8,99 €
Die Immobiliendynastie-Erbin und der Hockeyprofi-Bad-Boy – was kann da schon schiefgehen?
Rosalie steht vor ihrem ersten großen Auftritt im Vorstand des kanadischen Familienunternehmens. Doch ausgerechnet da holt sie ihre Vergangenheit ein: Nude-Pics aus der Schulzeit und eine damals gerade so verhinderte Cybermobbing-Attacke kommen wieder an die Öffentlichkeit. Selbst an ihrem Ostküstencollege in den USA wird sie nun von der Presse verfolgt. Was das angeht, sitzt sie mit Jayden, dem angehenden Hockeyprofi in einem Boot, denn sein Partyleben darf nicht in die Medien geraten, sonst ist sein Vertrag erledigt. Also schließen die beiden einen Pakt und zünden die ultimative öffentlichkeitswirksame Rauchbombe: Von nun an geben sie sich als das neue Traumpaar aus. Wenn es da nur nicht Jaydens Hang zu One-Night-Stands gäbe und die immer neuen Gerüchte über Rosalie ...
Die heißersehnte Fortsetzung der romantischen Atlantic University-Reihe
Die Bände der »Atlantic-University«-Reihe:
Leave Me (Band 1)
Shelter Me (Band 2)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
TRIGGERWARNUNG
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deswegen findet ihr hier einen Hinweis.
Dieser enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.
Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
© 2024 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagkonzeption: Suse Kopp, Hamburg
unter Verwendung einer Abbildung von © Stocksy United (Milles Studio)
MP · Herstellung: BO
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-30050-0V001
www.cbj-verlag.de
Für M.
Die Tür meines Wohnheimzimmers ist noch nicht ins Schloss gefallen, als mir schon die erste Träne über die Wange rinnt. Sie rinnen weiter, als ich zu meinem Rucksack haste und mir die Trainingsklamotten anziehe, meine Sportschuhe für draußen und die dünne Funktionsjacke, meinen Haargummi um den aufgedrehten Zopf zwinge, nach meiner Schlüsselkarte greife und aus der Tür renne. Die Treppen hinab, durch den Hof, die Straße runter, bis zum Abzweig in Richtung Wald.
Die Bäume verschwimmen hinter meinen Tränen und dem Regen zu einer Masse aus Braun- und Grüntönen, während ich zwischen ihnen hindurchrenne. Meine Lungen beginnen zu brennen. Ich schluchze, atme falsch, bekomme Seitenstechen und Krämpfe in den Beinen, die noch vom Sprungtraining beim Volleyball erschöpft sind. Aber es interessiert mich nicht. Ich renne einfach weiter. Mir schlagen Äste und nasse Blätter ins Gesicht, die ich zu spät sehe. Irgendetwas verheddert sich in meinen Haaren und zieht daran, aber ich habe nicht die Geduld, stehen zu bleiben, sondern laufe einfach weiter.
Zum Ozean. Ich will nur bis zum Ozean.
Ich kann ihn in der Ferne zwischen den Bäumen hindurchblitzen sehen, als ich meinen Körper vor Schmerz und Erschöpfung kaum noch spüre. Das Wasser ist nicht blau. Es ist tiefgrau wie der Himmel und mit jedem meiner Schritte wird das Rauschen der Wellen lauter, bis sie das Prasseln des Regens übertönen.
Das Grün der Bäume lichtet sich, wird abgelöst von Tupfen aus Ufergras und Felsen. Ich will weiterlaufen. Nur die hundert Meter noch. Bis zum Meer. Wenigstens den Sand unter meinen Füßen haben.
Aber meine Beine, meine Lunge, mein Herz – sie versagen mir den Dienst. Meine Knie knicken ein, brechen unter mir zusammen, so nahe vor meinem Ziel. Ich falle, und mein Schrei aus Frustration, Wut, Enttäuschung und Verzweiflung bricht heraus. Ich trommle mit meinen Fäusten auf den Dreck ein und brülle ihn an.
Weil das Leben unfair ist. Es ist unfair und grausam.
Montréal, drei Wochen zuvor
Sag was, sag was, sag was.
Ich reibe mir über die Oberarme, bis der weiche Stoff meines Boleros sich rau in meine Haut frisst. Seit zehn Minuten starrt mein Dad auf die Entwürfe, an denen ich im letzten Semester gearbeitet habe.
Jede ruhige Stunde habe ich auf dieses Projekt verwandt. Mein Herzblut steckt darin. Alles, was ich in den vergangenen Jahren über Architektur gelernt habe, jeder Halbsatz, den meine Eltern über ihre Immobilienfirma haben fallen lassen, jede Recherche zu den aktuellen Bedürfnissen des Markts und Möglichkeiten der Baubranche. Einfach alles.
Und mein Dad steht nur dort und schweigt.
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen – und schließe ihn doch wieder. Verlagere mein Gewicht auf den linken Fuß und wieder zurück. Beiße mir auf die Unterlippe, bis der ölige Geschmack des Lippenstifts auf meiner Zunge liegt. Criss, ich hoffe, jetzt sind meine Zähne nicht …
»Die sind ganz hervorragend, Rose.«
Ich blinzle. Mein Dad vergrößert ein anderes Blatt meines Entwurfs auf seinem Touch-Screen und nickt bekräftigend. »Außergewöhnliche Arbeit. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Dann sieht er zu mir auf, lächelt und schüttelt den Kopf. »Eben noch hast du da draußen auf der Schaukel gespielt und mit deinen Blaubeerhänden meine Entwürfe beschmiert. Und heute machst du mir schon Konkurrenz in meinen eigenen Unternehmen. Was soll man dazu sagen?«
Ich muss lachen. Die Steine, unter denen mein Herzschlag in den vergangenen zehn Minuten begraben lag, purzeln zu Boden. »Ehrlich? Du findest sie gut?«
»Nein, Rose, ich sagte, ich finde sie hervorragend. Ich werde mit deiner Mutter den Einstieg in die Firma besprechen, wenn du nichts dagegen hast. Ich bin mir sicher, sie wird das sofort unterstützen, es ist also eine rein strategische Frage und –«
Der Rest seiner Worte erstickt in meiner stürmischen Umarmung, und möglicherweise nicht ganz so damenhaft-diskretem Jubel … Das ist alles, was ich immer wollte. Das hier ist perfekt. Es ist mein Tag. Mein Abend. Meine Nacht.
»Danke, danke, danke, danke, danke, danke!«, sage ich und drücke meinem Dad einen Kuss auf die Wange.
Er reibt sich verlegen darüber. »Sch… schon gut«, nuschelt er.
Im selben Moment schwingt die Tür auf und meine Mutter stolziert in einem nachtblauen, ausufernden Ballkleid herein. »Was macht ihr zwei noch hier?! Ich habe das gesamte Haus nach euch abgesucht! Wir müssen in zehn Minuten im Salle de Bal sein und ihr verschanzt euch im Studierzimmer. – Und was treibt ihr hier überhaupt? Wird das eine Verschwörung?« Sie hat die Augenbrauen gehoben und schaut streng zwischen uns beiden hin und her.
Dad streckt einen Arm nach ihr aus. »Ganz wundervoll siehst du aus.«
»Papperlapapp.« Sie winkt ab, greift aber in derselben Geste nach seiner dargebotenen Hand. »Wir müssen los. Allez, hinaus mit euch.« Sie schnalzt mit der Zunge und scheucht uns aus dem Raum wie zwei verlorene Gänseküken.
Ich werfe meinem Dad ein letztes Augenrollen zu, was er mit einem Schulterzucken erwidert. Er hat recht. Wir haben keine Wahl. Also folge ich Maman die Treppen hinunter, durch unser gesamtes Anwesen bis zur Haustür, wo unser Chauffeur schon auf uns wartet.
Am Fuß der Verandatreppe steht mein Cousin, die hellblonden Haare perfekt zurückgekämmt, deutet eine Verbeugung an und bietet mir seinen Arm. »Rosalie, s’il te plaît.«
»Wo ist Calvin?«, frage ich leise und hake mich bei ihm unter. Ich hatte gehofft, mein großer Bruder würde mit uns zum Ball fahren. Früher war er der einzige Grund, warum ich solche Veranstaltungen überstanden habe. Mein Ankerpunkt.
»Er hat den besten Freund von Summer vom Flughafen abgeholt und ist anschließend direkt mit den beiden zum Ball gefahren.«
»Klug. Dann hat er ein Auto und kann zusammen mit seiner Freundin abhauen, wann er will …« Im Gegensatz zu mir. Die Zeiten, als Calvin mein unerschütterlicher Schatten war, sind wohl endgültig vorbei. Dieses Privileg genießt nun seine Freundin. Aber ich bin schließlich neunzehn. Ich muss – und werde! – das auch allein schaffen. Immerhin habe ich heute den Geschäftsführer eines der größten Immobilienunternehmen des Landes davon überzeugt, dass aus mir eine wirklich gute Architektin werden wird. Wer kann das schon von sich behaupten?
Als habe Edouard meine Gedanken gelesen, sagt er lächelnd: »Ich bin mir sicher, du wirst sie alle mit deiner Anwesenheit betören.«
Ich presse die Lippen aufeinander. Mein Cousin ist ein echter Charmeur. Und obwohl ich seine Komplimente gewohnt bin, werde ich doch jedes Mal rot. Es ist ein Fluch.
Ich lasse mich von ihm zum Wagen begleiten und wappne mich innerlich für vier Stunden höflichen Palaverns, floskelgetränkter Unterhaltungen und zertretener Zehenspitzen. Ein Glück hat Maman mich gestern noch daran erinnert, geschlossene Schuhe zum Ball zu tragen. Das wird helfen.
Ich setze einen Fuß aus dem Auto. Über mir ragt das neoklassizistische Gebäude in den nachtschwarzen Himmel. Anlässlich des Montréaler Neujahrsballs wird es in bunten Farben angestrahlt und thront somit offensichtlicher denn je über der historischen Altstadt.
Im Schatten eines Flutstrahlers gleich zu meiner Linken sehe ich zwei Gestalten miteinander streiten. Wortfetzen dringen zu mir herüber, während Edouard mir ein weiteres Mal seinen Arm bietet.
»Entschuldige mich bitte«, flüstere ich, wende mich von ihm ab und trete hinein in die Dunkelheit, denn ich ahne, wer mich dort erwartet. Wenige Schritte nur, dann kann ich das Streitgespräch zwischen Summer und ihrem besten Freund klar und deutlich hören.
»Sei nicht so ein Spielverderber!«
»Schön, dass du begriffen hast, dass dies hier wirklich nur ein dämliches Spiel ist, Sam.«
Der Klang von Jays Stimme jagt mir einen Schauer den Nacken hinunter. Sie hatte schon immer diesen Effekt bei mir. Ich kann mich nicht dagegen wehren.
Seine Gesprächspartnerin hingegen wirkt vollkommen unbeeindruckt. Ich frage mich, wie sie das macht. »Komm schon, lass mich wenigstens deine blöde Krawatte ordentlich binden!« Summer kämpft in dem spärlichen Licht mit den Enden der Krawatte und zupft ungeduldig daran herum.
»Au, Mann! Lass es einfach, okay?«, zischt Jay und schlägt ihre Hände weg.
In derselben Sekunde taucht der Schatten meines großen Bruders neben mir auf und fragt: »Alles in Ordnung?«
»Ja«, knurrt Jay ungeduldig, dann wendet er sich an seine beste Freundin und fragt: »Wann wird der Kerl endlich begreifen, dass du nicht aus chinesischem Porzellan bestehst?!«
»Vielleicht gefalle ich mir in der Rolle der chinesischen Porzellanvase – schon mal drüber nachgedacht?«
»Nein«, sagt Jay, hebt den Kopf und sieht zu mir hinüber. Sein Blick wandert meine gesamte Gestalt hinab. Wie er es immer tut. Dann wendet er sich ab. Wie er es auch immer tut. »Lasst uns reingehen.«
Summer hakt sich bei Calvin unter und flüstert mir zu: »Entschuldige, dass wir dich alleingelassen haben, Rosalie. Jays Flug hatte Verspätung, wir haben ihn nur eingesammelt und sind gleich hergefahren.«
»Kein Problem«, sage ich.
Calvin mustert mich. »Ich habe eine Standpauke à la Rosalie Olivier erwartet.«
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, gebe ihm einen Kuss auf die Wange und sage: »Vielleicht habe ich heute ja besonders gute Laune?«
Er lächelt. »Ah ja?«
»Dad gefallen meine Entwürfe.«
»Tatsächlich?«
Ich nicke. »Er will Maman bitten, mich in die Firmengeschäfte einzuführen.«
Er legt den Kopf in den Nacken und beginnt zu lachen.
Ich ziehe die Schultern hoch, sehe zu Summer hinüber, die mich nur stumm anlächelt, dann zu Jay, der unbeteiligt danebensteht, als interessiere ihn das alles nicht. Wieder zurück zu meinem Bruder. »Was ist … so lustig daran?«
»Nichts. Überhaupt nichts, Rosalie. Das sind großartige Neuigkeiten! Mir fällt ein Stein vom Herzen! Weißt du, wie oft ich mir von unseren Eltern anhören musste, dass ich sie im Stich lassen würde, nachdem ich mein Studium abgebrochen habe? Was mir einfiele, meine Sportkarriere in der NHL über das Familienunternehmen zu stellen? – Ich habe so sehr gehofft, dass dieses Thema sich irgendwann erledigt. Dass Maman nicht mehr darauf besteht, dass ich zu jedem Event antanze und die Familie repräsentiere, oder mich Präsentationen vor der Geschäftsführung halten lässt. Ich kann mich jetzt voll und ganz auf Eishockey konzentrieren, verstehst du? Das ist perfekt! Und es freut mich so sehr für dich. Das wird großartig. Du bist die geborene Architektin und wirst das viel besser machen, als ich es je könnte.«
Ah ja? Werde ich das wirklich?
»Lass uns reingehen, jetzt überstehe ich diesen Ball gleich drei Mal besser.« Er zieht Summer näher zu sich heran, senkt den Kopf und murmelt: »Trotzdem entschuldige ich mich vorab für jedes Mal, bei dem ich dir auf die Füße treten werde …«
Sie lacht und gibt ihm einen Klaps. »Wenn hier irgendwer irgendwem auf die Füße tritt, dann bin das garantiert ich!«, sagt sie und zieht ihn in Richtung Eingang.
Jay löst sich aus den nachtschwarzen Schatten, läuft an mir vorbei und ich höre mich fragen: »Soll ich dir vielleicht helfen? Mit der Krawatte?«
Er wendet sich halb zu mir um, sieht mich schon wieder auf diese Art an. So oft er es auch tut, weiß ich diesen Blick noch immer nicht zu deuten. Manchmal kommt es mir vor, als läge Mitleid darin. Manchmal Skepsis. Manchmal Kälte. Und manchmal Verlangen.
Ich erwarte, dass er sich umdreht und kommentarlos weggeht. Stattdessen tritt er einen Schritt auf mich zu. Das gefrorene Gras knarzt leise unter seinen Schuhsohlen, während mein Herzschlag sich binnen einer Sekunde auf das Doppelte zu beschleunigen scheint. Und ich habe wirklich geglaubt, das würde irgendwann einmal aufhören …
»Was ist?«, fragt er.
Ich blinzle. »Nichts«, sage ich, greife nach den Enden seiner Krawatte und beginne damit, sie routiniert umeinanderzuwinden. Ich könnte es mit geschlossenen Augen tun, aber ich fürchte, dann würde sich Jays Aufmerksamkeit nur noch brennender anfühlen.
»Warum kannst du das so gut?«
»Ich habe es gelernt, als ich vier war. Mein Dad kann bis heute keine binden – oder vielleicht genießt er es auch einfach nur, dass Maman es für ihn tut«, sage ich, schiebe zwei Finger unter den Stoff, bis ich Jays Puls warm auf meiner Haut spüre, und ziehe den fertigen Krawattenknoten vorsichtig fest.
»Wer sollte es genießen, dass jemand einen fast erdrosselt?«
»Entschuldige, ist sie zu eng?«, frage ich, lockere sofort den Knoten, aber er hat die Hände schon fest um meine Finger gelegt.
»Eine Nacht lang sollte ich es aushalten. Alles darüber hinaus hingegen wäre einfach nur unerträglich.«
Ich löse mich aus seinem Griff, trete einen Schritt zurück, deute in Richtung Eingang und sage: »Du zuerst.«
Er läuft an mir vorbei, ohne zurückzublicken.
Edouard taucht neben mir auf, kopfschüttelnd. »Es ist mir vollkommen unverständlich, warum jemand wie er unser Hausgast sein soll.«
»Summer hat es sich gewünscht. Ich glaube, er hat niemanden, bei dem er sonst die Ferien verbringen könnte. Maman findet ihn unterhaltsam. Und das Hockeyteam unserer Uni hat noch in den Ferien ein erstes Spiel in Burlington. Von hier aus ist das ein Katzensprung, wenn er mit den anderen vom Campus aus starten würde, wären das mindestens vier Stunden Fahrtzeit.«
Edouard mustert mich mit gehobener Augenbraue. »Du klingst beinahe so, als hättest du Mitleid mit ihm.«
Oh, ich wünschte, es wäre Mitleid.
Ich betrete gemeinsam mit Edouard die Treppe zum großen Ballsaal. Unten tummeln sich bereits zahlreiche Gäste. Die ausgefallenen Kleider der Damen säumen in den buntesten Farben den Raum. Das Licht der drei schweren Kronleuchter spiegelt sich in den Kristallgläsern und den roten Kugeln der beiden raumhohen Weihnachtsbäume. Von Fenster zu Fenster spannen sich Blumengirlanden aus dunkelroten Poinsettien und zartrosa Amaryllen.
In mir streiten Schönheitssinn und Nachhaltigkeitsbewusstsein darum, ob dieser Raum nun der wahr gewordene Traum jedes Eventmanagers ist – oder die vollendete Verschwendung.
»Es gefällt dir?«, fragt Edouard.
Ich wende den Blick ab von all dem Prunk und sehe zu meiner Begleitung. »Lass uns unseren Platz suchen, bevor wir noch mehr Gäste aufhalten.«
Für gewöhnlich ist der Tisch der Oliviers auf derlei Veranstaltungen nicht schwer zu finden – man gehe einfach in die vorderste Reihe und sehe sich nach dem strahlend schönen Kleid meiner Maman um. So auch dieses Mal.
Rosalie Victoire Olivier steht in elegant geschwungener Schreibschrift auf einem Platzkärtchen, zwischen Edouard Baptiste Olivier und Gast der Familie. Besagter Gast schenkt mir keine Beachtung; mein Cousin indes greift nach meinem Stuhl, ehe ich es tun kann, lächelt mir zu und sagt: »S’il te plaît, Mademoiselle.«
Ich ringe mir ein Lächeln ab und vollführe das komplizierte Prozedere, bei dem man so tut, als würde man sich hinsetzen, sich dabei aber langsam genug bewegt, damit die Person hinter einem den Stuhl heranrücken kann, ohne dass man sich in luftleeren Raum fallen lässt oder anderweitig von den Füßen gefegt wird. Der Vorgang hat von außen den Anschein von Leichtigkeit und Grazie zu erwecken, ist aber eigentlich eine sportliche Meisterleistung und würde es verdienen, als olympische Disziplin ausgerufen zu werden.
»Kann ich dir einen Drink bringen?«, fragt Edouard.
»Ein Glas Wasser mit Eis und Zitrone wäre ganz hervorragend«, antworte ich und sehe zu, wie er zwischen all den anderen Gästen verschwindet. Habe ich gerade die Prinzessin gemimt, um ihn fünf Minuten lang mit der Suche nach frischen Zitronenscheiben beschäftigt zu halten? Möglicherweise …
»Der Typ ist eklig«, erklärt Jay.
Ich wende mich zu ihm um. Nicht, dass er nach außen hin den Anschein erwecken würde, er hätte mit mir gesprochen … Seine schlanken Finger spielen mit dem Platzkärtchen. Er schnippt es in die Luft, fängt es wieder auf, beginnt es zu falten.
»Er ist mein Cousin.«
»So verhält er sich aber nicht.«
»Wie verhält er sich denn dann, Jay?«
Er hebt den Blick, sieht mich ausdruckslos an und erklärt: »Wie ein Interessent auf einem Debütantinnenball von 1807. Und als wärst du seine Auserwählte.«
»Was für ein überaus bildhafter Vergleich. Klingt, als wärst du damals persönlich anwesend gewesen.«
Er hebt eine Augenbraue. »Jemand wie ich, Rosalie Victoire Olivier? Ich hätte damals allenfalls zur allgemeinen Unterhaltung hergehalten. Du weißt schon, die höchst kuriose Rothaut?«
Ich hätte um einen gerührten Martini mit einer Olive bitten sollen …
Ich räuspere mich und sage: »Tut mir leid, dass –«
»Bitte, verschone mich. Ich bin mir sicher, ich darf mir noch den gesamten restlichen Abend lang leere Floskeln anhören. Ich habe keinen Bedarf daran, dass ausgerechnet du die Erste bist, die welche vor mir ausschüttet.«
»Das war keine leere Floskel«, zische ich, aber er ist schon aufgestanden und auf dem Weg zur Bar. Sein Blick verweilt im Vorbeigehen auf Summer, aber sie bemerkt ihn gar nicht. Calvin hält ihre Hand und die beiden tuscheln über irgendetwas. Ich kann nicht verstehen, worum es geht, aber beide haben gerötete Wangen und das Leuchten Frischverliebter in den Augen. Sie sind süß. Und ich bin froh, dass sie zusammengefunden haben. Trotzdem breitet sich kalte Leere in meinem Magen aus.
»Alles in Ordnung?« Edouard erlöst mich aus meinem selbstmitleidigen Starren.
Dankbar nehme ich ihm das Glas ab, das er mir hinhält. »Ja, alles gut«, sage ich, während das Kondenswasser kalt über meine Finger perlt. Er hat tatsächlich eine Zitronenscheibe aufgetan. Und Eiswürfel. Ich sollte aufhören, ihn so schlecht zu behandeln … Jeder in der Familie blickt auf ihn herab. Dabei will er einfach nur dazugehören.
»Möchtest du tanzen?«, frage ich aus einer plötzlichen Eingebung heraus – und möglicherweise dem Bedürfnis, diesem Tisch zu entfliehen.
Seine Augen blitzen auf. Sie sind von dem gleichen Tiefgrün wie meine, aber Edouard hat die platinblonden Haare meiner Maman – der gesamten Familie mütterlicherseits. Calvin hat ihn immer darum beneidet. Die beiden konnten sich schon von Kindesbeinen an nicht ausstehen … Weil Calvin sich nie um das Familienunternehmen geschert hat, Edouard hingegen alles tut, um in der Firma aufzusteigen: Er studiert Immobilienwirtschaft, verbringt jede freie Minute in der Firma, kennt jeden wichtigen Kunden beim Vornamen und vermutlich weiß er sogar deren Geburtstage auswendig. Nur ein entscheidendes Merkmal fehlt ihm, um die Firma tatsächlich eines Tages zu übernehmen: Er ist kein Kind meiner Eltern.
Ich hoffe nur, dass wir niemals in dieser Spirale aus Konkurrenz enden werden wie zuvor meine Mutter und ihre Geschwister. Der einzige Grund, warum Maman so unangefochten an der Spitze steht, ist der, dass sie wie ein Löwin für ihre Interessen einsteht. Sie würde es niemals zulassen, dass jemand an ihrem Thron sägt. Schon gar nicht ihre jüngeren Geschwister.
»Es wäre mir eine Ehre«, sagt Edouard und deutet eine Verbeugung an.
Ich muss kichern und lasse mich von ihm auf die Tanzfläche geleiten.
Edouard ist ein guter, routinierter Tänzer. Ich muss weder um meine Zehen fürchten noch fällt es mir schwer, mich mit ihm in den Rhythmus fallen zu lassen. Es lenkt mich ab. Von all dem Glamour um mich herum und den neugierigen Blicken – wenn wieder einmal jemand tuschelnd erfahren möchte, wer denn eigentlich zu den berühmt-berüchtigten Oliviers gehört, deren Häuser über ganz Montréal verteilt sind.
»Deine Augen leuchten heute wie die Sterne am Himmel«, flüstert Edouard. »Gibt es gute Neuigkeiten?«
Ich wende den Blick von dem perlweißen Stofftaschentuch in seiner Brusttasche und schaue zu ihm auf. »Ich habe Dad ein paar Entwürfe gezeigt. Er schien angetan.«
Edouard hebt die Augenbrauen. »Dein Vater? Zufrieden mit einem Entwurf?«
Ich nicke, fürchte kurz, er könnte womöglich wütend oder eifersüchtig reagieren, aber mein Cousin lächelt mich freudestrahlend an. »Das sind ganz wunderbare Neuigkeiten, Rosalie! Weißt du, wie selten ich ein Kompliment aus seinem Mund höre? Wie selten ich jemals eines höre? Mon Dieu, das ist außerordentlich!«
Ich senke beschämt das Kinn. Seinen Kindern gegenüber – oder ehrlicherweise müsste man wohl sagen: mir gegenüber – war mein Dad nie gefühlskalt. Aber er liebt seine Arbeit. Ich weiß, dass er ein strenger Chef ist, und ich respektiere ihn dafür sehr. Er hat mich immer dazu angetrieben, noch besser zu werden. Und jetzt habe ich das erste Mal das Gefühl, dass ich ihm gezeigt habe, dass ich es bin.
»Danke«, sage ich, spüre meine Wangen rot werden und bin beinahe erleichtert, als die Musik des Stückes verklingt.
Ich will mich gerade zurück zum Tisch wenden, als mir jemand in den Weg tritt. Es ist der Geruch, den ich als Erstes wiedererkenne – nach all den Jahren. Dasselbe Aftershave, dieselbe raue Note aus Moschus, die ich in meiner Schulzeit erst lieben und dann hassen gelernt habe.
Mein Atem geht flach und schnell, als ich den Blick hebe – und direkt in Logans blaue Augen sehe, der vor mir steht wie ein Geist aus einer Vergangenheit, die ich längst hinter mir geglaubt habe.
»Einen Tanz?«
Ich schüttle den Kopf, trete einen halben Schritt zurück, schockiert über seine Dreistigkeit.
»Bitte, Rosalie, ich weiß, das hier ist der falsche Rahmen, aber ich wusste, dass du niemals zugestimmt hättest, mich zu treffen –«
»Aus gutem Grund«, sage ich, die Hände fest zu Fäusten geballt.
So oft habe ich mich gefragt, was ich täte, wenn ich ihn noch einmal sehen würde. Aber in meiner Vorstellung handle ich immer vernünftiger als in der Realität. Jetzt gerade würde ich ihm am liebsten ins Gesicht schlagen. Ich möchte ihn ohrfeigen, ihn schütteln, ihn fragen, wie um alles in der Welt er mir das hat antun können. Wie er mich derart hat verletzen können. Wie er es hat wagen können, intime Fotos von mir bei seinen Freunden herumzuzeigen; mit mir zu prahlen, als wäre ich ein Stück Ware, Besitz, den man von Hand zu Hand reicht, lachend. Mich derart zu benutzen.
»Es tut mir von Herzen leid. Ich hätte dir das viel früher sagen sollen, aber … Die Umstände waren schwierig. – Ich lebe inzwischen in Belgien und bin nur über die Festtage in Montréal. Morgen geht mein Flieger. Ich möchte nur …«
Die Musik setzt von Neuem ein, Paare beginnen, um uns herumzutanzen, und nicht wenige von ihnen mustern uns mit Argwohn, weil wir ihren Reigen aufhalten.
»Verschwinde.«
Edouard tritt zurück an meine Seite, fragt: »Ist alles in Ordnung, Rosalie? Belästigt er dich?«
Logan sieht unsicher zwischen uns beiden hin und her. »Ist er dein …?«
»Das geht dich nichts an!«
Noch mehr Blicke treffen unsere kleine Gruppe. Ich sollte meine Stimme senken. Der mahnende Blick meiner Mutter taucht vor meinem inneren Auge auf. Die ewigen Predigten darüber, dass niemand erfahren darf, was damals passiert ist: Nacktfotos einer Olivier in den Medien, ein Riesenskandal, der grade noch so verhindert wurde.
»Du solltest jetzt besser gehen«, sagt Edouard.
Logan hebt abwehrend die Hände. »Bitte, ich möchte nur reden. Ich schwöre, Rosalie, ich habe mich verändert. Bitte, gib mir diese Chance, für fünf Minuten mit dir zu sprechen.«
Ich nehme einen tiefen Atemzug, suche ein Lächeln zusammen, das nur ein zittriger Abklatsch ist, aber fürs Erste genügen muss. »Es ist schon gut, Edouard.«
»Bist du dir sicher? Du siehst ganz blass aus, vielleicht solltest du lieber …«
Ich hebe eine Hand, sage: »Nur ein Tanz«, und erlaube Logan, danach zu greifen.
Es kostet mich Überwindung, seine Berührung zu ertragen. Aber tatsächlich wahrt er den größtmöglichen Abstand, den ein langsamer Walzer gestattet, selbst seine Hand an meiner Hüfte schwebt eher über dem Stoff, als dass ich ihre Berührung tatsächlich spüren würde.
»Danke«, sagt er leise, sieht mich an, mit dieser Aufrichtigkeit in den Augen, die mich damals schon hinters Licht geführt hat. »Du hast keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet.«
»Es bedeutet gar nichts, Logan.«
Er senkt den Blick, presst die Lippen aufeinander und sagt: »Mir schon. Ich habe oft an dich gedacht. Dir ist das vermutlich vollkommen egal, aber … du hast mir vor Augen geführt, wozu mein Leben verkommen ist. Was für eine Ruine es war. So vollkommen leer und gefühllos, dass ich sogar …« Er verstummt, weicht meinem Blick aus und lenkt ihn wieder zu mir zurück: »Es tut mir leid. Ich hoffe, dein Freund behandelt dich gut und –«
»Er ist nur mein Cousin«, falle ich ihm ins Wort. »Beziehungen sind nicht mein Ding.« Dieser Satz ist zugleich wahr und so falsch, wie er nur sein könnte. Ich bin eine Träumerin. Ich sehne mich danach, dass mich irgendwann einmal jemand so ansieht, wie Calvin Summer ansieht. Oder wie meine beste Freundin Catalina von ihrem Freund angesehen wird. Aber ich bin nicht bereit, alles dafür zu riskieren. Mich selbst dafür aufzugeben, nur, um zu lernen, dass ich dem anderen nichts wert bin.
Logan schluckt. Dann nickt er und sagt: »Okay. Dann … hoffe ich einfach, dass du glücklich bist. Ich bin es nämlich und ich hätte nicht das Gefühl, es verdient zu haben, wenn du es nicht auch sein kannst.«
Ich mustere sein Gesicht. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, waren seine Nase und sein Kiefer gebrochen, er hatte Platzwunden an der Stirn, am Kinn, an der Lippe. Sein gesamtes Gesicht war blutüberströmt. Und leblos. Vor allen Dingen war es leblos. Die Chirurgen müssen ganze Arbeit geleistet haben, alles wieder so herzurichten, wie es war, bevor mein Bruder auf ihn losgegangen ist.
Es muss Logan Überwindung gekostet haben, hierherzukommen. Mein Bruder sitzt nur wenige Schritte von uns entfernt. Aber auch Calvin hat sich verändert seit damals. Ist ein anderer geworden.
»Das ist nett von dir«, sage ich schließlich. Ich weiß nicht, ob ich es meine. Aber ich weiß auch nicht, wie viele der Sätze, die an diesem Abend in diesem Raum fallen, tatsächlich wahrhaftig sind. Dieser ganze Ball ist eine Veranstaltung des Sehens und Gesehenwerdens.
Logan seufzt leise. »Ich meine es wirklich ernst. Für mich war es ein Weckruf. Und wenn ich dein Bruder wäre … vermutlich hätte ich dasselbe getan.«
Ich hebe eine Augenbraue. »Wenn es tatsächlich ein Weckruf war, Logan, dann hoffe ich, dass du nicht dasselbe tätest.«
Über sein Gesicht huscht Betretenheit. Dann zuckt ein Lächeln über seine Lippen und er sagt: »Du bist immer noch klüger als ich, hm?«
»Ich werde es immer sein«, erwidere ich. Auch wenn es gelogen ist. Niemals hat ein Mensch mir nachhaltiger und erschütternder bewiesen, dass ich nicht ansatzweise so intelligent bin, wie ich es gern hätte.
Sonst hätte er es niemals geschafft, mich derart zu hintergehen. Ich hätte mich niemals vor ihm ausgezogen, mich wortwörtlich vor ihm bloßgestellt – und ihm dann noch erlaubt, Bilder von mir zu machen. Damit er sie dem Rest der Welt zeigen kann. Um fünf Minuten seinen Spaß zu haben.
»Entschuldigst du mich bitte?«, sage ich, lasse seine Hand los und gehe.
Weil ich das hier nicht kann. Ich bin nicht Maman. Ich kann nicht lächeln und so tun, als wäre nichts. Als sei dies hier meine Bühne und ich der einzige Grund, warum alle Welt hier versammelt ist. Die ich betrete, als trüge ich ein Diadem, das mich als die allseits Überlegene auszeichnet. Diejenige, die voller Grazie freimütig vergeben kann, weil sie so mächtig ist.
Ich kann das nicht – und ich will es auch nicht können.
Ich bahne mir den Weg durch die Massen, mir steigen Tränen in die Augen und ich streiche sie hastig mit den Fingern beiseite, ehe sie mein Make-up verwischen. Mir droht die Kontrolle über meine Atemzüge abhandenzukommen, das schöne Kleid scheint mir auf einmal zu eng und zu unpassend. Überall um mich herum sind Menschen, ich spüre ihre Blicke auf mir – ob sie mich nun tatsächlich beachten oder nicht, das Gefühl ist da –, das Stimmengewirr wird zu einem anschwellenden, immer unerträglicheren Summen in meinen Ohren und ich strecke blind die Hand nach der Klinke aus, über deren Tür mir das Notausgangsschild grün entgegenleuchtet.
Draußen ist es eiskalt und dunkel. Es schneit. Die Flocken fallen wie kleine Wattebäusche vom Himmel und glitzern im Licht, das durch die Fenster nach draußen fällt.
Ich lehne den Rücken gegen die Wand, nehme tiefe Atemzüge, als einige Minuten später die Tür ein weiteres Mal aufgezogen wird.
»Rosalie! Ist alles in Ordnung mit dir? Hat er etwas zu dir gesagt? Hätte ich gewusst, dass er eingeladen worden ist, ich hätte …« Mein Bruder verstummt.
Ich wende mich zu ihm um, greife nach seiner geballten Faust und öffne seine Finger. »Du hättest überhaupt nichts getan, als mich zu warnen, Calvin«, sage ich.
Er lässt ergeben die Stirn gegen die Wand sinken. Dann nickt er und strafft sich. »Er war Jahre nicht hier. Warum lässt er sich ausgerechnet heute hier blicken?«
»Ich weiß es nicht. Aber es ist sein gutes Recht, hier zu sein. Seine Familie ist in dieser Stadt mindestens ebenso angesehen wie unsere. Und er hat nichts Falsches gesagt. Ich bin einfach nur …« Ich seufze, schüttle den Kopf und sage: »Ich bin einfach nur zu sensibel.«
»Das stimmt nicht.«
Ich muss schmunzeln, lasse seine Hand los und frage: »Ach, nein?«
»Vielleicht ein kleines bisschen«, gibt er zu.
»Geh wieder hinein. Ich komme gleich nach.«
»Bist du dir sicher?«
Ich nicke. »Geh schon. Und – könntest du mir einen Gefallen tun und Edouard davon abhalten, ebenfalls hier rauszukommen?«
Calvin hält inne, mustert mich und fragt: »Hat er etwas gesagt? Der Typ ist so eine Schlange.«
»Er ist sehr nett. Zu mir. Ich … habe nur einfach gerade nicht die Geduld dafür. Das ist alles.«
Er schnaubt. »Na, dann sind wir schon zu zweit. Meine Geduld wird gerade von Jay komplett verschlungen.«
»Wieso seid ihr eigentlich noch immer so … so kalt zueinander? Ehrlich, es will mir nicht in den Kopf. Ihr seid euch so ähnlich.«
»Ähnlich? Jay ist arrogant, er ist respektlos, kennt keine Grenzen, keine Disziplin und keine Kontrolle. Und von seinem Mädchenverschleiß fange ich gar nicht erst an.«
»Er ist aber auch ehrgeizig, talentiert und … nun ja, die Arroganz ist möglicherweise ein Charakterzug, den ihr euch gelegentlich teilt.«
Calvin verzieht das Gesicht. »Ich arbeite daran.«
»Tust du nicht. – Und das ist in Ordnung. Schätze, Arroganz ist eine Voraussetzung, um ein Olivier zu sein.«
»Dann schneid dir eine Scheibe davon ab, Madame. Im Gegensatz zu mir würde sie dir tatsächlich guttun.«
»Verschwinde schon«, flüstere ich.
Und er folgt meiner Bitte – und verschwindet. Lässt meine tausend Gedanken mit den Schneeflocken durch die Nacht wirbeln, bis sie still zu Boden fallen.
Als ich in den Ballsaal zurückkehre, geht es mir besser, allerdings wird bereits der Hauptgang serviert. Ich eile zwischen den Tischen hindurch, auch wenn mir der Sinn kaum nach reichhaltigem Essen steht. Calvin mustert mich besorgt, meine Mutter zieht fragend die Augenbrauen hoch, Dad stiert mit gerunzelter Stirn auf die Tanzfläche, Edouard wirft mir einen seltsamen Blick zu. Nur Jay tut etwas für ihn vollkommen Alltägliches: Er hebt ein Weinglas an seine Lippen und trinkt.
»Schmeckt dir das Essen?«, frage ich ihn, ein bemühtes Lächeln auf den Lippen, während ich nach meinem Besteck greife.
Er hebt eine Augenbraue, dann senkt er das Glas in meine Richtung, als wolle er mir einen Schluck daraus anbieten. Ich blinzle auf den Abdruck seiner Lippen auf dem polierten Kristallglas und schüttle den Kopf. Er stellt es zurück und sagt: »Es ist ausgezeichnet. Nur die Portionen sind immer so unbefriedigend.«
Selbst ohne den Blick auf seinen vollen Teller wäre wohl offensichtlich gewesen, dass er meine Frage – seine Antwort – nie auf die Speisen bezogen hat.
Mein Appetit nimmt noch weiter ab. Das erlesene Gemüse fühlt sich an wie Pappe zwischen meinen Zähnen.
Zu allem Überfluss kommentiert Calvin daraufhin: »Du solltest was essen.«
Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er sich um seinen eigenen Teller kümmern soll. Aber ich erspare mir den Kommentar. Er spricht nur aus, was fast alle an diesem Tisch denken. Früher hatte ich große Probleme damit – mit meinem Selbstbild, damit, mich gesund zu ernähren, wenn es mir schlecht ging. Heute wird es nur dieser eine Abend sein. Das weiß ich. Morgen früh werde ich mit so viel Appetit aufwachen, dass ich meinen Bruder bequasseln werde, mir und Summer Pfannkuchen zu machen. Bis dahin wird meine Familie damit leben müssen, dass mein Teller mehr oder weniger unangetastet bleibt – auch wenn ich ihre Sorge verstehe.
Ich wünschte, Cat wäre hier. Meine beste Freundin an der Uni schafft es immer, mich aufzumuntern. Aber sie verbringt die Weihnachtsferien mit ihrer Familie. Sie liebt das Fest wie kein anderes und ich wette, sie springt gerade mit lauter kleinen Cousins und Cousinen unter einem bunten Feuerwerk umher und singt aus voller Kehle lateinamerikanische Weihnachts- und Neujahrslieder.
Der Gedanke lässt mich schmunzeln. Ich schicke ihr eine kurze Nachricht, wende mich dann wieder dem Essen zu, und während die anderen tanzen gehen, verwickelt Dad mich in ein Gespräch über meinen Entwurf und die Firma. Er teilt so freimütig seine Gedanken mit mir, wie ich es selten zuvor erlebt habe. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, sind zwei Stunden vergangen, die mir vorkamen wie ein einziger Herzschlag.
»Schatz? Wenn du heute ohnehin nicht mehr gedenkst zu tanzen, wie wäre es dann, wenn du mich nach Hause fahren würdest?«, fragt meine Maman und blinzelt auf ihn hinab. Sie hat ein dezentes Grinsen im Mundwinkel und ich fürchte, sie ist ein bisschen beschwipst.
Mein Dad steht sofort auf, sagt: »Ich habe nur gewartet, dass du mich darum bittest«, lächelt mir zu und bietet meiner Mutter seinen Arm an.
»Du nimmst dir mit Edouard ein Taxi, Chérie?«, fragt Maman.
Ich sehe auf den leeren Platz zu meiner Linken. Er hat mich mehrmals gefragt, ob ich noch einmal tanzen möchte, aber mir war die Lust daran vergangen und ich hatte abgelehnt. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.
»Sind Calvin und Summer …?«
»Schon aufgebrochen«, zwitschert sie.
Ich öffne gerade den Mund, um zu fragen, ob ich nicht doch mit ihnen fahren könnte – als mein Blick aufs Jays Stuhl fällt. Dort hängt immer noch sein Jackett. Und die Krawatte ist in eine Tasche gestopft. Möglicherweise hat er es nur vergessen, aber ich tippe eher, dass er noch irgendwo hier ist. Vermutlich hatte er keine Lust, mit Summer und Calvin zu fahren. Ich gönne den beiden ihr Glück wirklich von Herzen, aber stundenlang daneben zu sitzen, während ein frisch verliebtes Paar Frisch-verliebtes-Paar-Dinge tut, verliert sehr schnell an Reiz … Ich habe das bereits mit Cat und Rob erlebt und bei Summer und Calvin ist es nicht signifikant besser.
Ich seufze und sage: »Ist gut.«
»Allez bises!«, flötet Maman, greift nach dem Arm meines Dads und stolziert aus dem Raum. Der halbe Saal folgt ihnen mit Blicken. Es ist mir unbegreiflich, wie meine Mutter das anstellt. Aber sie hat diese Art an sich, der man sich nicht entziehen kann.
Ich nehme einen tiefen Atemzug und sehe mich anschließend nach Edouard und Jay um. Warum muss ausgerechnet ich diejenige sein, die sie einsammelt? Wenigstens Edouard sollte nicht schwer zu finden sein. Jay hingegen … Ich habe ihn seit über einer Stunde nicht gesehen. Das letzte Mal stand er an der Bar und hielt sich unauffällig am Tresen fest, weil sein Gleichgewichtssinn nach all dem Wein und Whiskey wohl nicht mehr zuverlässig funktionierte. Manchmal frage ich mich, ob es nicht doch besser wäre, auch in Kanada Alkohol erst an Einundzwanzigjährige auszuschenken. Die sind zwar zu einem großen Teil nicht minder verantwortungslos – aber … immerhin haben sie so drei Lebensjahre mehr, in denen sie ihre Körper nicht derart malträtieren dürfen.
Ich stehe auf, streiche den altrosafarbenen Stoff meines Kleides glatt und hole mein Smartphone aus der kleinen Handtasche, um den beiden eine Nachricht zu schreiben.
Jays Nachricht kommt nicht mal an. Schätze, er hat in Kanada kein Netz und hier gibt es kein freies WLAN. Edouard hingegen antwortet sofort.
Ich war schon an der Garderobe, habe gerade Eva & Michel getroffen. Ich dachte, du wärst schon gegangen, ich bin gleich bei dir.
Ich muss schmunzeln, als ich die Nachricht lese. Vielleicht ist es nur der Autokorrektur seines Smartphones geschuldet – aber große Teile meiner französischsprachigen Familie weigern sich, meinen Vater Michael zu nennen. Und nutzen stattdessen das französische Pendant Michel. Ich schätze, ich habe wirklich Glück, dass meine Eltern sich bei mir wohlweislich für einen Vornamen entschieden haben, der in beiden Sprachen gängig ist.
Ich antworte ihm: Warte dort. Bin gleich da.
Dann wende ich meinen Blick wieder dem Raum zu. Inzwischen haben sich die Menschentrauben merklich gelichtet, nur noch vereinzelt tanzen Paare zur Musik aus Lautsprechern und viele Tische sind verwaist. Von Jay ist weit und breit noch immer nichts zu sehen. Dabei hätte ich damit gerechnet, dass er von uns allen das größte Interesse daran haben sollte, diesen Ball so schnell wie möglich wieder zu verlassen … Ob er alleine vorausgefahren ist? Aber das hätte Maman sicher gewusst.
Ich gehe den Saal ein weiteres Mal ab, sehe auf den Emporen nach und draußen, wo ich selbst vor wenigen Stunden noch Zuflucht gesucht habe. Keine Spur von ihm. Und Edouard wartet sicher noch immer an der Garderobe auf mich …
»Kann ich dir helfen, Mädchen?«, fragt mich eine alte Dame in einem schlichten zartlila Dress, das ihr knapp über die Knie reicht, mit Pumps in exakt demselben Farbton und einem blumenbesetzten Hut auf dem Kopf. Sie erinnert mich ein bisschen an meine Granny.
»Ich suche jemanden. Männlich, schwarzer Anzug, gut aussehend, dunkelhaarig, in etwa so groß und so alt wie ich …?« Keine Ahnung, inwiefern das gut aussehend in irgendeiner Form zu meiner Beschreibung beigetragen hat. Ich weiß nicht einmal, wie es dort hingekommen ist …
Ich erwarte bedauerndes Kopfschütteln. Aber zu meiner Überraschung nickt die Dame und deutet in Richtung der Waschräume. »Ich habe gerade meine Nase gepudert, da kam jemand herein. Es waren die Damentoiletten … Ich sagte ihm, er habe sich offensichtlich in der Tür geirrt und da ist er nach nebenan gegangen.« Sie setzt eine strenge Miene auf, aber im selben Moment bilden sich Schmunzelfältchen um ihren Mund. »Es wäre wohl ganz gut, wenn jemand nach ihm sieht. Aber bitte doch besser einen Mann darum, hm? Eine Lady wie du sollte sich damit nicht befassen müssen.« Sie zwinkert mir zu, dann geht sie weiter in Richtung Garderoben.
Einen kurzen Augenblick noch sehe ich ihr nach. Granny Charlotte ist vor sieben Jahren verstorben, aber gerade eben hatte ich das Gefühl, sie stünde wieder vor mir, mit diesem halb-tadelnden, halb-belustigten Lächeln im Gesicht.
Ich löse mich aus meiner Starre, eile hinüber zu den Waschräumen – und bleibe dann zweifelnd vor der Tür stehen. Sollte ich Edouard um Hilfe bitten? Das wäre sicher das Vernünftigste. Immerhin möchte ich nicht einfach in eine Herrentoilette spazieren …
Ich hadere noch immer mit mir, bis ich ein Würgegeräusch höre und kurz darauf einen sehr expliziten Fluch, den ich keinem der anderen Gäste zutrauen würde …
Ich gebe mir einen Ruck, drücke die Klinke herunter und … stehe vor einem Mann mittleren Alters, mit Frack und Fliege, der sich gerade Finger für Finger die Hände trocknet. Er mustert mich kurz mit gehobener Augenbraue, dann nickt er in Richtung der Kabinen. »Zweite Tür. Kaum zu verfehlen.« Er lässt das Handtuch ins Wäschekörbchen fallen und verlässt den Waschraum.
Ich eile weiter, lege zitternde Finger an die zweite Kabinentür. Sie gibt unter der Berührung nach und ich sehe Jay auf dem ockerfarbenen Fliesenboden knien, die Hände um das WC-Porzellan gekrallt.
Ich zupfe das Kleid über meine Knie hoch, hocke mich neben ihn und ziehe ihm den Hemdärmel über den Ellenbogen nach oben. Er wirft mir einen Blick zu, der mich sicher ins Jenseits befördert hätte, läge diese Fähigkeit nur in seiner Macht. Aber er ist derjenige, der vor mir kniet, hilflos und gedemütigt.
Ich hole mein Smartphone heraus, schreibe Edouard: Fahr ohne mich, stecke es wieder ein und ignoriere das leise Ping einer eintreffenden Nachricht, das kurz danach folgt. Wenn es irgend möglich ist, werde ich Jay in unser Gästezimmer bringen, ohne dass jemand bemerkt, was passiert ist.
»Komm, du solltest dich waschen«, sage ich, stehe auf und berühre Jay am Oberarm, auch wenn mir bewusst ist, dass er sich keinen Millimeter bewegen wird, wenn er es nicht will. Aber er folgt der Bewegung, ich helfe ihm hinüber zum Waschraum, gebe ihm frische Handtücher.
»Warte kurz hier«, flüstere ich, gehe mit einer der stark duftenden Handseifen zurück zu den Toiletten und spüle die Misere hinunter, bis nichts mehr davon zeugt.
Als ich zurückkehre, lehnt Jay gegen die geflieste Wand und starrt mich im Spiegel an. Fast wirkt es, als sähe er ein anderes Bild darin als ich. Aber was immer es ist, ich werde es nie erfahren. Also strecke ich die Hand nach ihm aus und sage: »Lass uns gehen.«
Er ignoriert die Geste. Wankt an mir vorbei, fällt über seine Füße und knallt mit der Stirn gegen die Tür.
Ich schließe die Augen. Zwei Sekunden lang konzentriere ich mich nur auf meinen eigenen, viel zu schnellen Herzschlag, das Rauschen in meinen Ohren – und die Stille in den Sekundenbruchteilen dazwischen. Dann öffne ich die Lider, gehe mit festem Schritt auf Jay zu und schlinge ihm meinen Arm um die Taille. Auf seiner Stirn prangt ein roter Fleck und kurz fürchte ich, er müsse sich wegen des plötzlichen Kopfschmerzes womöglich erneut übergeben. Aber das bleibt zum Glück aus. Er lässt sich in meinen Halt fallen wie ein kleiner Junge, der den Weg nach Hause nicht kennt.
Zehn Tage später bin ich zurück an der Ostküste und der Uni-Alltag in Whitbey hat mich wieder fest im Griff. Ich will meine Eltern nicht enttäuschen – und dafür werde ich alles geben. Auch wenn das bedeutet, noch mehr Zeit in mein Studium zu investieren als bisher. Doch weil ein großer Teil meines Freundeskreises aus ebenso viel beschäftigten Athleten besteht, fällt mir das nicht weiter schwer. Kaum jemand von uns hat unter der Woche Zeit für irgendetwas.
Dementsprechend genieße ich die Volleyballtrainings, die eine dringend gebrauchte Auszeit von meinem Alltag darstellen.
»Ace, Ace, Baby!«, jubelt Cat, als ich ihr Zuspiel in einen Punkt für uns verwandele. Ich klatsche sie ab, während ich Lydia auf der anderen Seite des Netzes die Augen verdrehen sehe. Aber ich weiß, dass sie es uns mit gleicher Münze zurückzahlen wird, sobald sie ein Ass schlägt.
Dementsprechend konzentriere ich mich auf den nächsten Ball, den Julia mit Schwung übers Netz donnert.
Gloria nimmt ihn an und Cat spielt ihn mir zu. Obwohl sie für eine Volleyballerin sehr klein ist, liebe ich es, sie in meinem Team zu haben. Sie gleicht jeden körperlichen Nachteil mühelos mit Technik und Schnelligkeit aus und es fällt mir leicht, ihre Vorlage in einen gelungenen Angriffsschlag umzusetzen. Zufrieden sehe ich dabei zu, wie auch dieser Ball wenige Zentimeter vor der Linie im gegnerischen Feld aufprallt.
»Das war …?«, ruft Cat und klatscht sich mit mir ab.
»Awesome!«, schreit das Team um mich herum zurück.
Ich beginne automatisch zu lächeln, ohne dass ich irgendetwas dagegen tun kann. »Merci.«
Das Team antwortet mir im Chor mit: »Gern geschehen!«, bevor Lydia den Ball hochwirft, springt und wegschlägt. Es ist ein glattes Ass – und ihr Team cheert gebührend dafür. Im selben Moment springt die digitale Uhranzeige der Turnhalle auf 06:00 pm um. Unsere Trainerin pfeift ab, bedankt sich bei uns für das gelungene Training und wir uns bei ihr für ihre Zeit. So ist es jedes Mal. Und jedes Mal meinen wir es auch. Das Training gehört für mich zu den besten Stunden in der Woche und ich bin so froh, dass Catalina mich dazu überredet hat, wieder mit dem Sport anzufangen.
»Du bist toll«, sage ich, schnappe Cat um die Taille und trage sie vier Schritte vor mir her in Richtung Kabine, bevor ich sie wieder absetze.
Sie kichert und lacht und strampelt und fragt: »Womit habe ich das denn verdient?«
»Einfach so. Weil du du bist!«, erwidere ich lächelnd. »Außerdem habe ich Neuigkeiten.«
Cat hebt neugierig die Augenbrauen. »Ah ja?«
Aber ich warte, bis wir die Umkleide verlassen haben und uns zu Fuß auf den Weg quer über den Campus zu den Wohnheimen machen, bevor ich ihr von den Plänen meiner Eltern erzähle, mich in die Firma einzuführen.
Ich habe eine Weile gezögert, damit herauszurücken, denn der Ballabend war nur der Auftakt einer Reihe von Tagen, die meine Euphorie haben schwächeln lassen. Immer wieder frage ich mich, ob ich wirklich so weit bin. Ob ich wirklich so gut bin, wie ich denke oder … einfach nur privilegiert, weil meinen Eltern nun mal die Firma gehört und Calvin nach seinem Wechsel in die NHL aus dem Rennen ist. Unter jeden Anflug von Freude oder Stolz mischen sich sofort bohrende Selbstzweifel.
Für Cat hingegen dominiert nur eine einzige Emotion, als sie es erfährt: absolute, alles überschwemmende Euphorie. »Deine Mom will deine Entwürfe dem Vorstand präsentieren? Warum feierst du das nicht?! Das ist großartig, Rose, einfach nur groß-ar-tig!« Sie hopst neben mir auf und ab, schlingt die Arme um meine Schultern und drückt mir einen feuchten Schmatzer auf die Wange.
Ich muss lachen und stolpere dabei fast über ihre Füße, aber sie hält mich gerade so noch aufrecht, obwohl sie viel kleiner ist als ich. Klein, aber die größte Freundin auf der ganzen Welt.
»Danke, Cat«, sage ich gerührt und drücke sie noch einmal an mich, bevor ich sie loslasse. »Ich freue mich auch. Wirklich. Es ist nur … Bei mir hat gerade erst das vierte Semester angefangen. Ich habe einfach Angst, dass ich irgendetwas verbocke oder …«
Cat lächelt mich beruhigend an. »Mach dir keine Sorgen. Ehrlich. Wenn irgendwer das kann, dann du. Ich weiß, dich vor ein Dutzend wichtigtuerisch dreinblickende Leute zu stellen und zu reden ist nicht dein Ding, aber ich glaube – nein, ich weiß –, dass du das kannst. Weil du wirklich talentiert bist. Deine Professoren tapezieren ja praktisch seit deinem zweiten Semester die Gänge mit deinen Entwürfen und wenn sogar deine Maman das sagt, dann stimmt es.«
»Sie tapezieren nicht«, flüstere ich und versuche, die aufsteigende Hitze in meinen Wangen zu ignorieren. Wie die rotblonden Haare ist es Teil meines Erbes, bei jeder Kleinigkeit sichtlich zu erröten, und ich finde es furchtbar. Cat hingegen findet es allenfalls furchtbar süß.
»Du weißt, dass du das kannst, oder?«, fragt sie leise und sieht mich eindringlich an.
Trotz aller Zweifel nicke ich. »Ja. Das weiß ich.«
Cat lächelt zufrieden. »Prima! Dann lass uns das feiern, ja? Am Freitag, wenn die Jungs ihren Sieg gegen Amherst zelebrieren? Sollen sie ruhig denken, sie würden ihren albernen Sieg feiern – wir feiern dich. Ich möchte, dass du weißt, dass du etwas ganz Großartiges erreicht hast. Selbst wenn du dich doch noch dagegen entscheidest, in die Firma einzusteigen. Dass du mit neunzehn das Angebot dazu bekommst, ist außergewöhnlich.«
Sie strahlt mich an. Es macht mich so glücklich, sie so zu sehen. Und es erinnert mich daran, dass sie recht hat: Ich sollte feiern. Weil ich etwas erreicht habe, weil ich etwas geschafft habe.
Kurz darauf erreichen wir den Abzweig, an dem sie zu den Campus-Wohnheimen abbiegt und ich weiter in Richtung Sutton House laufe.
Meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich in eines der externen Wohnheime für Studentinnen mit besonderen Leistungen ziehe. Und zugegeben: Sutton House ist wesentlich schöner als die Unterkünfte auf dem Campus. Auf jedem der drei Stockwerke teilen sich nur sechs Zimmernachbarinnen eine Küche und einen Gemeinschaftsraum mit Fernseher, Spielen und Kicker, Tischtennisplatte oder Pooltable. Unten im Erdgeschoss ist ein kleines Café, in dem wir viel Zeit verbringen; ob beim Lernen oder bei Cappuccino und hausgemachtem Kuchen oder einer Kombination aus beidem. Und Ethan – der Cafébesitzer – weiß, was er an uns hat. Er kennt jede von uns beim Vornamen, weiß, wie wir unseren Kaffee am liebsten trinken und welchen Kuchen wir mögen.
Gerade, als ich die Tür aufstoße, winkt er mir zu und sagt: »Rosalie, für dich kam ein Kurier!«
Ich hebe überrascht die Augenbrauen. »Ein Kurier?«
Er nickt eifrig, bückt sich und zaubert hinter der Theke einen riesigen Strauß rosafarbener Rosen hervor.
Irritiert trete ich näher. »Das ist bestimmt ein Irrtum. Ich kenne niemanden, der mir Blumen schicken sollte. Geschweige denn …« So was … Ethan ist kein schmächtiger Mann – aber selbst seine Schultern verschwinden hinter dem blumigen Übermaß.
»Wer sollte …?«, setze ich an, da manövriert er bereits einen Umschlag an den Stängeln vorbei.
Ich strecke die Hand danach aus, steche mich an einer der Dornen und unterdrücke einen Fluch. Wer um alles in der Welt ist nur darauf gekommen, ausgerechnet eine Blume mit Dornen zum universellen Symbol der Liebe auszurufen?
Seufzend öffne ich das Kuvert.
Meine liebste Rosalie,
möge dieser Strauß dir die drögen Tage des Lernens versüßen, auch wenn deine Schönheit jede Blüte der Welt verblassen lässt.
Ich hoffe, du bist nicht einsam, so fern deiner Heimat. Wisse, dass ich im Herzen immer bei dir sein werde.
In tiefer Zuneigung
Dein Ewigverbundener
»Rosalie? Alles in Ordnung?«
Ich blicke auf. Sehe Ethan an, trete einen Schritt zurück, suche nach Worten und finde keine.
»Ich dachte, du würdest dich freuen.«
»S-sind die Blumen von dir?«, frage ich. Wenn er bejaht, dann wäre das zwar schräg und irgendwie ein bisschen creepy. Aber es wäre auch vorbei. Dieses plötzliche Gefühl aus Unsicherheit – es würde genauso schnell enden, wie es begonnen hat.
Aber Ethan schüttelt irritiert den Kopf. »Nein, warum …? Warum sollte ich dir Blumen mit einem Kurier schicken? Das wäre doch merkwürdig. Immerhin könnte ich sie dir einfach in die Hand drücken.«
»Ja«, sage ich, nicke, »da hast du sicher recht.«
Ich wende mich um, setze den ersten Schritt in Richtung Fahrstuhl, als er ruft: »Willst du sie nicht mitnehmen? Immerhin sind das deine Blumen!«
Mitnehmen. Will ich sie mitnehmen? In mein Wohnheim. In mein Zimmer. In mein Zuhause.
Ich schüttle heftig den Kopf. »Nein. Stell … sie doch hier ins Café!«
Nein. Nein, tu es nicht. Wann immer ich hier hinunterkäme, würden sie mich daran erinnern. An was auch immer gerade passiert ist.
Was ist gerade passiert?
Oder ist es nur ein übler Streich! Irgendjemand von den Jungs aus dem Eishockeyteam, der sich gerade irgendwo fürchterlich darüber amüsiert.
Doch eine Verwechslung?
Ich nehme einen tiefen Atemzug, suche und finde Mamans selbstsicheres Lächeln, welches sie in einer Situation wie dieser zweifelsohne zur Schau stellen würde, und sage: »Tu mit den Rosen, was du möchtest, Ethan. Sie waren nicht für mich bestimmt. Eine Verwechslung.«
»Okay …?«, sagt er unsicher. »Wie du möchtest.«
Ich haste hoch in mein Zimmer, ziehe mir die Sachen aus und werfe die Karte in den Papierkorb. Ich werde einfach nicht mehr darüber nachdenken. Es ist nur ein dummer Streich.
Cheers!«, quietscht Cat und fünf Shots klicken aneinander.
Ich werfe einen zweifelnden Blick auf das Glas – und leere es anschließend in einem Zug wie alle anderen.
Catalina grinst mir breit zu. Sie ist ein bisschen beschwipst. Und ich vermutlich auch. »Noch einen!«, ruft sie fröhlich.
Aber Rob schüttelt den Kopf. »Ich steige aus. Und ihr«, er deutet mit seinem leeren Glas auf Quinn und Jay, »solltet das auch tun. Wir haben morgen das Rückspiel und ich will keinen von euch Pappnasen mit einem Kater erleben, verstanden?«
Jay hebt zwei Finger an seine Stirn. »Yes, Sir, verstanden, Sir. Haben Sie weitere Anweisungen, Sir?«
»Ja. Halt um Gottes willen die Klappe …« Rob verdreht die Augen, beugt sich zu Cat hinunter und flüstert. »Seit Calvin weg ist, ist der Kerl unerträglich.«
»Das war er doch schon immer«, antwortet sie grinsend.
Er wiegt den Kopf. »Stimmt.«
Ich vergrabe eine Hand in der Chipsschüssel. Bedauerlicherweise ist es die Sorte mit Salz und Essig. Ich bin ohnehin kein großer Chipsfan, aber ausgerechnet diese sind meiner Ansicht nach ein Affront gegen den guten Geschmack.
Cat füllt ein weiteres Schnapsglas. Aber als sie auch meines heranzieht, schüttle ich den Kopf. »Ich hatte wirklich genug.«
Sie reißt die Augen auf. »Ernsthaft jetzt? Ihr lasst mich sitzen? Rosalie Olivier, habe ich dir nicht gesagt, du solltest dich feiern?«
»Noch mehr feiern und ich kann keinen Schritt mehr geradeaus laufen«, sage ich lachend. Und erinnere mich daran, wie Calvin mich bei meinem letzten Ausrutscher dieser Art ins Bett tragen musste, nachdem Summer und ich ihren – angeblich nicht existenten – und meinen sehr existenten Liebeskummer hatten ertränken wollen. Das war ein bisschen peinlich … Aber ich schätze, ich hatte damit einen Anteil daran, dass Calvin und Summer am nächsten Morgen auf wundersame Weise gemeinsam zu einem sehr verspäteten Frühstück aufgetaucht sind … Trotzdem: wiederholungswürdig war das nicht. Und jetzt gibt es auch niemanden mehr, der mich nach Hause fährt.
»Was denn feiern, hab ich was verpasst?«, fragt Rob indes und sieht zwischen mir und Cat hin und her.
Ihr Grinsen wird noch breiter. »Vor dir steht die zukünftige Geschäftsführerin des milliardenschweren Immobilienunternehmens Olivier Incorporée.«
»Du übertreibst«, flüstere ich und reibe mir mit dem Handballen über die Stirn.
»Versuch gar nicht erst, es herunterzuspielen! Du bist großartig und das darf ruhig die gesamte Welt wissen!«, erklärt sie feierlich – und leert ihr Schnapsglas.
Rob mustert mich mit gehobenen Augenbrauen. »Ernsthaft?«
Ich ziehe die Schultern hoch. »Schätze schon.«
Er nickt bedächtig. »Ich meine, ich wusste immer, dass das früher oder später passieren wird – dass entweder Calvin in die Firma einsteigen wird oder du. Aber es ist schon …«, er pfeift durch die Zähne, »… irgendwie schräg. Ich schätze, wenn ich mir eines Tages mal ein Haus im siebenstelligen Bereich leisten kann, werde ich mich vertrauensvoll an dich wenden.« Er bemüht sich um ein Lächeln, aber ich weiß, dass es ihm schwerfällt.
Ich seufze. Im selben Moment fällt mein Blick auf Jay. Er starrt mich vom anderen Ende des Raumes her an. Dann hebt er seine Flasche und trinkt. Sie berührt nicht einmal seine Lippen. Der Alkohol fließt übergangslos in seinen Mund und er schluckt, ohne abzusetzen. Ich habe keine Ahnung, wie er das macht, und ich will es auch gar nicht wissen.
Ich blinzle und konzentriere mich wieder auf Cat. Rob schiebt ihr gerade ein Sandwich und ein Glas Orangensaft zu und lächelt. Sie erwidert den Blick mit einem verträumten Ausdruck im Gesicht und formt ein stummes Danke, wofür sie einen Kuss erntet.
»Also, was ist die Strategie für das Rückspiel morgen?«, frage ich.
»Gewinnen«, erwidert Rob. Er grinst nicht einmal dabei. Er meint es todernst.
»Klingt nach einem Plan«, sage ich. Und wünschte, ich könnte die Welt so einfach sortieren wie er: Spiel? Gewinnen!
Als ich mich von Cat und Rob verabschiede, ist es schon fast ein Uhr. Er hat angeboten, Cat und mich bei unseren Wohnheimen abzusetzen. Aber da Cat mit zweideutigem Grienen abgelehnt hat, habe ich ebenfalls ausgeschlagen. Zu meinem Wohnheim ist es nur eine knappe halbe Stunde und der nächtliche Spaziergang wird mir sicher guttun.
Whitbey ist ein kleiner Ort. Um diese Uhrzeit sind die Straßen leer gefegt und totenstill. Ich schiebe mir meine AirPods in die Ohren und lasse mir von Charlotte Cardins Stimme die Trommelfelle massieren.
Das Licht der Straßenlaternen weist mir den Weg. Wann immer ich einen Schritt auf die Sensorplatten setze, erwacht die Laterne vor mir zum Leben und jene hinter mir schaltet sich ab. Ich zähle die Schritte von Sensor zu Sensor, muss lächeln, als ich korrekt vorhersagen kann, wann eine weitere Laterne aufleuchten wird.
Aber das Lächeln entgleitet meinen Lippen, als das Licht offenbart, was die Dunkelheit bisher vor mir verborgen hat. Selbst mein Herz schweigt. Zwei schreckliche Sekunden lang verharre ich reglos an Ort und Stelle.
Vor mir, halb auf dem Fußweg, halb im Abzweig zum See, liegt eine Gestalt auf dem gefrorenen Boden. Ich erkenne ihn sofort. An dem dünnen Pullover, den ich ungezählte Male an diesem Abend verflucht habe, weil es keiner seiner weiten, abgetragenen Hoodies war. Sondern ein moderner V-Cut. Ich verfluche den Pullover noch immer. Weil die dünne Wolle ihn kaum vor der Eiseskälte schützen wird.
Ich reiße mich aus der Starre, renne auf ihn zu und rüttle an seiner Schulter. »Jay! Jay, criss de sacrament, wach auf!«
»Warum … höre ich dich nur fluchen, wenn ich nicht …« Er stöhnt.
»Steh auf! Hoch mit dir, los!Beweg dich, tu beau cave de tabernacle!«, schreie ich ihn an und ziehe frustriert an seinem Pullover, bis ich das Geräusch reißender Nähte höre. »Verdammt, steh endlich auf!«
Er hievt sich ächzend auf die Füße, blinzelt, wankt und ich packe mir seinen Arm über die Schulter, bevor er gleich wieder zu Boden gehen kann. Auch wenn er mir jetzt viel zu nah ist. So nah, dass ich im Licht der Straßenlaternen die Bartstoppeln auf seiner Wange zählen könnte und ich unter all dem Dunst aus Alkohol, Partyschweiß und fremdem Frauenparfüm sogar noch seinen ureigenen Geruch erahnen kann.
Er hebt den Kopf, sieht mich an, durch mich hindurch, und flüstert verschwörerisch: »Rob reiß’ mir den Kopf ab. Aber … der is’ ja diese Nacht beschäftig-t. Oder nich?« Er lacht.
Ich reibe mir übers Gesicht. Ich sollte Rob anrufen. Oder Quinn. Allein schaffe ich es niemals zurück zum Teamhaus. Nicht mit seinem zusätzlichen Gewicht auf den Schultern.
Noch während ich mit mir debattiere, murmelt Jay: »Entschuldigs’ du mich kurz«, lässt mich los und wankt beiseite. Gleich darauf höre ich ihn würgen.
Ich schließe die Augen. Und rufe uns ein Taxi.
Wir haben Glück: Der Wagen braucht nicht lang und eine knappe halbe Stunde später schließe ich die Hintertür meines Wohnheims auf, die als Nachtzugang dient.
Auf halbem Weg zum Fahrstuhl bereue ich die Entscheidung fast, Jay hierher mitgenommen zu haben. Dies wird keine meiner Sternstunden sein. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass ich mich andernfalls schlaflos im Bett herumgewälzt hätte mit der Frage, ob Jay wirklich klarkommt. Die Jungs sind nicht zimperlich – und Rob hat jede Geduld mit Jays Abschüssen längst verloren. Ich kann es verstehen. Denn eigentlich besteht kein Grund für einen Leistungssportler, seinen Körper derart zu malträtieren. Überhaupt gar keiner. Die AU tut alles für ihre Hockeyspieler, wirklich alles: topmoderne Einrichtungen, fähige Coaches, gesunde Ernährungsangebote, Freizeitmöglichkeiten, schicke Unterkünfte, Tutorenprogramm, Sonderkonditionen im Studium. Alles davon scheint an Jay völlig verschwendet. Um nicht zu sagen: zuweilen tritt er es mit Füßen.
Ich atme erleichtert auf, als ich seinen schweren Körper gegen die verspiegelte Wand des Fahrstuhls lehne und auf den Knopf für den zweiten Stock drücke. Jay sinkt in sich zusammen wie ein nasser Sack. Ihn das letzte Stück bis in mein Wohnzimmer zu bringen, verlangt mir alles ab.
Ich ziehe mir Mantel, Schuhe und Pullover aus und ignoriere, dass mein Shirt völlig verschwitzt ist. Dann wähle ich die Nummer einer privaten Klinik, die einen Infusionsservice anbieten. Sie sagen mir zwar zu, sofort jemanden aus Boston zu schicken, aber es wird trotzdem noch eine knappe Stunde dauern, bis sie hier sind.
Seufzend lasse ich mich vor Jay nieder, ziehe ihm Schuhe und Socken aus. »Du musst aufhören damit«, murmle ich und wasche ihm anschließend das Gesicht mit einem Waschlappen ab.
»Du auch«, nuschelt er.
Ich schüttle den Kopf. »Solange du hier bist, wirst du dir auch anhören müssen, wie hirnverbrannt es ist, dich als Leistungssportler so abzuschießen.«
»Das meine ich nich«, sagt er, »das weiß ich.«
Lohnt es sich, einen Betrunkenen danach zu fragen, was er einem sagen will?
Stirnrunzelnd gehe ich zum Schrank, suche nach dem alten Pullover meines Bruders, den ich noch hier habe. »Arme über dem Kopf ausstrecken!«
Jay stöhnt.
»Mach schon …«
»Du solltest aufhören. Damit«, wiederholt er, während ich ihm sein Sweatshirt ausziehe und zu ignorieren versuche, dass ich seinen Körper selbst dann anziehend finde, wenn er wie ein übergroßes, hilfloses Kleinkind vor mir sitzt und die immer gleichen, sinnentleerten Sätze vor mir auskippt.
»Ist der von Calvin?«, fragt er, als ich ihm den Pullover hinhalte.
»Ja. Aber du wirst ihn trotzdem anziehen, hast du mich verstanden?«
Zu meiner Überraschung nickt er einfach nur. »Ich habe kein Problem mit deinem Bruder«, sagt er dann.
»Und ich dachte immer, Betrunkene lügen nicht.«
»Tun sie auch nicht«, antwortet Jay und deutet vage auf seinen Kopf, »zu wenig Hirn…Hirn…Kapazi…ion. Kapazion? Kapa…«
»Kapazität.«