Blumenfieber - Claudia Schmid - E-Book

Blumenfieber E-Book

Claudia Schmid

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Beschreibung

Edelgard managt bei der Bundesgartenschau in Mannheim den »Bücherhimmel« ihrer Freundinnen Wiebke und Tamara und wohnt in deren Heidelberger Traumvilla. Sie verbringt viel Zeit mit ihrem Sohn Julian, der nach Stationen im Ausland nun in Mannheim arbeitet, und der »Bücherhimmel« wird rasch zum beliebten Treffpunkt. Alles könnte so schön sein, doch dann verschwindet Julians Freundin spurlos, außerdem ist seine Firma vermutlich einer Cyberattacke ausgesetzt. Edelgard spielt Miss Marple, rutscht dabei in allerhand skurrile Situationen und gerät plötzlich selbst in den Fokus der Ermittlungen …

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Claudia Schmid

Blumenfieber

Kriminalroman

Impressum

Das Projekt wurde gefördert durch ein Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Mapman / shutterstock.com und Digitalpress / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7468-2

Zitat

Gärten sind wie Opium für unsere Seelen. In unserer Imagination ist das Paradies immer ein Garten.

Vorwort

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

unsere Bundesgartenschau in Mannheim wird in vielerlei Hinsicht etwas ganz Besonderes: Die BUGA 23 wird die nachhaltigste Gartenschau werden. Unsere vier Leitthemen Klima, Umwelt, Energie und Nahrungssicherung ziehen sich von allen Ausstellungsbereichen und Flächen bis hin zum gesamten Veranstaltungs- und Kulturprogramm. Mit einer Fläche von über 100 Hektar sind wir außerdem eine der größten Gartenschauen, die es in Deutschland bisher gab.

Als wäre das noch nicht genug der außergewöhnlichen Charakteristika, hat Claudia Schmid die BUGA 23 als Schauplatz für einen ihrer mitreißenden Krimis ausgewählt! Das gefällt mir persönlich besonders gut, da ich selbst begeisterter Leser von Kriminalgeschichten bin. Die Vorstellung, dass Leser­innen und Leser aus ganz Deutschland lesend über unser Ausstellungsgelände zwischen markanter U-Halle und vielfältigem Experimentierfeld wandeln und in ihrer Fantasie in der Seilbahn über den Neckar in den Luisenpark »fliegen«, finde ich faszinierend. Fantasie kennt keine Grenzen. Und so kann auch so etwas Schönes wie eine Bundesgartenschau zum Schauplatz eines Mordes werden … Selbstverständlich nur in der lebhaften Imagination der Autorin.

Wäre es nicht wunderbar, wenn die pflanzenbegeisterte Buchliebhaberin Edelgard sich einen Platz zwischen Miss Marple und Sherlock Holmes erobern könnte? Der Krimi von Claudia Schmid wird spannend – wie die gesamte BUGA 23!

Ihr Michael Schnellbach

Geschäftsführer der Bundesgartenschau Mannheim 2023 gGmbH

Prolog

Zu spät. Er hatte die Gelegenheit unwiederbringlich verpasst. Dabei war sie ausgesprochen günstig gewesen. Vor Zorn färbte sich sein Gesicht rot, und er ballte seine Hände zu Fäusten. Wie ungeschickt von ihm! Er hätte nicht diesen einen kurzen Moment zögern sollen. Wie ein dummer Amateur. Wo er eigentlich ein Profi war, das hatte er immerhin schon bewiesen. Da vorne ging sie. Zog ihr Smartphone aus der Tasche und wischte darauf herum. Wie um ihn extra zu ärgern, setzte die Sonne glänzende Akzente auf ihr honigblondes Haar, als sie es mit einer leichten Geste ihrer Hand nach hinten strich. Er zog die Schultern hoch, schob die Hände in die Taschen und blickte zum dunklen Neckar, der träge in der Sonne lag wie eine satte Schlange. Auf der ans Ufer grenzenden Wiese tobte eine Schulklasse, die plötzlich aus der Unterführung gepurzelt war und sein Vorhaben vereitelt hatte.

Auf dem Neckar hieb eine Ente einem Konkurrenten mit dem Schnabel in den Nacken. Zwei Erpel stritten sich um ein Weibchen. Davon unbeeindruckt schnäbelte diese nach Futter. Es würde sich eine neue Gelegenheit für ihn ergeben. Aufgeschoben war nicht aufgehoben. Er verzog sein Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse, setzte sich in Trab und rannte in entgegengesetzter Richtung fort. Der Lärm der Kinder klang wie Spott in seinen Ohren und hämmerte in seinem Kopf lange nach.

1

»Eeedelgard! Dein Koffer! Was ist mit dem? Willst du ihn nicht mitnehmen?« Norbert rief nach seiner Frau. Der Mittfünfziger stand vor dem schmiedeeisernen Tor des Gartens einer terrakottafarbenen Villa in Heidelberg am Fuße des Heiligenberges. Um das Fenster des um 1900 erbauten Hauses schlangen sich farblich abgesetzte Stuckverzierungen. An einer Seite rundete sich ein beeindruckender Erker. Der zog sich über beide Etagen hoch bis unters malvenfarbene Schindeldach. Hoffentlich liegt keine Leiche im Keller, dachte Norbert. Denn seine Frau war eine ausgewiesene Expertin in deren Auffinden. Es war, so konnte man es durchaus nennen, ihr Spezialgebiet.

Edelgard war an dem heiteren Frühlingstag aus dem Auto gesprungen und hörte nicht auf ihren Mann. Sie hatte ihm schon so oft zu verstehen gegeben, dass sie diese Intonation ihres Namens mit der übermäßigen Betonung auf den ersten Vokal nicht schätzte. Außerdem nahm sie die Freude über den schön angelegten Garten, der sich ihrem Auge bot, komplett in Anspruch. Für ein halbes Jahr war hier ihr Zuhause, weil sie für diese Zeit plante, in der Kurpfalz zu arbeiten. Ihrer Überzeugung nach lagen überaus glückliche Wochen vor ihr. Sie folgte, ohne sich nach Norbert umzusehen, zwischen Buchsbaum, Tulpen und Narzissen dem verschlungenen Weg zum Haus. Kies knirschte unter ihren Schuhen. Eine Amsel brachte sich hüpfend vor dem für sie übergroßen Eindringling in Sicherheit. »Bring du ihn doch einfach mit, Norbert. Ich klingle inzwischen.« Obwohl Edelgard ihren Blick nur schwer von der üppigen Blumenpracht lassen konnte, suchte sie neben der prächtigen Haustür nach einer Klingel. Vergeblich. Stattdessen prangte in der Mitte der Tür ein schwerer metallener Türklopfer in Form eines Löwenkopfes. Beherzt griff sie danach und schlug kräftig an.

Ehe ihr Norbert erneut etwas hinterherrufen konnte, war sie bereits im Haus verschwunden. Er beschloss, das Gepäck erst mal im Auto zu lassen. Nach der Fahrt hatte er sich eine kleine Erfrischung mehr als verdient. Er schloss den Wagen ab und folgte seiner Frau. Immerhin hatte die die Eingangstür für ihn offenstehen lassen.

»Herr Buchmann! Wie reizend von Ihnen, Ihre Frau zu begleiten.« Wiebke eilte auf ihn zu, kaum dass er über die Schwelle getreten war. »Jetzt gibt es erst mal Tee und Gebäck.« Ihr rundes Gesicht unter den kurzen Haaren strahlte. Sie hatte seit ihrem letzten Treffen in der Lübecker Bucht sichtlich ein klein wenig an Gewicht zugelegt. Es stand ihr ziemlich gut.

Vielleicht waren dies noch die Pfunde, die sie sich wie etliche während der Corona-Pandemie zugelegt hatte, dachte Norbert. Der Lockdown mit Schließung der Fitnessstudios und nächtlicher Ausgangssperre hätte eigentlich im Nachklang einen Boom für die Kleiderindustrie folgen lassen müssen, da nicht wenigen die Kleider zu eng geworden waren. Denn Bringdienste wie Pizza-Service durften während dieser außergewöhnlichen Zeit ins Haus liefern. Auch einige Restaurants, die eine Weile keine Einkehr anbieten durften, hatten auf Lieferservice und Abholdienst umgestellt. Er selbst hatte damals während der Reise um die Ostsee, bei der sie die beiden Frauen kennenlernten, etwas abgenommen. Eine neu gewonnene Eitelkeit sowie Edelgards Beharrlichkeit hatten ihn dazu gebracht, tatsächlich sein Gewicht zu halten. Seine Ärztin war begeistert, riet sie ihm doch seit geraumer Zeit anlässlich der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen ebenfalls dazu, sein Gewicht zu reduzieren. Das war ihm nicht immer leicht gefallen. Vor allem der Verzicht auf seine geliebten Schmalzbrote stellte einen gravierenden kulinarischen Einschnitt für ihn dar. Es war wirklich traurig, dass seine Mutter keine Zeit mehr fand, Schweinebauch nach ihrem alten Familienrezept für seine bevorzugte Delikatesse auszulassen. Wobei er immerhin zugeben musste, dass sich bei diesem Vorgang ein ungewöhnlicher Geruch entfaltete, der im direkten Gegensatz zum Ergebnis stand. Edelgard weigerte sich beharrlich, die Leckerei für ihn zuzubereiten. Seine Mutti hatte tatsächlich nach vielen Jahren des Alleinseins nun einen Lebensgefährten namens Theo an ihrer Seite. Die Witwe, die es seit Jahrzehnten gewohnt war, ihren einzigen Sohn zu verwöhnen und ihrer Schwiegertochter beständig quasi eine Gebrauchsanleitung für ihn anzudienen, fokussierte seit geraumer Zeit ihre Fürsorge auf eben jenen Herrn, der ihr immer noch kräftiges Herz im Sturm erobert hatte. Seit es nach der groß angelegten Impfkampagne im Rahmen der Pandemie wieder möglich war zu reisen, waren die beiden ständig unterwegs und kaum zu Hause anzutreffen. Für ihr Alter waren sie wirklich erstaunlich fit und in einem sehr guten gesundheitlichen Zustand. Für Norbert war es ungewohnt, nach all den Jahren nicht mehr allein im Fokus des Interesses seiner Mutti zu stehen. Die Situation war immer noch neu für ihn, und er war ein wenig eifersüchtig auf diesen Theo. Seine Frau meinte zwar, er solle sich nicht so anstellen, er bekäme schließlich keinen neuen Stiefvater präsentiert. Das war jedoch nicht der Grund. Er war zuvor die Hauptperson im Leben seiner Mutter gewesen. Es fiel ihm immer noch nicht leicht, ihr neues Leben, wo er plötzlich auf Platz zwei verdrängt war, zu akzeptieren. Insgeheim hatte er Muttis Aufmerksamkeiten, die so sehr Edelgards Geduld strapazierten, nämlich genossen. Er war zu lange der Prinz seiner Mutter gewesen, als dass er diesen Verlust nun einfach übergangslos hinzunehmen bereit war. Er litt, wenn er mitbekam, wie all die Aufmerksamkeit, die so lange speziell ihm vorbehalten war, diesem Theo zugutekam. Gegen den hatte er sonst nichts einzuwenden. Das Einzige, das ihn an dem Mann störte, war das Minus an Aufmerksamkeit, welches sich für ihn persönlich aus der neuen Situation ergab.

Wiebke ging voraus. »Ihre Frau hat schon Platz genommen. Nachdem Sie sich beide nach der Fahrt ein wenig gestärkt haben, zeigen Tamara und ich Ihnen unser Refugium. Wie war Ihre Fahrt? War die Autobahn sehr voll?«

Norbert winkte ab. »Zwei kurze Staus, das ging eigentlich ganz gut. Ich hatte es mir wesentlich schlimmer vorgestellt. Da haben wir schon anderes erlebt. Es sind einfach ständig zu viele Lastwagen unterwegs. Die Autobahn ist eigentlich immer voll, egal, um welche Uhrzeit man fährt. Meine Güte, vor etlichen Jahren konnte man dieselbe Strecke in knapp einer Stunde zurücklegen. Heutzutage benötigt man manchmal drei oder sogar noch länger.«

Der Flur mündete an seinem Ende in den Erker, den er schon draußen gesehen hatte. Innen war er mit einer hölzernen Bank ausgekleidet, worauf etliche Kissen in Pastelltönen lagen. Die altmodischen Sprossenfenster darüber aus weiß lackiertem Holz ermöglichten großzügige Blicke in den Garten. Eine üppig blühende Forsythie dominierte die Frühlingspracht. Edelgard saß bereits.

»Nehmen Sie bitte Platz, Herr Buchmann. Ich darf Ihnen Tee eingießen? Tamara ist noch in der Küche und macht die Zimtschnecken fertig.«

Norbert setzte sich und nickte. Edelgard dachte bei sich, wenn ihr Mann eine Katze wäre, dann würde er in Vorfreude auf die gebackenen Köstlichkeiten am liebsten laut schnurren. Zumindest ließ sein Gesichtsausdruck diese Annahme zu. Es hatte sie eine Menge Überzeugungskraft gekostet, ihre bessere Hälfte vom Gourmand zum Gourmet zu verändern.

Als der hellbraune Strahl aus der bauchigen Kanne seine Tasse füllte, flutete der angenehme Duft von Ingwer und Honig die Luft im Raum.

Wiebke plauderte weiter. »Die vielen Lastwagen, die die Autobahnen und auch die Rastplätze verstopfen, sind auch wegen des Online-Shoppings unterwegs. Das trägt ordentlich zum Verkehrsaufkommen bei. Vor Jahren wurde der Verkehr wegen diesem Just-in-time-Ansatz im Bereich Logistik, der die Lagerhaltungskosten reduzieren sollte, vermehrt, und dann kam auch noch der Trend hinzu, Sachen direkt im Internet zu bestellen. Viele haben bereits vor Corona online eingekauft, durch die Pandemie schnellten diese Zahlen hoch. Und statt den Verkehr auf die Schiene zu bringen, hat man ihn seit Jahren auf die Straßen verlagert, die für diese extreme Belastung nicht ausgelegt sind. Wenn ich denke, wie viele Brücken in der Region noch ausgetauscht werden müssen! Eine Freundin von uns wohnt in Seckenheim, das ist ganz in der Nähe, da wurden in den letzten Jahren nach und nach gleich drei Brücken ersetzt. Die hat zeitweise wie auf einer Art Halbinsel gewohnt, von der man lediglich in eine Richtung fahren konnte. Aber um auf diese Bestellerei zurückzukommen, die nimmt wirklich Auswüchse an. Wir haben eine Kundin, die kauft immerhin ihre Bücher bei uns. Aber Kleider lässt sie sich zur Auswahl ins Haus kommen, meist in zwei verschiedenen Größen. Sie plant die für sie kostenlose Rücksendung gleich zum Beginn ihrer Bestellung mit ein. Aber irgendjemand zahlt immer! Am Ende wir alle gemeinsam für die Umweltschäden. Wenn ich nur an die schlimmen Unwetter denke, die von der Anzahl her total zugenommen haben!« Wiebke war ungehalten. »Wegen solch eines Verhaltens sind so viele Lastwagen unterwegs. Ich habe gehört, dass die Rücksendungen oft einfach vernichtet werden. Das muss man sich mal vorstellen! Neuwertige Ware für den Schredder! Einfach unglaublich, so was. Man hält es kaum für möglich! Welch eine sinnlose Verschwendung von Ressourcen.«

Edelgard wusste: »Es wird aber allmählich dagegengehalten. Bei nicht allen Anbietern kann man immer noch grenzenlos Waren zurücksenden. Ich habe auch von einer Freundin gehört, es soll spezielle Läden geben, die ausschließlich Retouren verkaufen.«

Wiebke übernahm wieder das Wort. »Dabei ist es doch ein wunderbares Erlebnis, Kleider im Geschäft zu probieren. Bei einer Tasse Kaffee, einem Schwätzchen und mit guter Beratung. Eine Freundin von uns bietet das an. Es ist der Hit bei ihren Kundinnen und kommt richtig gut an. Dabei offeriert sie sogar Kuchen und führt selbst einer ausgewählten Kundschaft Modelle vor. So wie in der Generation unserer Urgroßmütter in den späten 50ern. Wer will, kann statt Kaffee ein Glas Sekt genießen oder beides. Back to the roots. Heute ist es für alle zugänglich, nicht nur wie damals für die Leute, die am sogenannten Wirtschaftswunder partizipierten. Es bereitet wirklich viel Spaß, und es lohnt sich für das Geschäft so richtig. In lockerer Atmosphäre und bei ausgezeichneter Beratung wird ganz gut gekauft. Tamara und ich gehen immer gerne hin. Natürlich kaufen wir ebenfalls bei diesen Veranstaltungen ein. Das passt dann auch richtig gut und wird nicht umgetauscht. Wir haben da schon echte Lieblingsstücke gefunden. Lieber Himmel! Ich habe eine Jacke, die habe ich … ach, ich weiß gar nicht mehr, vor wie vielen Jahren gekauft und die trage ich immer noch total gerne.«

»Das klingt sehr interessant!« Edelgard war spontan begeistert von dieser Idee. »Und bei diesen Events gibt es Sekt? Das klingt so richtig nach viel Spaß.«

»Sie können uns begleiten, wenn wieder so etwas geplant ist. Wie steht es mit Ihnen, Herr Buchmann? Haben Sie ebenfalls Lust dazu? Sie sind selbstverständlich mit dazu eingeladen.«

»Ich probiere überhaupt ungern etwas an, egal, wo das stattfindet.« Norbert winkte entschieden ab. Er erinnerte sich mit etwas Wehmut an seinen beigefarbenen Breitcordanzug. Der war nach jahrelangem Tragen herrlich bequem gewesen, so richtig eingetragen sozusagen. Seine Frau hatte ihm nicht nur den ihrer Ansicht nach ausgeleierten und stellenweise abgeschabten Anzug erfolgreich ausgeredet und ihn sogleich in einem Altkleidercontainer mit zugriffssicherer Klappe entsorgt, sondern zusätzlich seine hellbraunen Lieblingsschuhe aus Leder mit Lochmuster. Mehrere Male waren diese bereits neu besohlt worden. Nachdem der alte Schuster, der so zuverlässig mit seinem Handwerkszeug umgehen konnte, verstorben war, wusste er ohnehin nicht mehr, wen er mit solcher Qualitätsarbeit hätte betrauen sollen. An diesen Schuhen hatte er ziemlich gehangen, wobei er gar nicht genau datieren konnte, wann sie in seinen Besitz übergegangen waren. Er tippte auf einen Urlaub in Bayern. Edelgard hatte ihn, bevor sie anlässlich ihrer Ostseereise nach Stockholm zu ihrem Sohn flogen, einer optischen Rundumerneuerung unterzogen. Seitdem verließ er das Haus nur noch in Kleidern, die in warmen Erdfarben gehalten waren, und mit modischen Sneakers an den Füßen. Insgeheim musste er sich selbst eingestehen, dass die ziemlich bequem waren und er ganz schön lange damit herumlaufen konnte, bevor die Füße zu schmerzen begannen. Im weiteren Verlauf der Reise hatte er damals das Fehlen des Ladekabels seines Rasierers bemerkt. Dabei war er sich eigentlich sicher gewesen, es in seinen Kulturbeutel gesteckt zu haben. Seitdem trug er eine Gesichtszier, die er am Ende der Reise zu Hause in einen gepflegten Dreitagebart umwandelte und nach mehreren Komplimenten aus seinem Umfeld akribisch pflegte. Sogar das Bartöl, welches ihm seine Frau regelmäßig besorgte, benutzte er. Die anderen im Finanzamt staunten nicht schlecht über seine optische Verwandlung. Die Frau an der Pforte lächelte ihm seit einer Weile stets freundlich grüßend zu, wenn er am Morgen das Haus betrat und es pünktlich am Spätnachmittag verließ. Wenn er es recht überlegte, war sie eine sehr sympathische Person. Früher hatte er sie gar nicht wahrgenommen.

»Das erinnert mich an die Cafés in Stockholm.« Edelgard zeigte auf die vielen Kissen auf der hölzernen Bank.

»Da haben wir das gesehen und es für hier übernommen. Es gefiel uns so gut. Es schafft wirklich eine urgemütliche Atmosphäre.« Wiebke strich mit der Hand über eines der Kissen. »Während der Corona-Zeiten, als die Theater und alle anderen kulturellen Einrichtungen geschlossen hatten, habe ich das Handarbeiten für mich entdeckt.«

»Zum Glück waren wir beide irgendwann mit dem Impfen gegen Corona dran. Sonst hätte sie das gesamte Haus zugehäkelt. Rigoros. Seien Sie beide herzlich willkommen bei uns!« Tamara, die ihr Haar etwas länger trug als bei ihrer früheren Begegnung und außerdem in einem leicht rötlichen Ton, brachte eine Platte mit Zimtschnecken und stellte sie auf den Tisch. »Die isst man in Schweden zur Fika, wie die nachmittägliche Kaffeepause dort heißt, und deshalb habe ich die gebacken. Schließlich haben wir uns auf der Fähre von Stockholm nach Tallinn kennengelernt.«

Edelgard lachte. »Die sind lecker, stimmt. Ich backe die seit unserer Reise des Öfteren für uns beide. Dass wir vier uns nach der Fähre dann in Lübeck vor dem Buddenbrooks-Haus auf der Weiterreise wieder getroffen haben, war wirklich ein Zufall.«

»An einen Zufall glaube ich nicht, das war eher Schicksal, nicht wahr, Wiebke?« Tamara verteilte mithilfe einer silbernen Zange das Gebäck auf Porzellanteller. »Für unsere neue Filiale in Mannheim bei der Bundesgartenschau ist Ihr Kommen der absolute Glückstreffer. Wir können das alleine gar nicht stemmen.« Die beiden führten ihre Heidelberger Buchhandlung bereits seit einigen Jahren. Kennengelernt hatten sie sich bei einer Fortbildung eines großen Buchhandelsfilialisten, bei dem sie in unterschiedlichen Standorten beschäftigt waren. Tamara, die mit drei älteren Brüdern aufgewachsen war, hatte in Frankfurt gearbeitet und die geschwisterlose Wiebke zuvor in Stuttgart. Als in Heidelberg prompt zu dem Zeitpunkt, zu dem sie über ihre Selbstständigkeit nachdachten, eine Nachfolgeregelung einer Buchhandlung wegen Eintritt des bisherigen Besitzers in den Ruhestand angeboten wurde, griffen sie spontan zu. Sie konnten die Stammkundschaft übernehmen, zu der auch Schulen und Büchereien gehörten. Diese Entscheidung hatten sie bislang nicht bereut. Ihr Laden lief richtig gut.

»Vielleicht kann ich etwas aus meinem Biologie-Studium in die Gespräche mit den Kunden einfließen lassen. Zumindest den pflanzenkundlichen Teil. Auch wenn es lange zurück liegt. Aber es gibt immerhin Sachen, die vergisst man nicht.« Edelgard lächelte.

»Oh, es geht bei der Bundesgartenschau um so viel mehr als um Pflanzen. Etwa um Nachhaltigkeit. Das finden wir beide ganz toll. Wir bemühen uns selbst, nachhaltig zu leben und beispielsweise weitgehend auf Plastik zu verzichten.«

Tamara unterbrach sie. »Auf dem Spinelli-Gelände wurden gleich zu Beginn der Umgestaltung viele Eidechsen umgesiedelt, die dort lebten. Die haben einen neuen Lebensraum erhalten.«

»Eidechsen? Davon haben wir ganz viele in unserem Garten, vor allem bei der kleinen Natursteinmauer im hinteren Teil. Vor einigen Wochen lugte sogar eine aus dem Abfluss unserer Dusche. Die muss durch das gekippte Fenster ins Bad geschlichen sein.«

»Was haben Sie mit ihr gemacht?«

»Erst mal habe ich mich abgetrocknet und angezogen, dann trug ich sie in den Garten. Dort kroch sie freudig unter einen Busch und war weg, ehe ich es mich versah.«

Norbert grinste, ohne etwas zu sagen. Den Teil der Geschichte, als sie mit einem um den Körper geschlungenen Handtuch hektisch im gesamten Haus nach einem passenden Gefäß suchte, mit dem sie das Tier einfangen konnte, formulierte sie jedes Mal beim Erzählen um. Er selbst fand die Eidechse weitaus harmloser als die schwarzen Skorpione in der Dusche, die in den Urlaubsgeschichten eines seiner Kollegen nach einem Urlaub im Süden vorkamen.

»Sie müssen unbedingt in das Südamerikahaus im Luisenpark. Das ist wirklich etwas ganz Besonderes. Dort sind jetzt neben anderen Tieren auch die Schmetterlinge untergebracht, die hatten früher ein eigenes Haus. Es gibt tatsächlich Arten, die wirken wie fliegende Blumen.« Wiebkes Gesichtsausdruck hellte sich auf bei der Erinnerung an ihren letzten Besuch.

»Ein guter Tipp. Solang meine Frau sich mit Schmetterlingen befasst, findet sie immerhin keine Leiche bei der Bundesgartenschau.«

»Was du wieder meinst. Das erweckt ja den Eindruck, als sei mein Weg mit Leichen gepflastert.«

»Eine Leiche in unserem Bücherhimmel? Die liegen dort nur in den Büchern. Wir haben Ihnen ein Krimi-Regal zusammengestellt.« Wiebke lächelte.

»Die Gegend hier ist doch bestimmt ziemlich sicher?«, wollte Edelgard wissen.

»Nun ja. Es gab vor wenigen Monaten zwei Morde an Frauen. Soweit ich mich erinnere, wurden die nicht aufgeklärt. Aber seitdem ist, abgesehen von Beziehungstaten, nichts mehr in dieser Hinsicht vorgefallen.« Wiebkes Ton wurde vertraulich. »Ich bin der Überzeugung, das war niemand von hier. Dieser Mörder war auf der Durchreise und befindet sich längst woanders, vermutlich im Ausland. Wenn er noch hier wäre, wäre er doch längst wieder aktiv geworden.«

»Vielleicht hält er eine Weile still, bevor er ein neues Opfer sucht.«

»Edelgard, du musst nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen! Also wirklich. Frau Burgunder hat bestimmt recht mit ihrer Vermutung, dass der Mörder weitergereist ist. Wenn er noch hier wäre, hätte man ihn doch aufgespürt.« Der Finanzbeamte, der Norbert seit Beendigung seines Jura-Studiums war, interessierte sich für einen ganz anderen, seiner Ansicht nach überaus wichtigen Punkt. »Wie haben Sie mit Ihrer Heidelberger Buchhandlung den Lockdown während der Corona-Pandemie überstehen können? Für mich selbst war kaum ein Unterschied. Ich habe im Finanzamt keinen Publikumsverkehr und sowieso ein Einzelbüro.«

»Aber unsere Theaterabende hast du doch vermisst, Norbert?«

»Und wie«, log er prompt. Dabei hatte er seiner Frau selbst das Theaterabonnement zu einem ihrer Geburtstage geschenkt. Er war jedoch fälschlicherweise davon ausgegangen, sie würde die Kulturabende mit ihren Freundinnen genießen.

»Wir haben, als wir, wie die anderen auch, so lange schließen mussten, auf Lieferdienst mit dem Fahrrad umgestellt. Das habe ich übernommen. Bei meinen Fahrten ist mir niemand begegnet, vor dem ich Angst hatte.« Die sportliche Tamara grinste. »Wiebke hat die Bestellungen abgearbeitet, die Taschen gerichtet, und ich habe sie unseren Kundinnen und Kunden mit einer Rechnung vor die Tür gestellt. Alles kontaktlos! Es war zwar Aufwand für uns, aber wir sind auf diese Art ganz gut über die Runden gekommen. Ich habe mein Lauftraining in der Zeit vernachlässigt, dafür jedoch einiges an Kilometern mit dem Rad zurückgelegt. Das hat es wieder ausgeglichen. Über Bewegungsmangel während dieser Zeit kann ich mich nicht beklagen. Wir haben eine echt treue Stammkundschaft, die uns in dieser schwierigen Zeit die Stange gehalten hat.«

»Respekt!« Norbert nickte anerkennend. »Das Durchhalten ist nicht allen geglückt. Es gab leider etliche Insolvenzen. Nicht nur in der Gastronomie, sondern auch im Einzelhandel.«

»Leider ist das so. Wir hatten richtig Glück, so gut durchgekommen zu sein. Die neue Filiale in Mannheim in diesem Sommer ist natürlich ein totaler Glücksfall für uns. Ein halbes Jahr lang haben wir für die Dauer der Bundesgartenschau einen umgebauten Container gemietet und betreiben dort die Buchhandlung mit Kaffeeausschank. Da der Laden natürlich an sieben Tagen in der Woche geöffnet ist, wäre das eine echte Herausforderung für uns beide, das alleine zu bewerkstelligen. Weil Sie für ein halbes Jahr in unser Team kommen, werden wir uns abwechseln, und alle drei können wir zwischendurch freie Tage einlegen. Für uns ist es die perfekte Lösung!«

»Meine Chefin, die Pfarrerin, hat mich komplett überrumpelt mit ihrer Idee, ein Sabbatical einzulegen. Das ist eine geregelte Auszeit, die die evangelische Kirche ermöglicht. Sie verbringt die Zeit bei ihrer Familie in Norddeutschland und unterstützt die. Ihre Schwester betreibt mit ihrem Mann eine Schafzucht und hat jetzt Zwillinge bekommen, für die meine Chefin die Patenschaft übernommen hat. Zunächst war ich davon überhaupt nicht begeistert, auch wenn ich ihr diese Pause selbstverständlich gönne. Während des Lockdowns hatte ich so wenig Kontakt zu anderen Menschen. Sogar Hochzeiten und Taufen wurden verschoben! Das alles habe ich ziemlich vermisst, um ehrlich zu sein. Auch das Singen im Chor fehlte mir.«

»Wer betreut denn die Gemeinde in der Zwischenzeit, wenn Sie und Ihre Chefin nicht da sind? Springt jemand aus einer Nachbargemeinde ein und übernimmt sie zusätzlich zur eigenen?«, wollte Tamara wissen.

»Das wäre eine zu große Last, das kann eine Person alleine nicht stemmen. Zum Glück wurde eine Vertretung gefunden, die bringt jedoch ihre eigene Sekretärin mit. Die beiden sind ein Paar und wollen das nur gemeinsam machen. Wenn sie nicht zusammen hätten kommen können, dann wäre die Gemeinde ein halbes Jahr ohne Seelsorgerin geblieben. Das lag natürlich weder im Sinne meiner Chefin noch in meinem. Deshalb war ich sofort damit einverstanden, mein Beschäftigungsverhältnis für diese Zeit ruhen zu lassen. Und so, wie sich die Dinge für mich gefügt haben, bin ich richtig froh darüber, die Zeit frei zu haben. Wer hätte gedacht, dass ich in den letzten Jahren, bevor ich in Rente gehe, beruflich so eine herausragende Abwechslung erleben werde? Das passt ganz wunderbar. Ihre Anfrage, ob ich hier einspringe, kam gerade zur rechten Zeit. Es ist großartig, dass Sie dabei an mich gedacht haben.«

Norbert lächelte nachsichtig. Als ob seine Edelgard nicht genügend Abwechslung hätte! Dabei waren sie schon seit ihrer gemeinsam verbrachten Schulzeit in Memmingen zusammen, und noch immer brachte sie Farbe in sein Leben. Die Reisen mit ihr waren alles Mögliche, aber ganz gewiss nicht langweilig. Früher war sie mit Vorliebe auf Burganlagen herumgeklettert und hatte sich oft genug waghalsig am Abgrund bewegt. Etliche Male wurden sie dabei von anderen Gästen auf die Gefährlichkeit ihres Handelns hingewiesen. Wenn er sich bloß an ihre Reise an die Bergstraße erinnerte! Dort lagen etliche Burgen auf den Hügeln der Ausläufer des Odenwaldes, und sie hatten keine einzige ausgelassen. Kriminalfälle übten eine magische Anziehungskraft auf seine bessere Hälfte aus. Hin und wieder stolperte sie sogar über echte Leichen. Diese Gedanken behielt er allerdings für sich und sagte: »Neun Jahre, um genau zu sein. So viel haben wir noch, bis wir in Rente gehen. Außer, wir entscheiden uns für eine Vorruhestandsregelung. Darüber haben wir bislang noch nicht nachgedacht.«

Edelgard äußerte sich nicht zu diesem Thema. Norbert den ganzen Tag über zu Hause? Das konnte heiter werden. Sie war sich nicht sicher, ob das für sie ebenfalls ein Quell der Freude war. Wenn sie bereits beim Frühstück gefragt wurde, wie sie den heutigen Tag zu verbringen gedachte und was es mittags und abends zu essen gab. Sie hoffte, er übernahm dann nicht die Gewohnheiten seiner Mutter, die unter anderem darin gipfelten, ihren Wäscheschrank mit Wonne umzuorganisieren. Sobald Tag X eintrat, suchte sie ein Hobby für ihn, und zwar ein sehr zeitintensives. Es gab so nette Kurse an den Volkshochschulen für Senioren. Wenn sie überall im Haus die Programme deponierte, konnte sie ihn sicher für etwas interessieren. Aquarellieren wäre gut für ihn. Dann könnte er zur Krönung seines Wirkens einen Malkurs in der Toskana belegen. Sie begleitete ihn selbstverständlich, denn dort wollte sie schon immer einmal hin. »Was ist mit meinem Koffer? Steht der schon im Flur?«

Norbert druckste herum. »Also …«

»Er befindet sich noch im Auto? Echt jetzt?«

Edelgard erhob sich. »Gib mir den Schlüssel!«

Norbert griff in seine Hosentasche.

»Ich begleite Sie, Frau Buchmann.« Wiebke folgte ihr. »Vielleicht haben Sie noch eine zweite Tasche.«

Norbert blieb trotz Wiebkes Engagement ungerührt sitzen und griff nach einem weiteren Gebäckstück.

Edelgard hievte ihr Gepäck aus dem Wagen. Neben dem einen großen Koffer hatte sie noch einen kleinen für ihre Kosmetikutensilien dabei. Als sie Wiebke diesen in die Hand drückte, erheischte ihr Blick einen Mann, der aus dem gegenüberliegenden Haus schritt und eine äußerst seltsame Kostümierung trug. »Lieber Himmel.« Sie war kurz davor, ihre Fassung zu verlieren. »Ist der echt?« Sie schätzte ihn auf ungefähr 30 Jahre. Er war groß gewachsen, trug sein gewelltes dunkles Haar akkurat gescheitelt und blickte hoheitsvoll. Ein wallender blauer Umhang mit weißer Verbrämung fiel geschmeidig von seinen Schultern.

»Natürlich ist er nicht echt. König Ludwig II. ist seit weit mehr als 100 Jahren tot.«

»Er starb im Starnberger See. Als ob ich das nicht wüsste! Aber der Pelz auf dem Umhang! Wer trägt denn heutzutage noch Pelz? In aller Öffentlichkeit! Es ist unfassbar.«

»Ach, seinen Mantel meinen Sie. Spektakulär, nicht wahr? Und sieht er seinem Idol nicht schrecklich ähnlich? Es ist beinahe so, als wäre er wiederauferstanden.«

»Das ist mir egal. Aber die toten Tiere um seinen Körper!«

»Werte Dame, wie vermag ich Ihnen zu helfen?« Der Mann hatte ihre Aufmerksamkeit wahrgenommen und die Straßenseite gewechselt.

»Kommen Sie mir nicht zu nahe. Ich würde nie Pelz tragen.« Sie wich einen Schritt zurück. »So etwas ist doch längst out! Niemand trägt das mehr. Vor allem nicht in unseren Breitengraden. Und noch dazu um diese Jahreszeit! Die armen Tiere. Das erinnert mich an die vielen Millionen Nerze, die vor wenigen Jahren in dänischen Zuchtanstalten getötet und dann vergraben wurden. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass so ein modernes Land noch immer eine Fellindustrie unterhält. Pelz geht gar nicht, junger Mann!«

»Beruhigen Sie sich! Ich trage keinen echten Pelz, seien Sie unbesorgt. Das ist hochwertiger Kunstpelz. Wirkt ziemlich echt, nicht wahr? Der ist richtig gut gemacht. Sie sind auf eine Täuschung hereingefallen.« Er kicherte. Die hohe Stimme wollte nicht so recht zu seiner stattlichen Erscheinung passen.

Edelgard hatte erwartet, sie wäre tief und sonor. So eine wie die des Sarastro in der Zauberflöte. »Sie sollten damit wirklich nicht auf die Straße gehen.«

»Das stimmt. Die Farbe ist sehr empfindlich.«

»Die Farbe könnte sich eventuell nachhaltig ändern, wenn sie militanten Tierschützern begegnen.«

»Sie meinen nicht etwa, die bewerfen mich mit Farbbeuteln? Gott bewahre, mein Mantel wäre völlig ruiniert. Das wäre für mich das Saisonende! Ich bin echt komplett ausgebucht.«

Wiebke mischte sich ein. »In welchem Freizeitpark trittst du in dieser Saison auf? Hat es geklappt mit einem Engagement?«

»Freizeitpark? Pah! Mein Terminkalender ist für das nächste halbe Jahr voll. So wie noch nie. Das wird ein richtig guter Sommer.«

»My Soul! Lass dir noch nicht alles aus der Nase ziehen.« Wiebke rollte mit ihren Augen und machte auf genervt. »Erzähl endlich!«

Der Mann strich mit theatralischer Geste sein Haar aus der Stirn. »Ich bin bei der Bundesgartenschau dabei. Ich biete Führungen über das Gelände an.«

Edelgard nahm aus der Nähe wahr, dass er eine dicke Schicht Schminke trug. An dem Kerl war kaum etwas echt. Sogar die Wimpern wirkten falsch. Es war gut möglich, dass er sein beneidenswert volles Haar einer Perücke verdankte.

»Geh fort! Der Kini bei der Gartenschau. Das passt doch überhaupt nicht.« Wiebke lachte. »Du solltest in Bayern auftreten, aber nicht in der Kurpfalz.« Wie sie wusste, stammte er selbst aus der Pfalz, und zwar aus einem Dorf in der Nähe einer amerikanischen Air-Base. Seine Eltern lebten immer noch dort, sogar sein Großvater, den er, so wusste sie, regelmäßig besuchte.

»Meine Liebe, das denkst du nur, weil du dich nicht auskennst. Du weißt eben nicht Bescheid. Sogar seine hochherrschaftliche Cousine weilte hier zu Besuch. Ihre Majestät, die Kaiserin Elisabeth, beehrte Heidelberg mit ihrem Besuch.«

»Das weiß ich natürlich. Mit ihrer Tochter Valerie. Das Haus, in dem sie während ihres Besuches wohnte, steht noch immer am Schlossberg.«

Edelgard staunte. »Sisi war hier?«

»Ein Gedenkstein erinnert sogar daran. Im Jahr 1885 war das.«

»Da weilte ich noch ein Jahr unter den Lebenden. Wer weiß, vielleicht habe ich sie inkognito in Heidelberg besucht. Schließlich haben wir beide uns immer sehr gut verstanden und ziemlich nahegestanden. Sie wollte mich sogar zu sich holen, als mir diese Ungeheuerlichkeit widerfuhr und man mich an den Starnberger See brachte. Mich! Den König!« Er hob theatralisch seine Hände in die Höhe. »Es muss mir erst mal jemand das Gegenteil beweisen, dass ich nicht hier in der Kurpfalz war.«

»Davon ist nichts bekannt. Der Kini war nicht in Heidelberg. Nicht, dass ich je etwas davon gehört hätte.«

»Pah! Was, wenn ich nachts gekommen bin? Wer hätte mich da sehen sollen! Ich war zeit meines Lebens ein Nachtmensch.« Florian beugte sich vor und flüsterte bedeutungsvoll. »Dabei war ich es gewohnt, mich lautlos im Dunkeln zu bewegen. Leise und unerkannt. Mit nur einem einzigen Lakaien als Begleitung.«

Wiebke lachte. »Du bist echt eine Nummer. Am Ende glaubst du noch selbst die Storys, die du erfindest. Das würde mich nicht wundern.«

»Wenn nicht ich selbst, wer dann? Nur so kann ich überzeugen.« Er räusperte sich. »Mein Urgroßvater, Maximilian I., wurde übrigens im Schloss Schwetzingen geboren, ganz nah von hier. Da kannst du sogar mit dem Fahrrad hinfahren! Es gibt also durchaus Bezüge zur Kurpfalz in meiner Vita. Alles muss ich dann doch nicht erfinden. Einiges in der Historie wartet lediglich darauf, von mir entdeckt zu werden. Die Kurpfalz steckt voller Geschichten! Man muss sie nur finden.« Er strich mit zärtlicher Geste über den Kunstpelz seines Umhangs. »Wiebke, du erhältst selbstverständlich eine Einladung zu meiner Themenführung. Ich referiere über Musik. Beides, Gärten und Musik, ist Balsam für unsere Seelen, nicht wahr. Wie allseits bekannt sein dürfte, war Ludwig II. der Musik sehr zugetan. Er hat Richard Wagner verehrt und sehr unterstützt. Das Wunderbare an Musik ist doch, dass sie komplett ohne Sprachbarrieren international verständlich ist. Werte Dame«, er deutete eine Verbeugung gegenüber Edelgard an, »werde ich Sie dort begrüßen dürfen?«

Edelgard machte sich einen Spaß daraus, vor ihm zu knicksen. Beinahe hätte sie dabei das Gleichgewicht verloren, weil sie sich zu weit vornüber neigte. Galant reichte er ihr die Hand. »Majestät, so kommen Sie doch in den Bücherhimmel, Sie finden ihn am Rand der Freizeitwiese. Es steht immer ein Espresso für Sie bereit. Weil Sie tagsüber sicher sehr müde sind, wo Sie doch die ganze Nacht über mit einem Schwanenboot herumfahren. Da kann ein Koffeinschub wahrlich von Vorteil sein.«

»Auf dem Kutzerweiher im Luisenpark mit dem Schwanenboot«, kicherte Wiebke, »das wäre doch was für dich.«

»Damit hast du voll ins Schwarze getroffen. Ich fahre nämlich zu bestimmten Uhrzeiten auf dem Weiher.«

»Uups. Tatsächlich? Hast du dir eine Gondoletta zum Tretboot umbauen lassen?«

»Was denkst du denn! Ein Schwan zieht selbstverständlich mein Boot.«

»Ein Schwan? Wenn das mal nicht Tierquälerei ist. Alter! Du zielst regelrecht darauf ab, Tierschützer auf deine Spur zu bringen. Wie soll denn das überhaupt funktionieren mit dem armen Tier? Das hat doch gar nicht so viel Kraft! Hast du ein Geschirr anfertigen lassen, in das du es einspannst?«

»Die Damen sind heute sehr streng mit mir. Natürlich mute ich keinem lebenden Tier zu, mich zu ziehen. Vielmehr ist es ein mechanischer Schwan mit Elektroantrieb, der über eine Solarzelle verfügt, die den Strom in einer Batterie speichert. Eine Spezialanfertigung für mich. Zwei Studierende aus Karlsruhe waren so freundlich, mir den praktischen Teil ihrer Abschlussarbeit im Bereich Maschinenbau zu überlassen. Karlsruhe, die Geburtsstadt bedeutender Tüftler wie der Freiherr von Drais, der die Laufmaschine erfunden hat, und Carl Benz, der Erfinder des Automobils!«

»Ich fürchte, Karlsruhe muss sich die beiden bedeutenden Herren mit der Stadt Mannheim teilen. Immerhin haben sie beide dort gelebt, als sie ihre bahnbrechenden Erfindungen tätigten.«

»Das ist allseits bekannt!« Florian wischte nach einer lästigen Fliege, dann deutete er eine Verbeugung an. »Aber was hat es mit dem Bücherhimmel auf sich?«

Wiebke übernahm es, ihm zu antworten. »Tamara und ich haben eine Dependance bei der Bundesgartenschau. Wir haben uns für einen kleinen Buchladen beworben und prompt den Zuschlag erhalten. Da es für uns beide sehr intensiv wäre, unseren Laden in Heidelberg offenzuhalten und den im Luisenpark an sieben Tagen die Woche, haben wir Frau Buchmann mit an Bord genommen.«

»Mit an Bord passt, wo wir uns doch auf einem Schiff kennengelernt haben.«

»Ah, verstehe. Also, wenn das so ist … Frau Buchmann, wenn Sie mal einen freien Nachmittag dort brauchen oder so, dann lasse ich mich gerne von Ihnen anlernen. Leider habe ich jedoch heute noch einiges zu erledigen. Die Damen, das Treffen hat mich erfreut. Seien Sie meiner vorzüglichen Hochachtung versichert.« Nach diesen Worten verbeugte er sich und verschwand in dem Haus, aus dem er gekommen war.

Edelgard blickte ihm ungläubig nach. Grade so, als ob sie überlegen würde, ob das eine Erscheinung war oder ob sie den Mann wirklich gesehen und gehört hatte.

Wiebke klärte sie auf: »Das ist der Florian, der wohnt in der Wohngemeinschaft gegenüber. Er ist total nett. Den Kini gibt er schon seit ein paar Jahren. Manchmal denke ich, er hält sich schon selbst dafür und kann das nicht mehr unterscheiden. Kein Wunder, wenn man derart oft in der Rolle aufgetreten ist. Man kann ihn für Feste buchen. Bei Hochzeiten etwa, da trägt er die Trauringe auf einem Samtkissen herein. Sein Aussehen passt eben sehr gut zum historischen Vorbild, also, als der Kini noch jünger und ziemlich gut aussehend war und außerdem gesunde Zähne hatte. Die sollen dann ja ganz schwarz geworden sein, weil er gerne sehr viel Süßes naschte.«

»Der Arme! Das wusste ich gar nicht! Der war doch noch gar nicht alt, als er im Starnberger See starb?«

»Drei Jahre älter als ich.«

»Der hatte bestimmt starke Zahnschmerzen.«

»Kann sein. Jedenfalls war der junge Kini ein hübsches Mannsbild, wie man in Bayern sagt. Da kann der Florian unbedingt mithalten.«

»Das stimmt. Er sieht ziemlich gut aus. Ein überaus attraktiver junger Mann.«

»Er zieht in seinem Aufzug total die Show ab. Im Hochzeitsmonat Mai ist er an den Wochenenden komplett ausgebucht. Da gibt es sogar Wartelisten.«

»Ob sein Auftritt bei der Bundesgartenschau gut aufgenommen wird? Immerhin sind wir hier in der Kurpfalz und nicht in Bayern.«

»Er ist unglaublich charmant und wird alle Gäste um seinen Finger wickeln und denen dabei alles Mögliche auftischen. Am Ende werden die ihm sogar glauben, Neuschwanstein liegt im Odenwald, und ausschwärmen, um dort danach zu suchen. Außerdem waren und sind die Hochadeligen doch sowieso alle irgendwie miteinander verwandt. Hier gab es zwar keine Könige, aber immerhin Kurfürsten.«

»Er könnte doch als Kurfürst Carl Theodor auftreten?«

»Ich muss ganz ehrlich sagen, dass Florian in dem Kostüm von König Ludwig II. weitaus mehr hermacht. Außerdem war das Kostüm teuer, und er besitzt es schon. Ich finde es jedenfalls überaus originell, was er da vorhat.«

»Etwas spleenig wirkt er allerdings schon.«

Wiebke zuckte mit ihren Schultern und wandte sich dem Weg zu ihrem Haus zu. »So war der Florian schon immer. Ich kenne ihn selbst schon lange. Er hatte immer einen sehr eigenen Stil. Ich vermute, dass er es in dem Dorf, wo er aufwuchs, nicht leicht hatte. Er fing, kaum dass er hier war, bald damit an, Stadtführungen anzubieten, oft in ausgefallenen historischen Kostümen. Er hat uns mal erzählt, er habe sogar seinen Abschluss an der Uni sausen lassen, weil er schon bald von seinem Job leben konnte. Ich glaube, sogar recht gut. Im Reformationsjahr hat er die Gäste auf den Spuren Luthers durch Heidelberg geführt. Dabei trug er das Gewand eines Gelehrten der damaligen Zeit.«

Edelgard staunte. »Luther war hier?« Edelgard fasste ihren großen Koffer am Griff, da er sich auf dem Kies nicht ziehen ließ.

»Zwei oder drei Tage. Die Augustiner, in deren Orden er war, hatten ihn zu einer Disputation eingeladen. Jedenfalls blieb er lange genug, damit Heidelberg sich zu den Lutherstädten zählen darf. Außerdem hat Florian mit dem Kini etwas gemeinsam. Er ist eine ausgesprochene Nachteule. Es würde mich nicht wundern, wenn er seine Führungen nachts macht.«

»Es wird bestimmt sehr amüsant mit ihm.«

»Oh ja, davon ist auszugehen. Bei manchen Damen ist er allerdings einen Tick zu charmant. Ich habe gehört«, sie druckste ein wenig herum, »na ja, dass man ihn einzeln buchen kann. Als Begleitservice. Angeblich. Ich weiß selbst nicht, ob es wahr ist.«

»Für Entgelt mit Menschen ins Theater zu gehen und sie ins Restaurant zu begleiten, ist doch nichts Schlimmes. Für Single-Reisende ist das ein tolles Angebot. So lernen sie die Stadt auf eine ganz besondere Weise kennen.«

Wiebke hüstelte gekünstelt. »Besonders, so kann man das durchaus nennen. Also, man sagt, also, es sind wirklich nur Gerüchte. Es soll nicht beim gemeinsamen Essen bleiben. Da wird im Anschluss genascht. Gegen Bares.«

Edelgard lächelte nachsichtig. »Da muss nichts Wahres dran sein, an so einem Gerücht. Irgendwie wirkt er trotz seines Spleens ungeheuer sympathisch. Ich glaube nicht, dass der sich für Geld verkauft. Das hat so ein netter junger Mann doch gar nicht nötig.«

Edelgard setzte ihre schwere Last an der Haustür kurz ab. Wiebke sagte nichts zu ihrem Einwand. Berichte über die Anziehungskraft Florians auf nicht mehr ganz junge Damen waren ihr mehrfach zu Ohren gelangt. Sie nahm sich jedoch vor, diesbezüglich ein besonderes Augenmerk auf Edelgard zu legen. Sie wäre nicht die erste Dame, die empfänglich für einen jugendlichen Charmeur war. Florian hatte so etwas Jungenhaftes an sich, das er vermutlich auch mit 50 oder 60 noch auszustrahlen vermochte. Es war so eine Art verschmitzter Charme, dem man schwer widerstehen konnte und der viele Menschen für ihn einnahm. »Der wird umschwirrt wie Hundekacke von Fliegen«, so pflegte Tamara geradeheraus ihre Meinung zu äußern, wenn sie darüber sprachen. Wobei Wiebke den Vergleich nicht nur uncharmant, sondern ex­trem unangemessen fand. Florian war unleugbar ein Sahneschnittchen. Edelgards Ehemann, Norbert, wirkte auf sie auf eine bestimmte Art verletzlich. Seine manchmal etwas tollpatschige Art vermochte sie nicht darüber hinwegzutäuschen, dass er tief in seinem Innern sehr empfindsam war. Wiebke spürte das und war sich nicht sicher, ob seine Frau das ebenfalls auf gleiche Weise wahrnahm. Die wirkte in dieser Beziehung ein wenig bodenständig, so wie sie den oft ansprach. Die beiden waren immerhin, ihrer Erzählung nach, schon seit ihrer Jugend zusammen. Da sah man vielleicht im Alltag nicht mehr alle feinen Nuancen des Partners. Jedenfalls würde sie selbst, soweit es in ihrer Macht stand, darauf achten, dass Norbert keine Wunde zugefügt wurde. Sie wollte erst gar nicht darüber nachdenken müssen, ob die Ehe der beiden derart stabil war, dass sie ein Techtelmechtel mit dem Kini-Darsteller unbeschadet überstand. Ganz sicher achtete sie auf die beiden. Florian hatte weiß Gott genügend anderweitige Gelegenheiten, bei denen er seinen Charme erproben konnte, ohne zerbrochenes Porzellan zu hinterlassen.

Nachdem die Koffer hinter der Haustür abgestellt waren, gesellten sie sich wieder zu Tamara und Norbert.

»Wo wart ihr denn so lang? Hast du den Inhalt deines Koffers überprüft und dir auf die Schnelle irgendwo ein Kleid gekauft?« Norbert lachte herzlich über seinen Scherz. »Oder hast du etwa schon wieder eine Leiche entdeckt? Im Vorgarten?«

»Ich habe schon einen der Nachbarn kennengelernt. Sozusagen ein Kollege.«

»Immerhin nur einen Kollegen und keinen Serienkiller, der hier sein Unwesen treibt. Oder hatte der Mann Blut an den Händen?« Er lachte noch lauter.

Tamara blickte fragend.

»Wir haben Florian von gegenüber getroffen. Er wird ebenfalls bei der Bundesgartenschau arbeiten«, erklärte Wiebke.

»Der Florian? Als Kini von Bayern oder was?«

»Du hast 100 Punkte! So ist es. Er wird als Kini Führungen machen und über Musik referieren. Sicher über Wagner. König Ludwig II. war ein großer Fan und Unterstützer des Komponisten Richard Wagner.«

»Mit der Musik beschallt der Florian gerne die gesamte Straße.«

»Ich finde das nicht schlimm. Allemal besser, als Streit mit anhören zu müssen. Oder, was weitaus schlimmer wäre, Prügeleien. Wo man dann überlegen muss, ob man die 110 wählen soll.«

Tamara beschäftigte nun, da Edelgard wieder am Tisch Platz genommen hatten, eine ganz andere Frage, die sich aus ihrem vorherigen Gespräch für sie ergab, und fragte nun.

»Warum haben Sie eigentlich nicht als Biologin gearbeitet, sondern als Pfarrsekretärin? Das ist doch bei dieser Ausbildung eher ungewöhnlich?«

»Nun ja, ich hatte tatsächlich eine Promotionsstelle. Aber es kam dann einiges zusammen. Zum einen verstarb mein Doktorvater ganz plötzlich nach einer kurzen und schweren Erkrankung. Außerdem hatte ich ohnehin lediglich eine befristete Stelle, das ist im Wissenschaftsbetrieb gängige Praxis. Damals, und heute immer noch. Als die auslief, war Julian bereits unterwegs. So ergab es sich, dass ich eine Weile ausschließlich für meine Familie gelebt habe, was übrigens eine glückliche Zeit war. Es ist toll, einen kleinen Menschen he­ranwachsen zu sehen und ihn dabei zu begleiten.«

»Konnten Sie Julian nicht betreuen lassen?«

»Diese Plätze waren zu dieser Zeit sehr rar. Ich weiß nicht, ob sich auf diesem Gebiet wirklich viel getan hat. Ich hoffe es für die jungen Frauen heute. Außerdem können Mütter und Väter jetzt eine Familienzeit nehmen und für die Betreuung ein paar Monate zu Hause bleiben. Julian war natürlich im Kindergarten, allerdings lediglich von 8.30 Uhr bis 12 Uhr. Wie hätte ich da arbeiten sollen? Die Zeiten für den Weg zu einer Arbeitsstelle gingen ja auch noch weg von den dreieinhalb Stunden. Das war mehr eine Art Spielgruppe für ihn, gebracht, im Sinne, dass ich hätte arbeiten gehen können, hat es nichts.«

»Von der Verwandtschaft konnte auch niemand einspringen?«

»Wir lebten ohne Familie in Stuttgart. Da war niemand, der uns bei der Betreuung hätte unterstützen können. Als Julian eingeschult wurde, gab es für mich kein Zurück mehr in meinen alten Beruf. Das war gelaufen, meine Auszeit war einfach zu lange gewesen. In die Wissenschaft hätte ich auf gar keinen Fall mehr gekonnt, in die freie Wirtschaft zu gehen, schied ebenfalls aus. Das ist anders als bei Beamtinnen und Beamten. Die können sogar fünfzehn Jahre pausieren und steigen dann mit Fortbildungskursen, wo man sie auf den neuesten Stand bringt, wieder ein. Die Stelle als Gemeindesekretärin war für mich ideal. Dabei habe ich sehr viel mit Menschen zu tun und habe festgestellt, dass mir das absolut liegt. Ich unterstütze meine Pfarrerin auch in Angelegenheiten, die eigentlich nicht in meiner Stellenbeschreibung stehen, wir nehmen es da beide nicht so genau. Zum Beispiel organisiere ich die Reisen unseres Chores. Da ich selbst mitsinge, mache ich das ausgesprochen gerne. Ich muss ehrlich sagen, mein Job macht mir Spaß. Das ist dabei eigentlich das Wichtigste für mich. Ob ich als Biologin Karriere gemacht hätte? Kann sein. Aber vorbei ist vorbei, nicht wahr, und ich habe etwas Neues gefunden. Ich bin so etwas wie die gute Seele der Gemeinde. Das füllt mich aus und bereitet mir wirklich sehr viel Freude.«

Norbert tätschelte ihren Arm. »Eigentlich hatte ich gedacht, meine Frau kümmert sich vermehrt um mich, jetzt, wo sie ein paar Monate Auszeit hätte haben können.«

Tamara runzelte für einen kurzen Moment die Stirn, hielt sich jedoch mit der Äußerung ihrer Meinung zu einer adäquaten Rollenverteilung innerhalb einer zeitgemäßen Ehe zurück.

»Aber so, wie es jetzt ist, ist es natürlich in Ordnung«, fügte er rasch hinzu, nachdem er ihren Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Immerhin wollte er einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen. »Ich habe ja keine lange Fahrzeit hierher, wenn ich nicht gerade zur Hauptverkehrszeit fahre, und komme an den Wochenenden zu Besuch. Unser Sohn ist jetzt außerdem auch hier. Ich freue mich sehr darauf, ihn endlich wieder öfter zu sehen. Er war jahrelang im Ausland berufstätig. Gleich nachdem er sein Examen in der Tasche hatte, nahm er einen Job auf Malta an und dann in Schweden. Da haben wir ihn natürlich nicht so oft gesehen.«

»Julian ist hier? In Heidelberg?«, fragte Tamara überrascht. »Davon haben Sie noch gar nichts erwähnt.«

»In Mannheim. Dort arbeitet er und hat ein kleines Loft im Jungbusch zur Verfügung gestellt bekommen. Das hat seine Firma für ihn gemietet.« Edelgard lächelte. Ihr war ebenfalls die Freude darüber anzumerken, ihn nun öfter zu Gesicht zu bekommen. »Er wohnt direkt an einem Wasserkanal. Jungbusch heißt der Stadtteil. Früher war es ein reines Hafenviertel, heute sind dort Firmen angesiedelt, hat er uns erzählt. Die Stadt macht einiges, damit dieser Standort attraktiv ist.«

»Was ist mit der Stelle in Stockholm? Er fühlte sich doch dort wohl? Das dachte ich jedenfalls Ihren Erzählungen nach. Stockholm ist eine absolute Traumstadt. Die offene Stadtgesellschaft gefiel uns gut, nicht wahr, Wiebke? Es muss großartig sein, dort zu leben.«

Die nickte zustimmend. »Bestimmt. Wenn der Klimawandel weiter so fortschreitet, wird der Norden weiter an Attraktivität gewinnen, weil die anderen Gegenden viel zu heiß geworden sind.«

»Man hat ihn abgeworben.« Edelgard versuchte erst gar nicht, ihren Stolz auf den Sohn zu verbergen. »Die haben jemanden gesucht, der die PR vor Ort macht. Julian ist der Leiter eines mehrköpfigen Teams in der Firma, die einen autonom fahrenden Shuttle-Bus zur Verfügung stellt. Für die ist es eine tolle Werbung, wenn ihr Bus Gäste vom Mannheimer Hauptbahnhof zum Gelände der Bundesgartenschau bringt. Es fahren derzeit in mehreren Städten Busse von denen. Julian war sogar dabei, als in Mannheim die gesamte Strecke abfotografiert wurde, und hat dabei mitgeholfen. Alle Gebäude und festen Gegenstände wurden erfasst. Die Unmenge an Fotos wurde in die Software des Busses eingepflegt, damit er alles unterwegs erkennt. Wir beide arbeiten jetzt sozusagen beim selben Projekt. Irgendwie kann man das schon so sehen. Ich im Bücherhimmel, und Julian lässt die Gäste dorthin fahren. Ich finde es toll, ihn nun öfter zu sehen. Er wird mich im Bücherhimmel besuchen kommen und dann Kaffee bei mir trinken. Ich freue mich so! Das wird eine richtig tolle Zeit!«

»Es gibt nämlich beim Spinelli-Gelände in Feudenheim keine Parkmöglichkeit. Man muss auf der anderen Neckarseite das Auto abstellen und fährt dann mit dem Shuttle-Bus über den Fluss«, ergänzte Norbert. Dachte er wirklich, Wiebke und Tamara war das nicht bekannt? Die beiden wechselten rasch Blicke.

»Julians Firma stellt einen elektrisch angetriebenen Bus zur Verfügung, der autonom fährt.« Norbert war keine Spur weniger stolz auf den Sohn als seine Frau und wiederholte ihre Aussage, so, als ob sie dadurch wahrer wurde. »Darin liegt die Zukunft des Individualverkehrs. Unser Sohn ist an vorderster Front bei dieser Innovation mit dabei. Natürlich begleitet jemand den Bus, der während der Fahrt eingreifen kann. Der kann den Bus manuell fahren und selbstverständlich auf technische Probleme reagieren. Julian hat uns das genau erklärt.«

»Genau, am Spinelli-Gelände gibt es keine Parkplätze. Entweder man fährt mit dem Bus dorthin oder vom Luisenpark aus mit der Seilbahn über den Neckar.« Tamara zeigte, dass ihnen diese Tatsache ebenfalls bekannt war. »Das wurde bereits in der Planungsphase ausführlich kommuniziert. Beim ersten Spinelli-Fest, das 2021 dort groß gefeiert wurde, bekamen wir nach der Anmeldung sogar ein Gratis-Ticket für den Nahverkehr.«

»Gab es in Mannheim nicht schon einmal eine Bundesgartenschau?«, fragte Edelgard.

Wiebke nickte. »Als wir beide noch nicht geboren waren. Der Luisenpark war bereits im Jahr 1975 Ort der Bundesgartenschau in Mannheim. Beinahe 50 Jahre liegt das jetzt zurück. Ich finde es toll, dass Mannheim noch einmal so etwas aufzieht. Ob es allerdings so viele Besucher wie damals werden, das weiß keiner. Eher nicht. Vor fünf Jahrzehnten gab es noch nicht so viele Freizeitangebote wie heute. Allein schon die vielen Freizeitparks, die mittlerweile entstanden sind. Jedenfalls kamen damals acht Millionen Menschen nach Mannheim.«

»Lieber Himmel!« Edelgard stöhnte theatralisch. »Wenn da nur jeder Fünfte ein Buch bei mir kauft …«

»Das wäre in der Tat ein Traumumsatz. Wow! Damit wäre unsere Altersvorsorge erledigt.«

»Woher kommt denn der Name des Parks? Das klingt ein wenig nach adeliger Dame.«

Tamara lachte. »Bingo! Der Park wurde tatsächlich nach der Großherzogin Luise von Baden benannt. Sie war sogar eine Tochter Kaiser Wilhelms I.« Sie griff nach ihrem Smartphone, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Ich kann es ganz genau sagen, indem ich auf der Website des Luisenparks nachschaue. Ah, hier! Ich hab’s! Bereits im Jahr 1886 erfolgte die Grundsteinlegung des Parks. Ein Professor Doktor Carl Fuchs hat 20.000 Goldmark dafür gespendet.«

»Interessant! Ich kann sicher mit der Straßenbahn zu meinem Arbeitsplatz fahren?«

»Klar. Am besten laden Sie die App dafür herunter. Sie fahren mit der Linie Nummer fünf bis nach Mannheim, direkt zum Luisenpark. Das können Sie gar nicht übersehen, weil da nämlich der Fernmeldeturm steht. In dem gibt es ganz schön weit oben ein Restaurant, welches sich langsam dreht. Mit Ihrer Einlasskarte für Beschäftigte, die Tamara schon organisiert hat, passieren Sie den Eingang. Unser Bücherhimmel liegt am Rand der großen Freizeitwiese.«

»Ist dort der Haupteingang?«

»Der liegt auf der gegenüberliegenden Seite des Parks, einmal quer durch. Am Fernmeldeturm ist einer der Nebeneingänge. Die Straßenbahn fährt da längs des Neckars und hält direkt davor.«

»Auf die Seilbahn über den Fluss bin ich schon ziemlich neugierig. Das wird bestimmt ein tolles Erlebnis.«

»Wir freuen uns auch total darauf, mit der zu fahren.« Wiebke biss in eine der Zimtschnecken. »Irgendwie bekomme ich die nicht so hin wie in Schweden. Die schmeckten dort besser.«

»Ich habe auch schon damit experimentiert. Ich hoffe, Julian hat ein original schwedisches Rezept dabei. Vielleicht übersetzt er es für mich.«

»Darf ich nachschenken?«

Bevor Edelgard zustimmen konnte, füllte Tamara ihre Tasse erneut auf. Nachdem sie einen Schluck genommen hatte, fuhr sie fort. »Seine Firma plant für den Herbst den Börsengang. Julian wird das Ganze begleiten und für die ordentlich trommeln. Sein Team bedient verschiedene Social-Media-Kanäle, und er informiert regelmäßig die Presse. Das ist seine Aufgabe. Deshalb ist er vorerst bis zum Oktober in Mannheim. Im Anschluss daran wird er in der Zentrale der Firma in Berlin eingesetzt. Je nachdem, wie erfolgreich das Vorzeigeprojekt sein wird, hat er tolle Aufstiegschancen bei denen.«

»Hat er nicht eine Freundin in Schweden? Was ist mit der? Kommt die mit hierher?« Tamara füllte die Tassen auf.

Edelgard verschluckte sich beinahe an ihrem Tee. Aber nicht deshalb, weil er etwa zu heiß gewesen wäre. Sie stellte die Tasse hastig auf den Tisch. »Das ist nichts Festes. Glaube ich zumindest.«

»Ich habe durchaus den Eindruck, Julian hängt sehr an Frida.«

»Findest du, Norbert? Ich weiß es nicht. Er ist ja noch viel zu jung, um sich bereits jetzt langfristig zu binden. Es kann doch sein, dass er in Mannheim jemand anderes kennenlernt, nicht wahr. So eine räumliche Trennung kann auch mal ganz gut sein, um sich neu zu orientieren.«

»Den Eindruck habe ich nicht.«

Edelgard bemühte sich vergeblich, vor Wiebke und Tamara ihren Ärger zu verbergen. Was redete Norbert denn da? In ein paar Wochen konnte er selbst sehen, wer von ihnen beiden den richtigen Riecher hatte. Jedenfalls war sie entschlossen, ihre Verkuppelungskünste, die sie so erfolgreich bei ihrer Schwiegermutter getestet hatte, auch für ihren Sohn einzusetzen. »Ihre Familie besitzt eine Insel im Schärengarten. Als Julian mit uns dort war, fand ich tatsächlich eine Leiche. In einer Holzhütte! Die lag da seit geraumer Zeit. Stellen Sie sich das bloß vor! Es war entsetzlich. Wir holten natürlich sofort die Polizei. Frida will von der Leiche nichts gewusst haben.«

Norbert verdrehte die Augen. Als ob das die einzige Leiche wäre, die seine Frau bei ihrer beider Reisen entdeckt hatte! Manchmal hegte er den Verdacht, es handle sich dabei um Eventreisen ganz besonderer Art, die seine Frau ohne sein Wissen vorsätzlich buchte.

»Was? Wirklich? Sie sind die ideale Spezialistin für Kriminalromane! Sie haben sozusagen Kenntnisse aus erster Hand.« Wiebke war ganz Ohr. »Wie war das denn genau?«

»So prickelnd war das nicht. Es war im Gegenteil ein ziemlicher Schock für mich. Die Leiche war von der Seeluft konserviert und kauerte in dieser hölzernen Hütte. Kein schöner Anblick, das können Sie mir glauben. Ich hätte gerne auf dieses Erlebnis verzichtet. Vor allem, weil es komplett unvermutet für mich war. Eigentlich wollten wir auf der Insel Midsommar feiern. Daraus wurde dann natürlich nichts. Unser Sohn war gemeinsam mit uns und einem Freund von ihm raus gefahren, um Einkäufe zu verstauen. Das Ganze war als Überraschungsparty für Frida geplant, deshalb wusste sie nichts von unserem Auftauchen dort.«

»Was sagt die Polizei zu dem Fall?«

»Frida wusste nichts davon.« Norberts Tonfall klang bestimmt. »Die schwedische Polizei hat ihre Ermittlungen abgeschlossen. Das hat uns Julian erzählt. Die Frau, deren Leiche meine Frau gefunden hatte, war nicht durch Fremdeinwirkung gestorben. Es bestand überhaupt kein Verdacht gegen Frida, irgendetwas damit zu tun zu haben. Ihr Vater, der zu dem Zeitpunkt bereits dement im Altersheim lebte, konnte nichts mehr zur Klärung der Angelegenheit beitragen. Kürzlich ist er im Heim verstorben. Aus irgendeinem Grund war die Frau alleine auf der Insel zurückgeblieben, als ein heftiger Sturm aufkam. Aus purer Angst hatte sie sich in der Hütte verkrochen.«

»Das ist doch lediglich eine Vermutung!«, empörte sich Edelgard.

»Wenn die Polizei nicht ermittelt und der alte Herr nichts mehr zur Aufklärung beitragen konnte, sollten wir das Ganze endlich ruhen lassen und davon ausgehen, dass Julians Freundin nichts mit dem Tod der Frau zu tun hat.«

»Julian sieht diese Frau durch eine rosarote Brille! Auf so einer kleinen Insel kennt man doch jeden Quadratzentimeter!« Edelgard war nicht dazu bereit, sich Norberts Meinung anzuschließen. Sie war entschlossen, in dieser Angelegenheit keinen Fingerbreit nachzugeben. Ihr Bauchgefühl hatte sie noch nie betrogen. Und genau das verschaffte ihr eine gegensätzliche Meinung zu der ihres Mannes.

»Wie viele Menschen leben denn dort?«, wollte Tamara wissen.

»Eigentlich niemand. Es ist eine dieser unzähligen kleineren Inseln aus Felsengestein, wo nur ein einzelnes Haus drauf steht. Es wird lediglich als Wochenendhaus und im Urlaub genutzt.«

»Klingt gut. So etwas muss toll sein. Mal ganz abgeschieden von allem. Komplett raus aus dem üblichen Alltag.«

»Und wie drehst du auf so einem Winzling deine Radrunden?« Wiebke lachte. »Immerzu im Kreis?«

»Rudern. Dort kann man sicherlich wunderbar rudern.«

»Oje. Du denkst doch nicht ernsthaft darüber nach?« Sie lachte.

»Für dich packen wir eine Menge Bücher ein. Auf diese Art sind wir beide beschäftigt.«

»Da wird die nächsten Monate nichts draus. Wir können nicht weg. Schade!«

»Träumen wird man ja wohl dürfen.«

»Dann träum mal schön. Die nächsten Monate können wir froh sein, wenn wir zwischendurch einen freien Tag einlegen können.«

»Wir könnten direkt im Anschluss an die Bundesgartenschau Mitte Oktober nach Norwegen reisen. Was hältst du davon, dort mit Fähren und mit dem Panoramazug unterwegs zu sein? Das soll unglaublich toll sein. Vielleicht sollten wir uns das gegenseitig vorab zum 40. Geburtstag schenken? So lange ist es nicht mehr bis zu dem Datum.«

»Oh! Norwegen will ich auch unbedingt bereisen.« Edelgard strahlte regelrecht. »Ich möchte wenigstens einmal im Leben die Polarlichter sehen.«