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Die überwältigende Schönheit der Hollywood-Hills – und zwei verletzte Herzen auf der Suche nach der Liebe
Ryder, 22, College-Absolvent und notorischer Womanizer, will den Sommer vor der stressigen Law School in vollen Zügen genießen. Da kommt ihm das Angebot seines besten Freundes Leith, für drei Wochen in dessen Apartment in L.A. zu wohnen, gerade recht.
Lizzy, 18 und Leiths kleine Schwester, leidet nach einem traumatischen Ereignis, bei dem sie großen Mut bewiesen hat, unter dessen Folgen. Um den überbesorgten Eltern zu entkommen, flüchtet sie nach L.A. zu ihrem großen Bruder. Doch in Leiths Wohnung findet sie nur dessen besten Freund Ryder vor. Und nun muss sich erweisen, wen dieses Zusammentreffen mehr verändern wird – den verschlossenen Draufgänger oder die verletzte Seele mit dem ehrlichen Herzen.
Eine unvergessliche Geschichte über eine Entscheidung, die zwei Leben für immer verändert und mitten ins Herz trifft. Die fesselnde Fortsetzung der romantischen New-Adult-Dilogie von Amelia Cadan
Die »Blossom«-Reihe:
Blossom (Band 1)
Blush (Band 2)
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Seitenzahl: 440
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© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagkonzeption: Suse Kopp, Hamburg
unter Verwendung eines Fotos von © Getty Images (Henrik Sorensen)
MP · Herstellung: UK
Satz: KCFG–Medienagentur Neuss
ISBN 978-3-641-29449-6V001
www.cbj-verlag.de
LIZZY
✴Bist du zu Hause?
✴Bitte antworte.
✴Leith.
✴Leith!
»Meine verehrten Gäste auf dem Flug B6487 nach Los Angeles, bitte schalten Sie jetzt Ihre Mobilfunkgeräte aus, klappen Sie die Tische hoch und schnallen Sie sich an. Vielen Dank.«
Ich stecke mein Smartphone weg. Kurz darauf kommt die Stewardess und deutet auf meinen Laptop: »Das ist ein Modell mit Lithiumbatterien. Das ist Ihnen bekannt?«
Ich blicke hinab auf meinen Laptop und schüttle den Kopf. Die Sicherheitskontrolle hat ihn durchgewunken – und dank diverser Schrauben in meinem Körper hatten sie zwanzig Minuten Zeit, sich intensiv mit meinem Laptop auseinanderzusetzen. Er ist okay. Ich öffne den Mund, um ihr zu sagen, dass er okay ist. – Dann klappe ich ihn zu, gebe der Stewardess meinen Laptop, wende mich von ab und schenke ihrem »Ich werde einen Sticker draufkleben, Sie bekommen Ihren Laptop bei der Ankunft vom Sicherheitspersonal ausgehändigt« keine Beachtung mehr.
Es sind sechs Stunden bis nach L.A.
Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit.
Als ich endlich auf dem Flughafen stehe, wimmelt es um mich herum von Menschen. Mein Blick fällt auf die Flughafencafés, ich wende mich ab, hole mein Smartphone heraus und tippe.
Leith!
Aber er antwortet nicht. Ich schließe die Augen und umschlinge meinen Oberkörper mit den Armen, bis meine Muskeln zu beben beginnen. Dann atme ich aus, nehme meinen Koffer und gehe zum Taxistand, lasse den Blick weiter zu den Bussen gleiten und wieder zurück, wäge die Alternativen ab:
Taxi: Papier, Stift, Adresse – Schweigen.
Bus: Onlineticket, Menschen –Lärm.
Ich hole mein Smartphone hervor und versuche es ein letztes Mal. Mein Daumen zittert, als er über dem grünen Button schwebt. Ich drücke darauf, als wäre es einer der altmodischen Knöpfe an Moms geliebter Retro-Kaffeemaschine, die immer muckt. Dann halte ich mir das Telefon ans Ohr und lausche dem Tuten und meinem eigenen Atem. Vier Mal, dann höre ich endlich Leith: »Lizzy? Hey, hast du … bist du …«
Mein großer Bruder verstummt. Sein Schweigen schreit mich an. Es brüllt: Rede mit mir, Lizzy! Verdammt, rede endlich! Sag etwas!
Aber ich kann nicht. Ich kann nur … atmen.
»Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du – warte. Du hast mir geschrieben, oder?« Es raschelt, ich höre Jun im Hintergrund etwas fragen. Es ist der Moment, in dem ich begreife, dass er nicht zu Hause ist. Seine Freundin ist zu Dreharbeiten in Australien – nicht in L.A. Was erklärt, warum er zur Mittagszeit nicht an sein Telefon geht. Bei ihm ist es frühmorgens, etwa sechs Uhr.
Ich atme resigniert aus und lasse mich hilflos auf eine der Wartebänke sinken.
»Lizzy?! Ich bin nicht zu Hause, was ist los? Ist … Du hast doch diese Notruf-App, die ich dir installiert habe, oder? Wo bist du? Ich hab sieben verpasste Anrufe von Mom und Dad, was ist passiert? Ist alles okay? Solltest du nicht …«
Ich atme frustriert aus, kratze zwei Mal mit dem Fingernagel über das Handymikrofon, damit er endlich aufhört zu reden. Er hält inne, wartet, was ich tue.
Ich hasse das. Ich hasse alles hieran, ich hasse … Gott, ich hasse … Fuck.
»Mom schreibt, du wärst aus deiner Therapiestunde verschwunden. Bist du wieder abgehauen? Lizzy, wir haben darüber geredet! Du kannst nicht nur dann hingehen, wenn ich in Lorcastle bin und dich fahre. Ich … Hör mal, ich weiß, dass du es hasst und glaubst, es bringt nichts. Aber du musst den Ärzten vertrauen. So was geht nicht von einem Tag auf den anderen. Hab Geduld und …« Er seufzt. Ich kann ihn vor mir sehen, wie er die Finger in seinen Haaren vergräbt, wie er verzweifelt an den Locken zieht und dann die Hände in die Hüften stemmt, weil Leith es einfach nicht ertragen kann, hilflos zu sein. Was das angeht, ist er kein bisschen besser als Jun.
Sie sind nie hilflos. Niemals. Beide nicht. Es ist unmöglich, dass es eine Situation gibt, die sie nicht meistern. Zusammen sind sie das Super-Couple. Wonder Woman und Captain America. Und ich bin die neidische kleine Schwester.
Ich unterdrücke ein Seufzen und tippe: Ich bin in L.A.
»Wow, wowowow. Was? Ist das dein Ernst? Wie um alles in der Welt bist du dorthin gekommen?«
✴Mit dem Flugzeug, du Genie.
»Ich meine: warum? Und wieso hast du Mom und Dad nichts gesagt? Sie kommen um vor Sorge! Du gibst ihnen sofort Bescheid, hörst du? Du schreibst ihnen eine Nachricht und nimmst den nächsten Flieger zurück!«
✴Nein.
»Was? Lizzy, das ist nicht witzig. Dir kann sonst was pas–«
Ich lege auf. Meine Augen brennen. Aber wenn ich sie schließe, sind die Bilder da. Immer diese verdammten …
Fuck, fuck, fuck.
Ich reiße die Lider wieder auf. Starre auf Menschentrauben, höre das Gehupe von Autos, röhrende Motoren, das laute Dröhnen von Flugzeugturbinen in meinem Rücken, Unterhaltungen, Gesprächsfetzen, Kinderschreie. – Und mein Smartphone.
Leith.
Ich reibe mir über die Augen und drücke den Anruf weg.
Leith schreibt mir:Bitte, geh ran. – Ich mache mir Sorgen, Lizzy. Bitte.
✴Ich gehe nicht zurück.
oSei vernünftig. Was willst du denn allein in L.A.?
✴Ist mir egal. Es gibt doch sowieso nichts, das ich verpasse. Ich kann nicht studieren. Ich kann nicht arbeiten. Ich kann nichts. Ich sitze zu Hause und warte auf meine nächste Therapiestunde. Jeden Tag. Musiktherapie. Kunsttherapie. Sprachtherapie. Verhaltenstherapie. – Ich kann nicht mehr. Ich kann sie nicht mehr sehen und nicht mehr hören. Ich will das alles nicht mehr, warum könnt ihr das nicht verstehen? Warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe?
Ich sehe ihn tippen. Die drei Punkte in der Anzeige leuchten auf und verschwinden, leuchten auf und verschwinden wieder.
Ich starre minutenlang darauf, bis er schreibt: Okay. Ich rufe dich an. – Keine Überzeugungsversuche, versprochen. Bitte nimm ab.
Ich runzle die Stirn. Ich kenne nur einen Menschen, der meinen Bruder davon überzeugen kann, seinen völlig überzogenen Beschützerinstinkt zu unterdrücken. Und das ist Jun. Aber seit vier Monaten bin ich so etwas wie das rote Tuch der beiden – das Thema, über das sie nicht sprechen, weil sie es nicht können, ohne sich zu streiten.
Ich atme aus und nehme Leiths Anruf an.
»Ich komme nach Hause, okay? Juns Drehzeit endet übernächste Woche und dann wären wir sowieso wieder in L.A. – Ich nehme einfach den nächsten Flieger.«
✴Musst du nicht. Ich suche mir ein Hotel.
»Nein, es …« Ich kann Jun im Hintergrund etwas sagen hören. Ich weiß nicht, was es ist, und als es kurz darauf rauscht und ich Leiths Stimme nur noch gedämpft hören kann, bin ich mir sicher, dass er die Hand auf das Mikro gelegt hat. Ich presse das Smartphone gegen mein Ohr, aber ich kann beim besten Willen nicht verstehen, worüber sie reden. Bis er sagt: »Ich gebe dir Jun, okay?«
Dann, gedämpft: »Das ist eine miese Idee, Jun!«
Dieses Mal ist die Antwort seiner Freundin deutlich zu hören: »Ich fange diese Diskussion nicht noch einmal von vorn an. Sie will nicht. Das Einzige, was du für sie tun kannst, ist, ihr einen sicheren Ort zu bieten. Und deine Wohnung ist im Moment ein sicherer Ort. Also gib mir das Telefon!«
Es rauscht, knackt, dann dringt Juns Stimme klar durch den Hörer: »Lizzy, du bist in L.A.?« Sie wartet, ich kratze ein Mal kurz am Mikro, und sie fährt fort: »Ryder ist über die Semesterferien in Leiths Apartment. Leith wird ihn jetzt anrufen, und fragen, ob er sich für die letzten zwei Wochen eine andere Bleibe suchen kann. Ich dachte nur … Lizzy, vielleicht ist es ganz gut, wenn du nicht allein bist, bis Leith bei dir ist. Du kannst Ryder vertrauen. Aber wenn es nicht okay für dich ist, wird Leith ihn bitten zu gehen.«
Ich mache kein Geräusch. Ich atme nicht einmal mehr. Trotzdem wartet Jun. Eine halbe Ewigkeit vergeht, bis ich in das Textfeld tippe: Er kann bleiben.
»Ist gut«, sagt Jun. »Taxis kann man mit einer App online bestellen, ich schicke dir gleich den Link. Du kannst dort angeben, dass du nicht kommunizieren möchtest. Alternativ ziehst du eine wahnsinnig wichtige Miene und hältst dir nickend dein Smartphone ans Ohr. – Der Flug war bestimmt teuer. Leith schickt dir seine Kreditkartennummer, die kannst du für alle Onlinerechnungen nutzen. Nicht wahr? Leith?« Ihr Tonfall offenbart, dass sie weniger mit mir spricht als vielmehr mit ihrem Freund, bis ihre Stimme wieder weicher wird und sie sagt: »Schick mir eine Nachricht, wenn du angekommen bist, ja?«
RYDER
Ich habe Hirnmus zwischen den Ohren. Ich stelle es mir matschfarben vor und zähflüssig. In erster Linie ist es nicht besonders leistungsfähig. Und es schmerzt.
Ich fluche leise und stütze mich auf meine Unterarme. An den schweren dunkelblauen Vorhängen blinzeln Sonnenstrahlen vorbei ins Wohnzimmer und reizen meine Sehzellen. Ich kneife die Augenlider zusammen und presse die Handballen darauf.
Ich brauche Wasser. Eine Zigarette. Eine Dusche. Zucker. Fett. Aber zuallererst eine Schmerztablette.
Eine halbe Stunde später bin ich frisch geduscht und die gesamte Wohnung riecht nach dem Spiegelei, das gerade in der Pfanne vor sich hin brutzelt, während ich drei Schritte weiter in der offenen Terrassentür stehe. Es sind sonnige 80 Fahrenheit, strahlend blauer Himmel, und es weht genau die perfekte Brise, die es braucht, um in einem T-Shirt nicht zu schwitzen. Damn, ich liebe L.A. Und dieses Apartment. Es ist der reinste Luxus hier zu wohnen. Leith hat offensichtlich ein Händchen für Immobilien – wahrscheinlich liegt das in der Familie.
Wenn man vom Teufel spricht: Mein Smartphone verkündet mir stolze drei verpasste Anrufe meines besten Freundes – alle eingegangen, während ich unter der Dusche stand. Ich runzle die Stirn und rufe zurück. Er hebt nach dem ersten Klingeln ab, und noch während ich mich frage, was um alles in der Welt so wichtig ist, bimmelt es auch noch an der Tür.
»Gott sei Dank! Bist du zu Hause?«, dringt seine Stimme aus dem Hörer.
»Ja«, murmle ich, atme den Rauch aus und ersticke die halbe Zigarette im Aschenbecher. »Aber es klingelt grad, kannst du kurz warten? Deinem Nachbarn aus dem ersten Stock ist wahrscheinlich wieder sein Wellensittich abgehauen, und nun ist er der festen Überzeugung, dass das Vieh bis hoch auf die Terrasse geflattert ist.«
»Was …?«
»Es hat geklingelt, okay? Ich bin gleich wieder …«
»Warte, Ryder, hast … Hast du Damenbesuch?«
Ich muss lachen. »Ob ich was habe?«
»Ist jemand bei dir?«, beharrt Leith.
»Nein, Mann. Was denkst du? Dass ich hier Audienzen halte?« Ich schlafe sogar auf der Couch, weil ich den Gedanken gruselig finde, im selben Bett zu pennen, in dem mein bester Freund regelmäßig mit seiner A-Promi-Freundin Sex hat …
»Hör mal …«
Es klingelt noch mal und ich öffne umständlich mit der freien Hand die Türverriegelung. »Ich muss jetzt echt –«
»Ryder warte, das an der Tür –«
… ist kein wellensittichsuchender Nachbar.
Ich kenne Leiths kleine Schwester nur von Fotos. Darauf war sie ein ausgeflipptes kleines Mädchen mit pastellfarbenen Strähnchen oder bunten Perlen im Haar, das die gesamte Welt umarmen wollte.
Das Mädchen, das jetzt vor mir steht, hat weder Strähnchen noch Perlen im Haar und sieht auch nicht so aus, als wäre das jemals ihr Ding gewesen.
Stattdessen trägt sie einen weiten schwarzen Hoodie. Nicht weit genug, um nicht zu verraten, dass sich das mit dem »kleinen Mädchen« mittlerweile auch erledigt hat. Ihre Jeans ist dunkelgrau und verwaschen, vielleicht war sie mal genauso schwarz wie der Rest: die Schuhe, der Eyeliner, der ausgebeulte Rucksack. Nur ihre Haare strahlen noch immer in ihrem natürlichen Hellblond.
Ich weiß, was mit ihr passiert ist. Weil es so ziemlich jeder weiß. Jeder in ganz Lorcastle und Umgebung, der vor vier Monaten funktionstüchtige Sinnesorgane hatte, weiß es. Weil sie zuvor ausgerechnet die einzigen dreiundzwanzig Minuten der Menschheitsgeschichte erwischt hat, in denen keiner irgendetwas wissen wollte …
Ich hasse es manchmal, wie das Schicksal Schönheit und Schrecken aufeinandertreffen lässt.
»Lizzy. Es ist Lizzy an der Tür«, zieht Leith mich aus meinem eigenen, ganz persönlichen Abgrund.
Ich nicke, als könne er es sehen. »Hi, Lizzy.«
Sie löst vier Finger vom Gurt ihres Rucksacks zu einem nachlässigen Gruß und lächelt. Oder jedenfalls … wäre es früher bestimmt ein Lächeln gewesen. Heute wirkt es forciert und völlig emotionslos.
»Ryder?«, fragt Leith.
»Ja, sie ist hier. – Wir telefonieren später, okay?«
»Hey, warte! Du … Sie will übernachten. Ich meine, ich möchte, dass sie bleibt. Das geht doch klar, oder? Ich meine – ihr bekommt das hin …«
»Leith, sie steht vor mir. Sie kann mir das selbst sagen – und ich komme mir allmählich ziemlich blöd dabei vor, in der dritten Person über Lizzy zu sprechen, also …«
»Okay, sorry. – Aber du lässt die Finger von ihr, klar? Meine kleine Schwester ist kein Spielzeug!«
»Ich werde jetzt so tun, als hättest du es nicht für nötig befunden, mir das zu mitzuteilen, weil es nämlich selbstverständlich ist – und dir einen schönen Tag wünschen.« Ich verdrehe die Augen und lege auf. »Sorry dafür …«, murmle ich und strecke ihr die Hand hin. »Ich bin Ryder.«
Mir geht auf, dass sie möglicherweise den Körperkontakt scheut, und will meine Hand schon zurückziehen. Merkwürdigerweise ist das der Augenblick, in dem sie ihre Hand vom Rucksackriemen löst und auf mich zu bewegt. Ich greife danach, bevor ich sie endgültig verunsichere, und erwidere knapp den Handschlag. Ihre Haut ist warm und verschwitzt, aber es stört mich nicht. Was … seltsam ist. Denn normalerweise stehen Dinge wie verschwitzte Hände für mich auf derselben Don’t-Touch-Liste wie U-Bahn-Haltestangen und öffentliche Toilettenbrillen.
Ich ziehe meine Hand zurück und trete beiseite. »Komm rein.«
Sie sieht ins Innere der Wohnung, bevor sie zögernd den ersten Schritt setzt.
»Warst du schon mal hier?«, frage ich.
Sie nickt, mustert mich und geht einen halben Schritt beiseite. Dann deutet sie mit einer Hand in Richtung der offenen Küchenzeile und anschließend auf ihre Nase.
Verdammt. Schätze, mein Spiegelei zerfrisst gerade Leiths Induktionspfanne … Ich seufze und jogge rüber, um das Ding vom Herd zu reißen.
»Das war’s dann wohl mit Brunch. – Hast du Hunger?«
Ich drehe mich zu Lizzy um. Sie sieht mich an, die ruinierte Pfanne in meinen Händen, dann zieht sie die Schultern hoch und nickt zaghaft.
Ich hätte sie in eines der schicken Hollywood-Cafés eingeladen, aber um dorthin zu kommen, hätte ich sie auf meiner Maschine mitnehmen müssen, und ich bezweifle, dass das im Moment eine gute Idee ist. Also schlage ich vor: »Es gibt ein Diner um die Ecke, wenn du möchtest …? Ich wollte erst heute Nachmittag einkaufen, es ist nicht mehr viel da.«
Sie nickt, dann lässt sie langsam ihren Rucksack sinken. Dabei verzieht sie das Gesicht, und ich unterdrücke den Impuls, auf sie zuzugehen.
Ich habe keine Ahnung, ob ihre physischen Wunden bereits verheilt sind; die psychischen sind es ganz sicher nicht.
»Ich bring dir den Rucksack gleich ins Schlafzimmer. Ich war nur kurz mal für Handtücher und Bettzeug drin, du hast es also für dich allein.«
Ihr Blick fällt auf die geschlossene Tür und anschließend auf das zerwühlte Sofa.
Darauf liegen noch meine Klamotten von gestern Nacht inklusive Unterwäsche, mein E-Reader, Ladekabel und allerhand anderer Kram. – Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute Besuch bekomme, hätte ich aufgeräumt …
Lizzy zieht ihr Smartphone hervor, dann sieht sie sich unschlüssig um und geht schließlich auf die kleine Kommode zu, auf der das Festnetztelefon steht. Sie kritzelt etwas auf einen Block und legt ihn neben mir auf die Küchentheke, bevor sie einen Schritt zurücktritt. Ich gebe endlich das fruchtlose Geschrubbe an der Pfanne auf und beuge mich vor, um den Satz zu lesen.
✴Tut mir leid, dass ich hier so reingeplatzt bin.
»Kein Problem. Die Wohnung gehört deinem Bruder.«
Sie hebt die Mundwinkel. Das Lächeln ist kaum sichtbar. Aber dafür ist es ehrlich.
Sie hat ein wirklich schönes Lächeln …
Essen. »Brauchst du noch etwas? Willst du dich umziehen? Oder sollen wir gleich los?«
Ich gehe in Richtung ihres Rucksacks, und Lizzy folgt mir in einigem Abstand, während ich das Gepäck ins Schlafzimmer bringe und gegen das Bett lehne. Lizzy holt ein Portemonnaie heraus und folgt mir auf den Flur.
»Du musst nicht zahlen«, sage ich, während ich meinen Kram von der Kommode in den Taschen meiner Jeans verstaue und die Tür öffne.
Sie tippt mir auf die Schulter und ich drehe mich überrascht zu ihr um.
Lizzy tritt einen Schritt zurück und winkt mit ihrem Smartphone, dann deutet sie in Richtung Küchentheke. Ich runzle die Stirn – bisher habe ich das mit der nonverbalen Konversation recht gut hinbekommen, bilde ich mir ein, aber jetzt gerade drohe ich zu scheitern. Bis sie auf meine Hosentasche deutet, wo ich mein Smartphone verstaut habe.
»Du willst meine Nummer?« Der Nobelpreis für herausragende menschliche Geistesleistungen geht an Ryder Bengston, herzlichen Glückwunsch. »Sorry, darauf hätte ich kommen können«, murmle ich und halte ihr mein Smartphone hin.
Sie lächelt wieder. Und weil sie es dieses Mal unterdrückt, ist es noch schwerer zu erkennen. Drei Sekunden später, als sie mir das Smartphone hinhält, bin ich mir schon nicht mehr sicher, ob es nicht doch Einbildung war.
Ich rufe sie an, lasse es einmal läuten und bewege mich dann endlich in Richtung Fahrstuhl.
LIZZY
✴Warum bist du hier, Ryder?
Brauchte eine Auszeit. Du?
Ich blicke irritiert von meinem Smartphone auf. Er lehnt immer noch mir gegenüber an der Wand des Fahrstuhls. Trotzdem schreibt er, anstatt … zu sprechen?
Ich wollte seine Handynummer, weil es mir leichterfällt, auf dem Smartphone zu tippen, als von Hand zu schreiben – etwas, das meine Eltern vermutlich nie begreifen werden. Aber ich hatte damit gerechnet, dass er selbst sprechen würde – weil das bisher jeder getan hat. »Sonst ziehe ich mir noch eine Sehnenscheidenentzündung zu«, hat Vanessa irgendwann gesagt, als sie es leid war, nicht stundenlang mit mir telefonieren zu können – wie früher.
✴Ich auch.
Er schmunzelt, als er meine Antwort liest. Für den Bruchteil einer Sekunde lässt dieser Ausdruck auf seinem schönen Gesicht einen Funken in mir aufglimmen. Den Funken meines alten Ichs. Gott, ich hatte den schlimmsten Instagram-Crush aller Zeiten – für den besten Freund meines älteren Bruders. Was für ein Klischee. Wenn ich ihm damals begegnet wäre, hätte ich gequietscht wie ein Badewannenentchen und wäre im Kreise um ihn herumgehibbelt vor Begeisterung.
Jetzt kommt mir die Vorstellung sinnlos vor. Albern. Aus einem anderen Leben, von einem anderen Ich.
Pancakes oder Ham ’n’ Eggs?
✴Pancakes.
Dafür müssten wir achthundert Yards weiter laufen.
✴Kein Problem.
Der Fahrstuhl plingt und wir kommen im Erdgeschoss an. Vor dem Desk des Portiers hält Ryder an und bedeutet mir, kurz zu warten.
»Haben Sie eine zweite Schlüsselkarte für Miss Boyd? Apartment 2 C?«, fragt er.
Der Portier schüttelt bedauernd den Kopf. »Wir dürfen nur maximal drei Karten aushändigen, Sie haben bereits die Dritte.«
Ryder nickt. »Verstehe, danke.«
Er dreht sein Smartphone zwischen den Fingern, während er auf mich zukommt und wir durch die Tür ins Freie treten.
✴Das ist okay. Ich gehe nicht viel raus.
Er wirft mir einen Seitenblick zu, sagt aber nichts, sondern lässt nur weiter das Smartphone in seiner Hand kreiseln. Erst im Uhrzeigersinn, dann dagegen. Und schließlich nach vorn und hinten. Es ist hypnotisch, ich kann meinen Blick kaum von den langen, schlanken Fingern lösen. – Bis mir aufgeht, wie idiotisch das ist und ich es lasse.
oAlles okay? Kommt ihr gut miteinander aus? Er ist doch nett zu dir, oder?
Ich verdrehe die Augen und antworte meinem Bruder: Ja. Hör auf zu nerven.
Es ist seine dritte Nachricht in der letzten Stunde – und sie fragen alle das Gleiche.
»Leith?«, fragt Ryder und deutet mit dem Kinn in Richtung meines Smartphones.
Ich nicke und steche mit Genuß mein nächstes Stück Pancake auf.
Wir sitzen draußen, sonnengeschützt unter den rot-blauen Schirmen eines französisch angehauchten Diners – und mein Smartphone vibriert schon wieder.
oIch mache mir nur Sorgen, okay?
Meine Gabel kommt klirrend auf dem Tellerrand auf. JA! ICHWEISS. UNDICHKANNESNICHTMEHRHÖREN. LASSTMICHINRUHE.
Fuck. Ich lasse das Smartphone sinken und reibe mir übers Gesicht. Ich bin so müde … Und ich bin es so unfassbar leid. Das alles. Ich möchte nur … mich irgendwo vergraben. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Die Augen schließen und die Welt nicht mehr sehen müssen und …
Hast du irgendwelche Lungenerkrankungen?
Ich blinzle und blicke von meinem Smartphone auf. Ryder öffnet mit drei Fingern eine Zigarettenpackung. Ich habe den Impuls, ihn angesichts seiner Feinmotorik zu fragen, ob er je etwas fallen lässt. Aber der Impuls verendet irgendwo auf dem Weg zwischen meiner linken Gehirnhälfte und meinem Mund. Das Merkwürdige ist, dass ich normalerweise selbst dieses Gefühl kaum mehr verspüre: reden zu wollen. Die ersten Wochen wollte ich nicht reden. Und irgendwann konnte ich es auch nicht mehr. Oder vielleicht ist es dasselbe. Ich weiß es nicht.
Oder stört es dich allgemein, wenn ich rauche?
Seine Frage – ich habe ihm immer noch nicht geantwortet. Nein. Nicht, solang wir draußen sind.
»Ich rauche nie in geschlossenen Räumen«, antwortet er und lässt den USB-Stick an seinem Schlüsselbund aufschnappen. Nur, es ist kein USB-Stick, sondern eine Art Feuerzeug. Er senkt die Zigarette auf den roten Punkt, der Tabak kräuselt sich zu grauer Asche und glüht auf, als Ryder den ersten Zug nimmt. Er hält die Augen geschlossen und hat den Kopf in den Nacken gelegt. Sein ganzer Körper scheint sich zu entspannen, während er den Atem anhält und schließlich weißen Rauch ausstößt.
Ich habe nie viel von Zigaretten gehalten. Oder jeder Art von Nikotinkonsum, um genau zu sein. Es stinkt, der Geruch haftet an jeder Faser und sogar an der eigenen Haut. Jeder, der mal einen einzigen Zug genommen hat, weiß, dass es eklig schmeckt und einem obendrein kotzübel wird, wenn man es nicht gewöhnt ist. Jedenfalls ging es mir so. Seitdem mache ich einen noch größeren Bogen darum.
Aber irgendetwas an der Art, wie Ryder raucht, ist faszinierend. Es ist der Genuss in seinem Gesicht, seiner ganzen Haltung. Wie er sich bedingungslos dem Gefühl hingibt und ihm der ganze Rest der Welt in dem Moment einfach egal zu sein scheint.
Ich wünschte, ich könnte das – mich so fallen zu lassen.
Er nimmt einen zweiten Zug, starrt in den blauen Himmel, atmet aus und lässt die Hand mit der Zigarette wieder sinken.
»Sorry«, murmelt er, grinst schief und neigt den Kopf, bis er mich wieder ansehen kann. »Alles versucht, aber ich bin hoffnungslos abhängig von dem Mist.«
✴Wie lang rauchst du schon?
Er legt den Kopf schief. »Neun oder zehn Jahre?«
Ich runzle die Stirn. Wie alt ist er? Zweiundzwanzig?
»Ich habe mit dreizehn angefangen – oder zwölf? Keine Ahnung. Auf jeden Fall zu früh.«
✴Und es hat niemand bemerkt?
Er sieht auf sein Smartphone, dann schüttelt er den Kopf. Bei seinem nächsten Satz flieht weißer Rauch aus seinem Mund und er lässt Asche in den bereitstehenden Becher fallen. »Falsche Fragestellung, Lizzy. – Es hat einfach niemanden interessiert.«
Ich schlucke.
Es hat niemanden interessiert.
Mir wird kalt und die Pancakes in meinem Magen fühlen sich mit einem Mal an wie Backsteine. Sie ziehen mich herunter, bis ich nur noch reglos auf meinem Stuhl sitzen und ins Leere starren kann. – In eine Leere voller Schreie. Voller Gewalt. Und voller Menschen. Wie sie vorbeigehen. Mich ansehen. Mir in die Augen sehen und reglos stehen bleiben. Oder weitergehen. Jemand streichelt liebevoll seinen Hund. Eine Frau nimmt ihr Kind bei der Hand und führt es weg.
RYDER
Ich werfe meinem Spiegelbild einen Blick zu.
Portemonnaie, Schlüsselbund, frische Zigaretten, Kondome – ich habe alles. Nur die Schlüsselkarte wirft mir von ihrem Platz auf der Kommode einen spöttischen Blick zu. Sie wölbt ihren Magnetstreifen und gackert: »Was nun, Bengston? Fragst du das Mädchen, ob du mich mitnehmen darfst? Oder nimmst du mich einfach so mit, weil du den Gedanken nicht erträgst, noch einmal in ihre leeren grauen Augen sehen zu müssen?«
Es hat niemanden interessiert.
Warum habe ich das gesagt? So gedankenlos bin ich normalerweise nicht. Mir passieren keine verbalen Fehltritte. Sprache ist, was ich kann. Sprache, Recht und manchmal Menschen.
In diesem Fall ganz offensichtlich nicht …
Ich entsperre mein Smartphone, und das Erste, was mir entgegenspringt, ist dieser verfluchte Artikel, den ich vorhin gelesen habe.
Nachdem ich ihn gelesen hatte, war mir so schlecht, dass ich mein Smartphone für den Rest des Abends nicht wieder anrühren wollte. Und auch nicht musste. Weil Lizzy mir nicht noch einmal geschrieben hat.
»Bystander-Effekt: die nachlassende Wahrscheinlichkeit, dass Menschen einem in Not Geratenen zu Hilfe eilen, je mehr Augenzeugen anwesend sind.«
Oder anders gesagt: Es hat niemanden interessiert.
Manchmal sind Menschen mir zuwider.
Ich packe die verfluchte Schlüsselkarte und ziehe die Tür hinter mir zu.
Club. Jetzt.
Ich lehne meine Stirn gegen das Holz des Bettpfostens. Es ist eines dieser großen, pompösen Himmelbetten. Ich will gar nicht wissen, wo ich hier gelandet bin …
»Bist du gekommen?«, frage ich die Brünette, die sich aus dem Halbdunkel vor mir schält. Ich muss nicht mal ihren BH-Verschluss zufummeln – weil ich ihn nie geöffnet habe. Dabei sind Brüste so ziemlich das attraktivste Körperteil einer Frau, wenn man mich fragt – vom Gesicht mal abgesehen. Zu meiner Erleichterung antwortet Lisa mit »Ja« und ihr Tonfall offenbart echte Empörung über meine Frage. Als hätte ich irgendetwas Offensichtliches übersehen.
Ich verdrehe die Augen. Ich habe kein Problem damit, im Nachhinein noch mal Hand anzulegen, damit das Ganze für beide einen Höhepunkt findet – aber dann muss ich auch wissen, dass es bisher keinen gab. Und mir einen vorzuspielen, ist dabei irgendwie nicht hilfreich. Aber Lisa aus L.A. scheint ja zufrieden … glaube ich.
Jedenfalls hält sie mir gerade freundlich grinsend mein Shirt vor die Nase und sagt: »Wenn du nicht schnarchst, gibt es gratis ein Frühstück.«
»Schon okay, keinen Bedarf«, murmle ich und fische nach meiner Jeans. Ich schließe die letzten Knöpfe, taste meine Hosentaschen ab und öffne die Tür des Schlafzimmers.
»Dann … ciao bello!«
»Gute Nacht«, antworte ich und schiebe mir eine Zigarette in den Mundwinkel. Auch wenn ich bis zum Erreichen der Haustür damit warte, sie endlich anzuzünden.
Ich bin abgefuckt. Sex ist für mich zu so etwas wie Nikotin verkommen. Reine Lustbefriedigung. Jeder Orgasmus ist ein Glücksgefühl, das mich für ein paar Minuten in eine heile Welt katapultiert, weil ich mit der Realität nichts mehr anzufangen weiß. Ein Release-Button. Aber sobald ich die Tür von Leiths Wohnung hinter mir zuziehen werde und von der absoluten Stille dort empfangen, werde ich wieder dort sein, wo ich vor drei Stunden schon war: in der Realität, wo es niemanden interessiert hat.
Ich habe mich getäuscht. Es ist nicht Stille, die mich empfängt. Nicht als ich Leiths Schlafzimmer passiere. Und selbst davor hat es sich angefühlt wie stummer Lärm und drückende Kälte.
Die Kälte kam von der Terrassentür, die ich versehentlich gekippt gelassen hatte. Aber alles andere – die Wogen erstickender Angst wie die Schatten an der Wand, das graue Nichts aus Hoffnungslosigkeit –, es dringt durch die Ritzen der Tür, hinter der Lizzy ruhig schlafen sollte. Und ich stehe erstarrt davor und lausche den viel zu schnellen Atemzügen, dem Rauschen der absurd teuren Bettwäsche und dem Kratzen von Fingernägeln auf Holz. Nicht der leiseste stimmliche Laut mischt sich darunter. Kein Wimmern, kein Schreien. Lizzys Verzweiflung ist völlig wortlos und kreischt doch in meinen Ohren.
Ich klopfe an die Tür – hämmere dagegen – und schaffe es kaum, fünf Sekunden zu warten, bis ich sie aufstoße und einen Menschen sehe, der im Angesicht seiner eigenen Erinnerungen haltlos einen Abgrund hinabstürzt. Lizzy hat die Lider zusammengepresst, eine Hand in die Decke gekrallt, die andere fest um das Holz der Bettkante, dass ihre Sehnen hervortreten.
Ich reiße mich aus meiner Starre, gehe zum Bett und packe ihre Schultern. »Liz! Wach auf! Du träumst. Es ist nicht real, hörst du? Mach die Augen auf!«
Sie reißt die Lider auf und starrt mich an. Unfokussiert. Als sehe sie durch mich hindurch an die gegenüberliegende Wand.
Die blonden Locken kleben ihr in der Stirn, an den Wangen, am Hals. Ich kann den kalten Schweiß unter meinen Fingern fühlen, überall da, wo der Stoff ihres Nachthemds nicht hinreicht. Sie beginnt zu zittern, stößt den angehaltenen Atem aus und schließt ergeben die Augen. Ihr Arm bewegt sich unter meinem Griff, und ich trete hastig zwei Schritte zurück, bis ich den Wandschrank im Rücken spüre.
Sie setzt sich auf und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen. Sekundenlang stehe ich nur starr in meiner Ecke und sehe ihr zu, wie sie zitternd und verloren zwischen den überdimensionierten Decken und Kissen kauert.
»Ich hol dir ein Wasser«, murmle ich und verschwinde aus dem Zimmer.
Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, ob ich damit ihr Raum geben möchte – oder mir selbst.
Mit dem Glas in der Hand klopfe ich zwei Minuten später gegen die Schlafzimmertür und sie erwidert das Klopfen ein Mal. Ich weiß nur leider nicht, was das bedeutet. Dass ich reinkommen kann? Dass ich draußen stehen bleiben soll?
»Ich komm rein, okay? Wenn nicht, dann klopf einfach noch mal.«
Ich warte ab – kein Klopfen – und betrete den Raum.
Es ist ein schönes Zimmer, mit all dem dunklen Holz, den bodenlangen Vorhängen und der violetten Beleuchtung. Hier war eindeutig irgendein Innendesigner am Werk, und es ist das einzige Zimmer der Wohnung, das Juns Touch aus Dunkelheit und versteckter Wärme abbekommen hat.
Lizzy kauert noch immer auf dem Bett, in derselben Position, in der ich sie zurückgelassen habe, aber sie hat ihr Smartphone in der Hand und kurz darauf vibriert meines. Ein Mal heißt Ja. Zwei Mal heißt Nein. Entschuldige, dass du das sehen musstest. Normalerweise bemerkt es niemand. Sie legt ihr Smartphone beiseite, ohne mich anzuschauen.
Ich stelle das Wasserglas auf den Nachttisch, lehne mich wieder gegen den Kleiderschrank und antworte ihr. Dafür musst du dich nicht entschuldigen.
Sie wirft einen schnellen Blick auf ihr Smartphone, dann trinkt sie und starrt zwischen den Schlucken an die gegenüberliegende Wand. Als sei ich überhaupt nicht im selben Zimmer. Dann tippt sie wieder. Ich möchte duschen.
Ich öffne die Schiebetür in meinem Rücken und nehme zwei frische Handtücher heraus, die ich ihr auf die Bettkante lege.
Lizzy sieht darauf hinab. Auf die Handtücher und meine Finger, die sich hell von dem dunkelgrauen Textil abheben, bevor sie meine nächste Frage tippen.Wie oft hast du Albträume?
✴Ich will nicht darüber reden.
Ich seufze und bereue es im nächsten Moment. Das Geräusch kommt mir unnatürlich laut vor. Als würde ich ihr etwas vorwerfen. Und dazu habe ich kein Recht.
✴Wo warst du?
Downtown.
Sie wirft ihr Smartphone beiseite und schlägt die Decke zurück.
Mir entfährt ein Laut und ich drehe mich weg.
Lizzy schnaubt tonlos. Kurz darauf hält sie ihren Arm in mein Sichtfeld. Fahles Mondlicht bescheint ihre Haut, offenbart die Verläufe eines chirurgisch präzisen OP-Schnitts, die Stiche einer Naht und die vielen krummen Linien, die eine zerbrochene Flasche dort hinterlassen hat. Was ich nur weiß, weil ich wie jeder einfältige Lorcastler die unzähligen Zeitungsartikel über den Vorfall gelesen habe.
Dann geht sie hinaus.
Ich kann das Wasser in der Dusche schon rauschen hören, als mein Smartphone das nächste Mal vibriert.
✴Es gibt nichts mehr zu sehen außer Narben.
LIZZY
Sprach-Klempner
Lizzy, ich habe dich heute in der Therapiesitzung vermisst. Du weißt, dass jede Sitzung wichtig ist. Du möchtest doch auch, dass du eines Tages wieder normal sprechen kannst.
> Nachricht gelöscht.
Art Girl
Hi! Deine Eltern haben gesagt, dass du kurzfristig zu Besuch bei deinem Bruder in L.A. bist? Möchtest du zu dem Kurs Fotos mitbringen? Vielleicht können wir daraus ein cooles neues Projekt machen!
> Nachricht gelöscht.
Mrs Freud
Wir haben gemeinsam besprochen, dass diese Therapie sehr wichtig für dich ist. Dass du unsere gestrige Sitzung vorzeitig verlassen hast, hat mich sehr bestürzt. Melde dich bei mir, damit wir über die Situation sprechen. Du kannst gern deine Eltern mitbringen.
> Nachricht gelöscht.
Ryder schreibt mir:Rührei oder Pancakes?
✴Rührei, kein Schinken.
Trifft sich gut, den hätte ich nämlich nicht gehabt.
✴Vegetarier?
Jap.
✴Du bist unlogisch.
In mehr als einer Hinsicht. – Drinnen oder draußen?
✴Draußen.
Ich seufze und ziehe mir die dünne, langärmelige Jacke über. Ich habe nicht genug geeignete Klamotten für L.A. Es sei denn, ich will als lebende Voodoo-Puppe herumlaufen.
Will ich nicht.
Obwohl es im Haus egal ist. Hier sieht mich niemand. Außer dem besten Freund meines Bruders alias mein Highschool-Crush. – Also niemand.
Ich behalte die Jacke an, aber ich mache mir nicht die Mühe, mich in meine Jeans zu quetschen. Ich muss Ryder fragen, wo ich hier eine Waschmaschine finde …
Er raucht, als ich auf die Dachterrasse trete, und drückt die Zigarette aus, als er mich sieht. »Hi«, sagt er.
Ryder lächelt nicht. Was gut ist. Ich habe keine Lust auf die Mitleidstour und den ewigen Es geht mir gut, macht euch keine Sorgen-Part, der dann meiner ist. Es geht mir scheiße, und es wird nicht besser, wenn ich rund um die Uhr allen in meinem Umfeld ihre Schuldgefühle ausreden muss.
Ich lasse mich auf den Stuhl fallen. Der letzte Tabakrauch wird von dem Geruch aus geschmolzenem Käse, Rührei, Gewürzen und Tomaten verdrängt und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Ich tippe ein Danke in den Chat mit Ryder, bevor ich mir die erste Gabel in den Mund schiebe und … Gott, das ist köstlich. Ich atme auf und lasse mich gegen die Lehne sinken. Das Rührei zergeht auf meiner Zunge, bis nur noch die harten Gabelzinken zurückbleiben. Ich dachte, Leith wäre der einzige College-Student, der kochen kann.
Ryder schüttelt den Kopf. »Gebratene Eier und Mousse au Chocolat. Alles andere ist in der Regel ungenießbar.«
✴Mousse au Chocolat? Dein Ernst?
Er verzieht den linken Mundwinkel zu einem nachlässigen Schmunzeln und zuckt mit der rechten Schulter. Ich bekäme das nicht einmal hin, wenn ich zehn Stunden vorm Spiegel üben würde, und ganz sicher würde ich jedem anderen unterstellen, genau das getan zu haben. Ich würde es Ryder liebend gern unterstellen. Bedauerlicherweise ist seine ganze Art zu natürlich dafür.
»Sorry für gestern Nacht. Ich sag dir ab jetzt Bescheid, wenn ich abends noch mal weggehe.«
Ich hebe eine Augenbraue. Du kannst machen, was du willst. Im Gegensatz zu mir. Die sich für jeden Schritt gegenüber jedem Familienmitglied, Arzt und Therapeuten rechtfertigen muss …
Ryder übergeht meine Antwort und fragt: »Hast du schon Pläne für heute?«
Ich schüttle den Kopf. Im Krankenhaus und später allein zu Hause hat Netflix noch Spaß gemacht. Die ersten sechs Wochen. Danach … nicht mehr.
»Warst du mal im Getty?«
Ich runzle die Stirn und schüttle den Kopf.
»Hast du Lust?«
Okay.
Ryder steht auf, stapelt sein leer gegessenes Geschirr und sagt, während er in Richtung Terrassentür geht: »Sag mir Bescheid, wenn du loswillst.«
✴Bushaltestellen erinnern mich an die Middle School.
Ryder schmunzelt schief. »Mich auch.«
Ich will ihn fragen, warum er für die Zeit in L.A. kein Auto gemietet hat, aber ich lasse es. Vielleicht hat der rauchende Vegetarier ja keinen Führerschein.
Die Luft im Bus ist stickig, mir ist warm, und ich werde jeden Moment anfangen zu schwitzen. Ryder in seinem weißen T-Shirt scheint die Sonne nichts auszumachen. Er hat eine Sonnenbrille auf der Nase und zum perfekten James-Dean-Look fehlt ihm nur noch ein schwarz-weißer Instagram-Filter.
Ich wende den Blick ab und starre durch die mit Werbung beklebten Fenster nach draußen auf den spottend blauen Pazifik.
Im selben Moment schnippt Ryder mit einem Finger gegen mein Bein und nickt zur Bustür. – Wir sind da.
Der große weiße Gebäudekomplex schreit schon aus der Ferne: Ich bin das Nachlassmuseum eines Öltycoons. Ich hätte Ryder nach dem Eintrittspreis fragen sollen … Gestern war ich zu erschöpft, um einen zweiten Gedanken wegen der Pancakes zu verschwenden, aber ich kann mich schlecht jeden Tag von ihm irgendwohin einladen lassen.
Ich puste mir eine Locke aus der Stirn und tappe weiter neben ihm her durch die pralle Sonne, bis wir das Getty erreichen – keine Schlange. Nicht mal ein Kassenhäuschen. Ich runzle die Stirn. Es ist kostenlos?!
Ryder nickt. »Ja, sicher. Wieso?«
Ich stecke mein Smartphone zurück in die Hosentasche und folge Ryder einige Treppenstufen hinab. Ich frage mich, wo er hinwill. Warum wir nicht ins klimatisierte Gebäude gehen. Ob er überhaupt weiß, was er tut.
Er weiß, was er tut.
Knapp zehn Minuten später stehe ich in dem schönsten Garten, den ich je gesehen habe.
Beim Getty habe ich an van Goghs und Rembrandts gedacht, an Sicherheitsleute, Do not touch!-Schilder und endlose Korridore voll schweigender Menschen, knarzender Dielen und alter Bilder, ein paar Statuen und eingestaubte Ausstellungsstücke hinter Glas. Stattdessen bin ich umgeben von Schmetterlingen, Düften und Abertausend bunten Blüten. Hinter mir plätschert leise ein Springbrunnen und nicht einmal das Kindergeschrei der zwei Fangen spielenden Mädchen stört mich. Im Gegenteil. Es treibt Erinnerungen an die Oberfläche. Wie ich Granny und Leith durch den Garten in Baltimore gejagt habe, oder vielmehr sie mich. An verschmierte Blaubeermarmeladenmünder und wilde Erdbeeren.
Fuck.
Ich blinzle und drehe mich von Ryder weg, dessen Fingerspitzen im Vorbeigehen über die Blätter der Hecke streifen.
Eine Hummel brummt an mir vorbei, setzt sich in eine Blüte und biegt sie mit ihrem Gewicht fast bis zum Boden hinab. Als sie weiterfliegt, schnellt die Blüte wieder hoch. Gelber Pollen liegt auf den dunkelroten Blättern wie Puderzucker. Ich hocke mich hin, strecke einen Finger danach aus, bis der gelbe Staub an meiner Haut haften bleibt. Mir kullert eine einzelne Träne die Wange hinab und ich weiß nicht einmal, warum.
»Ich wollte dich eigentlich aufheitern – aber ich schätze, der Versuch ist nach hinten losgegangen«, murmelt Ryder.
Ich wische mir mit dem Handrücken über die Wange und stehe auf. Es ist schön hier. Ich bin nur ein emotionales Wrack. Das ist alles.
Ryder sieht mich prüfend an, meine heißen Wangen, die garantiert geröteten Augen. Dann streckt er eine Hand nach mir aus. Ich blinzle stirnrunzelnd darauf hinab, bis ich sie, ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, packe wie meinen höchstpersönlichen Rettungsanker.
Mein Herz blutet in diesem Moment für die alte Lizzy. Die lachen und singen und mit nackten Beinen durch das Becken des großen Springbrunnens hüpfen würde. Sie ist gestorben an diesem Tag vor vier Monaten. Und ich kann sie nicht mal betrauern. Weil ich noch immer hier bin. Auch wenn es sich so anfühlt, als wäre ein Teil von mir weggebrochen.
Es gibt sie im Getty Center: die stillen Korridore voller Bilder, Skulpturen und Ausstellungsstücke. Im Moment stehe ich vor einem Bild von 1881. Es heißt »Stapel von Weizen, Schnee-Effekt, Morgen«. Zu sehen sind zwei Stapel von Weizen. Mit Schnee drauf.
In der Broschüre steht, dass es eine ganze Serie der Weizenstapel gibt und vor ein paar Jahren eines davon für über ١١٠ Millionen Dollar verkauft wurde, und ich kann mir nicht verkneifen zu schreiben: Ich fürchte, mit 110 Millionen Dollar würde ich mir keinen Weizenstapel kaufen.
Ich weiß, was Leith geantwortet hätte. Dass es für einen Kunstliebhaber einen Wert hat, den ich nicht nachvollziehen könne. Weil Leith vermutlich auch die gut 43 Millionen für die Originalausgabe der Amerikanischen Verfassung ausgeben würde, wenn er sie hätte.
Und ich fürchte schon, Ryder würde dasselbe tun. Denn eines der wenigen Dinge, die ich über Ryder schon wusste, bevor ich ihm begegnet bin, ist, dass er Leiths Leidenschaft für Urteile aus dem Federal Law von 1874 teilt. Und für all die anderen überaus spannenden Tätigkeiten, die es braucht, um gemeinsam eine Anwaltskanzlei führen zu wollen.
Aber Ryder schmunzelt still und kurz darauf leuchtet auf meinem Smartphone auf: Mir würden nur circa 110 Millionen andere Dinge einfallen, die ich mir von dem Geld lieber leisten würde. Farbige Heftklammern zum Beispiel.
Der Satz bringt mich zum Lächeln. Auch wenn es sich seltsam fremd anfühlt auf meinen Wangen. Ich hätte beinahe die Hand danach ausgestreckt, so merkwürdig ist es.
»Liz?«
Ich blicke zu Ryder hoch. Er ist ein Stück größer als ich und seit er vorhin meine Hand genommen hat, laufe ich dichter neben ihm her, auch wenn er sie inzwischen losgelassen hat.
»Ich hab Hunger und es gibt hier in der Nähe einen guten Inder. Appetit?«
Ich nicke. Kreditkartenlimit ahoi … Ich sollte Leith bitten, mir Geld zu überweisen. Auch wenn es mir unangenehm ist. Können wir morgen einkaufen?
Ryder nickt. »Schreib mir eine Liste, was du haben willst, und ich bringe es dir mit. Oder besser, wir lassen es liefern. Ich kann auf der Maschine nicht viel transportieren.«
Maschine …?Was? Ich sehe ihn verständnislos an.
»Motorrad, Lizzy. Ich habe kein Auto.«
Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke und unterdrücke angestrengt ein Husten.
»Was?«, fragt Ryder. Es ist das allererste Mal, dass sein Tonfall so etwas wie Gereiztheit erahnen lässt. – Nach allem, was er wegen mir in den letzten vierundzwanzig Stunden hat mitmachen müssen, ist es das, was ihn aus der Ruhe bringt?
✴Sry. Ich war nur überrascht.
Er schüttelt leicht den Kopf, aber ich begreife nicht genau, worauf sich das bezieht. Und er sagt auch nichts, bis wir den Ausgang des Getty Centers erreicht haben.
»Ich liebe das Ding. Wenn es nicht so verdammt kitschig wäre, hätte sie einen Namen.«
Ich grinse. Es ist eine Sie!
Er schenkt mir sein schiefes Schmunzeln und schiebt sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
✴Wieso bist du Vegetarier?
Er zündet den Glimmstängel an und legt nachdenklich den Kopf in den Nacken. »Umwelt, Tierschutz, Gesundheit, Ökonomie. Das Übliche. Sie fährt übrigens mit Strom, falls du das wissen wolltest.«
Ich finde Ryder auf der Terrasse. Die Sonne ist fast untergegangen, aber der Schimmer der vielen kleinen Glühbirnen taucht ihn in warmes Licht. Auf dem Tisch vor ihm stehen eine große Box und eine Menge anderer Utensilien, die ich nicht zuordnen kann.
Er blickt nicht hoch, als ich auf ihn zugehe und mir den zweiten Stuhl heranziehe, und ich sehe nur still dabei zu, wie er Tabak aus der großen Dose zieht und zwischen zwei kleine Holzrollen schiebt. Es sieht aus wie zwei mit Backpapier verbundene Mini-Nudelhölzer aus einer Puppenküche. Er legt noch einen Filter dazu, klappt die Rollen übereinander, dreht, und klemmt anschließend ein kleines Papier dazwischen, dreht weiter, hebt das Ding an seinen Mund, dann dreht er wieder – und zieht zuletzt eine fertige Zigarette zwischen den Rollen hervor.
Das Ganze erinnert mich an einen Amateur-Zaubertrick: Man lässt eine Menge unzusammenhängender Dinge in einer Blackbox verschwinden und fischt am Ende etwas völlig anderes wieder heraus.
Ich strecke eine Hand aus, um mir das fertige Kunststück anzusehen, aber Ryder lässt von seinen kleinen Magie-Nudelhölzern ab und legt kopfschüttelnd eine Hand auf meine: »Wenn du probieren willst, kauf dir selbst welche.«
Ich ziehe meine Hand zurück und hole mein Smartphone aus der Tasche. Probiert habe ich schon – es ist abartig. Will nur mal schauen. Ich habe noch nie eine Selbstgedrehte gesehen.
Er schnippt mit ausdrucksloser Miene eine der sieben fertigen Zigaretten an, bis sie über den Tisch und genau vor mein Smartphone rollt.
Ich greife danach und halte sie unter eines der kleinen Terrassenlämpchen. Sie sieht kaum anders aus als die industriell Hergestellten, allenfalls das Blättchen ist etwas schief. – Bisher habe ich überhaupt nicht bemerkt, dass Ryder selbst dreht. Weil er die Dinger in einer Marlboro-Packung mit sich herumträgt.
Ich lege die Zigarette zurück und schreibe: Sieht echt aus.
Er hebt eine Augenbraue. »Sie ist echt.«
✴Warum drehst du selbst?
»Der industrielle Tabak ist eklig, trocken und krümelt. – Außerdem ist Selbstdrehen wesentlich billiger.«
Ich sehe ihm weiter zu. Ich weiß nicht wie lange, aber es ist hypnotisierend. Als würde Ryders Art, in sich zu ruhen, langsam auf mich übergehen. Gehst du heute noch aus?
Er schüttelt den Kopf, verteilt die fertigen Zigaretten auf zwei leere Packungen, räumt alles andere zusammen und bringt es nach drinnen.
Ryder schreibt mir: Lust auf Mousse au Chocolat?
Ich drehe den Kopf und sehe durch die bodentiefen Fenster in die Wohnung. Ryder lehnt an der Küchentheke, dreht das Smartphone in einer Hand und lächelt mir zu. Mir wird warm bei dem Anblick. Als hätte ich mitten im tiefsten Winter eine Tasse frischen Tee getrunken, dessen Wärme mich innerlich ausfüllt.
RYDER
»Hast du Pläne für morgen?«, frage ich und sehe befriedigt dabei zu, wie Lizzy den letzten Rest Mousse aus ihrem Glas kratzt, als wolle sie nichts davon verschwenden.
✴Nein.
Ich schätze, in den Studios und am Broadway warst du schon?
✴Jun hat mir alles gezeigt, was ich sehen wollte.
Ich balanciere den Teelöffel auf einem Finger aus und überlege, was ich ihr zeigen könnte. Das Getty gestern war ein kostenloser Testballon – und lief darüber hinaus nicht unbedingt so, wie ich mir das vorgestellt hatte.
✴Du musst mich nicht bespaßen. Mach einfach, was du vorher auch gemacht hast.
Ich hebe eine Augenbraue und werfe Lizzy einen Blick zu, dabei rutscht der Teelöffel von meiner Fingerkuppe, und ich schnappe danach, bevor er herunterfallen kann, dann tippe ich mit der anderen Hand: Ich bin derjenige, der bespaßt werden will. Da kann ich dich auch mitnehmen.
Nur logischerweise nicht auf dieselbe Art, auf die ich Ausflüge unternehmen würde. Weil sie Leiths kleine Schwester ist. Und sie ist jung. In Leiths Erzählungen wirkte sie jung. Merkwürdigerweise decken die sich allerdings immer weniger mit dem, was ich sehe … »Du bist schon achtzehn, oder?«
Sie wirft mir einen Blick zu. Sonst wäre ich wohl kaum hier.
»Deine Eltern hätten dir eine Einverständniserklärung schreiben können«, murmle ich und ziehe eine Zigarette aus der Packung auf dem Couchtisch, schnappe nach meinem Schlüsselbund und gehe zur Terrassentür.
✴Das ist das Letzte, was sie getan hätten.
Ich lehne mich mit einer Schulter gegen die Außenmauer und lasse den Rauch meine Lungen fluten. Hinter der Terrassenbalustrade geht es steil einen Hang hinab. Vom Tal blinken die Lichter von West Hollywood herauf und dahinter erstreckt sich die endlose Schwärze der Ausläufer des Topanga State Parks. Es gibt viele Naturreservate hier. Und eines ist schöner als das andere. – Aber um an die wirklich spektakulären Flecken zu gelangen, braucht man ein Fahrzeug …
Just in dem Moment wartet mein Smartphone mit einer Nachricht von Leith auf.
oWieläuft’s?
Ich stöhne. Lizzy ist nicht die Einzige, die seit ihrem Eintreffen Besorgter-großer-Bruder-Nachrichten erhält.
Großartig. Bei dir?
oIch habe exakt denselben Text gerade von Lizzy erhalten.
Dann muss es ja stimmen.
oOder du hast ihr Smartphone geklaut.
Sicher, Leith. Ich nehme ihr einziges Kommunikationsmittel weg und schicke damit Nachrichten an dich.
Er ruft an. Ich verdrehe die Augen und nehme ab: »Das war aber keine ernst gemeinte Frage?!«
»Was? Ach so, nein.«
Irgendwie wirkt er abwesend, ich will schon fragen, was los ist, als er sagt: »Lizzy … kommuniziert also mit dir?«
»Ja, wieso sollte sie nicht?«, antworte ich und werfe einen Blick über die Schulter. Ich hab die Terrassentür nur angelehnt, aber Lizzy scheint ihrerseits in ihr Smartphone vertieft.
»Weil es nicht ihr Ding ist. In letzter Zeit zumindest nicht … Ihre Therapeuten ignoriert sie die meiste Zeit über.«
»Ich bin nicht ihr Therapeut«, murmle ich und gehe zur Balustrade hinüber, weg vom Haus.
»Das ist mir klar.« Leith seufzt. »Sie hat meine Eltern blockiert, und seitdem liegen die mir in den Ohren, dass ich Lizzy überzeugen soll zurückzukommen.«
»Sie ist achtzehn. Rechtlich kann sie machen, was sie will.«
»Erzähl mir nichts von Recht!«, fährt Leith auf.
Ich seufze und stütze mich auf das Terrassengeländer. Es ist mir unangenehm, in irgendwelche Familienzwistigkeiten hineingezogen zu werden. Noch dazu in die der Boyds, bei denen seit letztem Jahr sowieso schon der Haussegen schiefhängt, seit Leith mit seiner Sammelklage den Namenspartner seiner Eltern aka Juns Stiefvater erst verklagt und in der Folge aus der Kanzlei befördert hat.
»Sorry«, murmelt Leith, »es ist nur … Es lief gut. Ich meine: Meine Eltern haben sich wirklich Mühe gegeben, nachdem … das mit Lizzy passiert ist. Die Presse rausgehalten, sie vor ellenlangen Verhören bewahrt und so weiter. Sie haben ihr die besten Therapeuten gesucht und ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen.«
»Warum ist sie dann hier und nicht in Lorcastle, wenn alles babyblauer Himmel und Zuckerwattewölkchen ist?«, frage ich. »Sie kennt hier niemanden außer dir und Jun, und ich bezweifle, dass sie meine Gesellschaft sonderlich schätzt.«
Leith schnaubt. »Vor einem Jahr hätte sie sich um deine Gesellschaft gerissen.«
Der Satz lässt mich die Augenbrauen zusammenziehen. Was genau meint er damit? Und wenn er meint, was ich denke, das er meint – warum genau sagt er mir das? Ich an seiner Stelle würde jemandem wie mir jedenfalls nicht auf die Nase binden, dass seine kleine Schwester Interesse an … ist ja auch egal.
»Vor einem Jahr ist lange her«, sage ich unbestimmt und ziehe an meiner Zigarette. »Hast du einen Tipp, was sie gern macht? Ist sie so sportbesessen wie du oder liest sie gern oder …?«
»Sie geht gerne shoppen. Oder ging. Keine Ahnung.«
Ich verziehe das Gesicht. »Ich bezweifle, dass ihr das noch Spaß macht.«
Leith stöhnt, und ich kann seine Frustration bis hierher spüren, als er erwidert: »Ich habe das Gefühl, als würde ich sie überhaupt nicht mehr kennen. Ich meine, früher ist sie mir ständig auf den Keks gegangen mit ihrer dauerguten Laune, den potthässlichen Weihnachtspullovern und weiß Gott was allem. Aber heute vermisse ich sie. Ich will meine kleine, ausgeflippte Schwester zurück. Ich vermisse das, was sie war, und ich will es zurück. »
»Das wirst du nicht bekommen, das ist dir klar, oder? Und jedes Mal, wenn du ihr das Gefühl gibst, nicht das zu sein, was du von ihr erwartest, machst du es schlimmer.«
»Fuck, das weiß ich! Aber ich kann es nicht ändern! Du hast keine Ahnung, wie oft ich mir gewünscht hätte, die Zeit zurückdrehen zu können oder wenigstens dort gewesen zu sein. Ihr geholfen zu haben! Dass irgendwer ihr geholfen hätte! Aber ich … Fuck, Mann.«
Er legt auf.
Und ich bin ihm sogar dankbar dafür.
Ich habe Lizzy vorher nicht gekannt und trotzdem trifft es mich. Leiths Schmerz trifft mich. Lizzy heute zu sehen, trifft mich.
Gleichzeitig hinterlässt es eine seltsame Rastlosigkeit in mir, wie alle Welt offensichtlich versucht, sie zu ändern. Dabei ist nicht Lizzy das Problem. Auch nicht, wie sie jetzt ist. Gemessen daran, was ihr passiert ist, schlägt sie sich gut. Und ich bin jemand, der das beurteilen kann. Wer tatsächlich austickt, sind alle anderen, weil sie ihre eigene Hilflosigkeit an ihr auslassen.
Ich stoße mich von der Balustrade ab und gehe zurück in die Wohnung. Mir ist ein Gedanke gekommen, der entweder total hirnrissig ist oder in Ansätzen hilfreich. Hilfreicher jedenfalls als alles andere, was mein Gehirn in den letzten vierundzwanzig Stunden ausgespuckt hat …
Lizzy sitzt immer noch auf dem Sofa, hat die Knie angezogen, starrt auf ihr Smartphone und schreibt: Lass mich raten: Leith?
Jap.
✴Was hast du ihm berichtet?
Dass es dir gut geht. Hätte ich ihm etwas anderes sagen sollen?
Sie dreht den Kopf, bis sie mich sehen kann. Ich kann ihren Blick nicht deuten. Um ehrlich zu sein, habe ich Mühe, sie überhaupt einzuschätzen. Manchmal kommt es mir vor, als wäre sie fünfhundert Meilen von mir entfernt, obwohl sie im selben Raum sitzt. Manchmal sehe ich sie nur durch die Scheiben der großen Terrassenfenster und habe das Gefühl, ihren Blick wie eine Berührung auf meiner Haut zu spüren. Als stünde sie direkt neben mir.
Die Vibration meines Smartphones schreckt mich auf.
✴Ich gehe schlafen. Du brauchst mich nicht zu wecken, falls ich träume.
Ich warte, bis sie aufsteht und geht, bevor ich ihr antworte. Als ob ich friedlich schlafen würde, während du im Zimmer nebenan Albträume hast …