Everlasting Fate – Ein Reich aus Silber und Magie - Amelia Cadan - E-Book

Everlasting Fate – Ein Reich aus Silber und Magie E-Book

Amelia Cadan

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein unschuldiges Mädchen mit der Macht, die Toten anzurufen, und ein charmanter Meisterdieb – vereint im Kampf gegen den Tyrannen des Kaiserreiches
+++Jetzt zum Einführungspreis sichern! (Befristete Preisaktion des Verlages)+++


Als der im ganzen Land berühmte Dieb Ilya von Kopfgeldjägern geschnappt wird, teilt er sein Los mit einer jungen Gefangenen, vor der die grobschlächtigen Häscher aus unerfindlichen Gründen zittern. Ilya findet das zarte Mädchen eher bemitleidenswert, und als er entkommen will, befreit er auch sie. Bei der Flucht riskiert sie ihr Leben, um ihn zu schützen und Ilya nimmt das schwer verletzte Mädchen mit sich. Die Umstände und ihre Verfolger zwingen die beiden ungleichen jungen Helden, das von Dämonenkriegen und einem unbarmherzigen Herrscher gebeutelte Land gemeinsam zu durchqueren. Doch erst als die Gefahr am größten ist, wird seine Schicksalsgefährtin Leianna nicht nur ihren Namen enthüllen, sondern auch ihr größtes Geheimnis ... Und in Ilya, der schon lange nach einem Weg sinnt, sein unterdrücktes Volk zu retten, wächst ein verwegener Plan heran.
Der sensationelle Auftakt der abenteuerlich-orientalischen High-Fantasy-Dilogie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 421

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Autorin

Amelia Cadan ist in Deutschland als Kind einer Akademikerfamilie aufgewachsen und mit Anfang zwanzig nach Jordanien gezogen. Sie hat dort ein wunderschönes, einzigartiges Land lieben gelernt, das von Fremdherrschaft und jahrzehntelangen Kriegen in der Region nachhaltig geprägt wurde. Sie schreibt Fantasy und New Adult. In ihrer Freizeit treibt sie Sport und zockt Videospiele. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie schwerpunktmäßig im bunten Leipzig.

Von Amelia Cadan sind bei cbj erschienen:

Blossom (Blossom-Reihe Band 1)

Blush (Blossom-Reihe Band 2)

Leave Me (Atlantic-University-Reihe, Band 1)

Shelter Me (Atlantic-University-Reihe, Band 2)

Everlasting Fate – Ein Reich aus Silber und Magie (Band 1)

Mehr zu unseren Büchern auch auf Instagram

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

TRIGGERWARNUNG:

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deswegen findet ihr auf Seite 380 einen Hinweis.

Dieser enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.

© 2024 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Coverkonzeption: Alexander Kopainski, Saarbrücken

unter Verwendung der Abbildungen von

© Turbosquid (nardid; Pazel; elshan3D)

Innengestaltung: Vignette: © Adobe Stock 669819136; Karte: © Markus Weber, Guter Punkt, München

MP · Herstellung: BO

Satz und Reproduktion: GGP Media GmbH, Pößneck

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31652-5V002

www.cbj-verlag.de

FÜR J.

Karte

1

Ilya

Ich blinzle gegen die grellen Sonnenstrahlen. Mein Kopf dröhnt und meine Glieder fühlen sich an, als hätte ich über Stunden hinweg in derselben schmerzhaften Starre verharrt – was vermutlich daran liegt, dass ich genau das getan habe. Wohlgemerkt: nicht freiwillig. Vielmehr Dank dieser unterbelichteten, selbst ernannten Menschheitsretter dort drüben.

Kopfgeldjäger.

Und sie haben wirklich keine Mühen gescheut, mich absolut bewegungsunfähig zu machen. Ich bin fester zusammengeschnürt als jeder Reisigbesen. An Armen und Beinen. Als würde das irgendetwas nützen.

Tut es nicht.

So lange ich noch in der Lage bin, darüber nachzudenken, wie ich meinen Arsch von diesem vor sich hin ratterndem Pferdekarren herunterbewegen kann, werde ich haargenau das in absehbarer Zeit auch tun.

Ich versuche, mich halbwegs aufzurichten, stoße mir dabei die Stirn an irgendeinem metallenen Gegenstand – keine Waffe, sonst läge ich längst nicht mehr hier – und fluche leise. Was zu allen sieben Höllen ist das?

Ein Suppentopf.

Es ist ein verdammter Suppentopf!

»Na, Ifrahan? Wie geht’s, wie steht’s?«

Ich blicke auf. Direkt in das fetthäutige Gesicht eines dürren Kerls, dem das strähnige Haar über die Äuglein fällt.

»Glänzend, danke«, antworte ich grinsend, auch wenn ich dadurch riskiere, Krämpfe in der Wangenmuskulatur zu bekommen.

Er grunzt irgendetwas, versucht sich an einem Gesichtsausdruck, der überlegen rüberkommen soll, scheitert glorreich und sieht aus wie ein zu klein geratener zahnloser Tiger.

Ein Schmusekätzchen.

Ich schiebe meine verkrampften Muskeln noch etwas höher, bis ich halbwegs aufrecht sitze; und ignoriere, dass mir dieser bescheuerte Suppentopf bei jedem zweiten Hufschlag der Pferde gegen den Kopf knallt.

Das Planverdeck ist hochgerollt, weswegen ich freien Blick auf die Umgebung habe: Reiter vor uns, ein weiteres Gespann hinter uns, der Weg gerade breit genug; rundherum endloser Wald, aber irgendwo in der Ferne das Rauschen eines Wasserfalls. Dass die Kopfgeldjäger mir keine Augenbinde angelegt haben, heißt entweder, dass sie noch dümmer sind, als ich dachte – oder aber, dass es keine Rolle spielt, weil wir uns so tief in der Pampa befinden, dass jeder Fluchtversuch ohnehin aussichtslos wäre. Letzteres wäre die weniger erfreuliche Alternative, allerdings eher unwahrscheinlich. Ich bin schon mal einen ganzen Mond lang in sengender Wüstenhitze herumspaziert und habe es trotzdem gesund nach Hause geschafft. Ich bezweifle, dass ein bisschen grünes Gestrüpp meine Überlebenschancen mindert.

Ich drehe unauffällig den Kopf in Richtung des nachfolgenden Gespanns. Ich vermute, dass meine Scimitare dort sind. Aber Schmusekätzchen wirft mir bereits einen misstrauischen Blick zu. Er mag nicht das hellste Feuer auf der Bergkette sein – aber er weiß genau, was in mir vorgeht: Dass ich nicht vorhabe, einen einzigen Lidschlag länger als nötig gefesselt auf dem Karren einer dahergelaufenen Kopfgeldjägerbande zu verharren.

Ich grinse ihn an und rutsche wieder an der Wagenwand hinab. Ich habe genug gesehen – und der verdammte Suppentopf macht meinen Kopfschmerz nicht besser. Dabei stoßen meine Füße unerwartet gegen etwas Hartes und ich musterte den Lumpenhaufen am Ende des Wagens näher. Oder jedenfalls habe ich bisher vermutet, dass es ein Lumpenhaufen ist. Jetzt allerdings beginnt er sich zu bewegen. Ich verenge die Augen. Vielleicht hätte ich weniger Aufmerksamkeit auf meine Umgebung und mehr auf die Fuhre dieses albernen Karrens richten sollen …

Schmusekätzchen wird nervös und blinzelt ebenfalls auf die Lumpen hinab. Ein bisschen kratzt es an meinem Ego, dass der dürre Kopfgeldjäger für mich noch dumme Sprüche übrighat, aber ein alter Lumpenhaufen ihm die Schweißperlen auf die Stirn treibt.

Ich schiebe vorsichtig mit der Stiefelspitze den Stoff beiseite. Beim Anblick dessen, was sich dort offenbart, lege ich den Kopf schief. Haut. Weiß. Und so fahl, dass man praktisch hindurchsehen kann. Ich würde drei Juwelenringe darauf verwetten, dass es ein Magier ist, wenn ich noch welche hätte. Bedauerlicherweise liegt besagter Wetteinsatz vermutlich mit all meinem anderen Plunder auf dem Wagen hinter uns.

Ich werfe dem Schmusekater einen raschen Blick zu, aber er ist damit beschäftigt, sich seine Nasenhaare zu rupfen, und ich ziehe die Lumpen noch weiter beiseite. Was ich sehe, verwirrt mich noch mehr. Schwarzer schwerer Stoff, wie ihn Aussätzige tragen. Oder stand Schwarz für irgendwas anderes? Die Fenestrer hatten schon immer eine besondere Leidenschaft für Farbpolitik … Damit kenne ich ungläubiger Wüstenhund mich leider nicht aus. Aber je mehr meine Fußspitze von meinem bedauernswerten Mitgefangenen freilegt, desto neugieriger werde ich.

Denn was zum siebten Ring der Hölle will eine Kopfgeldjägerbande mit einem Aussätzigen? Fenestrer machen sich für gewöhnlich schon in die Hose, wenn man in ihrer Gegenwart nur niesen muss. Daher auch diese glorreiche Idee, Kranke anders einzukleiden - völlig unabhängig davon, ob ihr Leiden nun ansteckend ist oder nicht. Das Risiko, sich mit der tödlichen Dämonenpest anzustecken, würden sie nur für eine wirklich große Summe wagen. Eine wirklich, wirklich große Summe…

Ich ändere die Taktik, stelle meinen Fuß auf den Stoff und reiße ihn zurück, bis –

»Hey! Ifrahan! Lass das!«

Ich hebe unschuldig die Brauen, während das Schmusekätzchen mir mit einem Knüppel gegen die Schienbeine schlägt. Mistvieh. Ich beiße die Zähne zusammen und ziehe widerwillig die Knie an. Im selben Moment dreht sich der Kerl auf dem Kutschbock herum und blökt: »Macht der Sandfresser dir Ärger?«

Schmusekätzchen grinst unbeholfen und winkt mit seinem Knüppel »Alles im Griff, alles im Griff.«

Ich schnaube. Und er faucht mich an.

Wir ruckeln noch einige Zeit durch die pralle Sonne. Mit jedem Hufschlag wächst mein Unmut.

Ich hasse dieses verfluchte Land. Ich hätte hier niemals herkommen sollen. Meine Mission war von Beginn an zum Scheitern verurteilt.

Seit fünfhundert Jahren herrscht der selbst ernannte Kaiser Maxim über einen Großteil des Kontinents Fenestrea. Alle paar Jahre kommt ein neues Fürstentum dazu, das er sich einverleibt und in dem er irgendeinen seiner Günstlinge als neuen Fürsten einsetzt, nachdem er den vorherigen geköpft hat. Da dieser liebreizende Kaiser bedauerlicherweise nicht nur größenwahnsinnig, sondern buchstäblich unsterblich ist, wird sich daran wohl auch nicht allzu bald etwas ändern …

Und ich werde daran schon gar nichts ändern können. Auch wenn mein werter Erzeuger das vielleicht gerne so hätte, weil ich seine letzte Hoffnung bin, unsere Heimat zu retten.

So oder so muss ich hier weg. Sofort.

Vielleicht kann ich ja den kleinen Aussätzigen dort drüben davon überzeugen, mir seine Hände zu leihen – wenn nur lange genug niemand hinsieht …

»Hey, mein tapferer Kopfgeldjäger!« Ich warte, bis Schmusekätzchen mich ansieht – wenigstens wirkt er verblüfft. Er glaubt also nicht wirklich, dass irgendjemand ihn so betiteln würde, das muss ich ihm zugutehalten. »Was habt ihr reizenden Gestalten wohl mit mir vor?«

»Du wirst in der Hölle schmoren!«, erklärt er mir. »Aber vorher werden wir ein hübsches Sümmchen für dich kassieren.«

Ich nicke verständnisvoll. »Und wie viel bekommst du davon?«

Er kratzt sich am Bartflaum. Darüber scheint er noch nicht recht nachgedacht zu haben. Dann sagt er altklug: »Ein Elftel!«

Ich verziehe das Gesicht. Elf also. Schmusekätzchen, die beiden Kutscher, der Reiter auf dem lahmenden Pferd hinter mir und sechs weitere. Ungünstig, aber machbar.

Ich blinzle zu dem Bündel hinüber. Es bewegt sich schon wieder, windet sich, und kurz darauf tauchen geschlossene Lider zwischen Lumpen und einer schwarzen Kapuze auf, werden zusammengepresst und schließlich geöffnet, bis mich zwei Iriden anstarren. Sie sind von so hellem Blau, dass es fast unnatürlich wirkt. So stelle ich mir Gletschereis vor.

Zwei Herzschläge vergehen, bis der Lumpenhaufen meine Aufmerksamkeit bemerkt und erstaunlich schnell von mir wegkriecht, zur anderen Karrenseite, von wo aus er mich weiter anstarrt. Die rasche Bewegung hat die meisten Lumpen von der Gestalt abfallen lassen, aber ich kann sie noch immer kaum ausmachen – wegen der Kutte. Man hätte ihr einen Kartoffelsack überstülpen können und es hätte ihr besser gestanden als dieses unförmige schwarze Gewand. Trotzdem bin ich mir inzwischen sicher, dass es eine Sie ist. Wegen ihrer Reaktion – und weil ihr Gesicht weich ist und rund. Fast zu weiblich für ein Kind. Aber nur fast.

Schmusekätzchen scheint von alledem noch immer nichts bemerkt zu haben. Er sitzt auf seiner Karrenbank und grübelt. Schätze, mit meiner Andeutung, wie viel er denn vom Kuchen abbekäme, habe ich die Rädchen in seinem Erbsenhirn ganz schön zum Rattern gebracht.

Als ich wieder zu dem Lumpenhaufen sehe, hat sie die Augen erneut geschlossen. Aber ich bin mir sicher, dass sie nicht schläft.

Kurze Zeit später machen wir halt auf einer Lichtung zwischen dem Hauptweg und einem etwas unterhalb gelegenem Rinnsal, das von den Herren Kopfgeldjägern großzügig als Bach bezeichnet wird. Und ich dachte, ich sei hier der Sandfresser, der keine großen Mengen Wasser gewöhnt ist…

»Feuer machen, Wachen aufstellen!«, befiehlt unser Kutscher. Ob er der Anführer dieser jämmerlichen Bande ist? Kopfgeldjägergesindel findet sich nicht oft in Gruppen zusammen – weil sie einander eigentlich nicht trauen.

Ich spiele weiter gedanklich Fluchtszenarien durch, bis Schmusi mir einen trockenen Kanten Brot hinwirft.

Verständnislos blicke ich zu ihm auf. Er starrt zurück.

Bis er anfügt: »Dein Abendessen.«

Ich hebe die Augenbrauen. »Das ist kein Abendessen.«

»Willst du hier etwa noch Ansprüche stellen, Ifrahan?!«, brüllt der Kutscher. Das Lumpenbündel duckt sich kaum merklich dichter an die Karrenwand, als mein Clanname fällt.

»Was esst ihr?«, frage ich.

Schmusekätzchen setzt sogar schon zur Antwort an, aber sein Anführer schneidet ihm das Wort ab: »Das geht dich einen feuchten Dreck an, Freundchen. Deine Henkersmahlzeit bekommst du früh genug.« Damit wirft er mir noch eine Feldflasche vor die Füße, deren Verschluss ich dank meiner Fesseln ohnehin nicht öffnen kann. Großartig.

»Und wie soll ich das essen?«, frage ich gereizt.

Der Kopfgeldjäger zuckt mit den Schultern und meint grinsend: »Von mir aus friss wie die Tiere. Damit kennt ihr verdammten Ziegenböcke euch doch aus.« Ich verdrehe die Augen. Diese Ziegenbockbeleidigung ist nun wirklich armselig. Andererseits: Es gibt wohl nichts, was unter der Würde eines Kopfgeldjägers wäre.

Wenigstens dreht der Kerl sich um und zieht ab. Nur Schmusekätzchen leistet uns Gesellschaft.

»Was ist? Willst du der Dame nichts zu essen bringen?«, frage ich mit erhobenen Brauen.

Er wirft mir einen Blick zu, den ich dank seines Mangels an Ausdrucksstärke mal wieder nicht zu deuten weiß, verschwindet dann aber kurz. Er steht nun kaum zwanzig Schritte von mir entfernt am anderen Karren und sucht in einigen Bündeln herum. – Alles in mir schreit danach, die Flucht anzutreten. Aber selbst, wenn ich es von diesem Karren herunterschaffen und die Uferböschung hinabrollen könnte – spätestens da wäre Schluss mit lustig. Nein, ich muss mich gedulden, bis es dunkel ist und die Hälfte von ihnen entweder eingeschlafen oder betrunken. Und auf mindestens eines davon kann ich hoffen, da bin ich mir sicher. Also harre ich an Ort und Stelle aus, bis Schmusi wiederkommt und dem Mädchen zwei Scheiben Brot und einen halben Schinken hinwirft. Schinken, gute Güte, hat der Arme etwa sein kleines Kopfgeldjägerherzchen an das Lumpenbündel verloren?

Meine Mundwinkel müssen meine Belustigung verraten haben, jedenfalls murrt Schmusekätzchen: »Was ist, Dieb?«

Ich hätte die Hände abwehrend erhoben – bedauerlicherweise hänge ich immer noch in diesen verfluchten Seilen fest. Ich muss zugeben, dass die Dauer, die ich brauche, um diese Knoten zu lösen, wirklich beschämend ist … Vielleicht hilft ja ein kleines Ablenkungsmanöver?

»Willst du ihr keinen Wein geben?«, frage ich.

Er verengt die Augen. Dann blickt er hinab auf die Flasche, die er noch immer in der Hand hält. »Sag Bescheid, wenn sie wach ist.«

»Sie ist wach«, erwidere ich ungerührt.

Er runzelt die Stirn und blickt verständnislos zwischen mir und dem Mädchen in der schwarzen Kutte hin und her. Dann fragt er: »Bist du wach?«

Keine Reaktion.

»Ich hab’ Wasser.«

Ihre Fingerspitzen zucken. Sie blinzelt und hebt den Kopf. Ihr Blick ruht auf mir, mustert das Seilgewirr, in das ich eingewickelt bin, als sei sie nicht sicher, ob ich nicht doch jeden Moment aufspringen und sie skalpieren werde. – Dabei habe ich ganz gewiss noch nie jemanden skalpiert. – Dann blickt sie hoch zu Schmusi, oder vielmehr: der Flasche in seiner Hand, und nickt.

Er hockt sich umständlich hin, nimmt den Stopfen ab – und zögert. »Keine faulen Tricks, v-verstanden?!«

Sie nickt matt.

Und ich bin dezent verwirrt.

Das Mädchen hat Angst vor mir. Was ich nachvollziehen kann.

Schmusi hingegen hat vor mir allenfalls Respekt – aber richtig Schiss hat er vor dem Mädchen.

Wer um alles in der Welt ist das?

2

Leianna

Es dämmert. Ich sehe dabei zu, wie das letzte Gelb der Sonne immer dunkler wird, in Orange, Rot und Violett aufgeht, bis das Nachtblau die letzten Strahlen vollständig verschluckt.

»Eine schöne Nacht, oder nicht?«

Mein Kopf ruckt zu der Stimme herum. Ihr Besitzer sitzt mit einer Schulter lässig gegen die Wagenwand gelehnt da, als sei es immer sein Ziel gewesen, genau jetzt genau hier zu sein – gefesselt auf einem Kopfgeldjägerkarren.

»Stell dir nur vor, wir könnten sie gemeinsam in Freiheit genießen«, flüstert er. Ifrahan hat eine sanfte, männliche Stimme. Nicht zu tief. Die Art, der man jede Lüge glauben möchte, allein weil sie sich so süß und verheißungsvoll in den Ohren wiegt.

Aber ich schüttle den Kopf.

Er mustert mich. Nicht mehr so intensiv wie zuvor – als ich das Gefühl hatte, sein Blick könnte bis in meine Vergangenheit schauen und jede meiner Ängste entblößen –, doch noch immer voll stiller Aufmerksamkeit.

Vielleicht spielt es ohnehin keine Rolle, ob er ahnt, was für ein Monster ich bin. Ich bin ohnehin so gut wie tot. Und das ist richtig so.

Ich habe eine solche Erleichterung empfunden, als ich erkannte, dass es kein Entrinnen mehr gab. Als die Kopfgeldjäger mich vergiftet und mir die Kapuze vom Kopf gezerrt haben. Ich bin zweifelsohne verloren. Das hier wird mein Ende sein. Und die Schönheit dieser Nacht unter freiem Himmel ist eines der letzten Geschenke an mich. Ein letztes Mal die Schatten der Bäume sehen, zuhören, wie die Vögel den Anbruch des Tages besingen, ein letztes Mal den Geruch nach grünem Moos und Wildblumen in der Nase haben, bevor sich der Kreis endlich schließt. Ich werde meine Eltern wiedersehen. Werde sie in die Arme nehmen können. Wäre endlich dort, wo ich immer hatte sein sollen. Keine Flucht, keine ständige Angst mehr. Nur noch ewige Heimat.

»Na, komm schon, Mädchen. Du weißt doch, wer ich bin … Wir beide können es hier rausschaffen. Gemeinsam. Es könnte sich wirklich lohnen für dich …«

Ich setze mich mühsam auf und schiebe mich tiefer in die Karrenecke. Die Ketten zu meinen Füßen geben ein leises Rasseln von sich und ich blinzle nervös zu den Kopfgeldjägern hinüber. Sie schenken mir keinerlei Beachtung. Der Duft des fetttriefenden Fleisches über dem Feuer ist zu verlockend.

Als ich meinen Blick wieder von ihnen löse und unserem Karren zuwende, wird er von Ifrahan aufgefangen. Inzwischen verschleiert er seine fiebrige Ungeduld kaum noch. Er kennt nur ein Ziel: Flucht. Um jeden Preis.

Er hat recht. Ich habe seinen Namen wiedererkannt. Nicht sein Gesicht, weil auf den wenigen Phantomzeichnungen von ihm nur eben das zu sehen ist: ein Phantom. Ein Mann ohne Antlitz, mit schwarzen Haaren und dem langen Gewand der Wüstenvölker. Im Moment trägt er die einfache Kleidung eines kaiserlichen Soldaten; in der Sonne hatten seine Haare einen dunkelbraunen Schimmer und auch sonst wirkt sein Äußeres mit den fein geschnittenen Gesichtszügen und der schlanken Statur nicht wie das des wilden, raubenden Barbaren, als der jener berüchtigte Ifrahan in den Schenken beschrieben wird.

Aber es wäre nicht das erste Mal, dass Legende und Realität zwei unterschiedliche Bilder derselben Figur widerspiegeln. Weil das Schicksal die Ironie liebt, einen Schurken aussehen zu lassen wie einen schönen Jüngling und ein Monster wie ein unschuldiges Mädchen.

»Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?«, fragt er. »Du bist eine Magierin, oder nicht? Und eine mächtige obendrein. Ich wette, wenn du deine Ketten erst losgeworden bist, könntest du mir mit einem Fingerschnippen den Garaus machen. Was hast du also zu verlieren?«

»Den Tod«, antworte ich ungerührt, und recke das Kinn. »Ich habe den Tod zu verlieren.«

Er schweigt. Endlich. Und dieses Mal lange.

Aber gerade, als ich zu hoffen wage, er hätte aufgegeben, sagt er: »Es wird dir besser gehen, wenn du etwas getrunken hast.« Sein Tonfall ist nicht mehr säuselnd, sondern sachlich. »Wenn du das Wasser nicht willst, dann lass wenigstens mich nicht verdursten. Ich bekomme den Kanten dort nicht herunter, wenn ich nichts trinke«, sagt er und nickt auf das unangerührte Stück trockenen Brots.

Ich sehe zu unserem Wächter hinüber, aber der dünne Mann sitzt bei den anderen aus der Kopfgeldjägerbande und lacht. Sie teilen sich Bier und den Rest des Spanferkels von gestern Abend, das sie anlässlich der Gefangennahme von Ifrahan geschlachtet haben.

Ich blicke zu dem Dieb zurück, wie er da an der Karrenwand lehnt – genauso menschlich wie jeder andere auch. Manche meinen, er müsse ein Geist aus Sand und Wind sein, weil es bisher niemandem gelungen ist, ihn gefangen zu nehmen. Aber ganz offensichtlich ist er aus Fleisch und Blut.

»Hilf mir«, murmelt er, so leise, dass ich es kaum vernehme.

Einige Augenblicke lang hadere ich noch mit mir, bis ich schließlich langsam auf Knien über den Karrenboden rutsche. Kurz bevor ich ihn erreiche, halte ich inne und mustere seine Fesseln. Er ist mindestens einen Kopf größer als ich und zweifelsohne kräftiger. Aber sollte er es tatsächlich wagen, mich anzugreifen, würde das keine Rolle spielen. Er wäre tot, ehe er eine geeignete Waffe finden könnte, um sie in meinen Leib zu stoßen. Er und alle anderen – sie wären tot.

Ich packe die Flasche und hebe sie auf. Meine Finger zittern, als ich den Verschluss öffne, aber ich zwinge mich zur Ruhe. Es ist nicht die Angst vor ihm, die mich frösteln lässt, es ist die Angst vor mir selbst. Und ich bin ihrer so müde, dass mir der Tod mittlerweile angenehmer vorkommt, als sie einen einzigen weiteren Tag auszuhalten. Zu welcher Art Monster mag mich das machen?

Ich verdränge den Gedanken, greife nach dem Brot und kippe, so vorsichtig ich kann, etwas von dem Wasser darauf. Als der Kanten fast vollständig getränkt ist, halte ich ihn dem Dieb vor den Mund. Seine Augen funkeln mich an in dem schwachen Feuerschein. Und habe ich vorhin noch Weichheit darin erkennen können, ist sie jetzt vollständig verschwunden.

Er isst. Und die ganze Zeit über mustert er mich, als warte er darauf, dass ich etwas tue.

Vier Bissen hat er verschlungen, als er plötzlich sagt: »Danke.«

Trotz aller Überraschung darüber, dass er das Wort überhaupt kennt, entscheide ich mich dazu, es zu ignorieren, und halte ihm stattdessen die Flasche hin. Manchmal mischen die Kopfgeldjäger Kräuter bei, die meine Magie schwächen sollen, manchmal schmeckt das Wasser einfach nur abgestanden und schal.

Aber Ifrahan trinkt, ohne sich zu beschweren. Dann nickt er mir auffordernd zu, und ich leere den Rest, bevor ich ihm den Kanten ein weiteres Mal hinhalte. Das letzte Stück ist so schmal, dass seine Lippen beinahe meine Fingerkuppen berühren, und ich ziehe mich rasch wieder an die Wand meiner Karrenseite zurück. Er wirkt amüsiert darüber und ich sehe weg, hinüber zum Feuer, von wo der Duft nach gegrilltem Spanferkel zu uns herüberweht. Ifrahans Magen knurrt und ich höre ihn leise die Kopfgeldjäger verfluchen.

Meine Finger tasten in den Falten meiner Robe nach dem Schinken und ehe ich genauer darüber nachdenken kann, habe ich ihm das Stück zugeworfen. Er hebt eine Augenbraue. »Willst du mich verspotten?«, fragt er, und wirkt auf einmal kalt und feindselig.

Ich schüttle den Kopf.

»Ich kann es nicht essen«, erklärt er das Offensichtliche, »und ein Hund bin ich auch nicht.«

Ich runzle die Stirn und lege den Kopf schief. Es irritiert mich, wie selbstbewusst er ist. Sogar jetzt noch. Er ist nur ein Mensch ohne jedwede magische Begabung. Seine Hülle ist verletzlich und ohne Waffen ist er vollkommen machtlos.

Ich seufze und krieche noch einmal mühsam über den Karrenboden. Der Blick, den er mir dabei zuwirft, ist merkwürdig. Beinahe lauernd. Wie eine Raubkatze, die zum Sprung ansetzt, und kaum habe ich ihn erreicht, sagt er: »Wieso hilfst du mir, wenn ich dich so verstöre?«

»Ihr verstört mich nicht«, sage ich. »Aber Ihr seid ein Dieb. Und ein mörderischer noch dazu.«

Er lächelt schwach. »Und du, Mädchen, das sich in der Kutte einer Aussätzigen versteckt? Was magst du sein?«

Ich vergrabe meine Finger in dem rauen Stoff meiner Kleidung. Er hat recht. Ich bin die Letzte, die in der Position wäre, irgendjemanden für das zu verurteilen, was er getan hat. Im Vergleich zu mir mag er ein Heiliger sein. Er stiehlt. Wer weiß wofür, denn in Reichtum badet er offensichtlich dennoch nicht. Meine Magie hingegen zerstört. Und nichts als das.

Es schmerzt, mir das einzugestehen. Er braucht wohl doch keine Waffe, um mich zu verletzen.

Trotzdem erschüttert es mich, als er im nächsten Augenblick fragt: »Gibt es hier Messer? Einen Knüppel?« Und instinktiv lehne ich mich aus seiner Reichweite.

Ifrahan schüttelt missbilligend den Kopf. »Du willst mir nicht ernsthaft weismachen, dass du nicht an Flucht denkst? Sie werden dich hängen, Mädchen, das ist kein schöner Tod! Du baumelst vor aller Augen an einem Seil, dein Überlebensinstinkt wird dich zwingen, um jeden Atemzug zu kämpfen, ob du es willst oder nicht. Selbst deine Kutte wird nicht darüber hinwegtäuschen können, dass du dich einpinkelst vor Angst – falls du sie dann überhaupt noch anhast. Sie werden dich mit faulen Eiern bewerfen und eine schmutzige Hure nennen. Was du bis dahin auch bist, denn jeder Kerkerwächter, der länger als fünf Herzschläge allein mit dir bleiben darf, wird dich zu einer machen. So einen Tod hat niemand verdient. Also hör auf zu schmollen und hilf mir, verdammt noch mal!«

Beinahe hätte ich gelächelt. Es wärmt mein Herz, wie er weiterhin an dem Gedanken festhält, nicht allein zu fliehen. Wie er gar glaubt, dass niemand es verdient hätte, so zu sterben. Selbst jemand wie ich. Ob er das immer noch denken wird, wenn er weiß, was ich bin?

Beherzt greife ich nach dem Stück Schinken. Er folgt meiner Bewegung mit den Augen und leckt sich über die Lippen. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, so sehr belustigt mich seine Gier nach so etwas Niederem wie Essen.

Er missdeutet meine Belustigung und fragt, nun wieder misstrauisch: »Warum willst du es nicht?«

»Ich mag kein Fleisch.« Ich sehe hinüber zu den Kopfgeldjägern. Sie fühlen sich so sicher an ihrem Feuer.

»Wer zur Hölle mag denn kein Fleisch?«, fragt Ifrahan, reißt mir im selben Moment mit den Zähnen den Schinken aus der Hand, legt den Kopf in den Nacken und schlingt das gesamte Stück herunter.

»Es kommt mir falsch vor, welches zu essen.« Weil es nicht tot ist. Niemals wirklich tot.

Er mustert mich schon wieder. Er tut das zu oft. Und noch immer ist es mir so unangenehm wie beim ersten Mal. »Wer bist du?«, fragt er.

Ich schüttle vehement den Kopf. »Niemand.«

Er lächelt. Ein wohlgefällig schelmisches Lächeln. Die Art, mit der mein Bruder unter den Augen der Bäuerinnen Äpfel vom Markt stehlen konnte, weil sie bei dem Anblick zwar den Kopf geschüttelt haben, es ihm aber nicht verboten. »Ich werde es herausfinden, Kuttenmädchen. Ob du willst oder nicht. Es wäre einfacher, es mir gleich zu sagen. Und wer weiß, vielleicht können wir zwei tatsächlich voneinander profitieren. Du wärst überrascht, was ich alles anstellen kann, wenn ich nicht gerade mumifiziert auf einem Karren hocke.«

»Ihr werdet es nie erfahren«, sage ich. Er wäre nicht der Erste, der glaubt, er könne mich für seine Zwecke einspannen. Es ihm zu versagen, ist mehr zu seinem Besten als zu meinem.

Doch im nächsten Moment ertönt in meinem Rücken Gebrüll, und ich fahre jäh zu der wütenden Stimme herum.

»Hey! Was tust du da, Hexe?«

Ich will zur anderen Karrenhälfte zurückkriechen, verheddere mich in meinen eigenen Fesseln und falle der Länge nach auf das raue Holz. Ich versuche, mich wieder aufzurappeln, doch im selben Moment reißt der Kopfgeldjäger mich am Kragen der Kutte hoch und ich bete nur noch, dass mir die Kapuze nicht vom Kopf gleiten und offenbaren wird, welches Zeichen die Magie dort hinterlassen hat, als sie vor knapp zehn Jahren in mich eingedrungen ist.

Ich werde zu Boden geschlagen. Blut rinnt warm und salzig von meiner Lippe. Der Geschmack lässt meine Magie aus dem Gefängnis meiner Seele kriechen, und es kostet mich alle Energie, dem Gefühl nicht nachzugeben. Die Wirkung des Gifts hat viel zu schnell nachgelassen … Ich schüttle den Kopf. Die Bewegung lässt mich schwindeln und ich kneife die Augen zu, während meine Finger sich in die vertrauten Lumpen krallen, die mir auf dem Karren als Bettstatt dienen.

Aber der Kerl packt nach den Ketten an meinen Händen und zerrt mich daran hoch. Er starrt mich an und beginnt zu lächeln. Er leckt sich über die Lippen. Sein Bart ist schmutzig vom Fett des Spanferkels und Brotkrümeln. Ich sehe meine Magie in silbern leuchtenden Fäden in den Boden rinnen. Wie Sternschnuppen, die vom Himmel fallen. Ich kann ihr Leuchten sehen, als sie sich um alte Knochen und Gebeine im Boden winden und beginnen, daran zu zupfen wie ein Marionettenspieler an seinen Puppen. Ich kann nichts dagegen tun, es ist ein Reflex. Aber noch ist meine Magie zu schwach, um sie aus dem Boden zu holen. Dankt den Göttern, ich bin zu schwach.

Doch der Anführer der Kopfgeldjägerbande merkt, dass etwas vorgeht, und im nächsten Moment schlägt er meinen Kopf mit der flachen Hand gegen das Holz der Karrenwand. Mir wird schwarz vor Augen und ich stöhne leise, als der Schmerz in immer neuen Wellen durch meinen Schädel flutet. Ich bekomme kaum mit, wie er meine Handgelenke erneut packt und mich in die Ketten zwingt, die sie nur für mich teuer erstanden haben. Das covjenische Eisen brennt auf meiner magischen Haut wie Feuer. Nur wenige Stunden, und das ätzende Metall wird sich bis auf meine Knochen gescheuert haben – der einzige Grund, warum sie es mir nicht Tag und Nacht anlegen. Seine schwielige Hand packt meinen Hals, zwingt meine Kiefer auseinander, während er mit der anderen in seinem Gürtelbeutel wühlt und eine Phiole herausholt. Er reißt den Stopfen mit den Zähnen heraus und zwingt mir das Gebräu die Kehle hinab.

Das Gift erstickt die Magie in meinem Körper. Mir steigen Tränen in die Augen ob des Brennens in Mund und Hals und ich lasse hilflos die Stirn gegen die Karrenwand sinken.

»Denk gar nicht erst dran, diesem Nichtsnutz von einem Dieb zu helfen! Der interessiert sich sowieso nur für sich selbst. Oder hast du etwa allen Ernstes geglaubt, jemand wie er würde dir zur Flucht verhelfen?« Er lacht, aber ich höre es kaum noch. In meinem Kopf rauscht das Blut wie das Tosen eines Wasserfalls. Die Magie in meinem Körper wehrt sich gegen das Gift. Aber sie wird verlieren.

3

ILYA

»Warum hast du dich nicht gewehrt?«

Sie reagiert nicht. Dabei bin ich mir sicher, dass sie noch bei Bewusstsein ist.

Oder … doch nicht?

»Hey, Kuttenmädchen!«

Sie dreht den Kopf, ein winziges Stück nur, bis sie mich ansehen kann. Ihre Iriden sind so hell, dass sie beinahe zu leuchten scheinen. Wie ein Spiegel des fahlen Mondlichts. Das ist tatsächlich latent verstörend. Ein Kopfgeld würde ich dafür allerdings trotzdem nicht auf sie aussetzen.

»Warum hast du dich nicht gewehrt?«, frage ich noch einmal.

Sie erwidert nichts, sondern lässt sich unter dem leisen Rasseln der Ketten tiefer gegen die Karrenwand sinken. Mir steigt der Geruch von Talkum und Schwefel in die Nase, der immer dann die Luft erfüllt, wenn etwas Magisches zerstört wird. Es ist widerlich und ich wende den Kopf ab.

Es dauert gefühlte Ewigkeiten, bis meine glorreichen Bewacher sich alle satt gefuttert haben und in Felldecken gewickelt neben dem Lagerfeuer liegen.

Nur zwei von ihnen sind noch wach. Sie sitzen auf dem Kutschbock des Wagens hinter uns und teilen sich eine Feldflasche Wein. Meiner Ansicht nach sollten sie allein dafür in die Hölle fahren. Avoayenischen Wein füllt man nicht in schmutzige Feldflaschen. Ich schnalze missbilligend mit der Zunge. Aber sie schenken dem Geräusch keinerlei Beachtung – sie sind zu sehr damit beschäftigt, einander mit den Lügenmärchen ihrer Heldentaten zu übertrumpfen.

Gut so.

Ich strecke meinen Fuß aus und stoße die Wade des Mädchens an. »Kuttenmädchen!«, zische ich leise.

»Nennt mich nicht so.«

»Ich gebe dir nachher gern einen neuen Spitznamen. Aber erst sollten wir von hier verduften.«

»Lasst mich in Ruhe.«

Ich seufze entnervt. »Ist das dein Ernst?! Um deine Ketten kümmere ich mich schon. Aber jetzt …«

Sie schnaubt und dreht mir den Kopf zu. »Wie wollt Ihr das anstellen? Ihr seid doch selbst nicht einmal in der …« Sie hält abrupt inne und starrt auf meine Hände.

Ich wackle grinsend mit den Fingerspitzen. »Und das ganz ohne Magie. Bin ich genial oder genial?!«

Kuttenmädchen verdreht die Augen. Aber selbst diese winzige Geste wirkt schwach und antriebslos.

»Was ist jetzt?«, frage ich. »Kommst du mit?«

Sie würdigt mich nicht einmal einer Antwort. Ich schnaube, winde mich aus den Seilen, mit denen diese Mistkerle mich mumifiziert haben und springe vom Karren. Weil meine Glieder noch immer steif und kalt sind, komme ich ungewohnt laut am Boden auf und sehe besorgt zu den Wachen hinüber. Aber sie sind immer noch damit beschäftigt, einander von ihren Heldentaten zu berichten.

»Und erinnerst du dich an den Raub der Juwelen aus der Truhe der Fürstin von Desmin?«, fragt der eine.

Der andere – Schmusekätzchen, wenn mich nicht alles täuscht – schüttelt den Kopf.

»Das war ich mit ein paar Kumpels.«

»Was? Ehrlich? Wie hast du das gemacht?«

Die Antwort auf diese Frage würde mich auch interessieren, denke ich, während ich in großem Bogen um den Wagen schleiche.

»Ich habe die Wache bestochen und dann habe ich mich als Bote verkleidet und bin so in ihre Gemächer eingedrungen!«

Witzig, der Plan hätte fast von mir sein können – außer das mit der Bestechung, das ist irgendwie nicht meine Art. Ich wäre einfach grüßend an ihnen vorbeigeschlendert, wenn ich ohnehin schon als Bote verkleidet herumspaziere.

»Und es hat niemand bemerkt? Wie bist du mit all den Juwelen wieder aus der Festung gekommen?«, fragt Schmusi.

Sein Kumpane überlegt einen Moment. »Ich habe … ich habe einfach so getan, als wäre ich als Bote damit beauftragt worden, einen Sack aus der Feste zu schleppen!«

Schmusi kratzt sich am Kinn. Ich bin ihm so nah, dass ich die Fingernägel über seine Bartstoppeln schrappen hören kann.

»Und das warst wirklich du?«, fragt er dann skeptisch.

»Doch, natürlich! Wer soll es sonst …?«

»Ich«, erkläre ich feierlich, schlage ihre beiden Köpfe gegeneinander und mache mir sogar die Mühe, ihre Leiber vor dem Sturz vom Kutschbock zu bewahren. Nicht aus reiner Nächstenliebe versteht sich, sondern weil ich keine Lust habe, dass von dem Plumpsgeräusch am Ende noch einer ihrer Freunde aufwacht.

Und nur so nebenbei: Ich habe die Juwelen vom Turm ihrer Gemächer heruntergeworfen. Und sie anschließend aus dem Gebüsch zu Füßen des Turms wieder herausgefischt.

Apropos Juwelen: Genau die hole ich mir nun zurück und nehme dabei gleich noch die ein oder andere Kleinigkeit mit – als Schmerzensgeld. Meine beiden Scimitare stecken sogar noch in ihren Gurten und ich lege sie mir um. Das Gefühl des Leders auf meinen Schultern tut gut. Das Einzige, was ich jetzt noch brauche, ist ein Werkzeug, mit dem ich die sture Hexe von ihren Ketten befreien kann.

Ich werfe den Schnarchern am Lagerfeuer noch einen Blick zu, bevor ich zum anderen Karren zurückkehre. Das Mädchen hängt noch immer dort, an ihren aufgescheuerten Armen rinnt Blut hinab und sickert in die schwarze Kutte. Sie weicht die zwei Handbreit, die sie sich bewegen kann, vor mir zurück, und wieder steigt der widerliche Geruch von verbrannter Magie in die Nachtluft.

»Kuttenmädchen, ich zähle jetzt von fünf runter und dann sagst du mir, wo ich den Schlüssel für deine Ketten finde. Fünf, –«

»Verschwindet«, krächzt sie.

Also schön. Dann auf die nicht so nette Art.

Ich packe ihr Kinn und zwinge sie, mich anzusehen. »Hör mal, du hast exakt eine Wahl: Tod oder Freiheit. Da nimmt man Freiheit, hast du kapiert? Und jetzt sag mir, wo ich etwas Geeignetes finden kann, um deine Ketten zu lösen, bevor die Idioten da drüben aufwachen!«

Sie starrt mich an, die Augen schreckgeweitet, und atmet nicht einmal mehr. Als wäre ich derjenige, der ihr den Tod brächte – und nicht die Lumpenbande dort drüben.

Ich schließe die Augen, lasse sie los und rücke von ihr ab. »Letzte Möglichkeit«, murmle ich, und ärgere mich selbst darüber, wie frustriert ich klinge. Ich sollte sie einfach hier verrotten lassen, wenn sie das unbedingt will!

Sie erwidert nichts – und ich drehe mich um und gehe.

Ich komme zwei Schritte weit, dann höre ich jemanden hinter mir rufen: »Zu den Waffen! Aufwachen, ihr nichtsnutzigen Satanshunde! Euch laufen gerade neunhundert Goldmünzen weg!«

Als ich mich umdrehe, stürzt der erste Kopfgeldjäger bereits mit gezücktem Schwert auf mich zu. Ich verdrehe die Augen, ziehe meine Scimitare aus den Scheiden und sage: »Dreh um, geh schlafen und du wachst morgen gesund und munter wieder auf, versprochen.«

Er fängt an zu brüllen und rennt weiter auf mich zu.

»Toll, jetzt sind sie garantiert alle wach«, grummle ich, mache einen Ausfallschritt, als er mich beinahe erreicht hat und verpasse ihm mit dem Säbelgriff einen kräftigen Hieb in den Nacken. Er geht zu Boden. »Wärst du gleich liegen geblieben, hättest du morgen keine Kopfschmerzen …«, sage ich und steige über seinen bewusstlosen Körper hinweg.

Es stürmen zwei weitere Kopfgeldjäger auf mich zu. Ich pariere ihre Angriffe, will einschätzen, ob sie mich tatsächlich noch immer lebend haben wollen, oder es ihnen mittlerweile egal ist. Bedauerlicherweise sind ihre Schwertkünste so mies, dass ich es nicht ausmachen kann – was es mir immerhin leichter macht, sie einfach zurück ins Traumland zu schicken.

»Noch jemand?«, frage ich genervt, als vier weitere am Boden liegen – und bereue es im nächsten Moment beinahe. Denn natürlich findet sich noch jemand. Und dieses Mal ist es der Boss dieser fröhlichen Gemeinschaft, und einer seiner Kumpane, die irgendwie beide nicht aussehen, als wollten sie mich einen einzigen Lidschlag länger am Leben lassen.

Ich höre das Kuttenmädchen hinter mir meinen Namen rufen und das Rasseln von Ketten. Wahrscheinlich hat sie ihren verschollenen Lebenswillen wiedergefunden und will doch mit mir kommen. Obwohl ich diese Entscheidung durchaus begrüße, wäre ich ihr trotzdem sehr verbunden, wenn sie mir diese Wendung etwas leiser mitteilen würde. Ich habe die Übersicht verloren, wie viele dieser liebenswürdigen Zeitgenossen noch oder dank mir schon wieder schlafen.

Trotzdem antworte ich ihr: »Kleinen Moment, ich muss noch ein bisschen Sandmann spielen«, und schicke den Kopfgeldjägerboss ins Traumland. »Daran glaubt ihr hier doch, oder? Den Wicht, der euch Sand in die Augen streut, damit ihr … was eigentlich? Albträume bekommt? Könnt ihr haben, die Rolle ist mir wie auf den Leib geschrieben.« Ich versetze dem verbliebenen Angreifer eine Kopfnuss und reibe mir anschließend die Stirn. Ich sollte damit aufhören, auf diese Weise jemanden auszuschalten. Es ist zwar wirklich effektiv, denn ich kenne niemanden, der einen so harten Sturschädel hätte wie ich – aber ich habe danach auch jedes Mal Kopfschmerzen.

»IFRAHAN!«, brüllt sie erneut. Ich greife mir ob der Lautstärke an den schmerzenden Schädel, drehe mich herum und es liegt mir auf den Lippen, ihr zu sagen, endlich still zu sein. Aber der Satz erstirbt auf meiner Zunge.

In meiner Welt existiert der Tod nur für andere Menschen. Es ist ein Grundsatz. Würde ich darüber nachdenken, dass ich sterblich bin, wäre ich tot, ehe ich meinen Scimitar aus seiner Scheide gezogen hätte. Aber jetzt in diesem Augenblick trifft mich die Erkenntnis, dass diese Vorstellung allenfalls ein tröstendes Trugbild war. Wie die Legenden um magische Schutzgeister, die wir den Kindern am Lagerfeuer erzählen, um ihnen die Angst vor der Dunkelheit zu nehmen. Doch ist Angst alles, was mich in diesem Lidschlag erfüllt. Weil es kein Entrinnen gibt. Die doppelschneidige Klinge des Dolches, die gerade direkt auf mich zuhält, wird mich treffen. Sie wird sich in mein Herz bohren und sie wird mich töten. Ich werde sterben, wie alle Menschen ohne Magie es tun. Meine einzige Hoffnung ist, dass es schnell geschieht. Kein Schmerz und keine Qual. Nur der Tod, irgendwo zwischen fremden Bäumen, Gras und Gewässern, wie es sie nur hier gibt, in Fenestrea. Was für eine Ironie des Schicksals. Da renne ich vor dem Tod in meiner Heimat davon und laufe ihm unzählige Tagesritte entfernt geradewegs wieder in die Arme.

Oder jedenfalls dachte ich das. Mit Sicherheit hätte ich es verdient. Mehr als das Mädchen, das sich gerade mit einem kräftigen Satz vom Karren stürzt. Mitten in die Wurflinie des Dolches hinein. Sie kommt am Boden auf, wankt. Kippt vornüber und sackt reglos in sich zusammen. Es geschieht so still, so unspektakulär. Bis auf die Tatsache, dass mein eigener Pulsschlag noch immer laut und kräftig durch meinen Körper pumpt.

Ich renne auf das Mädchen zu, springe über sie hinweg und ramme dem am Boden hockenden Werfer des Dolches meine Klinge ins Herz. Ich kann die Spitze des gebogenen Metalls wieder aus seinem Bauch herausragen sehen. Seine leblosen Augen starren mich überrascht an, während ich ihm den Scimitar wieder aus dem Leib ziehe und seine Leiche mit dem Fuß von mir stoße.

Man tötet nicht unehrenvoll! Die harsche Stimme meines Vaters hallt durch mein Inneres, während der Kampfrausch mich verlässt und schlichter Erschöpfung Platz macht. »Ich habe sie gewarnt«, murmle ich. »Und sie haben nicht auf mich gehört.« Ich weiß nicht, warum ich sogar jetzt noch das Bedürfnis habe, mich vor meinem Vater zu rechtfertigen. Obwohl er womöglich längst tot ist.

Ich drehe mich um. Mein Kopfschmerz schwillt an, als ich auf das Mädchen blicke. Das Blut, das zwischen ihren Händen aus der Wunde hervorquillt, schimmert im Feuerschein. Solange das Blut noch fließt, schlägt ein Herz, sagen die Ärzte meiner Heimat. Und Schicksal für Schicksal, ist eine der Grundregeln meines Clans. Werden wir von einem anderen vor dem unmittelbaren Todesstoß bewahrt, sind unsere Schicksale so lange miteinander verbunden, bis wir den Gefallen erwidert haben. Nas’Ti nennen wir das. Wenn das Mädchen stirbt, klebt ihr Blut genauso an meinen Händen wie an denen ihres Mörders.

Ich werfe die Scimitare von mir und gehe vor ihr auf die Knie. »Atme«, befehle ich. »Untersteh dich, damit aufzuhören.«

Sie atmet, ein zischender Laut zwischen ihren Zähnen, und es braucht Lidschläge, bis ich begreife, dass sie mich auslacht. »Lass mich sterben«, flüstert sie. »Ich möchte st-«

»Nein«, sage ich, und als sie Anstalten macht, sich den Dolch aus der Wunde zu ziehen, packe ich ihre zitternden Hände und halte sie fest. »Du wirst nicht für mich sterben. Solange mein Herz schlägt, wird deines es gefälligst auch tun.«

Ich reiße Kleidungsfetzen vom nächstbesten bewusstlosen Körper und zurre sie um den Leib des Mädchens fest. Dann hebe ich sie auf meine Arme und bette sie zwischen die Decken des Karrens. »Muss ich dir die Hände noch festbinden oder gibst du mir dein Wort, dich nicht zu rühren, bis ich einen Heilmagier für dich gefunden habe?«

Ihre Mundwinkel zucken. Sie sagt etwas, das ich nicht verstehe, bis ich meinen Kopf bis fast an ihren Lippen gesenkt habe. »Ich habe doch gar keine Kraft mehr, um …«, setzt sie an.

»Dann verschwende sie auch nicht«, knurre ich, lege Decke um Decke auf ihren Körper, schiebe ein Bündel Lumpen unter ihren Kopf, halte inne, als mein Blick neuerlich auf ihre blutbesudelten Hände fällt. Ich habe es zuvor nicht bemerkt – die tiefen Wunden an ihren Gelenken. Die giftigen Ketten müssen ihr die Haut weggeätzt haben, so sehr, dass sie sich am Ende aus der Fesselung hat winden können, um mir zu helfen.

Ich schlucke das Bedürfnis herunter, nachträglich doch noch jedem einzelnen Kopfgeldjäger die Kehle durchzuschneiden, und verbinde stattdessen ihre Gelenke.

Dann springe ich vom Karren, um die zwei Pferde einzuspannen, die mir am kräftigsten scheinen, und scheuche die restlichen fort.

Ich habe keine Ahnung, wie ich mitten in der Nacht und ohne jede Ortskenntnis einen Heiler ausfindig machen soll, der ihr noch helfen kann. Seit dem Krieg sind Magier mit der Gabe zu heilen selten geworden. Hin und wieder verstecken sich die weniger Begabten von ihnen in abgelegenen Dörfern, kurieren die Wehwehchen der Bewohner und genießen im Gegenzug deren Stillschweigen. Das Mädchen hingegen braucht einen vollständig ausgebildeten Meister. Und die gibt es eigentlich nicht mehr.

Aber ich werde es schaffen. Ich werde nicht mit der Schande leben, eine Nas’Ti nicht erwidert zu haben, weil ein fremdes, fenestrisches Mädchen ihr Leben für meines aufgegeben hat und ich sie zum Dank habe sterben lassen.

4

Leianna

Schmerz. Mein Kopf, mein Körper, meine Seele – alles ist voll davon. Von einem einzigen, tief empfundenem Schmerz.

Ich hätte sterben sollen. Es war meine Bestimmung zu sterben. Vor Jahren schon. Und doch liege ich hier. Die Räder des Karrens unter mir rattern stetig weiter. Und mein Herz schlägt schwach aber regelmäßig in meiner Brust.

Die Baumwipfel der umstehenden Kastanien drängen sich in mein Sichtfeld und verschwinden wieder, bis ihnen neue folgen. Der Anblick erinnert mich an die Schattenspiele, die mein Bruder früher an die Wand geworfen hat, wenn ich nicht schlafen konnte. Er hat Geschichten gesponnen wie die Götter das Schicksal. Mit seinen Händen konnte er alle erdenklichen Wesen erschaffen. Er hat sie über die Wände unserer Schlafkammer tanzen und jedes Abenteuer erleben lassen, das die Fantasie eines Menschen nur hervorbringen kann. Es waren Geschichten voller Mut und Liebe. Und niemals hätte eine seiner Figuren aufgegeben, immer gab es einen Ausweg. Ob dank purer Kraft oder doch einer klugen List, jeder Charakter hatte seine Art, mit den Gefahren fertigzuwerden.

Mein Ausweg hätte sein sollen, ihn endlich wiederzusehen. Meinen Bruder. Meine Eltern. Vielleicht sogar meine Großeltern. Ich hätte sie alle wiedersehen sollen. Aber ein Dieb hat mir diesen letzten Wunsch gestohlen. Und jetzt liege ich auf seinem Karren und kann mich vor lauter Schmerz nicht mehr rühren.

»Du bist wach«, murmelt seine dunkle Stimme zwischen das Getrappel der Pferde und den Morgengesang der Vögel um uns herum. Der fremde Zungenschlag kommt mir heute deutlicher vor als in der vergangenen Nacht. »Schlaf nicht wieder ein, wenn du es verhindern kannst«, sagt er. Und ich öffne den Mund, in dem Bestreben, ihn anzubrüllen, dass er kein Recht hat, noch irgendetwas von mir zu verlangen. Ich habe ihm mein Leben gegeben und seine Gier ist trotzdem nicht befriedigt. Was will er denn noch von mir?

Aber ich entscheide auf halbem Weg, dass er den Atem nicht wert ist. Dass er die Anstrengung nicht wert ist, ihm auf dem Sterbebett meine letzten Worte zu schenken. Ich werde einfach die Augen wieder schließen. Und weiterträumen.

»Warst du einmal jenseits der südlichen Grenze? In den Wüstenländern?«, fragt er mich. »Hast du die mächtige Festung von Il-An-Kah gesehen? Mit Mauern so hoch, dass eine Leiter von sieben Leibern Höhe noch immer nicht ihre Zinnen erreichen könnte? An jedem der vier Stadttore müssen sie morgens und abends Esel antreiben, um den schweren Tormechanismus zu heben. In Fenestrea hört man immer nur von der Festung der Zeit. Aber Il-An-Kah ist so viel mehr als das. Es gibt sieben Marktplätze und auf jedem einzelnen davon werden andere Güter gehandelt. Der prächtigste ist der Goldmarkt. Es gibt dort Schmuck: Armbänder und Ketten mit dunkelblauem Lapislazuli, rotem Topaz und schwarzem Obsidian, mit Edelsteinen in allen Formen und Farben, die du dir nur vorstellen kannst. An jedem Stand funkelt einer prächtiger in der Sonne als die an jenem davor. Selbst die Stadtwachen sind so reich, dass sie die Knäufe ihrer Waffen damit verzieren lassen. Und natürlich sind die meisten von ihnen Magier. Keine Meister, aber sie alle haben die Gabe der Zeit und können manche Ereignisse vorhersehen. Schätze, dass ein Zehnjähriger ihnen ihre Waffen stiehlt, gehörte nicht dazu.« Ich kann ihn schmunzeln hören bei den Worten. Es lässt seine Stimme noch weicher klingen. Sie trägt mich wie in einer Sänfte ins Reich der Träume.

Ich wache auf, weil eiskaltes Wasser von meiner Stirn bis in meinen Nacken sickert. Ich schnappe nach Luft und schaue in Ifrahans kantige Züge. Er hat die Stirn gerunzelt und starrt mich an. »Wir erreichen jeden Moment die Grenze nach Solhem. Wenn wir Glück haben, finden wir dort einen Heiler.«

Ich will einwenden, dass es Irrsinn ist, die Grenze zu übertreten. Jeder weiß, dass dort Krieg herrscht. Seit Jahrzehnten ist die Provinz umkämpft, weil der Kaiser den Schlund von Solhem schließen will. Das Tor zur Hölle, von welchem die Dämonen von ihrer Welt in unsere übertreten können. Und der einzige Weg, das zu tun, ist, die Erde von Solhem von jeder dämonischen Magie zu reinigen, indem man sie mit Heilmagie tränkt. Aber dieser Krieg kostet Opfer. Er kostet nicht Korn, nicht Wasser, nicht Münze. Er kostet Leben. Jedes Jahr sind es Tausende Heiler, die dorthin verschwinden, weil ihre Magie die einzige ist, die Dämonen bekämpfen kann. Und niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Sie werden über die Grenze verschleppt und kehren nicht zurück.

Wer weiß. Vielleicht will der Dieb mich doch noch tot sehen. Vielleicht ist es nur Trug, als er sagt: »Du musst durchhalten, hast du gehört? Du hältst durch.« Er duldet keinen Widerspruch. Ich beginne zu glauben, dass er nicht weiß, was das ist, selbst wenn er ihm begegnen sollte. Ich blinzle ihn an. Er fährt ein weiteres Mal mit dem feuchten, kalten Lappen über meine Haut und ich unterdrücke ein Zittern. Muss er mich auf dem Sterbebett noch quälen?

Ich dämmere weg. In meinem Traum erreichen wir eine halb ausgebrannte Ruine. Davor stehen bewaffnete Männer in der Kleidung einer fremden Provinz, die ich nicht zuordnen kann. Ifrahan redet auf sie ein. Immer und immer wieder. Er fordert einen Heiler und benutzt ein Wort, das ich nicht kenne. Arzt. Ich denke darüber nach, was das sein könnte. Ein Wundermittel vielleicht. Oder ein Kraut? Ich weiß es nicht.

Die Stimmen werden lauter. Ihr Streit dröhnt so sehr in meinem Kopf, dass ich die Augen öffne und in den Himmel starre. Er ist blau und wunderschön. Und davor zeichnen sich Rauchwolken ab, in Weiß und Grau und Schwarz. Ihr Geruch steigt mir in die Lunge, ich beginne zu husten und schmecke Blut auf meiner Zunge. So viel davon, dass ich es ausspucken muss, auch wenn das Gefühl mich anekelt, wie es an meiner Wange hinabrinnt und ich es nicht einmal aufhalten kann, weil ich so schwach bin.

Aber eine raue Hand reibt mir mit einem Lumpen die klebrige Flüssigkeit von der Haut. Anschließend hält er das blutgetränkte Stück Stoff in die Höhe. »Versteht Ihr nicht? Sie wird sterben!« Ifrahan. Er ringt noch immer mit dem Tod um mein Leben. Vielleicht unterhält er sich gar mit ihm. Mit dem Tod. Aber ich stelle mir den Tod nicht wütend vor oder garstig. Ich stelle ihn mir gnädig vor und geduldig.

»Wenn Ihr die Grenze übertretet, werdet ihr beide sterben. Versteht doch: Es gibt hier keine Heiler. Was auch immer Ihr gehört haben mögt, es sind Mythen. Es sind böse Lügen über den einzig wahren Kaiser! In ganz Fenestrea ist wegen der Dämonen seit siebzehn Jahren kein Heiler mehr erweckt worden und hier werdet Ihr ganz sicher keinen finden! Also verschwindet!«

»Ihr lügt. Jeder weiß, dass nicht Dämonen schuld am Tod der Heiler sind. Sondern euer feiner Kaiser. Die Tauben pfeifen es von den Dächern!«

»Noch ein Wort und ich werde Euch hier und jetzt Euren verdammten Kopf abtrennen, Bastard!«

Ifrahans Finger graben sich in meine Schulter. Ihr Griff ist schmerzhaft. Und fast glaube ich, er ist wütend auf mich, als er mich ansieht. »Halt – durch«, sagt er. Schon wieder. Dann tritt er zurück, der Karren wird erschüttert und einen Lidschlag später setzen sich die Pferde wieder in Bewegung. Eine Welle von Schmerz zieht durch meinen Körper. Sie frisst sich tief in meinen Bauch hinein und ich spüre Tränen aus meinen Augenwinkeln rinnen. Mir bleibt nichts, als die Lider zu schließen und zu hoffen, der Schlaf möge noch einmal gnädig sein. Mir den Schmerz nehmen und an seiner statt Träume schenken. Träume von Wüstenstädten und dem Duft von tausend getrockneten Kräutern, von warmem Sud und dem süßen Geschmack fremder Früchte auf meiner Zunge.

»Sämtliche Grenzübergänge sind dicht. Und durch den Wald komme ich mit dem Wagen nicht«, sagt Ifrahan.

Ich schmiege meine Wange in die warmen Finger. Es ist so bitterkalt. Die Strahlen der Sonne haben an Kraft verloren und nur noch vereinzelt blinzeln sie mir durch die Wipfel der Bäume entgegen. Trotzdem sind sie noch immer so fürchterlich hell, dass ich rasch wieder die Augen schließe. So ist es ohnehin einfacher. Die Dunkelheit ist tröstlich. Sie hat mir sogar den Schmerz genommen. Nur die Kälte – die verlässt mich nicht.

»Es tut mir leid«, flüstert er. »Du wirst noch länger durchhalten müssen.«

Ich öffne den Mund. Auch wenn ich fürchten muss, dass meine Stimme leiser ist als das Klappern meiner Zähne. »Töte mich. Bitte. M-mit einem Tier würdest du es auch –«

»Sei still.« Seine Hand verschwindet von meinem Gesicht. Stattdessen landet weiteres Gewicht auf meinem Körper, und weiches Fell streift über mein Kinn. Eine Felldecke. Ich liebe Felldecken, sie sind wärmer, als jeder Stoff es je sein könnte. Wo hat er die nur her?

»Heute stirbt niemand«, sagt er. Als müsse selbst der Tod nach seiner Pfeife tanzen.

Dann höre ich ihn sich wieder auf den Kutschbock setzen. Und ich vernehme seine Stimme. In ihrer dunklen Sanftmut wird sie zur Erzählerin meiner Träume. Von Wüstenschiffen und Handelskarawanen. Von Nomadenstämmen mit eigenem Land, eigenen Regeln, eigenen Bräuchen und Sprachen. Die Worte werden zu Szenen, die an mir vorbeiziehen …