der Männer auf diesem Planeten – allen voran meine Teamkameraden – und kann mir einfach das Hirn wegvögeln lassen. Solche emotionslosen Nummern haben mir noch nie besonders viel gegeben.

Ich seufze und schaufle mir einen Teil des Lunchs in den Mund. Keine Ahnung, was genau das sein soll. Lasagne? Bolognese? Arrabiata? Irgendwas mit Tomaten, Nudeln und Fleisch. Glaube ich.

»Jedenfalls«, fährt Greg kauend fort, »sollen die Schauspielstudenten alle mit Date kommen, weil sie ja das Programm an der Gala mitgestalten. Romeo und Julia und so.«

Bronx lacht. »Sie hat dir nur zugesagt, weil sie kalte Füße hatte, dass sie kein passendes Date findet!«

Anstatt beleidigt zu sein, grinst Greg selbstzufrieden. »Sie geht mit mir hin. Alles andere ist egal.«

»Du bist sowieso keine schlechte Partie, lass dich von dem New Yorker Stadtteil da drüben nicht schlechtreden«, murmle ich und klopfe Greg auf die mächtige Schulter.

Er nickt mir zu. »Hey, Leith, die anderen haben gesagt, ihre Freundin – die die Julia spielt – hat auch noch kein Date. Warum gehst du nicht mit ihr hin? Auf den Fotos sieht sie echt heiß aus. – Besser als Ella, wenn du mich fragst …«

Er wackelt mit den Augenbrauen und beinahe wäre mir ein Ich frag dich aber nicht rausgerutscht. Aber ich besinne mich eines Besseren und sage stattdessen: »Ich geh nicht hin.« Auch wenn meine Eltern mir seit Wochen mit dieser dämlichen Gala in den Ohren liegen …

»Wird Julia nicht von …«, Bronx schnippt mit den Fingern, »… Jun! Jun Sakura gespielt?«

Vin zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Der Eisprinzessin? Ernsthaft? Kein Wunder, dass die noch kein Date hat. Mit der würde ich auch nicht hingehen.«

Greg schüttelt missbilligend den Kopf. »Ihr habt doch alle keine Ahnung. Ihre Mom ist Model, verdammt. Das Mädel ist heiß wie … wie …« Ihm scheint kein passender Vergleich einzufallen, bis er triumphierend »Frische Pizza!« ausruft. »Knackige, frische, duftende Pizza!«

Während ihn die anderen am Tisch zum dämlichsten Vergleich des Jahrhunderts beglückwünschen, stehe ich auf. »Ich denke wirklich nicht, dass ich Lust darauf habe, Ella und ihrem Romeo einen ganzen Abend lang beim Schmachten zuzusehen.«

Dabei müsste ich ehrlicherweise zugeben, dass ein Teil von mir das durchaus möchte. Ein masochistischer Teil. Der Teil, der sehen will, was zur Hölle an Romeo besser sein soll als an mir … Was hat er, das ich nicht habe? Warum hat sie ihn ausgesucht?

Fuck, ich bin wirklich armselig!

Vor der Fakultät für Politikwissenschaft steht mein bester Freund Ryder und zieht an seiner Zigarette. Und wie immer lehne ich mich neben ihn an die Wand und sehe zu, wie er sich die Lungenflügel verpestet.

So haben wir uns kennengelernt, im ersten Semester. Es ist die einzige Freundschaft außerhalb des Baseballteams, die überlebt hat.

Er bedenkt mich mit einem Seitenblick, nimmt einen letzten Zug von der Zigarette und tritt sie anschließend aus. »Du solltest echt aufhören, wegen Ella deine gesamte Umgebung in eine Depressionsstarre zu versetzen. Wo ist dein goldener Heiligenschein geblieben, der immer über deinen blonden Löckchen schwebt?«

Er malt Kringel über meiner Stirn, dann wendet er sich ab und geht mit langen Schritten hinüber zur Eingangstür.

Ich verdrehe die Augen und trabe stumm hinter ihm her.

Ryder denkt sich bei meinem Schweigen seinen Teil und erklärt: »Mach es so wie alle – und leg ein paar Mädels flach. Danach fühlst du dich zwar nicht unbedingt besser, aber immerhin hast du neue Probleme, über die du dir den Kopf zerbrechen kannst. Es sei denn, du planst, die Abschlussprüfungen nächstes Jahr wegen deiner Ex-Freundin zu vergeigen. Macht sich sicher gut vor den Aufnahmeprüfungen zur Law School: Hey, sorry, ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich die ganze Zeit darüber nachdenke, wer gerade meine Ex vögelt.«

Darn, ich hasse den Kerl. Ernsthaft, er liest in Menschen wie in Gesetzestexten – und bei ihm heißt das in beiden Fällen: extrem gut. Ich bin mir sicher, wenn er es wollte, könnte er eine Karriere in einer der großen Kanzleien hinlegen. Oder auf die Law School pfeifen und sich in der Versicherungsbranche oder so was eine goldene Nase verdienen.

Aber er wird es nicht tun. Weil unter seiner schwarzen Lederkluft die weißeste Seele schlummert, die ich je die Ehre hatte kennenzulernen. Der Typ ist ein verdammter Engel. – Irgendwie jedenfalls … Ich schätze, seine tausend Bettbekanntschaften würden mir nicht vorbehaltlos zustimmen.

»Das wird nicht passieren«, werfe ich ein und klinge irgendwie weniger überzeugend als beabsichtigt.

Er grinst und hält mir die Tür zum Vorlesungssaal auf: »Natürlich nicht, Leith Boyd.«

Ich stehe zwischen zwei riesigen Kostümständern in der letzten Reihe des University Theatre und rede mir ein, ich sei nicht hier, um Ellas neuen Romeo zu begutachten. Ich habe Greg gestern Abend noch per Messenger nach den Probeterminen für die Gala-Aufführung gefragt und … jetzt steh ich hier wie der letzte Stalker.

Bedauerlicherweise tobt sich anstelle von Lemond Smith alias Romeo ein anderer Schauspielnerd auf der Bühne aus. Affektiert brüllt er rum und erzählt seiner Tochter Julia, dass sie gefälligst zu tun und zu lassen habe, was er sich vorstellt – bis er vor lauter Inbrunst beim Abgang beinahe die Seitentreppe hinunterfliegt. Ich muss mir ein Lachen verkneifen, weil es so albern aussieht, wie er in Strumpfhose und Schnabelschuhen mit Absatz den mächtigen Patriarchen zu mimen versucht.

Aber das Lachen bleibt mir im Halse stecken, als ich in das Gesicht der verbliebenen Schauspielerinnen sehe. Eine von ihnen ist Betty alias Gräfin Capulet, Julias Mutter. Ich erkenne sie von Gregs Smartphone-Foto wieder, das er mir gemeinsam mit den Probeterminen noch serviert hat. Sie ist hübsch, nicht, dass einem die Luft wegbleibt, aber die Wirkung dieser Kostüme ist echt nicht zu unterschätzen.

Ihre Kommilitonin hingegen …

Sie hat die schlanken Finger in den dunkelroten Samt ihres Kleides geklammert; auf ihren Wangen schimmern Tränen, und obwohl ihre Worte gut verständlich sind, wirkt ihre Stimme fragil.

Und wohnt kein Mitleid droben in den Wolken,

Das in die Tiefe meines Jammers schaut?

O süße Mutter, stoß mich doch nicht weg!

Nur einen Monat, eine Woche Frist!

Wo nicht, bereite mir das Hochzeitsbette

In jener düstern Gruft, wo Tybalt liegt!

Sie spreizt verzweifelt die Hände, presst sie flach auf den Boden, bis sie zu Füßen ihrer Mutter liegt, eine Wange an die abgetretenen Dielen geschmiegt, während ihre Augen zu den Bühnenlichtern aufblicken, als sehe sie hinauf in die Weiten eines blauen Himmels.

Julias Mutter speist die Tochter genauso gefühllos ab wie gerade eben noch ihr wutentbrannter Vater und stolziert anschließend von der Bühne. Aber das ist nicht der Grund, warum ich stirnrunzelnd zurückbleibe. Es ist Julias Trauer, wie sie sich verzweifelt am Boden windet, die Hände ringt und sich selbst davon überzeugt, dass sie lieber stirbt, als jemand anderen zu heiraten als ihren Romeo.

Es ist zum Kotzen, so echt wirkt die Szene. Und ein nicht unbeträchtlicher Teil von mir würde am liebsten hinüberstürzen, die zarte Gestalt vom Boden aufheben, ein weißes Stofftaschentuch aus dem Wams zaubern und ihre Tränen trocknen, damit sie nur aufhört, den gesamten Raum mit ihrer Verzweiflung zu ersticken.

Ich wende den Blick ab, verschränke die Arme vor der Brust und warte, bis die Szene endlich vorbei ist. Ich habe keine Ahnung, wann Lemond seinen nächsten Auftritt hat, aber ich will wissen, ob er genauso gut ist wie seine Julia.

Letztere erhebt sich endlich, klopft den Bühnenstaub vom Kostüm, und als sie das Kinn hebt, erinnert sie mich mehr an die echte Gräfin Capulet als gerade eben noch ihre Schauspielkommilitonin.

Ihr Professor, ein Typ mit zerzauster Einsteinfrisur in Karohemd und Cordhose, klatscht zwei Mal in die Hände und erklärt: »Sehr gut. Wir machen weiter mit Szene 5. – Jun, du hast mir noch immer nicht dein Date für die Gala genannt. Du weißt, dass von den Schauspielern erwartet wird, dass sie den gesamten Abend über dableiben. Du hast eine Hauptrolle! Und ich bezweifle, dass es dir schwerfällt, jemanden zu finden, der dich begleitet.«

Sie winkt ab, ohne ihn anzusehen.

»Jun – keine Ausnahmen!«

Jun wirft ihrem Professor einen Blick aus dem Augenwinkel zu, der Medea alle Ehre gemacht hätte, nickt knapp und stolziert dann zwischen den Zuschauerrängen … genau auf mich zu.

Fuck. Ich stehe immer noch zwischen den Kostümständern – meine Ausrede, falls mich jemand fragt, was zur Hölle ich hier zu suchen habe. Aber als ich in ihr Gesicht sehe, weiß ich instinktiv, dass ich mich vor spätestens fünf Minuten hätte verziehen sollen.

»Was machst du denn hier, Golden Boy?«, fragt sie, halb verärgert, halb … mitleidig? Die Mischung verwirrt mich. Ihre ganze Erscheinung tut das. Die Feministin aus meinem Politiktheorie-Kurs würde mir vermutlich erklären, dass es meinem weißen, privilegierten Männerhirn zu verdanken ist, dass eine Asiatin im Tudorkleid meine Stereotype durcheinanderbringt …

Ich blinzle und öffne den Mund, um Jun endlich zu antworten, als sie mir schon zuvorkommt: »Deine Angebetete ist nicht hier. Sie kann es nicht ertragen, mit anzusehen, wie jemand anderes ihren Romeo küsst, sagt sie.« Die Verachtung in Jun Sakuras Stimme ist kaum zu überbieten und irgendwie wünsche ich mir das heulende Nervenbündel von gerade eben zurück. Bedauerlicherweise war das nur gespielt. Die wahre Jun wirkt nicht, als würde sie sich jemals von irgendwem so herumschubsen lassen.

»Ella ist nicht meine Angebetete«, sage ich leise und weiß selbst, dass ich mich anhören muss wie ein jammernder Teenager …

Sakura hebt lediglich eine feine schwarze Braue und mustert mich von oben bis unten. Normalerweise ist das der Moment, in dem mein Ego sich grinsend auf die Schulter klopft und sagt: Was auch immer passiert ist – wenigstens hast du dabei gut ausgesehen. Aber irgendwie bleibt sogar das aus. Fuck.

»Was willst du dann? Das Stück lief x-mal im Campus Theatre letztes Semester, und ich bin mir sicher, als Boyd bist du ohnehin auf die Gala in zwei Wochen eingeladen. Du bist also sicher nicht hier, um das Stück zu sehen.« Sie lächelt. Bei dem Anblick stellen sich mir die Nackenhaare auf. Wie kann man so kalt lächeln?

Ihre Art frustriert mich, sie triggert irgendetwas in mir. Wie sie einen ansieht, als stehle man ihr das Sonnenlicht. Dass Schauspieler einen Hang zur Arroganz haben, ist ja nichts Neues – aber Jun Sakura verleiht dem Wort Arroganz definitiv eine neue Dimension.

Ich straffe die Schultern, um jeden Zentimeter meiner knapp 1,90 gegenüber ihren 1,70-nochwas auszuspielen, und funkle auf sie herab.

»Ich bin nicht wegen Ella hier«, höre ich mich sagen und bin selbst überrascht über den harschen Klang meiner Stimme. Ihr Schauspieltalent scheint abzufärben. »Ich wollte wissen, ob du mit mir auf die Gala gehen möchtest.« Stellt sich nur noch die Frage, warum ich ausgerechnet das gesagt habe …

Sie fängt an zu lachen. Lauthals. Es fühlt sich an wie ein Hagelschauer.

»Das ist nicht dein Ernst!«

Ich zucke mit einer Schulter und grinse gequält. »Doch, klar. Du hast deinen Prof doch gehört. – Begleitung ist obligatorisch. Und wie du schon sagtest: Ich muss als Boyd genauso antanzen wie du. Zwei Fliegen, eine Klappe.«

»Dass ich hingehen muss, bedeutet noch lange nicht, dass ich es mit einem eifersüchtelnden, privilegierten Baseballspieler tun werde, der es nicht ertragen kann, dass seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hat. – Werd erwachsen, Boyd. Und jetzt mach Platz, ich muss mich umziehen.«

3

JUN

3 – JUN

Als ich mich von Carla verabschiede, ist es schon fast zehn. Gott sei Dank. Ich bummle. Hole bei der 24-Stunden-Apotheke am Campus mein Rezept für die Epilepsie-Tabletten ab und nehme unterwegs bei Yoshi’s, meinem Lieblingsrestaurant, eine Ramen mit. Jetzt brauche ich immer noch gut zwanzig Minuten bis nach Hause. Selbst an einem Freitagabend werden Steven und meine Mom um diese Zeit schlafen.

Aber als ich den Wagen in der Einfahrt parke, glimmt dünnes Licht zwischen den Jalousien hervor. Bis ich die Eingangstür erreiche, rede ich mir erfolgreich ein, dass meine Mutter bei ihrem fünften oder sechsten Glas Wein vor dem Fernseher eingeschlafen sein muss.

Stattdessen höre ich die Stimme meines Stiefvaters, kaum dass die Tür hinter mir zurück ins Schloss geglitten ist. Zwei zähe Sekunden ringe ich mit der Überlegung, umzukehren, das Haus zu verlassen und bei Carla im Wohnheim zu übernachten. Oder in meinem Auto.

Aber dann schüttle ich leise seufzend den Gedanken ab. Er weiß, dass ich hier bin. Man kann von den Küchenfenstern aus direkt auf die Einfahrt blicken und der Motor meines neun Jahre alten Hondas ist auch nicht der leiseste …

Ich wappne mich, bevor ich das Wohnzimmer betrete – und zucke dennoch zusammen beim Anblick der Szenerie. Meine Mutter sitzt zusammengekauert in ihrem Lieblingssessel. Auf dem Cafétisch vor ihr befinden sich zwei leere Tablettenblister und ein halb ausgetrunkenes Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit.

Ihre Augen sind ausdruckslos auf eine Weise, die ich niemals auf einer Bühne spielen könnte. Weil darin nichts ist. Kein einziges Gefühl. Der Anblick friert mein Herz ein. Und als ich Steven neben ihr stehen sehe, weiß ich, dass mein vertrautester Freund zurück ist: die Wut.

»Was hast du getan?«, fahre ich ihn an.

Er hebt eine Braue und sieht mich herablassend an. Ich hasse es, wie viel größer er ist als ich. Ich hasse es noch viel mehr als bei Leith Boyd. Letzterer ist nichts als ein verwöhnter Golden, dessen Ego es nicht verträgt, wenn eine Frau ihn ablehnt. Steven hingegen ist ein Monster, das meiner Mutter die Seele ausgesaugt hat, bis nichts mehr von ihr übrig geblieben ist als diese Hülle, die zwei Schritte von mir entfernt auf dem Sessel hockt und ins Leere starrt.

Ich balle die Hände zu Fäusten und spüre Verzweiflung in mir aufwallen. Aber ich ringe sie nieder. Wut ist das Einzige, was ich gebrauchen kann. Alles andere – Hoffnungslosigkeit, Trauer, Verzweiflung, Verbitterung, Angst und Panik – sind Gefühle, die ich mir nicht leisten kann. Sie sind unnütz und sie machen mich schwach. Und Schwäche ist, was mich in dieser Welt alles kosten kann.

Ich deute mit einem zitternden Arm auf meine Mutter: »Habt ihr euch wieder gestritten? Wie viele Tabletten hat sie genommen? Als ich gestern Abend nachgesehen habe, war die Packung fast leer! Hast du ihr etwa neue gekauft? Und wieso in aller Welt lässt du sie Alkohol dazu trinken?«

»Deine Mutter ist eine erwachsene Frau, Jun. Es ist ihre Entscheidung, was sie tut oder nicht tut.« Er stützt die Hände in die Hüften und atmet durch. »Du weißt, wie schlecht es ihr geht, wie sehr die Kinder dich brauchen, wie sehr wir dich brauchen. Aber du hast nur dein albernes Studium im Kopf, nicht wahr? Und es ist nicht einmal etwas Vernünftiges, wie Jura oder meinetwegen Pädagogik. Sondern Schauspiel. Dabei beherrschst du das doch längst in absoluter Perfektion, also was treibst du dort den ganzen Tag?«

Seine Worte treffen mich. Jedes einzelne findet sein Ziel und hinterlässt Schmerzen, die mich noch tagelang verfolgen werden. Aber ich werde den Teufel tun und es ihm zeigen. Denn es gibt nur eines, was mich noch mehr trifft als seine Worte: das Funkeln in seinen blassblauen Augen. Was andere als lebhaft und attraktiv empfinden, treibt mir die Galle auf die Zunge.

»Was willst du?«, frage ich tonlos. Denn er will immer etwas. Immer, wenn er meine Mutter zu Scherben zertritt, will er etwas. Von mir.

Er legt den Kopf schief und lächelt schmallippig. Einen Augenblick lang glaube ich fast, er würde es mir einfach sagen. Sagen, was er will. Ohne große Spielchen.

Stattdessen geht er zur Anrichte und schenkt sich ein Glas Whiskey ein. Er hockt sich sogar vor den Minigefrierschrank und lässt klimpernd drei Eiswürfel in sein Glas fallen, während mein Gehirn sich in aller Ausführlichkeit ausmalt, wie ich ihm die Whiskeyflasche über den Kopf ziehe und anschließend den zerbrochenen Flaschenhals noch in seiner Kehle versenke. Aber natürlich tue ich es nicht. Denn ich bin zu feige.

Er steht auf, dreht sich zu mir herum und verkündet noch immer lächelnd: »Deine Mutter wird sich in den kommenden Wochen in eine Rehabilitationsklinik begeben.«

Ich erstarre. Mein Unterbewusstsein lässt mich eine Hand nach der Schulter meiner Mutter ausstrecken, ehe ich die verräterische Geste unterdrücken kann. Aber ich zucke sofort zurück, als Steven sich neben sie stellt und ihr scheinbar liebevoll über die Wange streicht. »Nicht wahr, Kirschblüte?«

Mir wird schlecht. Und als er aufblickt, um mich anzusehen, muss ich den Kopf abwenden, um mich nicht zu übergeben.

»Was ist mit den Zwillingen?«, frage ich.

Er lächelt fein. Die winzige Regung verrät mir, dass ich meine Frage nicht hätte stellen dürfen. Dabei weiß er ohnehin schon, wie viel Vanity und Nyte mir bedeuten. »Deine Geschwister bleiben natürlich hier.«

Ich strecke die Hand nach der Lehne des Sessels aus und halte mich daran fest. Mehr noch, meine Fingerspitzen krallen sich in das Polster, als wolle ich es aufreißen. Und am liebsten würde ich es tun – wenn ich nur die Kraft dazu hätte.

Ich straffe meine Schultern, hebe das Kinn und erkläre: »Sie sind erst sieben Jahre alt – und wie du schon sagtest, ich bin nicht oft genug hier, um mich um sie zu kümmern. Und du schon gleich drei Mal nicht.«

Er bewegt den Kopf. Kaum einen Fingerbreit, aber ich weiß, dass ihm mein Widerstand nicht gefällt.

Er verschränkt die Arme vor der Brust und erklärt: »Ich habe ein Kindermädchen eingestellt. Eine sehr kompetente Frau mit hervorragenden Zeugnissen.«

»Ein Kindermädchen ersetzt keine Mutter!«

»Ach, und du glaubst, deine Mutter würde ihnen gerecht?« Er deutet auf meine Mom, als handele es sich lediglich um einen Gegenstand. Einen leblosen, abgenutzten Gegenstand.

Und das Schlimmste ist: Ich kann nicht einmal überzeugend widersprechen. Ich kann es nicht. Denn wie oft bin ich diejenige, die sie morgens weckt, den Zwillingen Frühstück macht, Vanity die Haare kämmt und einen letzten Blick auf Nytes Hausaufgaben wirft – und sie anschließend in die Schule fährt? Wie oft rufen sie mich an, weil es nichts zu essen gibt und sie Mom nicht finden? Oder nicht finden wollen. Weil niemand eine Mutter finden will, die womöglich in ihrem eigenen Erbrochenen am Boden liegt und nicht einmal mehr dazu imstande ist aufzustehen, geschweige denn, sich zu duschen und ihren Rausch im Bett auszuschlafen.

Ich schlucke den Tränenstrom herunter, der droht, in mir aufzusteigen, und blinzle die Bilder aus meiner Kindheit beiseite.

»Sie kann eine gute Mutter sein«, verteidige ich sie schwach. Und wünsche mir im nächsten Moment, ich hätte es nicht getan. Auch wenn es stimmt. Ich hatte es einmal vergleichsweise gut bei ihr, obwohl sie da schon tablettenabhängig war. Für mich war sie zu der Zeit trotzdem noch der Mensch, bei dem ich mich sicher gefühlt habe. Aber das war, bevor sie mit Steven einen Mann geheiratet hat, der ihrem labilen Wesen die Sterne vom Himmel versprochen und ihr stattdessen die Hölle auf Erden beschert hat. Bevor irgendetwas in ihrem Inneren endgültig zerbrochen ist.

»Bei dir war sie das vielleicht noch. Aber du hast ihr den Rest gegeben, Jun. Und jetzt sieh sie dir an.« Er geht vor meiner Mutter in die Knie, die durch ihn hindurchsieht, als sei er aus Glas. »Meine liebste Kirschblüte. Nichts als Asche ist von dir geblieben.« Sein Ton wird beinahe weinerlich. Und ich frage mich, wieso er sich diese Mühe überhaupt noch macht. Wir wissen beide, dass er ein Herz aus eiskaltem Stein besitzt – und jeder Satz, der über seine Lippen kommt, vor Lüge trieft.

»Wieso hast du ihr neue Tabletten gekauft?«, flüstere ich. Ich kenne meine Mutter entrückt. Ich kenne sie abwesend und unbeteiligt – aber ich kenne sie nicht als lebendige Statue.

Er sieht zu mir auf. Der ganze melancholische Schmalz gleitet an ihm herab wie ein alter Mantel und gibt den Blick auf seinen wahren Charakter frei. »Sie hat sich aufgeregt, als ich ihr den Entzug vorgeschlagen habe. Die Kinder haben geweint. Ich habe ihr die Packung gegeben, damit sie sich beruhigt und die Zwillinge ins Bett bringen kann.« Es ist ein Ammenmärchen. Das weiß er, das weiß ich. Er wollte sie ruhigstellen – alles andere war ihm völlig egal. Aber es hat keinen Zweck, sich darüber mit ihm zu streiten. Denn ich war nicht hier.

»Sie war fünf Mal im Entzug. Wenn du sie zwingst, wird es nie etwas bringen.«

Er geht einen Schritt auf mich zu, seine folgenden Worte sind unverhüllt – laut und zornig: »Was willst du denn tun, Jun? Sie hier weiter dahinsiechen lassen? Das lasse ich nicht zu! Ich bin nicht mit einer Trinkerin verheiratet, die es nicht einmal schafft, allein morgens aufzustehen!«

»Sie ist krank.« Warum nur hört sich meine Stimme so leise an? Warum bin ich nicht lauter? Warum kann ich sie nicht verteidigen, wie ich mich selbst verteidige?

»Dann soll sie sich gefälligst helfen lassen! Und ich werde ihr helfen. Ob sie will oder nicht!«

Ich presse die Kiefer aufeinander und wende den Kopf ab. Ein letztes Mal graben meine Fingernägel sich in die Polster der Sessellehne, bevor ich mich davon abstoße und den Weg in mein Zimmer antrete. Ich bin hier fertig.

Aber er ist nicht mit mir fertig.

»Jun!«

Ich halte inne, löse meine schmerzhaft krampfenden Fäuste und drehe mich zu ihm um. »Was ist?«

»Dieses Wochenende ist die Gala zur Eröffnung des Lincoln Center an deiner Universität. Unsere Kanzlei hat einen beträchtlichen Betrag gespendet. Und da deine Mutter mich nicht wird begleiten können … wirst du es tun.«

Ich blinzle. Vor meinem geistigen Auge steigen Bilder auf. Ich in einem wunderschönen Kleid aus hellblauer Seide, das ich mir nie hätte leisten können – hätte meine Mom nicht diesen neuen, reichen Mann geheiratet. »Jetzt wird alles besser«, hatte sie gesagt. Wir wohnten plötzlich in einer wunderschönen Villa, ich kam als Sophomore auf eine teure Privatschule; mein neuer Stiefvater begleitete mich auf einen Purity Ball, womit ich versprechen sollte, meine Jungfräulichkeit nicht leichtfertig wegzugeben – nicht die gleichen Fehler zu machen wie meine Mom, hatte er gesagt. Und ich war auch noch stolz darauf.

Ich öffne den Mund, um Nein zu sagen – um Nein! zu schreien, aber es kommt kein Ton heraus.

Stattdessen spricht er weiter: »Du spielst doch sicher ohnehin die Hauptrolle in diesem Stück, das dort aufgeführt wird, oder etwa nicht?« Er weiß, welches Stück es ist. Er weiß, dass ich Julia spiele. Es gibt kaum etwas über mein Leben, das er nicht weiß. Und dennoch tut er noch immer so, als interessiere es ihn nur oberflächlich. Als sei er nicht besessen. »Wäre das nicht unglaublich passend? Wenn wir beide zusammen hingingen?« Er öffnet die Arme und lächelt mich an. Es ist nicht einmal gekünstelt. Oder schmallippig. Oder falsch. Er spielt nur, dass er spielt.

Als ich noch immer nicht reagiere, fügt er an: »Die Leute werden wieder reden, über deine Mutter. Und deine Geschwister. Dass sie sich nicht kümmert … Wenn wir zusammen hingingen, wäre das ein Zeichen.«

»I-ich habe ein Date«, platze ich endlich hervor. Es ist der einzige Ausweg, den mein Hirn ausspuckt.

Steven hebt eine Augenbraue. Er lehnt den Oberkörper vor und fragt: »Und wer kann wichtiger sein als dein Stiefvater, der für dein teures Studium bezahlt?«

»Boyd! Leith. Leith Boyd. Der Sohn deines Namenspartners in der Kanzlei.«

Steven öffnet den Mund. Und schließt ihn wieder. »Du hasst jeden, der etwas mit mir zu tun hat«, erinnert er mich.

Ich lächle so süß, wie sonst nur er es kann. »Das stimmt doch nicht«, sage ich, »Leith ist sehr nett. Er hat mich vorgestern gefragt und ich habe zugestimmt.«

Ich werde mir den Blick einprägen müssen, mit dem er mich jetzt ansieht. Und ihn in jedem Moment hervorkramen, in dem ich fürchte, dass seine Eiseskälte mich lähmen könnte. Am liebsten hätte ich gelacht, so gut tut dieser Triumph. Dieser winzige, unbedeutende Triumph.

Er beißt die Kiefer aufeinander und sagt: »Gute Nacht, Jun. Träum was Süßes …«

»O Gott, was tue ich hier nur?«, flüstere ich zu mir selbst, als ich am nächsten Morgen den Campus in Richtung des Political Studies College überquere, anstatt wie üblich auf der anderen Seite des Parks im Acting-College zu verschwinden.

Aber sobald das rote Backsteingebäude in Sicht kommt, straffe ich meine Schultern und hebe das Kinn. Die folgenden Minuten werden demütigend genug sein – kein Grund, es noch schlimmer zu machen, indem ich mir meine Verzweiflung anmerken lasse.

Boyd & Carmichael ist die größte Anwaltskanzlei der Stadt, mit einem Dutzend namhafter Anteilspartner und über hundert weiteren Angestellten – von Anwälten über weniger gut ausgebildete Paralegals und hauseigene Ermittler bis hin zu den Sekretärinnen, die wahlweise im Bleistiftröckchen schick aussehen oder echte Organisationstalente sind. In Ausnahmefällen womöglich beides – aber was weiß ich schon? Ich bin so gut wie nie dort. Denn Steven hat recht: Ich hasse alles und jeden, der etwas mit ihm zu tun hat. Einschließlich der Boyds, mit ihrem goldenen Söhnchen, der brav auf dem College Political Studies im Hauptfach büffelt, damit er auf irgendeine überteuerte Law School wechseln und genauso ein Rechtsverdreher im Anzug werden kann wie seine Eltern. – Ja, sie sind alle beide Anwälte. Und nach allem, was ich höre, ist seine Mutter die härtere Gegnerin vor Gericht. Fragt sich nur noch, ob ich ihn dafür beneiden oder bemitleiden soll.

Ich verlangsame meinen Schritt, als ich Leith Boyd vor dem Eingang des roten Backsteingebäudes stehen sehe. Er hat mir den Rücken zugewandt, aber es spielt keine Rolle. Ich erkenne ihn sofort. An den goldblonden Haaren, den breiten Schultern und dieser albernen Haltung, die Baseballspieler offenbar auch jenseits des Spielfelds nicht ablegen können. Als hätten sie einen Schläger verschluckt und das Ego ihren Brustkorb aufgebläht … Ich unterdrücke ein Seufzen und werfe dem Kerl neben ihm einen flüchtigen Blick zu. Ryder Bengston. Merkwürdig, dass die beiden befreundet sind. Nach allem, was ich höre, ist der Kerl schwer in Ordnung – abgesehen von seinen Sexkapaden vielleicht. Er hat mal ein Mädchen aus meinem Kurs beraten, die sich keinen Anwalt leisten konnte und, um die Studiengebühren zu berappen, auf die Alimente ihres Vaters angewiesen war – der nicht zahlen wollte. Sie wird nächstes Jahr mit mir das College abschließen, und Ryder hat nie einen Cent von ihr verlangt, obwohl er garantiert stundenlang Gesetzestexte durchgeackert hat. Ich nicke ihm kurz zu, obwohl ich bezweifle, dass er sich an mich erinnert, und wende mich an Boyd: »Hast du mal eine Minute?«

Er stößt sich von der Wand ab, an der er gerade noch gelehnt hat, und sieht gleich drei Mal mehr nach Home-Run-Hitter aus. Ich muss den Impuls unterdrücken, die Augen zu verdrehen. Ich bin hier, um ihn um etwas zu bitten, und kann es mir nicht leisten, mir meine Abscheu anmerken zu lassen.

»Worum geht es?«, fragt er und beäugt mich skeptisch von oben herab.

Ich sehe Ryder auffordernd an – und zu meiner Überraschung verzieht er sich ohne ein weiteres Wort.

Leith scheint darüber weniger erfreut als ich, aber ich lasse ihm keine Gelegenheit für Selbstmitleid. »Steht das Angebot noch, dass du mit mir auf die Eröffnungsgala gehst?«

Sein Blick, der gerade noch Ryders Lederjacke versengt hat, huscht zu mir zurück. »Was?!«, fragt er verwirrt.

»Lincoln Center. Eröffnungsgala. Date. – Ich meine: Begleitung. Du brauchst eine Begleitung. Ich brauche eine Begleitung. Wir gehen zusammen hin.«

Er nickt. Auch wenn seine Miene offenlässt, ob er meine Worte wirklich verstanden hat. Und ich hatte bisher angenommen, dass er wenigstens Grips zwischen den Ohren besitzt. Offenbar ist nicht einmal das der Fall …

Doch dann scheinen sich die Nebel in seinem Hirn plötzlich zu lichten, jedenfalls wandelt der Ausdruck seiner Miene sich von verständnislos zu skeptisch, und er fragt perplex: »Wieso das auf einmal? Ich dachte, ich sei ein eifersüchtelnder, privilegierter Baseballspieler?«

Wow. Er hat sich sogar gemerkt, wie genau ich ihn betitelt habe. Sollte ich mir darauf was einbilden?

Ich zucke betont gleichgültig mit den Schultern. »Auch die brauchen Galabegleitungen – und ich erbarme mich.«

»Ich könnte die Hälfte der Mädchen aus meinem Kurs fragen und eine Zusage bekommen. Warum sollte ich mit jemandem hin, der mich ganz offensichtlich nicht leiden kann?«

»Immerhin bist du nicht eingebildet«, gebe ich sarkastisch zurück.

Leith verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich bin einfach nur hin und wieder nett zu meinen Mitmenschen, Sakura. Da ist es normal, wenn man sich gegenseitig auch mal einen Gefallen tut.«

Ich schnaube. »Ja, deswegen würden sie mit dir hingehen. Weil du nett bist.«

Ich erwarte fast, dass er grinst und irgendeinen Kommentar über seine eigene Unwiderstehlichkeit absondert – ich habe ihm immerhin eine 1-a-Vorlage geliefert –, aber er tut es nicht. Stattdessen verdreht er nur die Augen und kickt mit dem Außenrist seines rechten Schuhs einen imaginären Stein beiseite. »Wieso willst du plötzlich doch hin?«, fragt er.

Ich winde mich unter der Frage. Und hasse es, wie er es sofort wahrnimmt. Seine Züge bleiben ausdruckslos, aber seine blauen Augen werden eine Spur weicher.

Ich hasse blaue Augen. Eigentlich. Aber Leiths Blau ist nicht blass oder kalt. Es ist dunkel und beinahe warm. Wie das Herz einer Flamme.

Ich wende den Blick ab und murmle: »Ich muss hin. Und du willst deine Ex eifersüchtig machen, schon vergessen? Ich verspreche dir, wenn sie wirklich noch was von dir will, wird sie nach einem Abend mit mir an deiner Seite angekrochen kommen und dir wieder zu Füßen liegen wie eh und je.«

Er spuckt Luft aus wie Galle. »Und ich bin eingebildet, ja? Was bist du dann?«

»Der Teufel trägt Prada«, zwitschere ich.

Aber Leith schüttelt den Kopf. »Tut er nicht.« Er richtet den Blick auf meine Füße und erklärt: »Er trägt braune Ballerinas.« Dann hebt er eine Augenbraue und fügt schmunzelnd an: »Mit Schleifchen.«

Ich muss lachen. Ehrlich lachen. Und er auch … Was sich merkwürdig anfühlt, weswegen ich abrupt aufhöre und eine unbeteiligte Miene aufsetze, bis Leith mich fragt: »Welche Farbe hat dein Kleid?«

Ich blinzle verständnislos und er fügt an: »Die Gala. Dein Kleid. – Meine Krawatte.«

Oh.

Ich habe keine Ahnung. Ich habe noch nicht einmal ein Kleid. Aber Lust, ihm das auf die Nase zu binden, habe ich auch nicht. »Rot!«, spucke ich den erstbesten Gedanken aus.

Himmel. Jetzt muss ich ein rotes Kleid kaufen. Und anziehen.

Leith hebt eine Augenbraue, kommentiert aber nichts. Sein Glück.

»Ich hole dich um sechs ab. Wo wohnst du?«

Wo ich …? Mir geht auf, dass er keine Ahnung hat, wer ich bin – dass der Namenspartner der Kanzlei seiner Eltern, Steven Carmichael, mein Stiefvater ist.

Ich atme auf. Das ist gut. Das ist sogar sehr gut.

»Ich werde auf dem Campus sein«, sage ich schnell, »wir haben vorher sowieso noch mal Stellprobe mit den ganzen anderen vom Orchester und der Tanzgruppe und weiß der Himmel wem.«

Kurz wirkt er skeptisch – als könne ich ihn auf den letzten Drücker noch sitzen lassen, aber dann nickt er und holt sein Smartphone hervor. »Ich gebe dir meine Nummer und du sagst Bescheid, wann und wo ich dich abholen kann.«

Ich will ihm sagen, dass er das nicht muss, lasse es aber bleiben. Stattdessen ziehe ich seufzend mein Smartphone hervor und gebe ihm meine Nummer. Kurz wirkt er etwas perplex, dann surrt mein Telefon dank einer Textnachricht mit dem kreativen Inhalt: Hi.

»Hast du alles?«, frage ich meine Mom.

Hina steht verloren neben meinem kleinen Honda und starrt auf die Entzugsklinik, die Steven ihr ausgesucht hat. Er wollte sie herbringen – aber es ist Samstag, und abgesehen von noch einer völlig überflüssigen Generalprobe mit der Schauspielgruppe heute Nachmittag habe ich Zeit. Der Gedanke, dass er sie hier abgegeben hätte wie ein Paket, lässt mich jetzt noch die Fäuste ballen.

Das Hauptgebäude der Klinik ist ein prunkvoller Bau, der aussieht, als hätte man ihn aus dem mitteleuropäischen Spätbarock ausgeschnitten und nördlich von Lorcastle wieder eingefügt. Der Duft der Rosenbüsche, die das gusseiserne Eingangstor säumen, wird von einer sanften Brise bis zu uns herübergeweht.

Meine Mom blickt auf die beiden Reisetaschen hinab, die ich mit ihr gepackt habe. Ich hoffe, ich habe nichts vergessen. Es sind Alben darin, mit Fotos von Vanity und Nyte als Babys, Kleinkinder und von ihrer Einschulung letztes Jahr. Ich möchte, dass sie einen Grund vor Augen hat, wofür sie all das hier tut. Selbst wenn wir beide wissen, dass sie nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft jeden Tag aufs Neue eine Wahl wird treffen müssen. Eine Wahl gegen den Schmerz, gegen das Bewusstsein ihres eigenen Versagens, gegen ihre Schuldgefühle und die Erinnerungen an ihr früheres Leben zwischen Diäten, Konkurrenzkampf und teuren Designerkleidern.

»Pass auf sie auf«, schluchzt sie anstelle einer Antwort. »Du warst immer stärker als ich, Jun-sama. Schon als kleines Mädchen warst du das.«

»Ich komme dich mit Vanity und Nyte besuchen, wann immer es geht.«

Sie nickt und streicht sich mit dem Daumen eine Träne aus dem Augenwinkel. Die elegante Geste ist ein Relikt aus einer Zeit, in der sie noch nicht zerbrochen war – sondern ein Supermodel, dessen exotisches Aussehen die Laufstege zwischen New York und Los Angeles im Sturm erobert hat. Über Nacht wurde sie zum It-Girl einer High Society, deren Intrigen, Rauschmittelkonsum und Emotionslosigkeit sie nicht gewachsen war.

Die Affäre mit meinem leiblichen Vater war ihr erster Unfall. Meine Geburt ihr zweiter. Ich habe schon früh begriffen, dass die Tabletten, die sie mir als ihre Medizin verkaufte, in Wahrheit ihre Droge waren – auch wenn ich es noch nicht als das hätte benennen können.

Ich hatte wie sie geglaubt, dass Steven ihre Rettung wäre. Das letzte Geschenk an ihre verblassende Schönheit.

Und jetzt steht sie hier, unfähig, für sich selbst zu kämpfen, geschweige denn für ihre Kinder. Und ich fürchte den Tag, an dem sie ein für alle Mal aufgeben wird.

Deswegen begleite ich Hina in ihr neues Zimmer, sehe nach, ob die Angabe aus der Broschüre stimmt, dass Patienten keinen Zugang zu spitzen Gegenständen haben dürfen, dass die Steckdosen über Zeitschaltung verfügen, und als ich vor meiner Abfahrt mit ihr zu Mittag esse, streife ich mit der Fingerkuppe über die Schneide des Besteckmessers.

»Du gehst mit Leith Boyd auf den Ball?«, fragt meine Mutter und sticht ihre Bohnen auf. Sie hält den kleinen Finger abgespreizt und ihr Rücken ist kerzengerade. Der Anblick lässt in mir die Hoffnung aufflackern, dass dieser Entzug vielleicht doch irgendetwas in ihr bewegen wird. Zwei Jahre clean wären in der Kindheit von Vanity und Nyte eine lange Zeit.

»Ja«, antworte ich, überrascht, dass sie überhaupt davon weiß. Oder sich daran erinnert.

»Er ist ein netter Junge.«

Ich runzle die Stirn. »Du kennst ihn?«

Sie nickt und lächelt abwesend. »Er besucht des Öfteren seine Eltern in der Kanzlei und in den Semesterferien betreut er hin und wieder kleinere Fälle selbstständig – natürlich vertritt er sie nicht vor Gericht, das macht sein Vater. Aber ich glaube, seine Eltern sind sehr stolz auf ihn.«

Natürlich. Er ist ein kleiner Jura-Wunderknabe und seine famosen Eltern lieben ihn über alles …

Verdammt. Ich sollte wirklich nicht eifersüchtig sein auf jemanden wie ihn. Dazu besteht kein Grund.

»Ich muss jetzt los«, sage ich und tupfe mir mit der Serviette über den Mund, während meine Mutter haargenau die gleiche Geste vollführt. Als läge sie in unseren Genen. Dabei graut es mir unwillkürlich. Was mag noch in meinen Genen schlummern, und werde ich eines Tages womöglich genauso enden wie sie? – Das darf nie passieren. Ich darf niemals aufhören zu kämpfen.

»Sei nett zu ihm«, sagt Mom.

Und ich muss lachen. Ich kann es nicht zurückhalten, so tief wurzelt die Verbitterung in mir. Ihr würde nie jemand raten müssen, nett zu sein. Egal zu wem. Egal wann. Egal, was derjenige ihr antut.

Ihr Blick verklärt sich und ich sehe ihr an, wie sie sich wieder verliert, wie sie abdriftet und mit zitternden Fingern nach ihrem Wasserglas greift, als enthalte es einen ihrer hochprozentigen Erlöser. Sie schluckt das geschmacklose Getränk herunter, und ihre Miene verrät, wie schwer ihr die Aussicht fällt, sich vier Monate lang nicht betäuben zu können – nicht betäuben zu dürfen.

Ich habe keine Ahnung, womit Steven ihr gedroht hat, falls sie den Ärzten allzu deutlich macht, dass sie überhaupt nicht hier sein möchte. Oder vielleicht muss er das gar nicht. Vielleicht hat er sie längst so weit unter Kontrolle, dass sie es nicht einmal mehr wagt, zu widersprechen.

Sie begleitet mich zurück zur großen Eingangstür, als sei dies hier ihr höchstpersönliches Schloss und sie die Gräfin, bevor sie mich verabschiedet. »Ich wünsche mir nur für dich, dass du jemanden findest, der auf dich aufpasst«, flüstert sie mir zu.

»Das schaffe ich gut allein, Mom. Ich brauche keinen Ritter in schimmernder Rüstung.« Schon gar keinen Boyd. Ich würde ihm nie unterstellen, sich als jemand wie Steven zu entpuppen. Denn niemand – niemand auf dieser Welt – ist wie Steven. Aber es würde mich nicht überraschen, wenn hinter seiner goldenen Fassade ein narzisstischer Mistkerl lauerte. Wer weiß, warum Ella wirklich mit ihm Schluss gemacht hat – denn wenn jemand irgendetwas an unserem speziellen Romeo findet, liegt die Messlatte offensichtlich nicht besonders hoch …

»Es ist okay, eine starke Schulter zum Anlehnen zu haben. Dein Vater war …«

»Mein Vater hat sich verpisst, als es schwierig wurde. Das weißt du, das weiß ich. Ihn jetzt als Beispiel anzuführen, ist wirklich das Allerletzte.«

Ich bereue die Worte, noch während ich sie ausspreche. Ich hatte mir vorgenommen, meiner Mutter den Rücken zu stärken, sie zu ermutigen, sich auf den Entzug einzulassen. Und was tue ich? Ich grabe das Loch, in dem sie ohnehin schon versinkt, nur noch tiefer.

»Entschuldige, Mom«, flüstere ich und überwinde mich dazu, an sie heranzutreten und sie zu umarmen. Sie fühlt sich so zerbrechlich an unter meinem Griff. Dabei ist sie sogar ohne ihre Pumps größer als ich. Aber zugleich ist sie hauchzart. Wie Imari-Porzellan.

Ich lasse sie los und trete einen halben Schritt zurück. »Ich komme dich in einer Woche besuchen, Okaa-san.«

Das Wort rollt mir schwer von der Zunge. Wie immer, wenn ich sie in ihrer Muttersprache anspreche. Es ist schon lange nicht mehr die meine. Ich bin im Altenglischen Shakespeares heimischer als im Japanischen. Aber ich fühle mich schuldig, und diese winzige Bekundung des Respekts ist das Einzige, was mir einfällt, um dieses Gefühl zu lindern.

Sie blinzelt verwirrt auf mich hinab, legt die mageren Arme um ihren Brustkorb und tritt einen halben Schritt zurück, den Blick auf den Boden gesenkt.

Als sei nicht ich die Tochter – sondern sie.

4

LEITH

4 – LEITH

Ich: Wo bist du?

Jun: Ich kann zu Fuß gehen.

Im Kleid?! Ähm. Nein?

Ähm. Doch!

Adresse, Jun.

Ich bin auf dem Campus, Golden Boy.

Das hatte ich dir gesagt.

Welches Wohnheim?

Hundertwasser Tower

Bin in zehn Min da.

Ich verdrehe die Augen und verbanne mein Smartphone zurück ins Handschuhfach. Der Hundertwasser Tower ist – wie das neue Lincoln Center – ein späterer Anbau an den Campus und größtenteils durch dankbare Spenden ehemaliger Studenten finanziert. Und er befindet sich am entgegengesetzten Ende des Campus.

Meine Finger tippen ungeduldig gegen das Lenkrad, bis ich sogar mit mir selbst die Geduld verliere, ein letztes Mal an der roten Krawatte zupfe und aussteige.

Im Moment bezweifle ich, dass sie überhaupt Rot tragen wird. Darn, vielleicht versetzt sie mich komplett und lacht sich gerade irgendwo ins fiese Fäustchen …

Aber just, als sich dieser Gedanke in mein Hirn schleicht, öffnet sich die Glastür und … ich stelle auch sämtliche andere Hirnaktivitäten ein.

Fuck.

Literally … Fuck.

Mein Mund wird trocken und nach einem kurzen Moment des heillosen Durcheinanders entscheidet sich meine Durchblutung für den falschen Körperteil.

Während ich mir also die Erinnerungen an das Sezieren von Froschleichen aus dem Biologieunterricht ins Gedächtnis rufe, tritt Jun in ihrem Hauch aus rotem Satin auf mich zu. Das Kleid ist nichts Besonderes; weder ist es auffällig designt noch zeigt es viel Haut. Ich frage mich, wieso ich so stark auf den Anblick reagiere. Haben vier Monate Abstinenz einen derart schlechten Einfluss auf mich?

Andererseits hatten meterlange, halb nackte Beine schon immer diese Wirkung bei mir. Noch dazu sind Juns Beine besonders hübsche Exemplare: braun, gerade, schlank, aber nicht mager. Vermutlich geht sie joggen, schwimmen oder so was. Was auch immer es ist – ich hoffe, dass sie niemals damit aufhört. Ihre Beine sind anbetungswü…

Fuck. Me.

Ella. Ich bin nur hier, um Ella eifersüchtig zu machen. Stattdessen wird mir meine Anzughose zu eng, weil ich scharf auf ein Mädchen bin, das mich nicht einmal ansatzweise leiden kann.

Wenn es irgendwo einen Gott gibt, nehme ich spätestens in diesem Moment an, dass er mich zu seinem persönlichen Hofnarren ernannt hat …

»Danke, dass du mich extra abholen kommst, das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, holt Jun mich aus diesen Ge